Читать книгу Tödliche Täuschungen - Marcelo Strumpf - Страница 4
Tag 1
ОглавлениеSamstag, den 2. Mai 1998
Seit sie die Autovermietung am Flughafen von Plymouth verlassen hatten, war aus den neu entfachten Spannungen eine unüberwindbare Mauer aus unterdrückten Aggressionen gewachsen. In Dominik rumorte der Groll, vor allem auf sich selbst, weil er Anna nachgegeben und dann doch den protzigen Jaguar genommen hatte, statt den von ihm ursprünglich reservierten Mittelklassewagen. Das war typisch für sie, dachte er. Sie war immer so auf Äußerlichkeiten bedacht. Und er durfte das ausbaden und jetzt zusehen, wie er mit so einem Schlitten auf den einspurigen Landstraßen zurechtkam, noch dazu bei dem für ihn ungewohnten Linksverkehr.
„Bist du sicher, dass dies der richtige Weg nach Cornwall ist?“. Anna, die auf der Rücksitzbank saß und die ganze Zeit über laut raschelnd in ihrer Modezeitschrift geblättert hatte, während sie nur einmal zynisch die „ach so zauberhafte Gegend“ kommentiert hatte, meldete sich wieder zu Wort. Mit ihrem arroganten Tonfall, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
„Ja, Milady, das ist der richtige Weg“, sagte er sarkastisch und kam sich tatsächlich wie ihr Chauffeur vor. Wie ein Bediensteter. Ein Lakai.
„Also, ich weiß ja nicht“, sagte sie noch immer von oben herab. „Mir scheint, du hast dich verfahren. Wir hätten doch schon längst da sein müssen – Miss Wilcher.“ Sie lachte laut und gekünstelt. Es klang scheppernd, wenn sie lachte.
Auch dafür hasste er sie. Seit er ihr vor Jahren erzählt hatte, er würde sich wegen der tollen Landschaften Cornwalls gerne die Fernsehfilme anschauen, die nach Rose Wilchers Erzählungen in Cornwall gedreht wurden, verspottete sie ihn damit. In letzter Zeit hatte sie nicht mal gezögert, vor den wenigen gemeinsamen Freunden ihn Rose oder – wie jetzt eben – Miss Wilcher zu nennen.
„Anna, lass dir mal was Neues einfallen. Dieser Gag ist mittlerweile so fahl wie abgestandenes Bier“, sagte er und konzentrierte sich wieder auf das Fahren. Vielleicht stimmte es sogar, und er hatte sich tatsächlich verfahren. Gut möglich, dass er irgendwo ein Hinweisschild übersehen hatte.
Die Besitzerin von »Lavinia’s Cottages«, einer Agentur, die Urlaubsdomizile in Cornwall vermietete, hatte ihn mit einer Wegbeschreibung versorgt und erklärt, er würde mit dem Auto von Plymouth höchstens eine halbe Stunde bis zum Cottage an der Bucht von Talland Hill benötigen. Jetzt waren sie schon fast eine Stunde unterwegs. Und mindestens genauso lange regnete es schon.
Der Mai-Himmel war so grau und wolkenverhangen wie heute früh, als sie von Berlin losgeflogen waren, und schien die Landschaft gänzlich verschluckt zu haben. Nur ab und an sah man vereinzelt Häuser und dahinter sanft geschwungene grüne Hügel, während sie durch einen milchig undurchsichtigen Schleier aus Nebel und Nässe fuhren.
„Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich von dir habe breitschlagen lassen, ausgerechnet in England Ferien zu machen, in einem Land, in dem es ständig regnet, es das schlimmste Essen auf der Welt und die am schlechtesten gekleideten Menschen gibt“, stichelte sie von neuem. Annas gehässiger Tonfall machte deutlich, dass sie partout streiten wollte. Sie hatte ihre Zeitschrift zur Seite auf den Sitz gelegt und beschlossen, ihn auf die Palme zu bringen. Und sicherlich hätte sie sich ins Fäustchen gelacht, wenn sie seine angeschwollene Stirnader gesehen hätte. Denn das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er, ein, wie sie fand, immerfort beherrschter Langweiler, kurz davor stand, aus der Haut zu fahren. Aber sie bekam es nicht mit. Sie war auf einmal damit beschäftigt, ihr sowieso schon tadelloses Äußeres nachzubessern. Daher sah sie auch nicht seine dunkelbraunen Augen, die im Rückspiegel jede ihrer Handbewegungen beobachteten. Wie sie ihr leuchtend kupferrotes Haar kämmte, das sie schulterlang trug und einen perfekten Kontrast zu ihrem blassen Teint und ihren smaragdgrünen Augen bildete. Und wie sie dann ihre langen Wimpern dick tuschte. Seine Wut auf Anna begann sich in Ratlosigkeit und in Erstaunen zu verwandeln.
Wie wenig doch ihr hässlicher Charakter zu ihrem schönen Äußeren passte, dachte er. Obwohl er sich auf die Fahrtrichtung zu konzentrieren versuchte, sah er im Rückspiegel, wie sie ihren Lippenstift aufdrehte und eine frische Schicht auflegte. Vor Jahren, als er sie auf einer Party bei gemeinsamen Freunden kennengelernt hatte, hatte sie kaum Make-up benutzt, bis auf den feuerroten Lippenstift, der ihren sinnlichen Mund betonte. Wann hatte er ihre Lippen eigentlich das letzte Mal geküsst? Er wusste es nicht mehr, und es spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Denn er hatte ohnehin keine Lust, Anna zu küssen. Am liebsten hätte er jetzt eine Vollbremsung gemacht. Es hätte ihm bestimmt gut getan, sich anschließend zu ihr umzudrehen, um in ihr vom Lippenstift verschmiertes Gesicht zu blicken und sie an den Grund dieser Reise zu erinnern.
„Nicht du hast dich breitschlagen lassen, mit mir in England Urlaub zu machen“, hätte er zu ihr gesagt, „sondern ich habe mich von dir überreden lassen. Du warst es, die eine gemeinsame Cornwall-Reise vorgeschlagen hatte. Diese Reise sollte dein Liebesbeweis sein. Eine Wiedergutmachung für deinen Seitensprung vor einem halben Jahr. Das hast du wohl schon wieder vergessen, nicht wahr, liebste Anna?“.
Dass sie ihn betrogen hatte, hatte er mehr oder weniger durch Zufall herausgefunden. Wie in einem schlechten Film war er sich damals vorgekommen.
Er sollte für sie einige Kleidungsstücke in die Reinigung bringen, und dort hatte die Angestellte in der Seitentasche einer Kostümjacke von Anna ein Blatt Papier gefunden und es ihm gegeben. Zunächst hatte er sich nichts weiter dabei gedacht, als er sah, dass es sich um eine Hotelrechnung handelte. Anna war ja beruflich viel unterwegs und übernachtete daher oft in Hotels. Als Gebietsleiterin im Außendienst eines Schweizer Pharmaunternehmens besuchte sie Apotheken und Arztpraxen in Berlin und im Norden Deutschlands. Doch die Rechnung war von einem Hotel in Weimar. Und Weimar lag ja bekanntlich in Thüringen, also im Süden. Wieso war sie in Weimar gewesen? Und wenn der Trip dienstlich gewesen war, dann hätte sie keine Rechnung bekommen, sondern die Swiss Pharma, die für ihre Außendienstmitarbeiter die Zimmer buchte und bezahlte. Was ihn vor allem stutzig gemacht hatte, war, dass die Hotelrechnung nicht nur auf den Namen Anna Russ ausgestellt worden war, sondern auch auf seinen eigenen Namen. Auf der Rechnung stand Dominik und Anna Russ. Anna und er waren aber nie zusammen in Weimar gewesen.
Noch am selben Abend, als sie von einer Tagung nach Hause zurückgekommen war, hatte er sie zur Rede gestellt. Zuerst war sie patzig geworden und schnauzte ihn an. Was ihm denn eigentlich einfiele, ihre Kleidung zu durchsuchen. Ob er schon mal etwas von Privatsphäre gehört hätte. Sie war in Fahrt gekommen und hatte ihm eine ihrer berühmten Szenen machen wollen, doch er nahm ihr schnell den Wind aus den Segeln, indem er ihr seelenruhig erklärte, wie und wo er die Rechnung gefunden hatte. Und da war sie sofort kleinlaut geworden und hatte ihre Strategie geändert. Sie begann eine Show abzuziehen und zu weinen. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich, denn Anna gehörte nicht zu den Frauen, die nah am Wasser gebaut waren oder zu Hysterie neigten. Daher hatte er keinen Zweifel, dass ihre Tränen Ausdruck aufrichtiger Reue waren.
Heute wusste er, dass er sich nicht von ihren falschen Tränen hätte täuschen lassen sollen. Sie hatte nicht geweint, weil es ihr leid tat, sondern weil sie ertappt worden war. Es waren Tränen der Wut auf sich. Und als er sie nur versteinert angeschaut hatte, hatte sie die Tränen versiegen lassen und begonnen, ihre Untreue als einen völlig belanglosen und schon längst beendeten Ausrutscher herunterzuspielen.
„Du weißt ja, wie das ist. Man trinkt ein Glas zu viel, und plötzlich landet man im Bett mit jemandem, den man kaum kennt. Du wirst doch bei deinen Geschäftsreisen sicherlich auch mal in Versuchung gekommen sein, oder?“
Er war nicht imstande gewesen, auf diese Unverschämtheit zu reagieren. Sie hatte tatsächlich versucht, von sich abzulenken, indem sie ihm Untreue unterstellte. Sie hatte einfach den Spieß umgedreht. Dass er sich diesbezüglich nichts vorzuwerfen hatte, sagte er ihr nicht. Er musste sich nicht ihr gegenüber rechtfertigen, schon gar nicht unter den Umständen. In den acht Jahren ihrer Ehe war er treu gewesen, obwohl es hier und da durchaus Gelegenheiten für ein Abenteuer gegeben hatte.
Als Redakteur eines Reisebuchverlags war er oft auf internationalen Buchmessen, wo es schon mal zu einem gelegentlichen Flirt mit einer Kollegin, einer Autorin oder einer Agentin gekommen war. Mehr aber auch nicht. Durchaus möglich, dass er etwas spießig war, aber Treue war für ihn keine leere Worthülse, sondern eine Tugend, die auf Vertrauen basierte. Offensichtlich legte aber Anna weder auf Treue noch auf Vertrauen Wert.
Kein Wunder, sie hielt sich ja für eine Art Femme fatale, während er selbst in ihren Augen wohl eher der biedere Typ vom Land war. Und in den letzten Monaten hatte sie ja auch deutlich gemacht, dass er, mit seinem schütter werdenden Haar und seiner legeren Art, sich zu kleiden, überhaupt nicht ihr Typ war.
Ja, sie hatte sich in den acht Jahren ihrer Ehe verändert. Spätestens, als sie bei der Swiss Pharma Karriere zu machen begann. Denn dort hatte sie es jeden Tag mit finanziell gut gestellten Ärzten und Apothekern zu tun. Und mittlerweile kannte er Anna lange genug, um zu wissen, dass Geld und Statussymbole auf sie eine aphrodisische Wirkung hatten.
Dass sie fremdgehen würde, damit hatte er dennoch nicht gerechnet – obwohl er es sich nach der Geschichte vor zwei Jahren eigentlich hätte vorstellen müssen.
Sie waren mit Freunden über Silvester zum Skilaufen nach Österreich gefahren. Annas alte Schulfreundin Alice war mit ihrem Freund Frank dabei gewesen. Außerdem noch zwei Frauen, die Alice und Anna von der Schule kannten. Zu sechst hatten sie ein kleines Ferienhaus in den Bergen gemietet und einen fröhlichen Silvesterabend mit Käsefondue verbracht. Natürlich war viel und durcheinander getrunken worden. Zu fortgeschrittener Stunde, es muss irgendwann lange nach Mitternacht gewesen sein, da passierte es. Anna, die keinen Alkohol vertragen konnte, aber mehr als üblich getrunken hatte, war vom Tisch aufgestanden und ging zum Sofa, auf dem Frank saß. Keiner von ihnen hatte mitbekommen, dass sie auf einmal auf Franks Schoß saß, ihre Arme um seinen Hals gelegt und versucht hatte, ihn zu küssen. Erst als Frank ziemlich laut „Was soll das werden, Anna?“ sagte, bekamen alle die peinliche Szene mit.
Statt sofort aufzuspringen und seine Frau von Franks Schoß wegzuzerren, hatte er sie nur fassungslos angeschaut. Er war in eine Art Starre verfallen, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Und so hatte er fassungslos zugesehen, wie Frank versuchte, Anna regelrecht abzuwehren, indem er seinen Kopf von ihrem Gesicht wegdrehte. Doch Anna, die betrunken kicherte, hatte nicht abgelassen von ihren Bemühungen. Bis Alice plötzlich vom Stuhl aufgesprungen und zu Anna rübergegangen war, um sie anzuschreien, sie solle damit aufhören. Doch Anna hatte sich nur herumgedreht, ihre Freundin von oben bis unten angeschaut, süffisant gelächelt und sich dann wieder Frank gewidmet. Erst als Alice sie von seinem Schoß heruntergerissen und ihr eine Ohrfeige verpasst hatte, war Anna zu sich gekommen. Sie schaute Alice erschrocken an und war dann wutentbrannt ins Schlafzimmer gerannt. Am nächsten Tag waren er und Anna frühzeitig abgereist.
Er hätte also sehr wohl wissen müssen, was für eine Frau er geheiratet hatte.
Und als er ihr vor einem halben Jahr die Rechnung des Hotels in Weimar vor die Nase gehalten und sie gefragt hatte, mit wem sie es dort getrieben hatte, reagierte sie gereizt.
„Wozu willst du das wissen?“, hatte sie schnippisch geantwortet. „Du kennst ihn sowieso nicht. Außerdem war das nur ein Ausrutscher und ist schon Monate her, Schnee von gestern. Mach also kein Drama draus.“
Von da an hatte er begonnen, über eine Trennung nachzudenken. Nicht, dass ein Seitensprung für ihn generell ein Trennungsgrund war. Annas lockere Art, mit ihrer Untreue umzugehen, war ein weiterer Beweis, dass sie ihn nicht liebte. Aber liebte er sie? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sie nicht mehr zusammen passten. Sie waren sich beide fremd geworden. Was für ihn am schlimmsten war: er konnte ihr nicht mehr vertrauen. Wozu blieben sie überhaupt noch zusammen? Kinder hatten sie keine, und auch sonst gab es keine Gemeinsamkeiten. Jeder ging seinem Beruf nach und lebte sein Leben.
Vielleicht war es ihr weiblicher Instinkt gewesen, dass sie an jenem Abend vor einem halben Jahr in seinem Gesicht erkennen konnte, dass er über die Möglichkeit einer Trennung nachdachte. Denn auf einmal war sie lammfromm geworden. Sie war in die Rolle eines kleinen, reumütigen Mädchens geschlüpft, hatte sich vor seinen Füßen hingehockt und wie ein hilfloses Kind ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt. Und in dem Moment war ihr wohl die Idee mit Cornwall gekommen. Um ihre Ehe zu retten, war sie bereit, nach England zu reisen, in ein Land, in das sie unter normalen Umständen nicht einmal dann in Urlaub gefahren wäre, wenn man ihr Geld dafür geboten hätte. Und das sollte schon was heißen, denn Geld war für Anna sehr wichtig. Doch dabei erwischt worden zu sein, dass sie fremdgegangen war, das war ein Ausnahmezustand, der ein besonderes Opfer von ihr abverlangte.
„Schatz, ich weiß doch, wie lange du schon nach Cornwall möchtest“, hatte sie ganz sanft und leise gehaucht und dabei seine Hände gestreichelt. „Lass uns doch diese dumme Sache vergessen und gemeinsam auf den Spuren von Rose Wilcher wandern. Wäre das nicht toll? Außerdem wolltest du doch schon lange einen Cornwall-Reisebericht schreiben, dann könntest du das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Wie findest du die Idee?“, hatte sie ihn mit einem herzerweichenden Ausdruck in ihren Augen gefragt.
Wie gerne hätte er sie jetzt an diese Szene erinnert und ihr ins Gesicht geschrien, dass diese Reise nach Südengland nur deshalb stattfand, weil er sich bereit erklärt hatte, ihr diese dumme Sache zu verzeihen, die darin bestanden hatte, dass sie – mit wem auch immer – rumgevögelt hatte, und weil er bereit gewesen war, ihr noch eine Chance zu geben. Eine Chance, die sie eigentlich überhaupt nicht verdient hatte und die sie mit ihrer schnippischen Art, die sie jetzt wieder an den Tag legte, auch nicht wirklich nutzen wollte.
Aber hier, mitten auf einer regennassen Landstraße, konnte er nicht plötzlich auf die Bremse treten. Also schluckte er wieder einmal seine Wut herunter und fuhr in einen weiteren Kreisverkehr.
„Wir sollten uns etwas zum Abendessen besorgen“, sagte er mit müder Stimme. „Da vorne ist ein Supermarkt. Und bei der Gelegenheit kann ich ja noch mal nach dem Weg fragen“.
Anna sagte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern und schaute wieder missgelaunt aus dem Autofenster.
Als er aus dem Kreisverkehr herausfuhr, hielt er auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt. „Willst du nicht aussteigen? Oder muss ich der gnädigen Frau die Tür öffnen?“. Er versuchte, witzig zu klingen, auch wenn ihm schon lange nicht mehr zum Lachen war.
„Du glaubst doch nicht, dass ich bei dem Regen rausgehe und mir die Frisur ruiniere, geschweige denn mein helles Kostüm und die teuren Manolos. Kauf meinetwegen irgendetwas ein. Salat, einen Chablis und Hummer oder Langusten. Was auch immer“, sagte sie grantig und blätterte lustlos in ihrer schon vor einer halben Stunde ausgelesenen Zeitschrift.
Zuerst wollte er ihr sagen, sie solle gefälligst mitkommen, aber das hätte eine weitere Eskalation bedeutet. Also stieg er wortlos aus, knallte die Autotür zu und rannte durch den Regen zum Eingang des Supermarktes. Es war ein riesengroßer Fehler gewesen, mit Anna nach Cornwall zu reisen, dachte er verärgert, als er sich einen Einkaufswagen nahm. Sie würde ihm den Aufenthalt gründlich vermiesen. Wie Recht er hatte, konnte er zu dem Zeitpunkt nicht wissen.
Zwanzig Minuten später kam er zurück und legte die Einkaufstüten in den Kofferraum. „Ich habe eben jemanden gefragt“, sagte er, als er wieder im Auto saß und den Motor startete. „Wir sind bald da. Haben uns nur ein wenig verfahren. Das Nest hier heißt Liskowithiel“, klärte er Anna auf und wischte seine Brillengläser mit einem Papiertaschentuch trocken.
„Ich würde sagen, nicht wir haben uns verfahren, sondern du. Oder hast du mich am Steuer gesehen? Und, ehrlich gesagt, es ist mir völlig wurscht, wo wir jetzt sind. Hauptsache wir sind bald in dem verdammten Cottage“, fuhr sie fort. „Ich will nur noch ein heißes Bad, etwas essen und dann ins Bett. Mich fröstelt es. Das einzige, das mir noch fehlt, ist, dass ich eine Erkältung bekomme. Was mich bei dem Mistwetter hier nicht wundern würde.“
Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er wieder auf die Autobahn. Mittlerweile hatte sich der schwere Regen in leichten Sprühregen verwandelt. Der dunkelgraue Himmel wurde heller, als die Sonne versuchte, sich durch die Wolkenschicht zu kämpfen. Nach etwa einer halben Meile fuhr er von der Autobahn herunter und entlang einer Landstraße, die immer schmaler wurde. Sie war zu beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt und alle paar Meter von kleinen Ausweichbuchten flankiert, in die ein Auto reinfahren konnte, falls ein anderes entgegenkam. Annas Schweigen war für ihn fast körperlich spürbar. So als würde es ihn innerlich zerreißen. Daher war er froh, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, nachdem er in einen asphaltierten Feldweg eingebogen und vorbei an Wiesengattern und Steinmauern gefahren war, hinter denen anmutige Cottages und kleine Landhäuser mit blumenreichen Vorgärten lagen. „Da vorne muss es sein“, sagte er.
„Muss was sein?“, fragte Anna desinteressiert. „Ich sehe nur ein heruntergekommenes Bauernhaus und dahinter ein weißes Haus, das ein größerer Geräteschuppen sein könnte.“
Auf der Straße vor dem Haus, das für Anna ein Geräteschuppen war, stand eine Frau, die unter ihrem knallroten Regenschirm mit schwarzen Punkten wie ein Marienkäfer aussah.
Dominik hielt vor dem weißen Cottage. Dass Anna beim Anblick des Hauses „Oh Gott!“ sagte und es kein Ausruf der Freude war, ignorierte er. Dann kurbelte er das Fenster herunter und sprach die Frau an. „Sind Sie Mrs. Wood?“.
Die Frau unter dem gepunkteten Regenschirm nickte und kam näher.
Eine so schräg angezogene Person hatte er noch nie gesehen. Sie trug einen knielangen, orangenen Lackregenmantel, aus dem schwarzweiß geringelte Leggings schauten, die in gelben Gummistiefeln steckten. Hätte sie ihre roten Haare nicht zu einer Art Turmfrisur hochgesteckt, sondern lange Zöpfe getragen, hätte sie mit der hellen Haut und den Sommersprossen wie eine in die Jahre gekommene Pippi Langstrumpf ausgesehen, fand er und schätzte Lavinia Wood auf Mitte fünfzig.
„Das Mrs. können Sie sich schenken. Nennen Sie mich einfach Lavinia. Ich hab‘ mir schon die Augen nach ihnen ausgeschaut“, sagte sie, als Dominik ausstieg und ihr die Hand gab. „Haben Sie sich verfahren, oder warum hat es so lange gedauert? Sie hätten doch schon vor einer halben Stunde hier sein müssen.“ Statt eine Antwort abzuwarten, schaute sie zum grünen Jaguar herüber. „Warum steigt Ihre Frau nicht aus? Das ist doch Mrs. Russ, oder?“
Ja, das ist Mrs. Russ, wie sie leibt und lebt, wollte er schon antworten, doch stattdessen winkte er Anna zu sich, die es genoss, Menschen warten zu lassen.
Als sie die Wagentür öffnete, stieß sie zuerst ihren cremefarbenen Regenschirm wie ein Speer heraus und spannte ihn auf. Erst danach streckte sie ihre langen, schlanken Beine aus dem Auto.
Ach du liebe Güte, was ist das denn für ein Modepüppchen?, dachte Mrs. Wood beim Anblick der roten Pumps, die ihrer Meinung nach völlig unpassend für einen Urlaub in Cornwall waren.
Und Anna, die in einer Hand den Schirm hielt und sich mit der anderen ihren leicht zerknitterten Rock aus Leinenstoff glatt zu streichen versuchte und dann erhobenen Hauptes auf das Cottage zulief, dachte: Mein Gott, was für eine Gewitterziege ist das denn?
Die beiden Frauen begrüßten sich mit laschem Händedruck und wussten sofort, dass sie nie und nimmer Freundinnen werden würden. Allerdings gab es da noch etwas Anderes, das sie, abgesehen von Antipathie auf den ersten Blick, gemein hatten. Beide hatten plötzlich das Gefühl, sich von irgendwoher zu kennen. Aber keine von beiden verlor ein Wort darüber.
„Ich zeige Ihnen erst mal das Cottage. Ihr Gepäck können Sie ja später aus dem Auto holen“, sagte Mrs. Wood und ging voraus ins Haus.
Anna lief hinterher und beäugte den kleinen Vorgarten, der von einer Steinmauer aus Schiefersteinplatten eingefasst war. Das Cottage war ein klassisches englisches Haus aus Sandstein, das man vor ein paar Jahren weiß getüncht hatte, aber das der Wind und die salzhaltige Luft nun wieder grau und leicht verwittert erscheinen ließ. Sie kräuselte den Mund, als sie zum Spitzdach hochschaute und auf den grauen Dachplatten weiß-grüne Flechten entdeckte. Hoffentlich regnet es nicht durch, dachte sie.
In dem Prospekt, den die Cottage-Agentur an Dominik geschickt hatte, hatte sie gelesen, dass das Gebäude einst die Remise des schräg gegenüber liegenden Gehöfts gewesen war. Das hatte man mittlerweile in ein Fünf-Sterne-Hotel umgebaut. Sie aber würde in einem Kutschenstall wohnen müssen! Ihre schlimmsten Erwartungen bezüglich der von Dominik ausgesuchten Urlaubsunterkunft hatten sich erfüllt. Nicht mal die Besichtigung des Hausinneren konnte sie besänftigen. Im Gegenteil. Sie zog verächtlich ihre Augenbrauen hoch, als Dominik in Verzückung geriet über die „ausgesprochen gemütliche Küche“, in der man gleich nach Betreten des Cottage stand.
„Für eine Diele hat das Geld wohl nicht gereicht, als man den früheren Schweinestall umgebaut hat“, bemerkte Anna spitz und warf einen geringschätzigen Blick auf die Landhausküche, die infolge der Nutzung durch etliche Feriengäste im Laufe der Jahre natürliche Gebrauchsspuren aufwies.
Sie brauchte nichts zu sagen. Dominik las in Annas Gesicht, dass sie, die zu Hause in einer Designer-Küche mit dem Charme eines klinischen Labors hantierte, hier nicht kochen würde. Und dass das Cottage insgesamt nicht ihr Stil war, damit lag er richtig. Keine zehn Minuten später würde sie vorwurfsvoll klagen, es sei für sie mehr als unverständlich, wie er ihr das hier zumuten konnte und so etwas Primitives hatte anmieten können. Wieso waren sie nicht in ein Hotel gegangen? Zum Beispiel in das Hotel gegenüber?
„Oh, was ist das denn?“, fragte Dominik, der die Kälte, die Anna verbreitete, mit einem herzlichen Ton zu neutralisieren suchte. Er ging zum Küchentisch, auf dem eine Flasche Rotwein und eine Keramikkanne mit Kräutern standen.
„Das ist ein kleines Willkommensgeschenk von mir. Das kriegen alle unsere Gäste“, sagte Mrs. Wood und lächelte erstmals. „Im Kühlschrank steht auch Milch, da brauchen sie nicht sofort einkaufen zu gehen.“
„Klar doch. Wir werden uns heute eine Milchsuppe mit Kräutern zubereiten und mit Wein verfeinern“, sagte Anna zu Dominik laut genug, dass Mrs. Wood es hören konnte.
Aber Mrs. Wood dachte nicht daran, sich den Ärger über die gehässige Bemerkung der Deutschen anmerken zu lassen, und setzte die Führung durchs Haus fort. „Und hier sind wir im Wohnzimmer.“ Natürlich entging ihr nicht der weiterhin missbilligende Blick, mit dem ihr Feriengast aus Deutschland auch hier das Interieur beäugte.
„Ach, wie nett“, sagte Dominik und wurde sofort in seinem Enthusiasmus von Anna unterbrochen.
„Also, eigentlich haben wir ja nicht vor, diese Bruchb– diese Behausung zu kaufen“, sagte sie ungehalten. „Und wir brauchen auch niemanden, der uns herumführt. Das hier ist ja nicht gerade der Buckingham Palace, in dem man sich verlaufen könnte, nicht wahr? Wir finden uns schon alleine zurecht, Miss Wood. Wenn wir Ihre Dienste benötigen, rufen wir Sie an.“
„Nun, wenn Sie meinen, dass Sie sich hier alleine zurechtfinden. Bitte sehr. Soll mir recht sein. Allerdings möchte ich eins klar stellen, Mrs. Russ: Ich bin weder Ihre Hausdame noch eine Bedienstete, sondern Eigentümerin der Agentur Lavinia’s Cornish Cottages. Im Übrigen bin ich auch keine Miss Wood, sondern verwitwet und daher noch immer Mrs. Wood. Und falls später Fragen zum Cottage oder zu der Einrichtung und Nutzung auftauchen sollten, werden Sie wohl damit bis übermorgen warten müssen, da ich gleich nachher für zwei Tage zu meiner Schwester fahre und in der Zeit nicht erreichbar bin. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag“, sagte sie und rauschte hinaus.
„Sag mal, was bist du eigentlich so blasiert und führst dich gegenüber der Frau so unhöflich auf?“, sagte Dominik aufgebracht, als er sich von der zugeschlagenen Haustür wieder zu Anna umdrehte.
Aber seine Frage hatte sie nicht mehr gehört. Sie war bereits die knarrenden Treppenstufen zum Obergeschoss hochgelaufen, während sie mit einem Finger über das Treppengeländer fuhr und auf Staub untersuchte. „Na ja. Zumindest scheint die Schreckschraube hier wischen zu lassen“, sagte sie beinahe enttäuscht.
„Ich gehe dann mal das Gepäck aus dem Auto holen“, sagte Dominik, der es am liebsten dort gelassen und den Urlaub, der ohnehin keiner werden würde, sofort abgebrochen hätte. Die Spannungen, die am Flughafen begonnen und sich auf der Fahrt hierher fortgesetzt hatten, waren sicherlich nur der Auftakt zu einem großen Streit, der auch in den nächsten sieben Tagen nicht enden würde. Wieso wollte er sich das antun? Andererseits, er hatte sich so sehr auf Cornwall gefreut. Nein, er wollte sich den Urlaub von Anna nicht vermiesen lassen.
Doch das würde schwierig werden. Denn kaum war er mit beiden Koffern und der Reisetasche zurück im Haus, hörte er sie in der oberen Etage lauthals schimpfen. Er lief die steile Treppe hoch und stellte das Gepäck im kleinen Flur ab, wo sie wie ein Racheengel auf ihn wartete.
„Hier bleibe ich keine fünf Minuten! Das ist doch die reinste Kaschemme, die du gemietet hast! Die Matratze ist durchgelegen, die Bettwäsche riecht muffig, in dem Badezimmer kann man sich kaum drehen, es gibt nicht mal eine Duschbrause in der Badewanne, geschweige denn eine Duschkabine, und aus jeder Fensterritze zieht es. Und dann noch diese verstaubte Einrichtung. Überall Spitzendeckchen und Nippes!“
Dominik versuchte ruhig zu bleiben und lief in eines der beiden Schlafzimmer, das Anna offensichtlich für sich auserkoren hatte. „Du übertreibst. Wie immer. Ich weiß nicht, was du hast“, antwortete er seelenruhig. „Das ist doch eine typisch englische Schlafzimmereinrichtung. Ein Messingbett, Rosenbettwäsche von Laura Ashley, so wie du sie doch magst. Und die Aussicht aus dem Fenster ist doch auch wunderschön“, sagte er und blickte auf sanft geschwungene sattgrüne Hügel, auf denen Schafe weideten.
„Laura Ashley? Laura Ashley?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Man merkt, dass du von Designern keinen blassen Schimmer hast. Das hier, mein Lieber“, sagte sie und riss ein Bettbezug hoch und hielt ihn ihm hin, „das hier ist billigste Discounter-Wäsche, noch dazu verblasste!“ Und schau dir mal das Badezimmer an, es ist mit einem Langflorteppich ausgelegt! Noch unhygienischer geht es wohl nicht. Mir wird übel, wenn ich nur an die Haare von fremden Leuten und an die Milliarden von Bakterien in dem Badezimmerteppich denke.“
„Anna, komm du mal lieber wieder auf den Teppich.“ Jetzt platzte ihm der Kragen. „In deiner Jugend hast du doch in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Außentoilette gewohnt. Und jetzt machst du hier auf Etepetete. Was soll das?“
Sie schaute ihn ungläubig an. Sie war es nicht gewohnt, dass er ihr konterte. Aber ihre Verwunderung war von kurzer Dauer. Aus ihren großen dunklen Augen wurden schmale Schlitze, die Funken zu versprühen schienen. „Du Mistkerl! Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Und was heißt hier in meiner Jugend?“, äffte sie ihn nach. „Hältst mich wohl für eine alte Schachtel, oder was?“
„Nicht für eine alte Schachtel, aber für das Aschenbrödel, das nicht daran erinnert werden möchte, wie dreckig es ihm mal ging, und nun so tut, als sei es mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden.“
Sie brach in gekünsteltes Gelächter aus. „Ach so! Und du bildest dir vermutlich ein, mein Märchenprinz gewesen zu sein, der mich aus der Gosse geholt hat, nicht wahr? Dominik, mach dich nicht lächerlich, du Möchtegernmärchenprinz!“ Ihre Stimme wurde höher und lauter.
„Dass ich nicht dein Märchenprinz bin, das musst du mir nicht sagen“, sagte er so ruhig wie möglich. „Es wurde mir klar, als ich vor Monaten herausfand, dass du mit anderen Männern rumvögelst. Nun ja, ich hätte es eigentlich wissen müssen. Wenn Alice dich vor zwei Jahren auf der Skireise nicht gestoppt hätte, hättest du es vermutlich vor unser aller Augen mit ihrem Freund auf dem Sofa getrieben.“ Er spürte, wie ihm übel und schwindlig wurde. Sein Herz raste. Ihm war, als würde ihm die Luft zum Atmen genommen. Er musste hier sofort raus, sonst würde er sich vergessen. Sie wollte sofort zurückschlagen, doch er ließ es erst gar nicht dazu kommen. „Halt den Mund, Anna!“, schrie er. „Es reicht!“ Dann rannte er die Treppen hinunter.
„Wag es nicht, mich hier stehen zu lassen! Hast du gehört?“, rief sie ihm hinterher, obwohl sie wissen musste, dass er sie nicht mehr hören konnte, nachdem er die Haustür laut hinter sich zugeknallt hatte.
Er lief drauf los. Laufen würde ihm helfen, sich zu beruhigen und klare Gedanken zu fassen. Noch nie hatte Anna ihn dermaßen wütend gemacht wie jetzt. Er, der Männer verachtete, die ihre Frauen schlugen, konnte auf einmal nachvollziehen, warum manche Männer sich dazu hinreißen ließen. Sie hatte ihn zur Weißglut gebracht, und er hätte es beinahe getan – ihr eine runtergehauen.
Die vom Regen gereinigte Luft wirkte auf ihn beruhigend. Wie kitschig doch der Himmel aussieht, dachte er, als er die gleißend orangene Abendsonne sah, die die Wolken rosa färbte. Er lief weiter, ohne sich an den Pfützen zu stören, die sich in den Vertiefungen des abgefahrenen Straßenbelags gebildet hatten. Zu beiden Seiten wurde die schmale Straße von einer moosbewachsenen Mauer gesäumt, aus der purpurrote Spornblumen, Farne und weiß blühender Bärlauch wuchsen. An den sternförmigen Blüten und langen Blättern glitzerten Regentropfen.
Nach etwa zweihundert Metern machte die Straße eine leichte Rechtskurve, und er sah zu seiner Linken ein Gatter, hinter dem eine Weide lag. Auch wenn er nicht wusste, ob er da hineindurfte, öffnete er das Tor und verriegelte es gleich wieder hinter sich. Und dann sah er die flach abfallende Wiese, übersät mit Tausenden von kleinen, gelben Blumen. Von hier oben bot sich eine überwältigende Aussicht. Dort unten lag der Ärmelkanal, der, grau-blau aufgewühlt, die schroffen Steinklippen der geschwungenen Küste mit seinen weißen Schaumkronen umspülte. Die turmhohen Kliffs aus farbigem Sandstein und grau-schwarzem Granit waren bizarr zerklüftet oder rundgeschliffen und zu Skulpturen geformt wie von gigantischer Künstlerhand. Sein Blick erfasste das Panorama einer sich zu beiden Seiten ausbreitenden grünen Steilküste mit sanften Hügeln im Hinterland. An einem Hang rechts in der Ferne klebte ein weißes Herrenhaus, an dem sich ein Pfad vorbeischlängelte, der sich im satten Grün des dicht bewachsenen Hangs verlor. Das musste wohl der Küstenpfad Südenglands sein, dachte er und schaute nach links rüber. Schafe und Pferde weideten auf den gelblich-grünen Hügeln mit den hohen, windgepeitschten Kiefern. Aus einer der Baumkronen lugte ein rechteckiger Kirchturm hervor. Gleich morgen früh wollte er mit den Notizen für den Reisebericht beginnen und vor allem Fotos machen. Sollte doch Anna der Teufel holen. Zur Not würde er ihr die nächsten Tage einfach aus dem Weg gehen. Aber im Moment wollte er weder an sie noch an ihre Launen denken, sondern nur das Gefühl genießen, das allmählich von ihm Besitz nahm.
Es war ein Kribbeln, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte und schon als Kind erlebt hatte, wenn er glücklich war. Auf einmal wurde ihm klar, dass er in Annas Gesellschaft noch nie dieses Kribbeln gespürt hatte wie jetzt, ganz alleine, Mitten in dieser friedvoll wirkenden Postkartenlandschaft. Er badete in einem warmen Gefühl von Ruhe und Glück. Es war mächtig und stark, verwandelte sich dann in ein innerliches Kitzeln und entlud sich schließlich in einem plötzlichen Gefühlsausbruch. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die das graublaue Wasser des Ärmelkanals, die Bucht und die Ausläufer der schroffen Steilküste verschwimmen ließen.
Und dann brach es gänzlich aus ihm heraus. Sein Körper bebte förmlich. Er ging in die Hocke, kniete sich auf das feuchte Gras und begann zu schluchzen wie ein kleiner Junge. Zu lange hatte er sich zurückgehalten und versucht, seine verletzten Gefühle zu ignorieren. Zu lange hatte er sich etwas vorgemacht. Doch jetzt wurde ihm klar, dass sich etwas ändern musste – nein, dass er etwas ändern musste. Er wollte von vorne beginnen. Ohne Anna.
Anna musste irgendwie aus seinem Leben verschwinden.
***
Seit gefühlten drei Stunden wälzte sie sich im Bett mit der viel zu weichen Matratze herum und überlegte, ob sie nicht eine Schlaftablette nehmen sollte. Und vielleicht auch noch eine Kopfschmerztablette hinterher. Am besten gleich zwei, nachdem sie langsam rasende Kopfschmerzen bekam. Es war wie Migräne, aber das war Quatsch. Sie war nicht eine dieser hysterischen Frauen, die Migräneanfälle bekamen. Nein, sie nicht. Wahrscheinlich kamen die Kopfschmerzen von dem billigen Rotwein, den Dominik gekauft und von dem sie zwei Gläser getrunken hatte, nachdem er am späten Nachmittag wie eine Diva aus dem Haus gerannt war. Ein Rotweinkenner war er jedenfalls nicht, soviel stand für sie fest. Eigentlich war er überhaupt kein Kenner, egal auf welchem Gebiet, dachte Anna und schaute zum Wecker auf dem Nachttisch. Es war erst kurz nach zehn Uhr abends, also hatte sie gerade mal eine halbe Stunde geschlafen beziehungsweise versucht, Ruhe zu finden. Sie wollte gerade aufstehen, als sie ein Geräusch hörte. Es war ein Rascheln, das vom Dach zu kommen schien. Oder kam es aus der Wand neben dem Bett? Aus Dominiks Schlafzimmer konnte es nicht kommen, denn das Badezimmer lag dazwischen. Ratsch. Ratsch. Ratsch. Was war das nur? Sie setzte sich im Bett aufrecht und knipste die Nachttischlampe an. Gab es hier Ratten oder Mäuse im Gebälk? Gewundert hätte sie das nicht, so verkommen, wie diese Bruchbude war. Sie hätte es Dominik nie überlassen dürfen, die Urlaubsunterkunft in England auszusuchen. Aber nach der dummen Geschichte vor ein paar Monaten wäre es nicht gut gewesen, ihm zu widersprechen, als er auf ihren Vorschlag eingegangen war und gesagt hatte, er würde für sie beide ein Cottage in Cornwall suchen. Und alles nur, weil sie die verdammte Hotelrechnung in ihrer Kostümjacke vergessen hatte! Andernfalls hätte Dominik nie von ihrem kleinen Abenteuer erfahren. Ein kleines, aber lustvolles Abenteuer, dachte sie jetzt und lächelte. Aber war es das hier wert gewesen?
Da! Schon wieder! Kratz, kratz, kratz. Was ist das nur? Verdammt! Sie stand auf, öffnete die Tür und lief zu Dominik ins Schlafzimmer, ohne sich darum zu kümmern, ob er schlief oder nicht. Erbarmungslos knipste sie das Licht an.
„Dominik, wach auf! Da ist irgendetwas auf dem Dach!“. Wahrscheinlich hat er sich wieder Stöpsel in die Ohren gestopft, um sein eigenes Schnarchen nicht hören zu müssen, dachte sie und rüttelte so lange an ihm, bis er endlich wach wurde.
„Was ist?“, fragte er schlaftrunken und hielt sich eine Hand vor die Augen, weil ihn das Licht der Deckenlampe blendete.
„Auf dem Dach ist irgendetwas, ich höre die ganze Zeit so komische Kratzgeräusche. Steh gefälligst auf und sieh nach!“
Er schaute sie verschlafen an und setzte sich im Bett auf, konnte aber nichts hören, also ließ er sich wieder auf sein Kissen fallen. „Anna, du hast schlecht geträumt“, nuschelte er. „Geh wieder ins Bett, und mach das Licht aus.“ Dann fiel er sofort wieder in tiefen Schlaf.
Nein, sie hatte nicht geträumt und bildete sich die Geräusche auch nicht ein. Typisch für Dominik, wenn etwas unbequem ist, zieht er den Schwanz ein, dachte sie und warf einen letzten giftigen Blick auf ihn. Es kümmerte sie auch nicht, dass die Tür laut knarrte, als sie sie ins Schloss fallen ließ. Ihr war es egal, ob er wieder wach wurde. Sie konnte ja auch nicht schlafen. Vielleicht sollte sie eine Tasse Tee trinken, und nach einer Zigarette war ihr auch.
Auf dem Weg nach unten in die Küche hörte sie erneut Geräusche. Diesmal kamen sie jedoch nicht vom Dach, sondern von draußen. Dennoch traute sie sich nicht, in der Küche Licht zu machen, aus Angst, irgendetwas Schreckliches zu entdecken. Vielleicht war da eine riesige Ratte oder – noch schlimmer – ein Einbrecher. Aber sie musste auch gar nicht das Licht anmachen, denn in der Küche war es auch so hell genug. Der Mond warf sein kaltes weißes Licht durchs Fenster und beschien den Esstisch und die Wand, an der eine altmodische Küchenuhr tickte. Auf einmal musste sie daran denken, wie sie sich immer über Filmszenen aufregte, in denen ein Protagonist durch die Zimmer eines Hauses rannte, ohne Licht zu machen, und laufend „Wer ist da?“ rief. Kein normaler Mensch tat so etwas. Also wollte sie nicht genauso blöd sein und knipste die Neonröhre unter einem der Küchenschränke an. Jetzt konnte sie genau sehen, dass in der Küche nichts Schreckliches zu entdecken war, und setzte Teewasser auf. Hoffentlich hatte Dominik überhaupt daran gedacht, im Supermarkt Tee für sie zu kaufen. Natürlich nicht! Also blieb ihr nichts anderes übrig, als alle Küchenschränke zu durchwühlen, in denen Restbestände von Lebensmitteln lagerten, die Vormieter des Cottage zurückgelassen hatten. Nudeln, Pulverkaffee, Salz und andere Gewürze, sogar eine Flasche mit ranzigem Öl und eine mit Essig waren dabei. Endlich fand sie eine angebrochene Packung Tee. Leider waren es nur Teebeutel. Besser als nichts, dachte sie und stellte den Wasserkocher an, um sich gleich danach eine Zigarette anzuzünden und an den Küchentisch zu setzen.
Nur zu gerne hätte sie es jetzt gesehen, dass Dominik in die Küche gekommen wäre und sie hier beim Rauchen ertappt hätte. Genussvoll zog sie an der Zigarette und blies den Rauch aus. Vermutlich würde er einen Aufstand machen, weil sie es wagte, in der Küche zu rauchen. Was bildete er sich eigentlich ein? Nur weil er vor ein paar Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, sollte sie darauf verzichten? Dieser Langweiler! Sie würde sich nie wieder etwas vorschreiben lassen. So wie von ihrer Mutter, die sie ständig herumkommandiert hatte, sofern sie nicht gerade besoffen war. Seitdem hasste sie es, wenn man ihr Vorschriften machte.
Sie wollte gerade einen Teebeutel in den Becher geben und kochendes Wasser eingießen, als sie zusammenfuhr. Schon wieder hatte sie ein Geräusch gehört. Als ob jemand Steinchen gegen das Küchenfenster geworfen hätte. Das Geräusch kam eindeutig von draußen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Zigarette auf den Aschenbecher ablegte und aufstand, um aus dem Fenster zu schauen. Die Nacht war pechschwarz. Eine Wolke hatte sich über den Mond geschoben, so dass man im Vorgarten kaum etwas erkennen konnte. Sie musste daher das Licht in der Küche wieder ausschalten, um draußen etwas erkennen zu können. Und als sie das getan hatte und wieder zurück ans Fenster ging, konnte sie draußen etwas erkennen. Nein, das war unmöglich! Sie musste Halluzinationen haben. Sie konnte nicht glauben, wer dort vor dem Fenster stand und sie angriente.
Sie stürzte sofort zur Haustür und öffnete sie, um im Nu zu spüren, wie die kalte Nachtluft den dünnen Seidenstoff ihres Pyjamas durchdrang. Scheiße, ist das kalt, dachte sie. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als vor die Tür zu treten.
„Du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du hier? Bist du verrückt geworden, hierher zu – “. Weiter kam sie nicht, denn der nächtliche Besucher umarmte sie und presste seine Lippen auf die ihren. Er schien ihr die Luft aus den Lungen heraussaugen zu wollen.
***
Man merkte den beiden Jungen ihre Angst an, obwohl Jamie, der körperlich stärker als Robby war, seine Furcht zu überspielen versuchte.
„Ist das eine Nachtigall?“, fragte er und blieb stehen, um dem trällernden Gesang eines Vogels zu lauschen, der irgendwo auf einem nahe gelegenen Baumwipfel in der Heidelandschaft saß.
„Keine Ahnung. Kann auch ein Kuckuck sein“, sagte Robby. „Lass uns einfach nur weiterlaufen und irgendjemanden finden, den wir nach dem Weg fragen können. Irgendwie finde ich es hier ziemlich ätzend. Weit und breit kein Mensch.“ Als er dann auch noch auf einen vertrockneten Ast trat, erschrak er. „Scheiße! Wieso habe ich mich nur auf diese blöde Radtour mit dir eingelassen?“
„Mensch, Robby, sei keine Memme“, sagte Jamie. „Du wolltest doch schon immer mal ein kleines Abenteuer erleben. Im Internat ist ja alles soooo langweilig, sagst du doch immer. Also, dachte ich mir, mache ich dir eine kleine Freude mit der Radtour durchs Moor.“
„Ja, eine Radtour, die wir seit Stunden zu Fuß unternehmen, weil dein Fahrrad einen Platten hat und du Hornochse nichts zu flicken mitgenommen hast. Wir bekommen sicherlich mächtigen Ärger, wenn wir morgen nicht rechtzeitig wieder in der Schule zurück sind.“
„Falls wir jemals wieder dorthin zurück finden und nicht vorher von Werwölfen oder der Bestie vom Bodmin Moor angefallen werden“, antwortete Jamie und ahmte einen heulenden Wolf nach.
Der Vierzehnjährige liebte es, Robby aufzuziehen. Es war aber nicht böse gemeint, sondern eher eine Fopperei unter guten Freunden. Noch vor zwei Jahren, als Robert Daltrey auf die Saint Patrick School in Truro gekommen war, sah es ganz anders aus. Da hatte Jamie den Neuzugang überhaupt nicht leiden können. „Daltrey ist ein Snob“, hatte er damals zu seinen Mitschülern gesagt. Aber er hatte dann bald herausgefunden, dass hinter Robbys hochnäsiger Fassade ein überaus netter Kumpel steckte, der einen auch mal bei Klassenarbeiten abschreiben ließ.
„Wie witzig“, antwortete Robby, dem nun auch noch kalt wurde und der schon alleine Gänsehaut davon bekam, wenn er nur daran dachte, in der Dunkelheit im nebelverhangenen Moor herumlaufen zu müssen.
Die beiden Schulfreunde hatten sich am Morgen mit ihren Rädern in Truro in einen Zug gesetzt und waren bis nach Bodmin gefahren, um von dort aus mit dem Fahrrad unbekannte Gefilde zu erkunden. So erreichten sie den südlichen Teil des Bodmin Moors und näherten sich einem Gebiet, das durchzogen war von Heidelandschaft und dem River Fowey mit seinen weit verzweigten Seitenarmen. Nicht umsonst nannte man noch im frühen 19. Jahrhundert die Gegend hier Fowey Moor.
Sie waren durch die fast menschenleere Heide geradelt, vorbei an Hügelgräbern und Steinkreisen, bis sie Dozmary Pool erreichten, den graublauen See, in den, wie Jamie seinem Freund stolz erklärt hatte, nach der Überlieferung der Artussage, Sir Bedivere das Schwert Excalibur warf, um es der Dame vom See zurückzugeben. Kaum hatte er seine kleine Geschichte zu Ende erzählt, war Jamie über irgendetwas Spitzes gefahren, einen Stein oder eine Glasscherbe, wodurch der Vorderreifen seines Rads einen Platten bekommen hatte. Seitdem hatte er es neben sich her schieben müssen, und Robby war nichts anderes übrig geblieben, als dasselbe zu tun.
„Da vorne plätschert es. Hoffentlich müssen wir nicht auch noch durch einen Bach laufen.
Bist du dir sicher, dass es hier nach Bolventor geht?“, fragte Robby. „Man kann doch im Dunkeln kaum etwas sehen.“ Seine Stimme klang weinerlich.
„Vertrau mir. Ich war schon mal hier in der Gegend.“
„Ach ja? Und wann soll das gewesen sein?“
„Mit meinen Eltern und meinen Brüdern, vor etwa fünf Jahren. Da haben wir das Bodmin Moor auch zu Fuß erkundet.“
„Und? War euch unterwegs auch Essen und Trinken ausgegangen? Ich habe schrecklichen Hunger“, quengelte Robby. „Mir ist nur noch ein Stück Müsliriegel geblieben, das ist meine Notration. Und außerdem ist mir kalt.“
„Du wirst schon nicht verhungern“, antwortete Jamie, dem selber der Magen knurrte. „Außerdem schadet es dir nicht, wenn du etwas abspeckst, Fetty.“
Robby, der in der Tat nicht gerade sportlich war und für sein Leben gerne aß, schaute seinen Freund beleidigt an, sagte aber nichts. Stattdessen holte er den halben Müsliriegel aus seinem Rucksack und stopfte ihn sich mit trotzigem Gesichtsausdruck in den Mund.
Jamie hatte aber schon nicht mehr darauf geachtet. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Umgebung nach etwas Bekanntem zu erkunden. Wenigstens hatten sie Taschenlampen dabei, die ihnen den Weg beleuchteten. „Da vorne ist ein Hinweisschild“, sagte er endlich und lief voraus, während er sein Rad neben sich her schob.
„Verdammt! Komm ja nicht auf die Idee, mich hier alleine zu lassen!“, rief ihm Robby hinterher. Na warte, Freundchen. Dir werde ich mal zur Abwechslung auch einen Schrecken einjagen. Und dann setzte er sich sofort aufs Rad und fuhr in schnellem Tempo an Jamie vorbei, der an dem verwitterten Hinweisschild stehen geblieben war und es mit seiner Lampe anstrahlte.
„Hey, Daltrey. Bleib hier! Zum Stausee geht’s da lang. Das Schild weist nach Colliford Lake. Von dort aus ist es nicht mehr weit nach Bolventor.“
In der kleinen Ortschaft Bolventor hofften sie, noch einen offenen Pub zu finden, in dem sie eine warme Mahlzeit bekämen und irgendwo vielleicht auch Flickzeug für Jamies Rad. Aber es war bald Mitternacht, so dass es ziemlich unwahrscheinlich werden würde.
Robby, der die Idee, alleine ohne Jamie wegzuradeln, auch nicht mehr so toll fand, schloss sich wieder seinem Schulfreund an und lief an seiner Seite in die Richtung, in die der Pfeil zeigte, entlang eines Weges, der vom tagelangen Regen aufgeweicht war. Zwar hatte es seit einigen Stunden aufgehört zu regnen, dafür setzte ihnen der starke Wind zu, der über das Moor fegte und die Landschaft schaurig klagen ließ.
Die Stimmung der beiden Jungen fiel genauso schnell wie die Außentemperatur, seit die Sonne, die sich ohnehin den ganzen Tag über hinter den Wolken versteckt hatte, endgültig untergegangen war. Jamie schätzte die Temperatur auf höchstens acht Grad. Hoffentlich würde es ihnen wärmer werden, wenn sie etwas Warmes im Bauch hätten. Ein Stew wäre nicht schlecht oder eine Fleischpastete, dachte er und hörte schon wieder sein Bauch grummeln. „Da vorne ist eine Straße“, sagte er und unterbrach das Schweigen. „Lass uns entlang der Autostraße laufen. Da ist es sicherlich heller.“
Doch ihre Hoffnung, die Scheinwerfer von vorbeifahrenden Fahrzeugen würden ihnen den Weg erleuchten, erfüllte sich nicht. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Sie schienen die einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Das war ungewöhnlich, denn im Frühjahr war das Moor ein beliebtes Ausflugsziel. Wenn auch natürlich nicht unbedingt mitten in der Nacht. Es war kurz vor halb zwölf Uhr, als sie endlich den Stausee erreichten.
„Vielleicht sollten wir unsere Flaschen auffüllen. Das Wasser des Stausees müsste eigentlich trinkbar sein“, sagte Robby, als sie sich in der Dunkelheit dem Seeufer näherten. Wenigstens lösten sich jetzt die Wolken etwas auf und ließen den Vollmond für etwas Licht sorgen.
„Denke schon, dass man das trinken kann“, antwortete Jamie und holte seine Trinkflasche aus dem Rucksack. „Hier. Du kannst ja meine gleich mit auffüllen. Danach sollten wir weiter zum Colliford Lake Park und unsere Zelte aufschlagen. Da sind wir wieder in der Zivilisation. Zumindest hoffe ich das. Keine Ahnung, ob um diese Uhrzeit noch Leute dort sind. Viele Autos sind ja nicht unterwegs.“
„Viele? Wir haben weit und breit kein Auto gesehen. Was, wenn niemand da ist? Außerdem dachte ich, dass wir bis nach Bolventor gehen“, sagte Robby und geriet ob der Aussicht, mit einem leeren Magen schlafen zu müssen, in Panik.
„Wenn du nicht willst, dass wir verdursten, solltest du uns erst mal mit Wasser versorgen“, erwiderte Jamie. „Den Rest sehen wir dann.“
„Bin ich dein Butler, oder was?“, sagte Robby, der dann aber nachgab und mit beiden Trinkflaschen ans Ufer lief. Er hockte sich hin und schöpfte erst mal etwas Wasser in seine Hand. Es war kalt und schmeckte wie Wasser nun mal so schmeckte. Aber hoffentlich schwammen hier keine Kaulquappen oder Wasserflöhe herum, dachte er. Auf Fleischeinlage im Trinkwasser konnte er wirklich verzichten.
„Bist du bald fertig, Daltrey? Wie lange brauchst du denn noch? Wir sollten weiter, bevor sich neue Wolken über den Mond schieben und es total finster ist.“
„Einen Moment noch“, sagte Robby und lief weiter am Ufer entlang, bis zu einer Stelle, an der die nackten Äste abgestorbener Bäume aus der Wasseroberfläche herausragten. „Nanu? Wie kommen denn Bäume in den See?“, fragte er sich und hockte sich hin, um seine Flasche ins Wasser zu tauchen.
Auf den Gedanken, dass dort, wo sich jetzt der Stausee befand, früher einmal Heide war und Bäume gestanden hatten, kam er nicht. Das lag vermutlich daran, dass er von etwas abgelenkt worden war, das auf dem Wasser schwamm. Zuerst hielt er es nur für eine Sinnestäuschung, einen Schatten, verursacht vom Mondlicht, das auf die abgestorbenen Bäume im Wasser schien. Dann glaubte er, es handle sich um eine Plane oder eine riesige Plastiktüte, die auf dem Wasser trieb. Bei näherer Betrachtung sah er aber, dass es sich um einen auf der Wasseroberfläche schwimmenden Mantel handelte. Das war zwar sonderbar, aber dann wieder auch nicht ganz so außergewöhnlich, dachte er. Schließlich wusste man doch ja, wie die Menschen die Umwelt verschmutzten, indem sie alle möglichen Dinge in die Gewässer warfen.
Doch in diesem Fall schien ein Mensch entsorgt worden zu sein, denn aus dem Mantel schauten auch Hosenbeine hervor, und die gehörten zweifelsohne zu einem menschlichen Körper, der wie ein Korken auf der Wasseroberfläche trieb. Robbys Herz begann wie wild zu hämmern. Er wollte laut nach Jamie rufen, war aber nur imstande, den Namen seines Freundes herauszukrächzen.
„Jamie… Jamie...“ Zwei oder drei Mal versuchte er es. Aber Jamie hörte ihn einfach nicht.
Ob der Körper auf dem See zu einem Mann oder einer Frau gehörte, hätte Robby auf Anhieb nicht sagen können. Zum einen schien der Mond nicht hell genug, zum anderen trieb die Gestalt auf dem Bauch, so dass man kein Gesicht erkennen konnte. Die Hose sprach für einen Mann, aber die langen Haare, die wie ein Strahlenkranz um den Kopf schwappten und sich teilweise in Schilfhalmen verfangen hatten, hätten die Vermutung aufkommen lassen können, es handle sich um eine Frau. Letztendlich stellte sich Robby die Frage nach dem Geschlecht der Wasserleiche ohnehin nicht. Alles, was ihn interessierte, war jetzt, so schnell wie möglich vom unheimlichen See und der Leiche wegzukommen. Daher ließ er auch die beiden Trinkflaschen am Ufer liegen und stürzte schreiend los, an Jamie vorbei. Der sah Robby erschrocken nach, als er mit seinem Rad wie ein Verrückter davonfuhr.