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Kapitel 1 Ich ging los und kam später an als erwartet

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Die meisten, die hastig an ihr vorbeigehen und nur einen flüchtigen Blick auf sie werfen, werden wohl denken, Lara Bach sei nur ein gewöhnliches Mädchen. Manche werden finden, sie sei hübsch, mit ihren langen braunen Haaren und den schimmernden, großen Augen, den leichten Lachfalten und der kleinen Nase, aber nicht außergewöhnlich genug, um sie anzusprechen. Einige werden sich fragen, wohin sie wohl will mit ihrem entschlossenen Gang und woher wohl die leichte Trauer in ihren Augen kommt. Viele, wenn nicht alle, werden davon ausgehen, dass nichts sie von anderen ihren Alters abhebte. Lange im Gedächtnis wird sie aber wohl keinem bleiben, der ihren Weg nur zufällig kreuzt. Aber was machte dieses Mädchen besonders? Was unterschied sie von der Masse? Nun, das hing ganz davon ab, wen man fragte.

“Man, ich bin mir hundertprozentig sicher, dass du kräftig geschummelt hast, und eines Tages finde ich auch heraus, wie du das angestellt hast. Kann doch nicht angehen, dass du uns einfach so an der Nase herumführst”, seufzte Anna Kochinski, als sie mit Lara an ihrer Haustür stand und die frische Luft des späten Abends einatmete.

“Tja, die Sache ist die, wenn man wirklich gut in etwas ist, ist der größte Nachteil, dass niemand einem den Erfolg gönnt und alle denken, man würde bescheißen”, sagte Lara zufrieden lächelnd.

“Ist ja nicht so, dass bei Uno auch Glück eine große Rolle spielt. Aber so viel Glück, wie du heute hattest, ist doch schon sehr verdächtig”, meinte Anna, die eigentlich keine schlechte Verliererin war. Aber irgendwo hat wohl jeder seine Grenzen.

“So eine Glückssträhne tut auch mal gut”, sagte Lara: “Auch wenn es nur beim Kartenspiel ist. Du kannst mir das ruhig mal gönnen.” Lara streckte frech die Zunge heraus.

“Hey, ich habe doch extra weitergespielt als du mich angebettelt hast. Ich hätte auch wie Philipp irgendeine Ausrede erfinden können, um vorzeitig abzuhauen und der Schmach zu entgehen, aber als deine beste Freundin lass ich mich von dir doch mit Freuden vernichtend schlagen”, rechtfertigte sich Anna. Die Außenbeleuchtung ging aus und beide Mädchen zappelten wild herum, um den Bewegungsmelder zu aktivieren.

“Ich glaube nicht, dass ‘Ich habe noch ein Abendessen mit der Bundeskanzlerin’ eine Ausrede war. Oder warum hatte Philipp sonst sein gutes Garfield-Shirt an”, sagte Lara und das Lachen der beiden Freundinnen hallte durch den Nachthimmel.

“Naja, ich werde dann mal losgehen”, sagte Lara und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Anschlag zu (und klemmte sich fast das Kinn ein).

“Und du bist dir ganz sicher, dass du alleine nach Hause laufen willst? Wer weiß, was für seltsame Kreaturen nachts herumlaufen”, fragte Anna besorgt.

“‘Seltsame Kreaturen’? Meinst du Kobolde oder so?”, scherzte Lara.

“Du weißt genau, was ich meine”, sagte Anna augenrollend.

“Hey, vergiss nicht, ich habe mal Karate gemacht. Da muss sich so eine Kreatur erst einmal trauen, sich mit mir anzulegen”, sprach Lara selbstbewusst.

“Du hast also Karate gemacht, huh?”, bohrte Anna nach ohne eine Miene zu verziehen.

“Ja”, sagte Lara, nicht mehr ganz so selbstbewusst.

“Du hast dich für einen Kurs angemeldet…”, stellte Anna richtig: “Und bist nicht hingegangen.”

Nichtsdestotrotz war Lara nun alleine auf dem Weg nach Hause. Es war nicht weit; sie musste nur ein Stück am Flussufer entlang gehen und dann hatte sie schon den größten Teil ihres Weges geschafft. Sie schlenderte leise pfeifend durch die kühle Luft und fragte sich, ob sie jemals wieder so eine Glückssträhne wie heute haben würde. Ihr kam die Idee, sie sollten nächstes Mal vielleicht um Geld spielen (Doch wie sollte sie die anderen beiden jetzt noch davon überzeugen?).

Tausendmal besser als Philipps Vorschlag, Strip-Uno zu spielen

Lara musste schmunzeln, schließlich wusste sie, dass ihr Kumpel das nicht ernst gemeint hatte.

Ihr Pfeifen ging in ein leises Summen über, die Melodie blieb die gleiche. Lara hatte es nicht eilig, so war sie nicht so müde, dass sie sich unbedingt auf der Stelle ins Bett fallen lassen wollte. Ihr Vater wusste außerdem, dass es später werden konnte, wenn sie bei ihren Freunden war.

In der Ferne sah Lara eine Gestalt, die in ihre Richtung lief. Umso näher sich die beiden kamen, desto besser erkannte Lara, dass die Gestalt nicht ganz gerade lief. Der schwankende, torkelnde Gang machte klar, dass ein Betrunkener immer näher kam.

Eine Mischung aus Wut und Ekel breitete sich in Lara aus. Der Wunsch, umzudrehen und einen anderen Weg zu nehmen, kam in ihr hoch, aber sie ging weiter.

Beruhig dich. Er hat das Recht, betrunken zu sein. Er tut ja keinem was. Das hoffte Lara zumindest, denn jetzt, so ganz alleine mitten in der Nacht, bekam sie schon ein mulmiges Gefühl. Was war, wenn Annas Sorge doch berechtigt war? Das war bestimmt, was Anna im Sinn hatte, als sie von seltsamen Kreaturen sprach. Wenige Meter vor Lara blieb der Betrunkene stehen und Lara fragte sich, was er wollte.

Sollte sie auch stehen bleiben? Lieber nicht; einfach zügig weiter gehen.

“Da lang”, lallte der Mann, zeigte mit dem Zeigefinger nach vorne, schwankte kurz und lief unbeirrt weiter, als wäre Lara gar nicht da. Diese atmete erleichtert auf als sie aneinander vorbei waren.

Nun hatte sie es schon etwas eiliger, nach Hause zu kommen, in das sichere Bett zu kriechen und nicht mehr an den Heimweg zu denken.

Da hörte sie hinter sich ein lautes Platschen, als wäre etwas Schweres ins Wasser gefallen. Aber da war doch nichts, außer…

Lara drehte sich unverzüglich um und der Weg am Flussufer war leer. Er konnte aber doch gar nicht leer sein. Lara schaute zum Wasser und sah Luftblasen an die Oberfläche steigen und kreisrunde Wellen sich ausbreiten.

“Verdammte Scheiße!”, stieß das junge Mädchen aus. Panik und Entsetzen krochen in ihr hoch. Sie zögerte. Und sie wollte es nicht akzeptieren, dass sie zögerte. Sie wollte es nicht akzeptieren, nichts zu tun.

Schnell legte sie ihre Jacke und ihr Smartphone auf den Boden und sprang.

Ihre Muskeln zogen sich zusammen, als sie in das kalte Wasser eintauchte. Selbst wenn sie hätte unter Wasser atmen können, umgeben von diesen Temperaturen wäre es ihr schwer gefallen. Doch sie versuchte, sich zu konzentrieren und tauchte tiefer.

Im dunklen Nass griff ihre Hand das Hemd des anscheinend bewusstlosen Mannes und ihr Arm umklammerte dessen Oberkörper. Kräftig stießen sich Laras Beine vom Grund ab und ihr Kopf durchstieß die Wasseroberfläche. Sie zog den Mann schwimmend zu einer kleinen Leiter am Ufer. Jetzt musste sie ihn irgendwie da hoch bekommen.

Ein Kopf schaute über den Rand des Ufers. Hilfe, die Lara jetzt gut gebrauchen konnte.

“Ich werde dir helfen. Halte seinen Arm hoch; ich werde ihn nach oben ziehen”, sagte der junge Mann ruhig.

Lara nickte und folgte der Anweisung. Der junge Mann ergriff den Arm und zog den Betrunkenen nach oben, während Lara mit aller Kraft von unten drückte. Gemeinsam gelang es ihnen schnell, den Körper heil ans sichere Ufer zu bringen, wo der Betrunkene wieder zu sich kam (sofern er je ganz bei sich war). Er prustete und hustete und das nicht zu knapp. Dann zitterte und bibberte er und setzte sich aufrecht hin.

Lara, der natürlich selbst fürchterlich kalt war, brachte als sie ihr Smartphone holte ihre Jacke mit und legte sie um den nassen Mann, um ihm zumindest ein wenig Wärme zu schenken.

“Kümmer du dich kurz um ihn. Ich rufe schnell die Polizei”, bat sie den jungen Mann keuchend und wählte den Notruf. Langsam beruhigten sich ihr Atem und ihr Herzschlag wieder, während sie der Dame am anderen Ende die Situation erklärte.

“Die kommen gleich”, erklärte Lara dem jungen Mann, den sie jetzt zum ersten Mal richtig wahrnahm. Er war etwa 10 Zentimeter größer als sie (Sie war 1,72 Meter als sich sich zuletzt gemessen hatte). Sein Körper war schlank, als “Lauch” hätte Lara ihn aber wohl nicht bezeichnet. Das Gesicht war halt das eines jungen Mannes, sodass man beim Anblick weder vor Schrecken noch vor Begeisterung in Ohnmacht fällt. Auch seine Frisur hatte man schon mal gesehen; kurz und vorne locker hochgestyled.

“Ich heiße übrigens Lara”. Wenn man schon mal so etwas miteinander erlebt, sollte man auch den Namen des anderen wissen, dachte Lara sich.

“Ich bin...Leon”, sagte der Junge, fast so als hätte er seinen eigenen Namen kurz vergessen: “Nicht die normalste Art, einen anderen Menschen kennenzulernen, hab ich Recht?”

“Du sagst es”, gab ihm Lara Recht: “Naja, meine beste Freundin habe ich kennengelernt, als wir zusammen einen Flugzeugabsturz überlebt haben und drei Monate auf einer einsamen Insel überleben mussten. Und dann kenn ich noch einen, dem sind geheime Regierungsakten in die Hände gefallen und ich war seine Taxifahrerin, als er durch die halbe Stadt vor dem FBI geflohen ist.”

Nun hoffte Lara, dass der Typ kein totaler Vollidiot war und ihr das am Ende auch noch glaubte. Und sie hoffte, er würde ihr verzeihen, dass sie gleich wie ein Wasserfall geschwafelt hat, das war nun mal ihre Art, mit der Aufregung fertig zu werden.

“Das ist ja aber wirklich ein sensationeller Zufall. Mein Vater war nämlich Pilot in eben diesem Flugzeug und meine Mutter ist FBI Agentin und erzählte mir von gestohlenen Akten”, sagte Leon und Lara war heilfroh, dass er es mit Humor aufnahm. Beide lächelten. Der Betrunkene hustete.

“Er hat jetzt auch eine Geschichte mehr zu erzählen”, meinte Lara mit Blick auf den Mann, der ihr das ganze eingebrockt hatte: “Na gut, er wird sich nicht daran erinnern, aber die Polizei wird es ihm schon erklären.”

“Keine besonders gute Erinnerung, oder?”, sagte Leon etwas nachdenklich.

“So ist das Leben”, sagte Lara und diese dahingesagte Phrase löste irgendwas in Leons Augen aus. Lara konnte es nicht zuordnen, kümmerte sich aber auch nicht lange darum, so dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet (Es war schließlich dunkel, spät und kalt).

Kurz schwiegen beide und beobachteten den Mann, der immer noch auf dem Boden kauerte, dann sagte Leon: “Ich finde ehrlich gesagt, wenn man sich unter solchen Umständen kennenlernt, darf man sich nicht einfach aus den Augen verlieren. Also wie wäre es, wenn wir uns nochmal treffen, unter angenehmeren Umständen?”

War das jetzt eine Anmache, fragte sich Lara. Wenn, dann zumindest mal keine schmierige oder perverse, aber Lara wollte gerade keine Beziehung und etwas anderes schon gar nicht.

“Äh...ähm”, stammelte sie nur. Es war ihr etwas unangenehm. Wäre sie in einem Cartoon, würde sich jetzt eine einzige, große Schweißperle an ihrer Stirn zeigen.

“Nicht so wie du denkst. Als Freunde natürlich”, stellte Leon richtig und Lara könnte schwören, an seiner Stirn würde sich jetzt auch eine Schweißperle zeigen: “Du scheinst ein interessantes Mädchen zu sein. Solche Menschen suche ich.”

Nun wurde Lara rot wie ein Ziegelstein. ‘Interessantes Mädchen’ war ein Kompliment, das sie noch nie bekommen hatte; wenn es denn ein Kompliment war.

Aber wie sie es kurz wirken ließ, fand sie auch Leon auf eine gewisse Weise interessant. Er war zumindest sympathisch und hatte auch irgendwie damit Recht, dass so ein Vorfall zwei Menschen verbindet.

“Gut”, sagte Lara: “Dann treffen wir uns nochmal. Rein freundschaftlich natürlich.”

Und damit war es beschlossen.

Der Wunderschönste Zufall

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