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Kapitel 1

Gestern und heute

Ein Jahrhundert ist es nun schon her, seitdem die europäische Jugend auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs geopfert wurde. Hundert Jahre, das scheint eine lange Zeit zu sein – obwohl es sich eigentlich nur um wenige Generationen handelt.

Die Gesellschaft von 1914 ist der heutigen sehr ähnlich mit ihren Universitäten, Bibliotheken, Opernhäusern, Theatern und ihrer Literatur, mit ihren Parlamenten, ihren Gerichten und nicht zuletzt mit ihren Großunternehmen und Banken. Der Westen konnte sich damals seiner wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen sowie demokratischen Errungenschaften durchaus rühmen.

Natürlich war dies lange bevor es das Internet gab, doch das Radio war bereits erfunden und die Printmedien waren schon weit entwickelt, vermutlich vielseitiger und weniger kontrolliert als heute. Kommerzielle Flüge existierten noch nicht, aber man war dank Zügen und Autos bereits sehr mobil. Es war eine gebildete und zivilisierte Gesellschaft, in der zwei Länder in ihrer Blütezeit, Frankreich und Deutschland, beide christlich geprägt und mit den gleichen Grundprinzipien, einen verheerenden Krieg unter Einsatz der Massenvernichtungswaffen jener Zeit begannen. Die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand, dem Thronfolger Österreich-Ungarns, am 28. Juni 1914 in Sarajewo war der Funke, der Europa in Brand setzte und es in ein Räderwerk der Zerstörung stürzte, in dem eine ganze Generation geopfert wurde. Nicht nur materiell, sondern auch moralisch wurde die Zivilisation zugrunde gerichtet, und das zu ihrem angeblichen Wohl. Eine großangelegte Manipulation riss die Massen in die Barbarei, alles unter dem Vorwand der Rettung der Demokratie oder der Nation. Dies bezeugt insbesondere eines der wichtigsten Werke jener Zeit, Die Thibaults, in dem der Autor Roger Martin du Gard seinen Helden sagen lässt:

«Nie zuvor ist die Menschheit so tief erniedrigt, ihre Intelligenz so rücksichtslos unterdrückt worden!»1

Ebenso aufschlussreich für diesen Niedergang der Menschheit ist folgendes Zitat aus dem Roman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Der Protagonist seines Romans, ein deutscher Soldat, erzählt:

«Wir sind verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie Händler und Notwendigkeiten wie Schlächter. […] Wir sind fürchterlich gleichgültig. […] Wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.»2

Verloren waren sie in ihren Schützengräben – in einem grauenvollen und sinnlosen Kampf. Sind wir es heute nicht auch? Gleichgültigkeit, Verrohung, Tristesse und Oberflächlichkeit können ebenfalls die heute lebenden Generationen charakterisieren, besonders die Söldner des Finanzkrieges.

Der Trader, Söldner des 21. Jahrhunderts

Der nachfolgende SMS-Dialog zwischen zwei dieser jungen Söldner unserer Zeit ist in dieser Hinsicht lehrreich:

– hallo

– hallo

– wir sind tot

– David von CS hat wegen der skew trades angerufen

– Ich sage dir, die werden uns fertig machen […], heute Abend hast du minimum 600m

Was kann wohl diese sowohl kriegerische als auch fast schon derbe Sprache zwischen zwei vorgeblich gebildeten Personen bedeuten? Wird hier auf den Tod angespielt? Wessen Tod? Steht 600m für 600 Mordopfer? Nein, es geht um den finanziellen Tod. Die 600m stehen für 600 Millionen Dollar Verlust, der aber im vorliegenden Fall letztendlich circa 6 Milliarden betragen wird. Und sind skew trades Massenvernichtungswaffen? Diese Finanzwetten mit komplexen Derivaten ähneln solchen Waffen tatsächlich nur allzu oft.

Im Handelsraum der Londoner Bank J. P. Morgan erkennen der Händler Bruno Iksil – wegen des gewaltigen Ausmaßes seiner Finanzspekulationen auch «Wal von London» genannt – und sein Assistent Julien Grout am 23. März 2012, dass ihre gigantischen Finanzwetten dieser Bank Verluste einbringen. Ihr SMS-Austausch drückt ihre Verzweiflung aus. 2011 hatte Iksil noch erfolgreich auf den Konkurs mehrerer amerikanischer Unternehmen gewettet. Diese Wetten sollen J. P. Morgan Gewinne in Höhe von 400 Millionen Dollar beschert haben, davon Boni von 32 Millionen Dollar für Iksil und zwei seiner Vorgesetzten.

Der Fall Tourre ist ein weiteres Indiz für die Geisteshaltung, die im Milieu der Investmentbanken vorherrscht. Als Absolvent der École Centrale und der Stanford University wurde Fabrice Tourre im Alter von zweiundzwanzig Jahren von der Bank Goldman Sachs eingestellt. Einige seiner E-Mails verwendete die US-Finanzaufsicht SEC im Verfahren gegen die Geschäftsbank, der sie unzulässige Bereicherung auf Kosten der von ihnen getäuschten Kunden vorwarf: Goldman Sachs hatte Kunden zum Kauf von Schuldverschreibungen verleitet, die mit besonders zweifelhaften Hypothekardarlehen besichert waren, während die Bank selbst auf den Verfall derselben Titel spekulierte. Hier ein Beispiel seiner Prosa:

«Immer mehr Leverage-Effekt im System. Das ganze Gebäude kann jeden Moment zusammenbrechen. […] Wenn ich daran denke, dass ich dieses Produkt mitentworfen habe […], ein Ding, das du erfindest und dir dabei sagst: Und wenn wir ein Ding erfinden, das zu nichts taugt, das bloß ein Konzept und völlig theoretisch ist und dessen Wert keiner einschätzen kann, dann schmerzt es, es mitten im Flug explodieren zu sehen. Es ist ein bisschen wie mit Frankenstein, der sich gegen seinen Erfinder wendet.»3

Die E-Mail eines anderen jungen Bankers bestätigt diese Geisteshaltung. Ihr Autor ist Jérôme Kerviel, der Wertpapierhändler, welcher der französischen Großbank Société Générale 2007 einen Verlust von 4,9 Milliarden Euro beschert haben soll. Er wurde inzwischen von der französischen Justiz verurteilt, während sein Arbeitgeber im Großen und Ganzen verschont blieb, obwohl er auch mitverantwortlich für die Ausbreitung dieser Kasino-Wirtschaft und der entsprechenden Mentalität war. Ich zitiere:

«Den idealen Modus operandi in einem Handelsraum kann man in einem Satz zusammenfassen: Man muss wissen, wie man das größte Risiko eingeht, um der Bank die größtmöglichen Gewinne zu bescheren. Angesichts dieser Regel wiegen die elementarsten Vorsichtsgrundsätze nicht schwer. Bei der großen Geldorgie werden die Trader genauso behandelt wie jede x-beliebige Prostituierte: Eine kurze Anerkennung, dass der Tagesumsatz in Ordnung war.»4

Abschließend macht ein Artikel von Sam Polk, der als Trader für einen spekulativen Fonds tätig war, eine weitere Dimension des Problems deutlich: Für ihn wie für viele seiner Kollegen wird Geld zur Droge. Hier ein Auszug:

«Während meines letzten Jahres an der Wall Street betrug mein Bonus 3,6 Millionen Dollar und ich war wütend, weil das nicht genug war. Ich war 30 Jahre alt, hatte keine Kinder, keine Schulden abzuzahlen, kein philanthropisches Ziel vor Augen. Ich wollte mehr Geld und zwar aus dem gleichen Grund, wie ein Alkoholiker noch ein Glas braucht. Ich war süchtig.»

Und er fügt an anderer Stelle hinzu:

«Nicht nur, dass ich nicht dabei half, Lösungen für die Probleme der Welt zu finden, ich profitierte auch noch davon.»5

Beim Lesen dieser E-Mails und Selbstzeugnisse kristallisieren sich weitere Merkmale der heutigen Gesellschaft heraus. Innerhalb der Finanzsphäre, dem Nervenzentrum der Wirtschaft, überwiegen Käuflichkeit, das Fehlen anderer als finanzieller Werte und ein moralisches Vakuum. Der pure Zynismus desillusionierter, geldsüchtiger junger Leute, die ihre Abschlüsse an den renommiertesten Universitäten erst seit Kurzem in der Tasche haben, wird nicht nur geduldet, sondern von ihren Arbeitgebern stillschweigend gefördert. Hinzu kommt, dass diese Hochschulen sich häufig damit brüsten, die brillanten Köpfe auszubilden, die das Zeug dazu haben, in den Handelsräumen der größten internationalen Banken zu agieren. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen und der Integrität ihrer Absolventen ist für sie nicht wirklich relevant. Dank der massenhaften Einstellung von Wertpapierhändlern, das heißt zu häufig von skrupellosen Söldnern, können sich Großbanken aktiv am gegenwärtigen Finanzkrieg beteiligen, in dem die Wetten der Kasino-Wirtschaft6 zu Massenvernichtungswaffen werden,7 welche Staaten und Unternehmen erschüttern. Die Menschen, die unter den Folgen dieses Zynismus leiden, sind viele, und ein Großteil der heutigen Generation ist hilflos angesichts einer anscheinend ausweglosen Lage, die geradewegs in die Hoffnungslosigkeit führt.

Ein Krieg ohne Grenzen

Heute wird die europäische Jugend nicht mehr massenhaft in Schützengräben oder auf Schlachtfeldern getötet. Stirbt heute jemand vor der Zeit, dann bei einem Verkehrsunfall oder durch Selbstmord.8 Und doch wird unsere Jugend in einen Krieg anderer Art hineingezogen, in den Finanzkrieg, und sie spürt die Folgen am meisten. Die Jugendlichen leiden unter Depressionen9, Alkoholabhängigkeit10 und Übergewicht – das sind allesamt Begleiterscheinungen der Not und Verzweiflung. Wovor fürchten sie sich? Vor der Zukunft und vor Gefahren wie Arbeitslosigkeit und Unsicherheit, die durch die finanzielle Instabilität bedingt sind. Die heutige junge Generation wird durch die Medien abgestumpft, die zumeist Belangloses als wichtig darstellen und wichtige Themen, wenn überhaupt, in belangloser Form abhandeln. Da den Jungen die Einsichten fehlen, um zu erkennen, worum es wirklich geht, erscheint ihnen die Zukunft allzu oft düster und somit beunruhigend. Eine massive Unterbeschäftigung11 hat sich in unserer Gesellschaft eingenistet, und die Folgen sind immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse sowie die Ausgrenzung von ganzen Teilen der Bevölkerung. In der Praxis bedeutet dies, Schwierigkeiten zu haben, sich ein Leben aufzubauen und eine Perspektive zu haben. Tatsächlich ist das erneute Wachstum nicht in der Lage, die Wirtschaft zu stabilisieren und massiv nachhaltige Arbeitsplätze zu schaffen.

Insgesamt hat die Finanzkrise weltweit mehr als 30 Millionen zusätzliche Arbeitslose12 hervorgebracht, diejenigen nicht eingerechnet, die in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen. Diese Tendenz ist umso akzentuierter, als die Erhöhung der Arbeitsproduktivität im aktuellen Kontext des begrenzten Wachstums zu häufig dazu führt, die Unterbeschäftigung zu steigern, anstatt mehr Freizeit zu schaffen, wie dies in einer gut organisierten Gesellschaft der Fall sein sollte. Die Krise scheint zur Dauereinrichtung geworden zu sein, da alle Maßnahmen, die sie angeblich bewältigen sollen, sie lediglich verlängern. Diese permanent gewordene Krise ist sehr tiefgreifend und resultiert aus einem weltweiten Finanzkrieg, der eine große Mehrheit der Weltbevölkerung im großen Maßstab beraubt und arm macht. Der Finanzmoloch fordert Opfer. Dieser Konflikt ist asymmetrisch, denn er geht hauptsächlich von der Finanzplutokratie aus, einer sehr kleinen Minderheit, die nicht einmal 0,01 % der Weltbevölkerung ausmacht.

Die Schauplätze dieses Krieges sind vielfältig und liegen auf verschiedenen Kontinenten. Europa gehört dazu, natürlich mit dem Fokus auf Griechenland. Einige Viertel von Athen wurden durch diese Finanzkrise in seltener Heftigkeit regelrecht verwüstet. Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Ordnungskräften, Arbeitslosigkeit und weitverbreitete soziale Unsicherheit sind die Merkmale dieses Finanz- und Gesellschaftskrieges, der gemeinsam von der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) geführt wird.

Afrika ist ein weiterer Schauplatz dieses Krieges ohne Grenzen. Die Verliererländer in diesem wirtschaftlichen und finanziellen Konflikt sind häufig auf diesem Kontinent zu finden. Eine Folge ihrer Niederlage ist, dass diese Länder zur Müllkippe für die industriellen Abfälle der entwickelten Welt geworden sind. Bekanntlich erzeugt das Aushängeschild der Modernität – der Informatiksektor – Tausende Tonnen Abfall. Einige afrikanische Länder, insbesondere Ghana, sind zu riesigen Abfallhalden unter freiem Himmel geworden. Statt in die Schule zu gehen, verbringen Kinder und Jugendliche ihre Tage damit, mit behelfsmäßigen Werkzeugen unsere kaputten Computer zu zerlegen, um bestimmte Metalle auszulösen und sie zu verkaufen. Sie sind toxischen Stoffen ausgesetzt. Ihre Arbeit ist gefährlich. Das tägliche Überleben ist ein ständiger Kampf.

Gleichzeitig erzeugt im Nahrungsmittelsektor die ungezügelte Spekulation eine Lebensmittelunterversorgung für zahlreiche afrikanische Länder. Gemäß einem Bericht der FAO13 litten zum Beispiel im Jahre 2008 mehr als 900 Millionen Menschen an Unterernährung. Die weltweite Getreideerzeugung in diesem Jahr hätte jedoch leicht ausgereicht, um den Bedarf aller Menschen abzudecken.14 Heute verhungern jeden Tag ungefähr 25 000 Menschen, davon 8600 Kinder.15

Auch Amerika ist zum Schauplatz dieses ausgedehnten Krieges geworden, unter dem ein Großteil der Amerikaner leidet. Zahlreiche Ingenieure, Informatiker, Juristen, Physiker und Mathematiker, die die USA dringend brauchen würden, werden von der Wall Street aufgesogen. Die Subventionen und Vorteile aller Art, die den großen Banken und den Spekulationsfonds16 zufließen, erlauben es ihnen, diesen Spezialisten Spitzengehälter zu zahlen.

Die so verschwendeten intellektuellen Ressourcen und öffentlichen Mittel fehlen in den für die Bevölkerung wesentlichen Bereichen. Die Erneuerung der Infrastruktur, beispielsweise der Eisenbahnen oder Flughäfen, sollte eigentlich Priorität haben, da sie den Bedürfnissen einer großen Mehrheit entspricht, die weder über Helikopter noch über Privatjets verfügt, um sich fortzubewegen. In die Gesundheit und die Bildung zu investieren, sollte eine weitere Priorität darstellen. Spitäler, Schulen und öffentliche Universitäten benötigen ganz offenkundig beträchtliche finanzielle Mittel.17 Brücken, Kanalisationssysteme, Staudämme18 zu unterhalten und zu sichern, dies alles fällt in die Zuständigkeit einer Regierung. Unglücklicherweise treten diese Aufgaben in den Hintergrund. Der Finanzsektor tut alles, damit seine Interessen an erster Stelle kommen. Zwischen 1998 und 2008 wurden seitens des Finanzsektors 1,7 Milliarden Dollar ausgegeben, um Wahlkampagnen seiner Verbündeten zu finanzieren, und 3,4 Milliarden für Lobbyarbeit.19 Gemäß Fortune Magazine20 hat die Wall Street 2 Milliarden Dollar bezahlt, um die Wahlen der USA von 2016 zu beeinflussen, sowohl diejenige des Präsidenten als auch diejenigen der Senatoren sowie des Repräsentantenhauses. Dieses Investment war gut diversifiziert, da sowohl die Wahlkampagne der Republikaner, insbesondere von Donald Trump, als auch jene der Demokraten, also von Hillary Clinton, unterstützt wurden. 55 % der Gelder gingen an die Ersteren, 45 % an die Zweitgenannten. Die Beiträge von Großbanken wie Wells Fargo, Citibank und Goldman Sachs beliefen sich jeweils auf 12 bis 15 Millionen Dollar. Was JPMorgan Chase, Bank of America und Morgan Stanley betrifft, handelt es sich um 10 Millionen Dollar je Institution. Auch Hedgefonds blieben nicht untätig. So hat zum Beispiel Renaissance Technology 53 Millionen Dollar «gespendet». Die UBS ist auch betroffen. Gemäß der «NZZ am Sonntag» haben «Angestellte von UBS Americas […] der laufenden Wahlkampfperiode über das bankeigene PAC bereits fast 1 Mio. $ gespendet. 591 750 $ flossen an Republikaner, nur 388 500 $ an Demokraten.»21

Die Wall Street will im Krieg gegen die Main Street ihre Stellungen halten. Das Wachstum des Finanzsektors ist für die Wirtschaft und die Gesellschaft gefährlich. Im Zeitraum von wenig mehr als einem halben Jahrhundert, von 1950 bis 2006, ist der Finanzsektor in den USA von 2,8 % auf 8,3 % des BIPs gewachsen.22 Dieser Zuwachs hat das wirtschaftliche und soziale Ungleichgewicht verschärft und ist 2008 in eine Krise gemündet, die andauert und deren chronische Erschütterungen die Gesellschaft ins Wanken bringen, in den USA genauso wie in den anderen Ländern.

Zu Anfang des Jahres 2005 zeigte sich dieser Finanzkrieg in Brasilien in einer besonderen Ausprägung. Das Land war nicht mehr flüssig, aber in der Grundbedeutung des Begriffes. Es geht um das Wasser, ein lebensnotwendiges Gut! Der Südosten Brasiliens litt unter einer besorgniserregenden Trockenheit. Die Wasservorräte befanden sich auf historischem Tiefstand. Zwei Phänomene erklären diese Situation: Zum einen war die Niederschlagsmenge zu gering, zum anderen verschwand das Regenwasser in den defekten Abwasserkanälen. Es ist wahrscheinlich, dass die andauernde Abholzung des Regenwaldes im Amazonas der eigentliche Grund für die außergewöhnliche Trockenheit im Südosten Brasiliens war. Hinsichtlich des zweiten Phänomens hat die für die Wasserversorgung von São Paulo zuständige Gesellschaft Sabesq seit zahlreichen Jahren nicht ernsthaft in die Kanalisation investiert. Sie zieht es vor, große Dividenden auszuschütten, statt Geld für die Modernisierung des Wasserversorgungsnetzes auszugeben. Zwischen 2007 und 2014 betrugen die Profite dieser Firma, einer der rentabelsten des Landes, ungefähr 10 Milliarden Real, das heißt 3,23 Milliarden Euro oder 3,4 Milliarden Schweizer Franken. Von diesem Betrag ging ungefähr ein Drittel an die öffentlichen und privaten Aktionäre. Derartige Dividenden sind in diesem Sektor selten. Das, was von den Profiten übrig blieb, wurde nicht wirklich verantwortungsvoll investiert. Der Prozentsatz an Wasserverlust durch Versickerung lag in São Paulo bei 36 %, was 435 Milliarden Litern jährlich entspricht! Für Sabesq gilt: Investitionen in den Unterhalt der Kanalisation würden die kurzfristigen Profite schmälern; der Wasserverlust durch leckende Leitungen dagegen verursacht nur unerhebliche Kosten. Die Boni der Direktoren orientieren sich lediglich an den erwirtschafteten Profiten, ohne dass der geringste Effizienzindikator zur Anwendung käme.23

Die Ursache für beide Phänomene ist die auf kurzfristige Ergebnisse eingestellte Finanzlogik. Sie entspricht den Interessen einer Elite, die zu häufig korrupt ist, und dies zum Nachteil der Grundbedürfnisse der Bevölkerung.

Wie es so weit gekommen ist

Von 1814 bis 1914, also vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erlebte die Menschheit ein Jahrhundert des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritts, der in der Geschichte einzigartig war. Die nachfolgenden hundert Jahre konnten die Erwartungen jedoch nicht erfüllen. In Kriegen und anderen Konflikten starben mehr als 200 Millionen Menschen:24 Auf den Ersten Weltkrieg folgte die Weltwirtschaftskrise 1929, die fürchterliche Diktaturen hervorbrachte, hauptsächlich in Deutschland und der UdSSR, aber auch in Italien, Spanien und Japan. Durch die Erstarkung dieser Diktaturen kam es zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit seinen Blutbädern und Todeslagern. Das Ende des Zweiten Weltkriegs – mit der Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis durch die USA – markierte den Eintritt der Menschheit – oder dessen, was noch davon übrig war – in ein neues Zeitalter: das der militärischen und zivilen Nutzung der Atomkraft und der Konfrontation der beiden Supermächte USA und UdSSR, des Kalten Krieges. Der Wiederaufbau während der dreißig «glorreichen» Nachkriegsjahre, wie sie in Frankreich genannt werden – in Deutschland spricht man vom «Wirtschaftswunder» –, brachte Westeuropa eine gewisse Stabilität und Wohlstand.

Die 1970er Jahre mit dem Vietnamkrieg und den Ölpreiskrisen stellten eine Wende dar. Mit der Wahl Ronald Reagans in den USA und Margaret Thatchers in Großbritannien begann die Ära der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik,25 zunächst in diesen beiden Ländern, später aber auch in den meisten anderen westlichen Staaten. Nach dem Fall der Berliner Mauer konnte sich diese Politik ebenso in der ehemaligen UdSSR sowie ihren Ex-Satellitenstaaten durchsetzen. Auch China machte sich diese Wirtschaftspolitik zu eigen; sie ist heute weltweit vorherrschend. Dem amerikanischen Intellektuellen Francis Fukuyama zufolge sollte die weltweite Einführung der neoliberalen Agenda das «Ende der Geschichte» einläuten – eine Zeit, in der nicht nur die liberalen Prinzipien, sondern auch die entsprechenden demokratischen Ordnungen ein weltweites Gleichgewicht und Frieden ermöglichen sollten. Ihm zufolge sollte es mit dem Ende des Kalten Krieges zum internationalen Konsens für die liberale Demokratie kommen.

Die Manipulation und die Kontrolle der öffentlichen Meinung

Unsere derzeitige Gesellschaftsordnung basiert auf einer finanzdurchdrungenen Wirtschaft und wird oft als letztes und somit unüberwindbares Stadium der Entwicklung des Kapitalismus dargestellt. Doch was ist davon zu halten? Ist unsere aktuelle Situation charakteristisch für einen Kapitalismus in voller Expansion, dessen Entfaltung die ganze Welt immerwährend mit seinen Wohltaten, einschließlich den demokratischen, beglücken könnte? Das darf wohl bezweifelt werden. Erinnert die gegenwärtige Situation nicht eher an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die westliche Zivilisation von ihrer Überlegenheit über den Rest der Welt überzeugt war, bis … der Erste Weltkrieg ausbrach? Auf der Grundlage oder unter dem Vorwand der Ereignisse in der Ukraine macht sich in Europa ein neuer kalter Krieg breit und der Absturz und beschleunigte Verfall der Zivilisation ist bereits in vollem Gange. Die demokratischen Grundprinzipien werden mit Füßen getreten, wie das System PRISM zur Überwachung der elektronischen und telefonischen Kommunikation zeigt, das von Edward Snowden26 aufgedeckt wurde. Ein demokratischer Staat würde weder die Korrespondenz seiner Bürger oder sogar der ganzen Weltbevölkerung lesen noch ihr Tun und Treiben ausspionieren oder gar in Zukunft, falls technisch machbar, versuchen, ihre Gedanken zu lesen. An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, an den Wortlaut von Artikel 12 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung zu erinnern:

«Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr ausgesetzt werden.»

Die von George Orwell in seinem Roman 1984 beschriebene Gesellschaft scheint vor unseren Augen Wirklichkeit zu werden oder wird von der Wirklichkeit sogar noch überholt. Die Technologie lässt Albträume wahr werden! Durch die allumfassende, intensive Überwachung der Bevölkerung wird die Demokratie schrittweise zersetzt. Die Geschichte der Menschheit verdient ein besseres Ende.

Die Manipulation der öffentlichen Meinung durch das Geschäft mit der Angst greift immer weiter um sich. Heute sind es die nationalen Banken-Flaggschiffe, die es um jeden Preis zu retten gilt, um einen totalen Zusammenbruch zu verhindern. Diejenigen, welche toxische Finanzprodukte herausgeben und von einer Krise profitieren, welche sie selber weitgehend verursacht haben – ebendiese Firmen müssen wir nun mit öffentlichen Mitteln wieder flottmachen, im Namen der Stabilität und des wirtschaftlichen Wohlergehens. Früher war es im Namen der Zivilisation, der Nation, der Demokratie, aus Angst vor der Barbarei und um «ein für allemal Schluss zu machen mit allen Kriegen», dass der angeblich allerletzte Krieg geführt werden musste. In Wirklichkeit hatten jedoch Waffenhersteller wie Krupp in Deutschland und Schneider in Frankreich mächtige Interessen zu verteidigen. Die Angst vor kolossalen finanziellen Verlusten für die amerikanischen Banken, die England und Frankreich Gelder geliehen hatten, war einer der wichtigsten Faktoren für den Eintritt Amerikas in den Krieg.

Gestern wie heute werden alle Opfer gefordert – sogar die Preisgabe der Demokratie–, um die mächtigen Banken gegen ihre selbstverschuldeten Risiken abzusichern und um sie am Leben zu erhalten. Die Fortsetzung der eingangs zitierten Passage aus dem Roman Die Thibaults behält heute leider nach wie vor ihre Schärfe:

«Nie zuvor haben die Machthaber den Verstand in so harte Fesseln gelegt …»27

Die Macht und die Lobbys der Finanzoligarchie

Die Prinzipien der Demokratie werden zurzeit insbesondere im Bereich der Wirtschaft mit Füßen getreten. Unabhängig von den Wahlergebnissen ist nur eine Politik maßgeblich: die der Finanzoligarchie. Diese ist dermaßen von der Überlegenheit und Vorrangstellung ihrer Interessen vor denen der Wirtschaft und Gesellschaft überzeugt, dass sie sie nicht einmal mehr diskutiert. Ihre Lobbyisten präsentieren dabei die Interessen des Finanzsektors als Interessen der Gesellschaft und Wirtschaft. Aber das ist noch nicht das Schlimmste: Die Mehrheit unserer Politiker ist davon ebenfalls überzeugt oder tut jedenfalls so!

Die Finanzkaste schöpft astronomische Summen aus der Realwirtschaft ab. Im Rahmen der Kasino-Finanzwirtschaft, die jeglicher selbstreklamierter Unternehmerlogik widerspricht, zirkulieren die Gelder immer schneller, mit zweifelhaften Wetten auf den Zahlungsausfall oder Konkurs von Unternehmen, Banken oder Staaten. So werden die klassischen, der Wirtschaft immanenten Finanzgeschäfte in den Hintergrund gedrängt. Charakteristisch für diese Wetten ist, dass sie häufig unter Abwälzung der Risiken auf den Rest der Gesellschaft erfolgen. Manche Finanzinstitute, die als «too big to fail» bezeichnet werden, haben es nämlich geschafft, eine kritische Größe und einen gewissen Vernetzungsgrad im Wirtschafts- und Finanzgefüge zu erreichen; bei diesen Finanzinstituten ist es der Staat und letztendlich der Steuerzahler, die Rentnerin, die Kundin und der Arbeitslose, der oder die für die Risiken aufkommen und im Verlustfall die Zeche zahlen. Diese finanzdurchdrungene Wirtschaft schwächt und erpresst in großem Umfang unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Gefüge.

Aber was machen die politisch Verantwortlichen weltweit eigentlich, um Abhilfe zu schaffen und gegen die Kasino-Finanzwirtschaft anzugehen? Sie treffen sich, und zwar oft! Das beruhigt uns ungemein. Der Reigen ihrer Sitzungen grenzt ans Lächerliche, und sie haben die wesentlichen Probleme nicht gelöst. Das Schauspiel, das Europas politische Führungsriege dabei bietet, ist freilich sorgfältig durchdacht: Roter Teppich wie beim Filmfestival von Cannes, öffentliche Erklärungen, gefolgt von Verhandlungen, Gruppenfotos, Pressekonferenzen und Eigenlob – und doch ist es niederschmetternd.

Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus spricht im Vorwort von Die letzten Tage der Menschheit, einem Werk mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg, von «den Jahren, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschen spielten».28 Ein Jahrhundert später hat dieser Satz immer noch seine volle Gültigkeit. Diese Figuren, dazu bestellt, die Autorität des Staates zu verkörpern, wirken häufig desorientiert. Sie erwecken den Eindruck, völlig im Dunkeln zu tappen. Sie haben zwar das Anliegen, die Finanzmärkte zu beruhigen, erreichen dieses Ziel aber jeweils nur für kurze Zeit. Ihre Lösungen sind kurzlebig, weil sie ein aussichtsloses Ziel verfolgen. Der Neoliberalismus ist eine neue Religion, die Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwirtschaft fordert. Der Versuch, die Finanzmärkte zu beruhigen, erweist sich als gefährlich und illusorisch.

Die permanente Krise

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