Читать книгу Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen - Marco Frenschkowski - Страница 8
VORWORT
ОглавлениеIn einer multikonfessionellen und multikulturellen Gesellschaft ist es selbstverständlich, etwas über den Glauben, die Religion, die Wertesysteme anderer Menschen zu wissen. Zwar gibt es auch in unserer Gesellschaft zahlreiche religiöse Analphabeten, denen es nicht nur an Wissen, sondern auch an elementarer Sensibilität für religiöse Themen mangelt. Und leider sind auch Menschen nicht selten, deren persönlicher Zugang zu religiösen Themen durch die übermächtige Arbeits- und Freizeitkultur der westlichen Gesellschaft sozusagen beschnitten wurde – denen ein Leben lang das spontane Interesse am Religiösen gedämpft und unterdrückt worden ist, so wie kreative, musische oder andere Aspekte des Humanen gedämpft und unterdrückt sein können in einer Gesellschaft, in der Arbeitswelt und kommerzielle Freizeitkultur totalitäre Ansprüche auf die Zeit und die Energie von Menschen erheben.
Andererseits hat sich jedoch eine Grundannahme einer älteren und verbreiteten Religionstheorie der Moderne nicht bestätigt, nämlich die Säkularisationsthese. Diese – zuerst in Ansätzen im 18. Jhdt. im Zuge der Aufklärung formuliert, später im 19. und 20. Jhdt. in vielen religionskritischen Modellen präzisiert – rechnete damit, daß in der Moderne Religion grundsätzlich weniger wird. Tatsächlich war die Erwartung bei nicht wenigen Stimmen aus unterschiedlichen Lagern, das, was gemeinhin »Religion« heißt, werde noch eine Weile wimmernd zu Boden liegen – und dann einen glanzlosen Tod sterben, ersetzt durch Wissenschaft und Kunst. In bildungsbürgerlichen Kreisen war auch in Deutschland eine solche Annahme (schon in der Zeit um 1900, und besonders in den 1960er und 1970er Jahren) nicht selten, wenn sie auch kaum je so deutlich ausgesprochen wurde. Als Theorie der Religionswissenschaft hat die Säkularisationsthese noch vor etwa 30 Jahren eine Reihe von Neuformulierungen erfahren. Aber tatsächlich ist es ja ganz anders gekommen. Die Säkularisationsthese muß als empirisch widerlegt gelten. Religion wird nicht »weniger« in irgend einer sinnvollen Bedeutung des Wortes. Aber sie wechselt ihre Gestalt, sie durchlebt Metamorphosen, sie lädt gesellschaftliche Bereiche »religiös auf«, bei denen das nicht vorhersehbar war, wenn traditionelle Religionen schrumpfen. In jedem Fall ist Religion wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Interesses gerückt – in Faszination und Abwehr, in ihren hellen und dunklen Gestalten. Sie wurde nicht weniger – sie nahm andere Gestalten an, zu denen auch Formen der Verweigerung gegenüber der Moderne gehören, aber natürlich und vor allem Formen des Wiederentdeckens spiritueller und als heilvoll erfahrener Überlieferungen.
Einerseits hat die multikulturelle Gesellschaft das Kennenlernen von Religionen erleichtert. Andererseits hat sie es aber auch erschwert. Es ist zunehmend leicht geworden, im Zuge des weltweiten Tourismus fremde Länder und eben auch Kultstätten und religiöse Plätze kennenzulernen. Viele Menschen haben schon in einem jungen Alter Moscheen und buddhistische Tempel, indianische Rituale oder das katholische Brauchtum der romanischen Länder »erlebt«. Sie leben daher nicht selten in der Illusion, fremde (oder eigene) Religionen zu »kennen«: sie haben sie ja »gesehen«. Internet und Fernsehen haben »visible religion« leicht zugänglich gemacht, und es ist auch nicht schwer, den Papst oder den Dalai Lama einmal »live« zu erleben. Reisen um die Welt sind leicht zu haben – wenn man Geld hat. Aber nicht wenige Reisende scheinen begabt, alles in einem spirituellen Sinn Wichtige dabei zu verpassen.
Vielleicht hat diese mediale und auch reale Präsenz von »visible religion«, sichtbarer Religion den gedanklichen Reichtum des Religiösen, seine spezifischen Deutungs- und Symbolpotentiale eher verdeckt. Die leichte Zugänglichkeit elementarer Information hat es für viele, leider sogar für sehr viele Menschen faktisch verschleiert, wie wenig sie tatsächlich über die Tiefen ihrer eigenen, geschweige denn einer anderen Religion wissen. Andererseits hat die Zahl der Suchenden sicher nicht abgenommen. Und eine gute und gesunde Neugier hat immer gewußt, daß Religion interessant, merkwürdig und oft faszinierend ist – und in ganz unerwartete Bahnen führen kann. Freilich ist Religion auch gefährlich – der Mensch ist nicht immer und unbedingt am edelsten da, wo er religiös ist. Die Themen »Religion und Gewalt«, »Religion und Terrorismus« sind allgegenwärtig. Sie verdecken nicht die lebenserschließende und -erhellende Kraft und Funktion von Religion: aber sie zeigen ihre Schattenseiten. In jedem Fall: ein solides Kennenlernen einer Religion ist nur über eine Beschäftigung mit ihren Heiligen Schriften möglich. Daneben verspüren viele Menschen auch ein gut nachvollziehbares Bedürfnis, Religionen an ihren Quellen – und aus ihren Quellen heraus – kennenzulernen. Dazu bietet dieses Buch eine Hilfestellung. Es führt ein in die Heiligen Schriften der großen Weltreligionen, blickt aber auch auf traditionelle Volksreligionen und ergänzend auf die zahlreichen Neuen Religiösen Bewegungen, deren Zukunft noch nicht ausgemacht ist. Sie alle sind Teil der entstehenden globalen multireligiösen Gesellschaft.
1956 veröffentlichte der Religionswissenschaftler Günter Lanczkowski (1917–1993) seine kleine Einführung »Heilige Schriften. Inhalt, Textgestalt und Überlieferung«, damals in der Reihe der »Urban Bücher« des Kohlhammer Verlages Stuttgart. In 18 knappen Kapiteln hat Lanczkowski ein in seiner Art geniales Resümee dessen vorgelegt, was ein gebildeter Mensch über dieses Thema wissen möchte, ohne zum »Fachmann« werden zu müssen. Es ist mir, wie ich hier gern zugestehen möchte, eine besondere Freude, für den Marixverlag Wiesbaden ein Büchlein zu schreiben, welches (wenn auch in etwas kürzerer Form) einem ähnlichen Zwecke dienen soll wie Lanczkowskis »Heilige Schriften« – die faktisch das erste Buch zum Thema waren, welches ich 1971/72 gelesen habe, als ich anfing mich ernstlich für die Religionen der Welt zu interessieren. Ich kann mich noch gut an die immense Faszination erinnern, welche Lanczkowskis Buch bei mir – und sicher auch bei anderen Leserinnen und Lesern – auslöste, und an die Leidenschaft, möglichst viele, wenn nicht alle der von ihm besprochenen Texte auch selbst in die Hände zu bekommen. (Man wird sich erinnern, daß dies lange vor dem Internetzeitalter war, und selbst das Fotokopieren in vielen Bibliotheken nicht ohne Komplikationen ablief – und nicht selten noch gar nicht möglich war).
Seitdem ist manches ähnliche Buch erschienen, wenn auch keines die Souveränität von Lanczkowski erreichte. Im deutschen Sprachraum nenne ich exemplarisch noch »Heilige Schriften. Eine Einführung«, hrg. von Udo Tworuschka, Darmstadt 2000, eine gedanken- und materialreiche Sammlung von Essays zum Thema. Mit 318 Seiten deutlich umfangreicher als Lanczkowski oder auch als der vorliegende Band, bietet Tworuschkas Sammelband einerseits mehr, andererseits durch manche Beschränkung auch weniger als das ältere Werk aus den 1950er Jahren. Im Gegensatz zu dem von Tworuschka herausgegebenen Band soll das vorliegende Buch durchgehend allgemeinverständlich sein. Für das weitergehende Studium ist der von Udo Tworuschka hrg. Band eine nützliche und gern empfohlene Anschaffung, die vielfach über neuere Forschungen informiert. Vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum existieren zudem eine Reihe populärer, oft esoterisch geprägter Darstellungen zur Sache. Ich nenne exemplarisch Rufus C. Camphausen, »The Divine Library. A Comprehensive Reference Guide to the Sacred Texts and Spiritual Literature of the World«. Rochester, VT 1992. Der Wert dieses und mancher ähnlicher Bücher ist leider nur sehr begrenzt.
Insgesamt steht zu befürchten, daß die sehr viel leichtere Zugänglichkeit der Texte im Internet- und Amazon-Zeitalter doch die Zahl ihrer sorgfältigen Leserinnen und Leser nicht unbedingt erhöht hat. Das ist bedauerlich. Es wäre mir eine große Befriedigung, wenn die nachfolgende Einführung in die Heiligen Schriften der Religionen bei manchen Leserinnen und Lesern eine ähnliche Nachfrage nach den Texten selbst auslösen würde, wie es bei mir seinerzeit durch Lanczkowskis Buch geschehen war. Nur daran soll aus meiner Sicht sein Wert bemessen sein: führt es zu den Texten hin, öffnet es Türen zu den Heiligen Schriften selbst. Eine Textanthologie ist in diesem Rahmen nicht möglich. Wenn bei einem übersetzten Zitat der Übersetzer nicht angegegeben ist, stammen die Übersetzungen vom Verfasser dieses Buches. Die Darstellung beginnt mit biblischen Texten, weil an fortlaufende (nicht einfach blätternde) Lektüre gedacht ist, und Leserinnen und Leser unseres Kulturraumes von Vertrauterem zu weniger Vertrautem geführt werden sollen.
Auf wissenschaftliche Transkriptionen mit zahlreichen diakritischen Zeichen wurde verzichtet. An einigen Stellen wurden vereinfachte wissenschaftliche Transkriptionssysteme verwendet, insbesondere wenn Begriff und Titel von Werken neu eingeführt werden.
Ein Wort noch zum Umschlag dieses Buches. Abgebildet ist eine indische Miniatur der Pahari-Schule (19. Jhdt.), welche im traditionellen »Guler-Stil« der Mogulkunst die Silbe OM darstellt, die in vielen indischen Religionen als Ausdruck der Essenz des göttlichen Prinzips gilt (Gouache auf Papier., Inv. 756, Benares, Bharat Kala Bhawan Museum).
Hofheim am Taunus, Januar 2007