Читать книгу Unter dem Bootshaus - marcus townend - Страница 7
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Sie fuhren über die Sedelstrasse. Es war Mittwoch, der 6. Juli um 05.00 Uhr früh. Es wurde langsam hell. Um diese Zeit herrschte wenig Verkehr. Der Fahrer schaute zum Fenster des Kastenwagens hinaus, zeigte auf ein wuchtiges, massiv gebautes Gebäude und lachte:
«Das war einmal ein Gefängnis. Für Leute wie du und ich.» Dann schaute er wieder auf die Strasse und ergänzte: «Heute werden die ehemaligen Zellen als Übungsräume von Jazz- und Rockmusikern benutzt.» Der Fahrer war 28 Jahre alt und hiess Yasin. Er trug kurz geschnittene, dicht gewachsene, schwarze Haare mit Fransen über der Stirn und einen Dreitagebart. Sein Beifahrer vermied den Augenkontakt und betrachtete stattdessen die farbige Tätowierung der länglich-spindelförmigen Weissen Turmschnecke, welche Yasin auf seinem rechten Unterarm trug. Das dargestellte Weichtier war übergross, fand er, und schien deshalb irgendwie nicht zu dem schmächtigen Körperbau zu passen. Er hob seinen Blick und schaute desinteressiert auf das massive Gebäude, dann wandte er seinen Kopf und schaute zum rechten Fenster hinaus auf den über 2’000 Meter hohen Pilatus und das auf der anderen Seite eines kleinen Tales auftauchende hohe Hauptgebäude des Spitals. Er war einen halben Kopf kleiner und vier Jahre jünger als der Fahrer. Seine dunklen Haare hatte er hinter seine Ohren zu einem straffen Rossschwanz gebunden. Er wunderte sich über die Kenntnisse seines Partners. Dann antwortete er mit gepresster Stimme:
«Mich sperrt nie jemand ein». Yasin reagierte nicht. Sie trugen Freizeitkleider und Namensschilder mit erfundenen Namen auf ihrer Brust. Beide wirkten leicht angespannt.
Sie fuhren hinunter ins Rontal. Links von ihnen lag der Rotsee, auf welchem jährlich Ruderregatten des Weltcups ausgetragen wurden. Nach einem kurzen Anstieg bogen sie rechts in die Friedentalstrasse ein, welche zum Friedhof führte. Kurz vor der Bushaltestelle setzte der Fahrer den Blinker nach links. Sie fuhren zu einer Barriere. Yasin öffnete die Scheibe und drückte auf einen Knopf. Er nahm das Ticket und steckte es zwischen seine Lippen. Die Barriere hob sich und sie setzten ihre Fahrt im ersten Gang fort. Sie kletterten langsam, wie wenn sie heikles medizinisches Gerät transportierten, die steile Zufahrt hinauf, vorbei an verschiedenen Gebäuden des Zentrumspitals. Dann erreichten sie das Gebäude, in welchem sich die Klinik für Dermatologie und Allergologie befand. Der Beifahrer kannte dieses Gebäude von seinen Besuchen im Zusammenhang mit seiner Hautkrankheit, an welcher er seit seiner Kindheit litt. Vor dem Gebäude gab es einen Parkplatz für Patienten mit einer Behinderung. Hier stellten sie ihren weissen Transporter ab. Auf beiden Seiten stand in grossen Lettern: DILLIERS MEDIZINISCHE TRANSPORTE GmbH.
Sie stiegen aus, hoben die Hecktür und entnahmen dem Laderaum einen Sacklader. Dann stapelten sie einige Schachteln aus Karton, welche mit grosser Schrift bezeichnet waren, auf den Sacklader. Auf der obersten Verpackung stand: «Gebrauchtes Medizinisches Gerät». Damit signalisierten sie eventuell auftauchenden und neugierigen Personen, dass die Schachteln möglicherweise mit ansteckungsgefährlichen Stoffen, Instrumenten oder Anlagen kontaminiert waren. Sie zogen ihre Schiebermützen ins Gesicht und betraten das Gebäude, indem sie auf eine Taste drückten. Die breite Glastür, welche sich neben der Drehtür befand, und für Personen mit einer Gehbehinderung gedacht war, öffnete sich automatisch. Sie durchquerten den Eingangsbereich zu den Lifttüren. Der Jüngere berührte das Touch-Display und strich über den Pfeil nach unten. Die Aufzugstür öffnete sich und er drückte auf die 2 minus. Jedes Mal wischte er die eben berührten Flächen mit einem Stofftaschentuch ab. Im zweiten Untergeschoss angekommen, wandten sie sich nach links und öffneten eine Doppeltür, welche nicht angeschrieben war. Dann betraten sie den hell beleuchteten unterirdischen Gang des Spitals und schoben ihren Sacklader vor sich her. Der Flur verband die Kliniken für Dermatologie und Neurologie mit der Klinik für Augenheilkunde. Letztere gehörte mit über 50 000 Patientenkontakten und rund 15 000 operativen Eingriffen pro Jahr zu den grössten und modernsten Augenkliniken der Schweiz. Die Wahl dieser Klinik und der vierten Etage war zufällig. Hier würden sie niemandem begegnen und es gab hier auch keine Kameras. Von weitem sahen sie aus wie zwei Lieferanten, von nahem wie Haustechniker, welche hierhergeschickt wurden, um einige Leitungen für die Computer frisch zu verlegen. Nach etwa 150 Schritten erreichten sie einen Betten-Aufzug für das vor kurzem erweiterte, fünfgeschossige Gebäude. Neben der Lifttür, auf Augenhöhe, stand in grossen, blauen Buchstaben auf weissem Hintergrund: «Unser Credo: Wir betreuen Sie so, wie wir selber betreut werden möchten.» Der Jüngere drückte auf die Taste Vier.
Der Raum für die Haustechnik und den Server befand sich direkt gegenüber der Lifttüren. Das Licht im Gang war gedämpft. Es befanden sich keine Personen auf dem Flur. Die Nachtschwester hielt sich im Stationsraum auf, vermutete Yasin, da die Tür angelehnt war und er einen schmalen Lichtstreifen sah. Während sein Kollege mit der Installation der Ware im Raum für Haustechnik beschäftigt war, schritt er den Flur entlang und befestigte mehrere faustgrosse Geräte an der Decke. Bevor die ersten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ihrer Tagesschicht eintrafen, hatten sie ihre Arbeit getan und die Klinik auf dem gleichen Weg mit ihrem Sacklader und drei leeren Schachteln verlassen.
Nachdem sie ihr Leergut in den Laderaum geladen hatten, fragte der Jüngere: «Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?» Yasin lachte leise und beruhigend:
«Ja natürlich, ich habe dir ja versprochen, dass ich dein Projekt wissenschaftlich begleiten werde!» Dann lächelte er, und auf seinen Wangen erschienen Grübchen, «zudem ist da noch eine Überraschung, die ich für dich bereithalten werde!» Ohne seinen Kollegen zu verabschieden, kehrte er in die Klinik zurück. Um 07.00 Uhr würde er sich im Restaurant Vitamins einen alkoholfreien grünen Smoothy aus Dörrbohnen und Kiwi gönnen.
Der Jüngere stieg in den Wagen und fuhr auf der A2 bis zur Autobahnraststätte Neuenkirch. Dort entfernte er alle aufgeklebten Beschriftungen vom Kastenwagen. Dann lenkte er den Lieferwagen über die Brücke auf die andere Seite der Autobahn und kehrte zurück nach Luzern. Von dort wählte er die Strecke in die Innerschweiz, überquerte den Brünigpass und fuhr weiter in Richtung Interlaken, Thun. Nach dem Giessbachtunnel nahm er die Ausfahrt nach Iseltwald, ein touristisches Dorf am linken Ufer des Brienzersees. Kurz vor dem Dorfeingang bog er wieder nach rechts und fuhr über das Geisswägli hinunter zum See. Dann bog er nach rechts und fuhr in nordöstlicher Richtung entlang des Seefeldwegs, bis er eine Anlegestelle und ein kleines Bootshaus erreichte. Er parkte den Transporter auf der rechten Seite des Gebäudes, wo er vom Seefeldweg her nicht mehr gesehen werden konnte. Den Lieferwagen würde Finn, der Mann für alles, später entsorgen. Mit Hilfe eines elektronischen Schlüssels gelangte er ins Innere des Bootshauses. Von da aus setzte Mustafa mit einem kleinen Motorboot auf die etwa 220 Meter vom Ufer entfernte Schneckeninsel über.
***
Die Schneckeninsel gehörte einem Industriellen aus dem Berner Oberland. Hans Wyss war ein sehr reicher Mann. Es war ihm durch kluge Anlagen, einem Markt, der ihm gewogen war und dank seinem ungewöhnlichen Einsatz innert zwei Jahrzehnten gelungen, aus der väterlichen Firma für Maschinenbauteile einen Konzern mit internationaler Bedeutung aufzubauen. Sein Vermögen betrug mehrere Milliarden. Im Jahre 1986 erwarb er die Insel im Brienzersee von einer evangelischen Schwesterngemeinschaft. Im zwölften Jahrhundert sollen Augustinermönche des Klosters Interlaken, welches unter dem Schutz von Kaiser Lothar III gestanden hatte, auf dieser Insel eine Schneckenzucht betrieben haben. Da Schnecken damals nicht zum Fleisch gezählt wurden, war deren Verzehr auch an kirchlichen Festtagen erlaubt und somit sehr begehrt. Und so trägt die Insel heute noch den Namen Schnäggeninseli (Schneckeninsel).
Am Ufer der Insel lag ein Bootshaus, welches grösser war als jenes auf dem Festland und über eine kleine Wohnung über dem Bootsraum verfügte. Von der Anlegestelle aus führte ein leicht ansteigender Weg durch einen Garten zu einer zweistöckigen Villa, welche im französischen Stil gebaut und mit einem Walmdach überdeckt worden war.
Vier Jahre nach dem Erwerb der Insel verstarb seine Gattin an Krebs. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Hans Wyss, der bald 43 Jahre alt wurde, entschied sich, sich zurückzuziehen und mit seinen Kunstschätzen auf die Insel zu übersiedeln. Dank seiner geschäftlichen Beziehungen fand er einen 25-jährigen skandinavischen Sicherheitsexperten. Diesen beauftragte er, ihm Massnahmen vorzuschlagen, welche ihn und seine wertvolle Sammlung von Gemälden und Skulpturen vor Diebstahl und Naturgefahren schützen sollten. Als Finn, er wollte nur mit seinem Vornamen angesprochen werden, seinem Arbeitgeber vorschlug, eine unterirdische Anlage mit verschiedenen Kammern zu bauen, übertrug dieser ihm die Bauleitung, auch für die Renovation der Herrschaftsvilla. Von da an lebte Finn in einer kleinen Einliegerwohnung in der Villa. Der Höhepunkt seiner vielseitigen Arbeit war die Realisierung eines Ausstellungsraumes unterhalb der Wohnung des Bootshauses. Dieser stand bis zur Hälfte im See und sollte einige Skulpturen des Inselbesitzers präsentieren. Finn gab ihm den Namen Seeraum. Sass man vor der festverglasten Fensterwand, sah man durch die untere Hälfte der Scheibe unter, durch die obere Hälfte über den Seespiegel. Mit einer speziell angefertigten Sichtschutzverglasung konnte der Grad der Lichtdurchlässigkeit und des Sichtschutzes verändert werden.
Um vom Eiland auf das Festland zu gelangen, benutzten deren Bewohner verschiedene Boote, die auf die Anlegeplätze neben beiden Bootshäusern hinaufgezogen und festgemacht wurden. Eine der Sicherheitsmassnahmen, welche Finn umgesetzt hatte, war, dass es auf der ganzen Insel keine weiteren Landestellen gab. Dadurch war es für neugierige Besucher kaum möglich, unbemerkt auf die Insel zu gelangen. Jeder Verkehr fand auf dem Wasser, von Anlegestelle zu Anlegestelle statt. Am nördlichen Ende der Insel liess Finn eine Lichtung in den Wald schlagen, um hier einen kleinen Landeplatz für Helikopter zu bauen. Um möglichen Verzögerungen oder Einschränkungen durch die Baubehörden oder Umweltschutzorganisationen vorzubeugen, beauftragte Finn ein nordisches Unternehmen, dessen Mitarbeiter unauffällig zu arbeiten gewohnt waren. Einer dieser Bauarbeiter war ein türkischstämmiger junger Mann namens Goran. Er fiel Finn durch seine wissenden Augen und seine kleine aber kräftige Statur auf. Bevor Finn seine Heimat verliess, war er zwei Jahre lang Meister des Kyokushin-Kaikan gewesen, einer asiatischen Kampfkunst, bei welcher im Vollkontakt gekämpft wurde. Er konnte einen Kämpfer sehr wohl von einem Hobbyboxer unterscheiden. Er erkannte in Goran jemanden, den er mit Respekt behandeln musste. Eines Abends zog er ihn beiseite und fragte, während er seinen durchtrainierten Körper musterte:
«Du warst bei den Streitkräften?» Goran schaute ihn einen Augenblick erstaunt an. Dann nickte er und antwortete:
«Minenboot»
Finn nickte zufrieden, dann konnte Goran also auch tauchen, wie er selbst. Er erinnerte sich, dass die Türken, nach den USA, am meisten aktive Soldaten innerhalb der NATO beschäftigten und nebst dem Heer und der Luftwaffe über eine schlagkräftige Marine verfügten. Finn wusste nicht, ob die Marine Minensuchboote befehligte, welche auch über Bordhubschrauber zur Minensuche verfügten, aber möglich war es schon. Goran schien Finns Gedanken lesen zu können, denn nach einer Weile fügte er an:
«Ich kann auch Helikopter fliegen». Finn nickte zufrieden.
«Willst du nach dem hier wieder nach Hause?» Goran schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Sein Gesicht blieb regungslos. Finn entschied, ihn nicht nach seinen Gründen zu fragen.
«Hättest du Interesse an einer Festanstellung hier auf der Insel?» Ohne zu zögern nickte Goran.
Ein Jahr später bot Hans Wyss, auf Empfehlung von Finn, Goran und dessen Ehefrau Mila, eine Stelle als Hausbedienstete an. Da die Arbeit gut bezahlt wurde und Goran nicht in seine Heimat zurückwollte, zogen sie zusammen in die Wohnung des Bootshauses. Hans Wyss übersiedelte im gleichen Jahr in die inzwischen renovierte Villa.
Finns Hauptaufgabe war, die umfangreiche Sicherheitsanlage zu unterhalten und den Helikopter jederzeit startklar zu halten. Daneben war Finn auch Butler und Chauffeur. Goran war verantwortlich für die Pflege der umfangreichen Liegenschaft mit den zahlreichen Pflanzen, Wegen und Wasserspielen. Hans Wyss mochte den wortkargen, menschenscheuen und emotionslosen Mann nicht. Anders dessen Gattin Mila. Ihr Gesicht war ausdrucksvoll und sehr schön. Sie pflegte den Haushalt, kochte für ihn und seine seltenen Gäste und pflegte einen ertragsreichen Kräuter- und Gemüsegarten. Er beobachtete sie bisweilen, wenn sie sich ohne Kopftuch bewegte. Dann hatte sie ihre dichten, schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten.
Im Frühjahr des Jahres 1994 wurde Mila gegen ihren Willen schwanger. Sie gebar einen Jungen, der gemäss ihrem Wunsch Mustafa genannt wurde. Mustafa war der Titel eines orientalischen Volkslieds, welches sie in ihrer Jugend häufig gehört hatte. Der Name stammte aus dem Arabischen und bedeutete «Auserwählter».
***
Einige Wochen, bevor Yasin und Mustafa mit dem Lieferwagen nach Luzern reisten, setzte sich Hans Wyss auf den Rücksitz seiner Limousine. Er bat Yasin, ihn zum Flughafen zu fahren. Der Industrielle schaute kurz auf die Tätowierung einer übergrossen Schnecke, welche der junge Mann auf seinem rechten Unterarm trug. Er mochte die feminine Stimme seines Fahrers nicht, aber er respektierte ihn. Alleine durch Fleiss und Ehrgeiz hatte dieser es geschafft, an einer weltweit führenden Hochschule zu studieren, obwohl er als Flüchtling und Waise miserable Voraussetzungen gehabt haben musste. Aus diesem Grund hatte er auch nichts dagegen, dass er sich häufig, als Gast Mustafas, auf seiner Insel aufhielt. Bisweilen bot er ihm die Gelegenheit, ihn gegen Bezahlung an wichtige Sitzungen zu fahren oder andere Dinge zu erledigen. Im Gegensatz zu Mustafa schien dieser gewillt zu sein, sein Studium selbst zu finanzieren. Yasin sah in den Innenrückspiegel. Sein Fahrgast trug einen schwarzen Anzug mit senkrechten weissen Streifen, ein kariertes, lachsfarbenes Hemd und eine weinrote Krawatte. Seine grossen, leicht blutunterlaufenen Augen hatten einen durchdringenden Blick, der auch dann nicht verschwand, wenn er lächelte. Mit seiner markanten Nase, der hohen Stirn und seinem weissen Dreitagebart wirkte er eher wie ein hellhäutiger Araber als ein gebürtiger Berner Oberländer. Der Industrielle verschwand aus seinem Gesichtsfeld, da dieser sich auf die Seite bückte und seiner Ledertasche einige Zeitungsartikel entnahm, die ihm seine rechte Hand ausgedruckt und mitgegeben hatte.
Hans Wyss interessierte sich seit seiner Jugend für die Kunstwerke von Malern, Architekten und Bildhauern. Er konnte sich daran nie sattsehen und so erwarb er sich zahlreiche Werke, nur um sie in Ruhe betrachten, riechen und berühren zu können. Dies ging jedoch nicht mit fest installierten, architektonischen oder gartenbaulichen Kostbarkeiten. Deshalb hatte er vor einigen Jahren den Bayrischen Staat darum gebeten, während einigen Werktagen das herrliche Schloss Herrenchiemsee im Innern putzen zu dürfen, oder zumindest Teile davon. Er hatte diese ausgesprochene Sehenswürdigkeit deshalb gewählt, weil ihn dort niemand erkennen würde. Niemal sonst würde er die Kostbarkeiten, die dort hingen oder ausgestellt waren, bei einem regulären Besuch genau anschauen können. Für einmal wollte er ganz nahe bei den Kunstwerken sein. Und so war es ihm gelungen, eine Woche lang mit einem kleinen Fiederwisch über die wunderbaren Stuckaturen im Speisezimmer zu wedeln und sich viel Zeit für die Betrachtung der Spiegelgalerie zu nehmen. Seine Ehefrau hatte sich damals einen Spass daraus gemacht, sich unter eine Besuchergruppe zu mischen. Als sie das Paradeschlafzimmer betraten, konnte sie, ohne dass er es merkte, ihn dabei ertappen, wie er regungslos auf dem königlichen Bett lag und sich tief versunken die Stickerei des Bettbaldachins anschaute. Hans Wyss hatte jedoch seine Gattin dank ihrer Haarfarbe, ihrer Grösse und mit Hilfe eines prunkvollen Wandspiegels bereits beim Eintreten unter den Besuchern entdeckt. Er schmunzelte und liess sie im Glauben, sie nicht bemerkt zu haben.
***
Sie arbeitete seit mehr als 25 Jahren als Sekretärin für den Industriellen. Sie war sehr von ihm eingenommen, sie vertraute ihm und er ihr. Wenn sie an ihn dachte, sah sie seinen Blick, nicht seine Augen. Diese waren blaugrau, also ziemlich unauffällig. Es war sein Blick, der Ausdruck seiner Augen, wie er sie musterte, wie er jeden Menschen ansah. Aber auch, wie er Dinge, schöne Dinge, betrachtete. Schaute sie in seine Augen, erkannte sie Intelligenz, Scharfsinn und waches Interesse. Wenn ihr Chef einen Raum betrat, in welchem sich jemand befand, erwarb er sich binnen Sekundenbruchteilen einen Überblick über die anwesenden Personen. Gleichzeitig schien er die aktuelle Atmosphäre zu erfassen. Die äussere Stimmung, welche durch die Helligkeit der Leuchten, die Grösse des Raumes und die Möbel beeinflusst wurde. Wichtiger war ihm jedoch die innere Ausstrahlung, welche durch die anwesenden Lebewesen geprägt schien. Manchmal brauchte er dazu nur einen kurzen Rundblick, eine Art Panoramaaufnahme. Oftmals jedoch erhielt er diesen ersten Überblick, indem er nirgendwohin fokussierte und seine Augen für einen Moment unscharf liess. Dieser erste Eindruck, dieser erste Überblick war für ihn sehr wichtig, denn er half ihm, sich zu entscheiden: War genügend gute feinstoffliche Energie vorhanden, um Sympathien entstehen zu lassen? War es genügend ruhig, gar feierlich, um den Austausch mit potentiellen Kunden oder Partnern zu initiieren oder zu pflegen? War es jetzt günstig, Geschäfte abzuschliessen?
Die Sekretärin konnte nicht viel damit anfangen, als ihr Arbeitgeber ihr diese Prozesse schilderte. Aber sie erlebte tagtäglich, dass er äusserst erfolgreich war. Sein Grundblick war streng und hoch konzentriert. Sein Geist schien ihr dann wie nach innen gerichtet. Wenn er zufrieden war, strahlten seine Augen freundlich. Gerne wäre sie zu ihm auf seine Insel gezogen. Aber da lebten auch seine beiden Angestellten, dieser kalt wirkende skandinavische Hühne und jener finster dreinblickende Gärtner sowie dieser abstossende Junge. Sie schauderte bei diesem Gedanken.
***
Heute sass der Industrielle in der Passagiermaschine einer arabischen Fluglinie auf einem Flug von Zürich nach Doha. Bevor er sich für die sechsstündige Reise einzurichten begann, bestellte er einen alkoholfreien Signature Cocktail. Er machte es sich in der ersten Klasse, auf einem von Giorgio Armani entworfenen Sessel bequem und las die Kolumne einer Sonntagszeitung zum internationalen Frauentag. Frank A. Meyer empörte sich darüber, dass auf der ganzen Welt Hunderte Millionen islamische Frauen herabgesetzt und entrechtet würden. Ist es wirklich wegen des Islam?, überlegte der Industrielle. Es gibt doch muslimische Länder und Regionen, in welchen Frauen gleichberechtigt sind? Im Kosova beispielsweise, in Marokko oder in der Türkei. Oder war er da zu gutgläubig oder zu wenig informiert? In seinen Fabriken arbeiteten mehrere Schiitinnen, Sunnitinnen und Wahhabitinnen, die kein Kopftuch trugen und die von ihren Männern mit Respekt behandelt wurden. Der aubergine-farbig gekleidete Maître de Cabine brachte ihm ein gelblich perlendes Getränk in einem hohem Glas, geschmückt mit einer Zitronenspirale und einem Minzenzweig. Er dankte, nahm einen Schluck und las weiter. Der Journalist fuhr fort, seine Gedanken mit eindrücklichen Beispielen aus der Türkei, Saudi-Arabien und Katar zu untermauern und prangerte den Islam als Tarnung für eine mittelalterliche Männerideologie an, welche die Frauen unterdrücke.
Hans Wyss legte den Artikel für einen Moment auf die Ablage vor sich und streckte seine Beine. Er missbilligte Geschäftsfreunde, die ihre Ferien in Ländern verbrachten, in welchen Frauen diskriminiert wurden. Er verachtete Bekannte von ihm, die faul und nutzlos an den Stränden herumlagen und Cocktails schlürften, während ihre Gastgeber ihre eigenen Frauen züchtigten. Trotzdem musste auch er Geschäfte mit diesen Männern abwickeln, er musste ja auch an seine Arbeitsplätze denken! Und was konnte er schon bewegen in diesen Ländern mit ihren Millionen von Männern! Dann erregte ein Abschnitt seine Aufmerksamkeit, in welchem der Autor die Befürchtung darlegte, nach welcher sich salafistische Vorstellungen von der Rolle der Frau auch in der Schweiz ausbreiten würden.
Den Rest des Aufsatzes, der sich mit den linken Schweizer Politikerinnen und ihrem Versagen befasste, las er nicht mehr. Es befriedigte ihn, dass sich Meyer, ebenso wie er, um die Schweizer Gesellschaft und ihre Kultur im Hinblick auf eine islamistische Eroberung besorgt zeigte und davor warnte. Er streckte sich auf dem komfortablen Bett aus und schloss die Augen. Er erinnerte sich an sein ideelles und finanzielles Engagement damals, nachdem er 1975 Mitglied der geheimen Wehrgemeinschaft 91 (WG 91) geworden war:
Der geheime Tausch von nuklearen Gefechtsköpfen der damaligen Sowjetunion gegen vertrauliche Einsatzpläne der Schweizer Armee im Jahre 1976 war ein Fehler gewesen! Keinem Mitglied der WG 91 war damals klar, dass sie ihre Regierung und damit ihre Heimat erpressbar gemacht hatten. Ebenso töricht war die Lagerung der atomaren Waffen in der Kaverne am Steingletscher. Zu hoch war die Gefahr einer unbeabsichtigten oder fahrlässigen Nutzung durch machtgierige Politiker, grössenwahnsinnige Militärs oder masslose Wirtschaftsvertreter gewesen. Menschen, das hatte Hans Wyss selbst bei klugen und besonnenen Geschäftsfreunden erlebt, handelten oftmals nicht vernünftig und angemessen. Besonders dann, wenn sie ergriffen, verletzt oder verliebt waren. Die Endlagerung der atomaren Gefechtsköpfe am Susten schien unter Tonnen von Granit für die nächsten tausend Jahre gesichert. Es waren die Schweizer Militärs selbst gewesen, welche auf Weisung des damaligen Bundesrates Georg Stähli, seines Weggefährten und Gründungsmitglied der WG 91, die riesige Explosion am Susten verursacht und damit sieben Menschenleben ausgelöscht hatten. Weshalb und wie Divisionär von Boltigen, der als Einziger ihres geheimen Bündnisses gewusst hatte, wo sich die Sprengköpfe befanden, verschwand, hatte er nie erfahren. Auch, ob Georg Stähli mit seiner Vermutung recht hatte. Dieser hatte ihm gegenüber nämlich einmal den ungeheuren Verdacht geäussert, dass Divisionär von Boltigen nicht alle Sprengköpfe an den gleichen Ort, also zum Sustenpass, hingebracht hatte. Das konnte nichts Anderes bedeuten, als, dass es irgendwo, sehr wahrscheinlich in der Innerschweiz, noch ein nukleares Waffendepot gab, von dem niemand etwas wusste. Furchtbar, diese Vorstellung! Hans Wyss verdrängte diesen Gedanken und spann weiter:
Die Bedrohungslage für die Schweiz hatte sich seither grundlegend geändert. Der Kalte Krieg war vorbei. Der geheime Treffpunkt im Felsenbunker am Weiher gehörte nun einem jungen russischen Millionär, der dort seine rauschenden Partys mit lauter Musik feierte. Die wertvollen Gemälde, welche in ihrem Treffpunkt im Felsen gehangen hatten, hingen nun in seiner Villa auf dem Schnäggeninseli (Schneckeninsel) im Brienzersee. Die mehrjährige Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Ost und West, war vorbei. Trotzdem traf sich die inzwischen überalterte Gruppe, die ihre damalige Idee, Atomwaffen von den Sowjets gegen militärische Geheimnisse der Schweiz einzutauschen, umgesetzt hatte noch immer. Würde sie seine neue Idee unterstützen? In zwei Tagen würde er seine Kameraden wieder treffen. Er war gespannt auf deren Reaktionen auf seine Idee. Diesmal ging es um etwas ganz Anderes. Nicht um Eigenständigkeit, Patriotismus oder Waffenkult, sondern um etwas viel Wertvolleres: den Schutz von Kunstwerken. Letztlich um die Rettung und den Erhalt der westlichen Kultur. Hierfür brauchte er Informationen. Und diese hoffte er am Ziel seiner Reise zu bekommen. Nach diesen Überlegungen versank er in einen unruhigen Schlaf.
***
Seit ein paar Stunden befand er sich in Doha, der Hauptstadt von Katar. Hier würde er sich mit einem hohen Beamten aus Us-al-Bin treffen. Bis vor kurzem hatte dieses kleine islamische Reich am Persischen Golf vielen Regierungen Sorgen bereitet, weil es die Terrormiliz Islamischer Staat unterstützte. Dann hatte das neu erkorene Staatsoberhaupt, der Sultan, eine Umkehr vollzogen und erklärt, in seinem Land gäbe es ab sofort keine Form von Terrorismus mehr. Wahrscheinlich, so sann Hans Wyss, weil dieser vor kurzem viel Geld in der Schweiz investiert hatte. Als neuer Besitzer eines ganzen Berges in der Innerschweiz musste er wohl seine Gesinnung geändert haben.
Bald würde er den Geheimdienstchef dieses Sultanats treffen. Hierbei empfand er Widerwillen sowie ein flaues Gefühl im Magen. Wie würde es wohl sein, einem Menschen die Hand zu geben, der regelmässig, und vom Staat legitimiert und gefördert, Menschen zum Schreien brachte? Diese Begegnung war jedoch wichtig. Für ihn, sein Land und dessen Kultur. Die kulturellen Erzeugnisse aus der Vergangenheit und der Gegenwart müssen um jeden Preis geschützt werden!
Im Frühjahr 2003 wurde der Irak von den USA und einer Koalition von kriegswilligen Verbündeten überfallen. Während und viele Jahre nach dem illegalen Angriffskrieg wurden, von allen Seiten, Kriegsverbrechen an Soldaten und Zivilpersonen verübt. Bei diesem Gedanken zuckte Hans Wyss innerlich mit den Schultern: Das ist doch keine Überraschung! Der saubere Krieg, in welchem weder gefoltert, vergewaltigt noch gedemütigt wird, ist ein Hirngespinst. Die völlige Zerstörung der Nationalbibliothek und die Plünderungen des Nationalmuseums jedoch schmerzten ihn sehr. Zeugnisse der jahrtausendalten Kulturen im Zweistromland gingen dabei verloren. Durch das Chaos, welches durch diesen Krieg in der Gesellschaft entstand, konnten verschiedene extremistische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) expandieren. Und heute war es soweit, dass diese Terroristen nicht nur im Irak sondern in der ganzen Welt begannen, Kulturgüter zu zertrümmern.
Der Auslöser für seinen Wunsch nach diesem Treffen waren Meldungen über die unlängst erfolgte Vernichtung der Löwenfigur aus Kalkstein aus dem Alltat-Tempel in Syrien, eine Skulptur Alltats, einer vorislamischen Göttin der Araber. Eine assyrische Türhüterfigur, welche mehr als 2’600 Jahre alt war. Er schüttelte angewidert den Kopf, als er sich die Bulldozer vorstellte, mit welchen diese Barbaren archäologische Stätten auf der Suche nach wertvollen Antiquitäten durchwühlten. Und beim Gedanken an die 14’000 Jahre alten Felszeichnungen im Gebirge Tadrart Acacus, welche von Kriminellen mit Chemikalien abgelöst worden waren, empfand er Abscheu und Wut. Der Terror kannte keine Grenzen. Seit kurzem gab es Gerüchte, westliche Museen, Ausstellungen und Kunstsammlungen würden zum Ziel ausgewählt. Die Befürchtung, dass seine Heimat wegen einer verfehlten Ausländer-, Grenz- und Flüchtlingspolitik Ziel solcher Zerstörer werden könnte, hatte ihn in seinem Entschluss, diese Reise in den Nahen Osten zu machen, bestärkt. Sein früherer Mitstreiter, Altbundesrat Stähli, hatte ihm den Kontakt auf der arabischen Halbinsel vermittelt. Hier hoffte er Antworten auf seine Fragen zu finden.
Sie hatten sich im Museum für Islamische Kunst verabredet. Hans Wyss wollte erst nach Sonnenuntergang beim Treffpunkt ankommen, damit er das Museum von Aussen beleuchtet sehen konnte. Nachdem er durch das Pearl Quartier, dessen bunte Ansammlung von Villen, luxuriösen Apartments und teuren Läden ihn nicht interessierten, geschlendert war, setzte er sich an der von Palmen beschatteten Uferpromenade, der Corniche, auf eine Bank. Ein junger Mann schlenderte an ihm vorbei. Er trug beige, westliche Kleider und schaute angestrengt zum Hafen hinüber, sodass der Industrielle sein Gesicht nicht erkennen konnte. Wurde er beschattet? Als es dunkel wurde, schaute er auf seine Uhr, nahm seine Jacke, stand auf und folgte der Promenade am Hafen entlang. Das Abendgebet war vorbei. Langsam füllte sich die Promenade mit Menschen aus aller Welt. Auf einmal erblickte er das sensationelle Bauwerk. Er blieb stehen und staunte. Die Lichtreflexionen im Wasser schufen eine mystische Atmosphäre. Er betrat das Gebäude. Das Museum beherbergte eine umfangreiche Sammlung von Kunstgegenständen aus der gesamten arabischen Welt des Mittelalters von Indien bis nach Spanien. Bis zu seinem Treffen im Restaurant des Obergeschosses hatte er noch eine Stunde Zeit. Die wollte er nutzen, um ein Gemälde zu betrachten, von welchem er eine kleine Fotografie gesehen hatte. Es handelte sich dabei um das Porträt einer kadscharischen Frau. Die Kadscharen waren eine turkmenisch stämmige Dynastie aus Persien, welche auf den Mongolen-Herrscher Hülegü zurückführte und anfangs 19. Jahrhundert in Iran alleinherrschend war. Als er sie fand, hielt er für einen Moment den Atem an. Er setzte seine randlose, rechteckige Brille auf. Das Portrait der kadscharischen Frau entzückte ihn. Er blieb regungslos vor ihr stehen, sein Atem ging flach, seine Augen leuchteten: Die anmutige Schönheit sass auf einem Kissen, die Beine überkreuzt. Typisch waren ihre etwas in die Länge gezogenen Körperformen, die dicken und nachgezogenen Augenbrauen über ihren mandelförmigen Augen sowie die getönten Hände. Er wusste: Die rot gelbe Färbung wurde aus den zerriebenen Blättern und Stängeln des Hennastrauches gewonnen. Mit ihren Händen spielte sie auf einer Tar, einem Zupfinstrument aus dem Iran. Im Gegensatz zu den Langhalslauten auf anderen Portraits, die Hans Wyss kannte, besass diese hier nur einen einfach ausgebauten Resonanzkörper. Er hörte den imaginären Klängen dieser Laute zu und betrachtete sorgfältig den interessierten Blick der Frau, die prächtigen, dicht gedrängten Muster auf ihrem filigranen Beinkleid, ihre Bluse sowie die Ornamente auf dem dünnen und helleren Umhang. Dann widmete er sich der jungen Katze neben ihrem linken Fuss und dem Tablett mit der Karaffe sowie dem Glas Wasser auf der Lehne, an welche sie angelehnt sass. Der Industrielle hatte schon vor einiger Zeit gespürt, dass sich jemand neben ihn gestellt hatte und nun seine Bewunderung teilte. Er liess sich lange nicht davon einnehmen, wie wenn jemand aus dem Schlaf erwacht ist, aber die Augen noch nicht öffnen möchte, um den Übergang zwischen Schlaf und Wachheit noch eine Weile auszukosten.
Als er sich schliesslich von diesem grandiosen Gemälde lösen konnte, stiess er einen lauten Seufzer aus, nahm seine Brille ab und wandte sich seinem Nachbarn zu. Dieser betrachtete die Lautenspielerin noch eine Weile, um ihm so die Gelegenheit zu geben, ihn zu mustern. Hans Wyss war erstaunt, das Profil eines jungen Mannes mit feinen Gesichtszügen, gepflegt und perfekt rasiert, vor sich zu sehen. Der junge Mann trug einen bis oben zugeknöpften arabischen Anzug, sein Kopf war mit einem weissen Shimagh, einem quadratischen Tuch, welches von einem schwarzen Igal, einem Kopfring aus Wolle festgehalten wurde, bedeckt. Seine Füsse steckten in leichten, hellen Laufschuhen, was erklärte, weshalb der Industrielle ihn nicht hatte kommen hören.
«Guten Abend. Ihr Ruf als bedeutender Kunstliebhaber und fundierter Kenner der arabischen Kultur ist Ihnen vorausgeeilt, mein willkommener Gast», begann der junge Mann mit Bewunderung in seiner Stimme, und machte eine kleine Verbeugung, als er sich ihm zuwandte, «aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine ganze Stunde dasteht und ohne sich zu bewegen ein Kunstwerk anschaut!». Seine perfekte englische Aussprache deutete auf einen mehrjährigen Aufenthalt in einer guten englischen Privatschule oder Universität hin. Hans Wyss streckte ihm seine Hand entgegen und erwiderte:
«As-salaamu aleykum», Friede sei mit dir, worauf der Araber seine Hand locker schüttelte, dabei lächelte und antwortete:
«Wa aleykum as-alaam». Als sie sich in Richtung Ausgang bewegten, nahm der Industrielle die spektakuläre Innenarchitektur des Museums wahr. Er würde am nächsten Morgen nochmals zurückkehren um weitere Schätze zu erkunden. Auch um die Stahlkuppel, in der sich, so hatte er gelesen, tagsüber das hineinflutende Sonnenlicht tausendfach brach, bei Tageslicht zu bewundern.
«Seien Sie mein Gast», sagte der Geheimdienstchef von Us-al-Bin und führte ihn in Richtung Restaurant.
***
Als sie das Restaurant betraten, fiel dem Industriellen zuerst die inspirierende Beleuchtung auf. Durch die Anordnung der offenen und verdeckten Lichtquellen schien der hohe, helle Raum mehrdimensional: wo er auch hinsah, eröffneten sich gleichsam verschiedene Perspektiven. Die Farben waren aufeinander abgestimmt, was sich auf die harmonische Stimmung auswirkte. Sie wurden von einem Mann, der, mit Ausnahme der Fussbekleidung, ähnlich wie sein Begleiter gekleidet war, zu einem Tisch geführt. Der Geheimdienstchef überliess ihm den Sitz mit Blick in den Raum. Der Industrielle zählte rund ein Dutzend normal hohe Esstische mit westlichen Holzstühlen und etwa gleich viele niedrige runde Tische mit einigen Sitzhockern, welche mit braunem Leder bespannt waren. Dazwischen standen sogenannte Poufs, bequeme Sitzkissen, welche mit gelben Sternen geschmückt waren. An einigen weissen Wänden hingen Wandbehänge mit kleinen Spiegelchen und orientalischen Stickereien in den schönsten Farben. Sie waren an Messingstangen angebracht. Hans Wyss vermutete, es handle sich dabei um sehr wertvolle, alte und handgeknüpfte Wandteppiche. Nachdem beide sich einen Tee bestellt hatten, wandte sich der Araber an seinen Gast:
«Ich bin von Ihrer ruhigen und starken Ausstrahlung sehr beeindruckt. Ihre ernsten Gesichtszüge sagen mir, dass Sie sehr viel in Ihrem Leben nachgedacht haben und Ihre Augen sagen mir, dass Sie schon sehr vieles gesehen haben, auch weniger Schönes.» Der Industrielle schwieg und schaute seinen Gastgeber, der ein sanftes Lächeln im Gesicht hatte, aufmerksam an.
«Aber ich kann auch etwas Anderes in Ihrem Blick lesen», fuhr der Araber fort. «Sie sind mir gegenüber misstrauisch. Sie vermuten, einem Menschen gegenüber zu sitzen, der beruflich, und von meinem Sultan erlaubt, andere Menschen zum Reden bringen muss, indem er sie quält. Und das bereitet Ihnen ein Unbehagen.» Der Schweizer versuchte seine Überraschung über die geradlinige Eröffnung seines Gastgebers nicht zu zeigen und blieb ruhig. Er wartete darauf, dass sein Gegenüber weiterfuhr. Dieser nahm einen Schluck Wasser, dann wurde sein Gesichtsausdruck sehr ernst:
«Ich habe 16 Arten gelernt, wie ich jemanden ohne Geräusch töten und zwölf verschiedene Arten, wie ich Menschen unermessliche Schmerzen zufügen kann, sodass sie alles berichten, was ich hören möchte.» Der Industrielle bemerkte die Betonung auf: «alles, was ich hören möchte»…. Der Gastgeber hielt einen Moment inne und schaute sich im Restaurant um, ob er bei jemandem Aufmerksamkeit erregt hatte. Er registrierte verschiedene Zweier- und Dreiergruppen, alles Männer, an verschiedenen Tischen. Alle schienen in Gespräche vertieft zu sein. Nach einer Weile fuhr er mit derselben leisen Stimme und der gepflegten Aussprache fort:
«Alle Methoden wurden mir im christlichen Abendland beigebracht!» Hierbei musterte er das Gesicht seines Gegenübers auf Anzeichen von Ungläubigkeit oder Widerstand. Als er sah, dass sein Gast ihn immer noch ohne Regung und konzentriert ansah, fuhr er fort: «In Staaten, mit welchen Ihre Regierung befreundet ist, in Ländern, mit welchen Sie Ihre Geschäfte abwickeln!»
Hans Wyss spürte einen Klumpen in seiner Magengrube. War dies das Ende seiner Begegnung, wollte der Andere ihn konfrontieren oder gar provozieren und ihn dann nach Hause schicken? Doch er täuschte sich, denn als sein Gastgeber bemerkte, was bei seinem Gegenüber ablief, beeilte er sich fortzufahren:
«Aber ich habe hier nie, nicht ein einziges Mal jemandem weh getan, weder körperlich noch mental, auch wenn ich viele Dreckschweine kennen gelernt habe und als Leiter des Nachrichtendienstes die Erlaubnis dazu gehabt hätte.» In diesem Moment wurde ihnen der Tee serviert.
Der Gastgeber rührte in seiner Tasse und schien einen Moment in Gedanken versunken zu sein, dann sprach er, ohne aufzuschauen:
«Wissen Sie, was das Schlimme am Foltern ist?». Ohne eine Antwort zu erwarten fuhr er fort: «Nicht die körperlichen oder psychischen Schmerzen sind es, auch nicht die Aussicht auf bleibende Schäden.» Er trank einen Schluck, dann hob er den Kopf und schaute seinem Gast in die Augen:
«Der Gefolterte verliert seine Würde.» Er liess seinen Satz einen Moment lang wirken, dann fuhr er fort: «Das Opfer verliert die Kontrolle über seine Gefühle, seine Gedanken und seinen Körper. Das alles kann er, muss er hinnehmen, dies alles aber kann er später verstehen, entschuldigen, und vielleicht verarbeiten. Womit aber kein Mensch, der gefoltert wird, jemals fertig wird: er muss seine verinnerlichten Werte verabschieden, die Bilder, die er von sich, Allah und den Menschen gehabt hat, loslassen. Er verliert seine Selbstachtung, seinen Selbstrespekt, seinen Stolz, ja er verliert das Höchste: seine Erhabenheit als Mensch! Er fühlt sich weniger wert als ein Tier. Und Tiere, nebenbei, foltern nicht, führen keine Kriege, töten nie aus Lust, Habgier oder Rache.» Nach einem Moment fügte er hinzu: «Ich würde eher zehn Menschen mit meinen blossen Händen töten, als jemandem zusehen, wie er seine Würde verliert!» Er formulierte dies sehr leise und schien dies mehr zu sich selber zu sagen, denn er schaute an seinem Gast vorbei in eine Welt, in welche er nie mehr zurückkehren wollte.
Der Schweizer konnte nicht einordnen, was er bei diesen Worten seines Gastgebers empfand, aber er konnte das Gesagte nachvollziehen. Er nickte, sagte aber nichts. Er gab sich Mühe, keine Reaktion zu zeigen, denn er wollte bei seinem Gegenüber keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Er war hier, um Informationen zu erhalten und wegen nichts anderem. Doch sein Gastgeber verstand sein Schweigen als Unglaube und fügte hinzu:
«Meine ersten Ferien in Europa, es waren zwei Wochen Ballermann-Urlaub auf Mallorca», hier wandte sich sein Blick nach rechts oben und ein gequältes Lächeln zeigte sich, «verdiente ich mit einem Auftrag der Afrika-Sektion des Deuxième Bureau». Der Industrielle wusste: Das war die alte Bezeichnung für den französischen Geheimdienst. «Meine Aufgabe bestand darin, unter wissenschaftlich begleiteten Bedingungen herauszufinden, wie oft, in welchem Zeitabstand und wie lange insgesamt ein simuliertes Ertränken bei verschiedenen Männern und Frauen durchgeführt werden konnte, ohne dass sie das Leben verloren.» Der Geheimdienstmann senkte seinen ernsten Blick auf den Tisch.
«Später habe ich die empirisch gewonnenen Erkenntnisse für meine Doktorarbeit verwendet, in welcher ich aufzeige, dass Folter weder neue, nutzbare Informationen erbringt noch alte Informationen bestätigt.» Er stiess einen langen Seufzer aus und sagte abschliessend: «Trotzdem wenden die Amerikaner und viele andere …», er liess den Satz unvollständig. Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, runzelte der Schweizer seine Stirn und sah ihn fragend an:
«Aber wie, verehrter Sayyid, bringen Sie die Leute denn dazu, mit Ihnen zu kooperieren?» Der Gastgeber registrierte, dass er mit der arabischen Anrede angesprochen wurde und beeilte sich nachzuholen:
«Nennen Sie mich Tarek, einfach Tarek!». Dies war sein Vorname, und zwar der echte, aber es war ihm lieber so. Hans Wyss nickte. Tarek dachte nach. Er hatte seinen Gast richtig eingeschätzt: Du bist ein ehrgeiziger Geschäftsmann, Vertreter eines gierigen Kapitalismus, du würdest mit Iblis, dem obersten Satan zusammenspannen, wenn es dich deinen Zielen näherbringen würde. Er lächelte:
«Wir machen ihnen ein Angebot. Wir sagen zum Beispiel: >Du weisst von schrecklichen Verbrechen und wir wollen diese aufklären oder verhindern. Wenn du uns hilfst, werden wir dafür sorgen, dass deine kranke Mutter in ein sehr gutes Krankenhaus kommt und die besten Therapien bekommt.< Oder: >Dein Bruder möchte Immobilienhändler werden, nicht? Wir ermöglichen deinem Bruder das beste Studium an einer Universität im Westen, wenn…<» Der Industrielle nickte.
«Das funktioniert auch in anderen Fällen. Zum Beispiel haben wir die niedrigste Rate bei Überfällen, Mord und Totschlag, Diebstahl und so weiter. Wir gelten als eines der sichersten Länder des Morgenlandes!» Hans Wyss hörte fasziniert, aber skeptisch zu. Er spürte, wie sich eine gewisse Enttäuschung in ihm breitmachte. Wusste er doch mit Sicherheit, dass sich terroristische Anschläge nicht mit dieser Art Belohnungssystem aus der Welt schaffen liessen. Tarek wollte nochmals auf den Punkt zurückkommen und seinem Gast jeden Zweifel wegräumen:
«Schauen Sie, wir haben Mühe, einige westliche Errungenschaften, wie die Meinungs- und Glaubensfreiheit oder die Gleichstellung von Mann und Frau vorbehaltlos anzunehmen. Aber ich habe noch nie, auch vor meiner militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Ausbildung verstanden, weshalb Menschen gefoltert werden. Wir wissen schon lange, und ich konnte dies, wie vorhin erwähnt, mit meinen eigenen Studien belegen, dass die Aussagen, die unter Folter gemacht werden, nicht verwertet werden können. Weil die Leute lügen, wenn sie eingeschüchtert werden. Auch als Abschreckung taugt die Folter nicht. Was also soll der Sinn sein, Menschen einfach so Schmerzen zuzufügen? Sie verlieren ihr Gesicht, ihre Würde, ihre Identität, und das ist auch in der muslimischen Welt verwerflich!» Hans Wyss verstand dessen Beharren auf diesem Thema nicht. Nun wollte er jedoch Antworten auf die Fragen, derentwegen er diese Reise unternommen hatte:
«Sie machen möglichen Tätern, Mittätern und Informanten also ein Angebot, bevor die ihre geplanten Taten umsetzen und welches sie nicht ausschlagen können. Eine Art Vorbeugung von leichten Verbrechen also. Wie kommt es aber, dass in Ihrem Land keine schweren Anschläge, keine Terrorakte, keine Selbstmordattentate mehr verübt werden? Da kann Ihr, zugegebenermassen beeindruckendes, Angebotssystem doch nicht genügen? Hat Ihr Sultan etwa gegen alle möglichen Attentäter vorbeugend, zur Abschreckung gewissermassen, eine Fatwa, ein Todesurteil ausgesprochen?». Tarek war auf diese Frage vorbereitet, er liess sich jedoch Zeit mit seiner Antwort und nahm einen Schluck Tee:
«Bevor ich Ihre Frage beantworte, lassen Sie mich auf etwas hinweisen: Das Abendland macht häufig den Fehler, Dinge ausschliesslich aus seiner Perspektive, auf dem Hintergrund seiner Gesetze zu betrachten …»
«Und missachtet hierbei den kulturellen, geschichtlichen und religiösen Hintergrund der Attentäter», unterbrach ihn Hans Wyss.
«Genau! Unser Sultan ist so etwas wie unser politischer und militärischer Führer, eine Fatwa jedoch wird meist von einem religiösen Führer ausgesprochen. Eine Fatwa ist eigentlich eine Rechtsauskunft. Aber ich weiss, Sie meinen hiermit ein Urteil, ein Todesurteil.» Der Schweizer nickte und fragte sich, wie weit er seinen Gastgeber in religiösen Fragen ausfragen durfte. Er entschied sich dafür, weiter nachzuhaken:
«Aber nicht alle religiösen Gemeinschaften befolgen dessen Befehle.» Der Gastgeber erkannte, dass sich sein Gast mit seinem Glauben auseinandergesetzt haben musste und nickte zufrieden:
«Exakt, obwohl die Schari’a, die Gesamtheit unserer islamischen Gesetze also, für alle Bürgerinnen und Bürger meines Landes gilt, wird eine Fatwa, ein Erlass, welcher befolgt werden muss, je nach Herkunft nicht von allen eingehalten.»
«Die Sunniten», ergänzte der Industrielle, «würden also eine Fatwa eines schiitischen Geistlichen nicht anerkennen.»
«Richtig. Doch das ist nicht der Grund, weshalb wir keine Fatwa in Erwägung gezogen haben, sondern, weil die jüngere Geschichte zeigt, dass Fatwas gegen Selbstmordattentäter weder effektiv noch nachhaltig sind.» Der Industrielle richtete seinen Blick zur Decke, um hierüber nachzudenken. Der Araber fuhr fort: «Der Fatwa, welche der Schiitenführer Khomeini im Jahre 1989 gegen den Schriftsteller Salman Rushdie wegen Gotteslästerung ausgesprochen hatte, wurde ja nie entsprochen.»
«Aber bei unserem Thema, den Anschlägen …», beharrte der Unternehmer.
«Schauen Sie, es ist im Islam verboten, Unschuldige zu töten.» Der Schweizer seufzte innerlich und wandte ein, diesmal mit etwas schärferem Ton:
«Es ist im Islam auch verboten, Frauen ihre Rechte zu verwehren!», und achtete darauf, wie sein Gegenüber reagieren würde. Doch, falls ihn dieser Einwurf ärgerte, er verzog keine Miene, sein Blick blieb auf seinen Gast gerichtet und mit ruhiger Stimme fuhr er fort:
«Da hat die arabische Welt, wie gesagt, einen Nachholbedarf. Aber, was ich sagen wollte: Bevor sich Saudi-Arabien den USA anschloss, um gegen die Terrormiliz Islamischer Staat zu kämpfen, haben sich hochrangige Religionsgelehrte in einer Fatwa gegen den Terrorismus ausgesprochen. In Ägypten und in der ganzen Welt haben Imame, die Al-Azhar-Universität in Kairo, der Gelehrtenrat sowie der Grossmufti von Saudi-Arabien in zahlreichen Fatwas den Kampf gegen die Terrormiliz gutgeheissen. Ende 2015 verkündeten 70’000 islamische Geistliche in Indien eine Fatwa, in welcher stand, dass Organisationen wie die Taliban, al-Qaida und die IS nicht islamisch seien!»
«Und weshalb hat dies bis jetzt nichts gebracht?»
«Dies ist sehr schwierig zu beantworten», antwortete Tarek, nachdem er lange über diese Frage nachgedacht hatte. «Der Hauptgrund ist sicher darin zu suchen, dass die Terroristen eigentlich keine religiösen, sondern politische Gründe für ihr Handeln haben.» Weil er diese Frage nicht weiter mit seinem Gast erörtern wollte, vermied er es darauf hinzuweisen, dass der Westen mit seinen Kriegen im Nahen Osten, seiner Haltung den Palästinensern und allen Muslimen gegenüber sehr wohl eine Mitschuld tragen müsse. Hans Wyss war beeindruckt vom bisherigen Verlauf seines Gespräches, entdeckte er hierbei nämlich eine bemerkenswerte Offenheit seines Gegenübers ihm und seinen Fragen gegenüber. Aber er war nicht hierhergereist, um die gegenwärtige Weltlage mit seinem Gastgeber zu erörtern. Er wollte Antworten auf seine konkrete Frage:
«Wenn also die Fatwa nicht Euer Mittel ist, wie habt Ihr es denn geschafft, das einzige Land im Nahen Osten zu sein, welches seit drei Jahren keine Attentate mehr erleben musste?» Bevor Tarek ihm Antwort geben konnte, wurde die Mahlzeit serviert und sie assen, ohne dabei das Gespräch wiederaufzunehmen. Nach dem Essen erklärte Tarek seinem aufmerksamen Gast, weshalb Us-al-Bin das einzige Land weltweit war, welches einen wirksamen und nachhaltigen Weg gefunden hatte, den islamistischen Terror zu verhindern. Hans Wyss hörte ihm mit wachsendem Interesse zu. Was Tarek ihm schilderte, konnte er zwar nicht einfach eins zu eins so übernehmen. Aber blitzschnell hatte er begriffen: Es gab einen Weg, terroristische Islamisten davon abzuhalten, Mensch und Kultur auch in seinem Heimatland, der Schweiz, zu vernichten. Ein Verfahren, das zwar ausserhalb der Möglichkeiten eines Rechtsstaates lag. Eine Vorgehensweise jedoch, die er, mit Hilfe der WG 91 in kurzer Zeit würde umsetzen können.
Als ein höchst zufriedener Schweizer sich von seinem Gastgeber verabschiedete, bemerkte er dessen fragenden Blick. Der Industrielle setzte einen einnehmenden Gesichtsausdruck auf und sagte mit freundlicher Stimme:
«Wollten Sie mir noch etwas sagen?» Tarek zögerte, dann fragte er:
«Haben Sie bemerkt, dass sie verfolgt werden?»
«Nein», lachte Hans Wyss, dann jedoch erinnerte er sich an den jungen Mann auf der Corniche, welcher sein Gesicht auffällig lange von ihm abgewandt hatte. «Aber, ehrlich gesagt, es macht mir keine Angst!» Dann beging er den Fehler, den alle Beobachteten machten: Er drehte sich um und versuchte auszumachen, ob er seinen Verfolger ausmachen könne. Der Araber lächelte über diese Reaktion und fuhr fort:
«Ihr Verfolger ist nicht hier im Raum. Wahrscheinlich wartet er an einer Hausecke, bis Sie hinauskommen und ein Taxi bestellen. Ich erlaube mir deshalb, Sie in meinem Wagen zum Hotel zu bringen.» Hans Wyss war dankbar, aber auch etwas erstaunt, dass ihm dieses Angebot gemacht wurde. Sein Gastgeber erriet seinen Gedankengang und erklärte deshalb:
«Es sind nicht meine Leute!» Und bevor sein Gast die nächste, offensichtliche Frage stellen konnte: «Es sind auch keine Katarer. Sonst wüsste ich es!» Der Araber wollte seinen Gast nicht noch mehr verängstigen. Deshalb schlug er ihm vor, das für beide Seiten erfolgreiche Treffen zu beenden.
Als sie sich vor dem Eingang des Hotels verabschiedeten, wusste Hans Wyss, was er zu tun hatte. Im Hotel entwarf er in groben Zügen ein Konzept, inklusive Budget, Zeitplan und Logistik. Mit Hilfe seines Projektes würden künftige Terrorakte, die auf die Vernichtung von Kulturgütern abzielten, verhindert werden können. Über den Umstand, dass er wahrscheinlich beschattet worden war, würde er sich später Gedanken machen. Er arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Am nächsten Morgen vergass er sein Vorhaben, das Museum für islamische Kunst nochmals zu besuchen. Er buchte einen früheren Flug und begab sich, ohne zu frühstücken, zum Hamad International Airport. Den jungen Mann mit den beigen, westlichen Kleidern, der ihm folgte, beachtete er nicht. Auf dem Rückflug erledigte er drei Telefonate, das erste mit Yasin, der ihn abholen sollte, dann mit dem Altbundesrat Georg Stähli und schliesslich mit einem Waffenhändler. Letztere waren Mitglieder der ehemaligen Wehrgemeinschaft 91, des heutigen Schachclubs.
***
Der Schachclub traf sich diesmal auf der Insel. Er würde diesmal nur mit vier Mitgliedern vertreten sein. Der Journalist und der pensionierte Beamte entschuldigten sich ferienhalber. Als Erster traf der Politiker ein. Georg Stähli, Altbundesrat und emeritierter Professor für Politikwissenschaft, liess es sich nicht nehmen, jeweils eine Stunde vor Sitzungsbeginn im Flughafen Bern-Belp vom Helikopter des Industriellen abgeholt zu werden. Er begründete dies jeweils damit, dass er sonst auf einen Personenschutz angewiesen sei und sich zudem so auf die Sitzungsleitung vorbereiten könne. Tatsächlich war es so, dass er über den Inhalt der Traktanden und eventuellen Hintergrundinformationen frühzeitig Kenntnis haben wollte.
Als Goran den Hubschrauber auf der Insel landete, wurde der Politiker von Finn abgeholt und zur Villa begleitet. Diesmal liess ihn der Gastgeber jedoch im Foyer seiner Villa warten, weil er noch ein wichtiges Geschäft erledigen müsse. Dies stimmte nicht, aber Hans Wyss mochte diesen machtgierigen kleinen Mann mit seinem nervigen Brauentick einfach nicht. Georg Stähli wusste bereits vor seinem Abitur, dass er Mitglied der Landesregierung werden wollte. Er schien alles in seinem Leben – Studium, Beruf, Ehe, Familie – diesem Ziel untergeordnet zu haben, so dachte Hans Wyss und rümpfte dabei die Nase. Besonders störte ihn, dass der Politiker öffentlich nie zu seinen politischen und weltanschaulichen Ansichten gestanden hatte. Nach Außen vertrat er die Linie einer bürgerlichen Partei. Nur innerhalb der Wehrgemeinschaft 91 getraute er sich, seine extrem nationalistischen Überlegungen, welche einige demokratischen Grundprinzipien und westlichen Werte in Frage stellten, zu äussern.
Georg Stähli setzte sich. Er trug einen grauen Anzug, ein blaues Hemd und eine gelbliche Krawatte aus Polyester. Da er seine teuren Schuhe nicht auf der Insel ruinieren wollte, trug er schwarze Stiefeletten. Seinem verkniffenen Gesicht sah man an, dass er sich in seinem Leben oftmals geärgert haben musste. Die starken Gläser seiner schweren Brille verliehen seinen Augen etwas Sperberhaftes. Zwischen seinem Stuhl im Foyer und dem doppeltürigen Eingang in den Salon stand ein kleiner antiker Tisch aus Edelholz. Der Tisch verfügte über eine aufklappbare Deckplatte mit einem in hell und dunkel kontrastierenden Hölzern eingelegten Schachfeld. Hans Wyss war ein Schnellspieler und verabscheute Gegner, die entweder lange an ihrem nächsten Zug herumgrübelten oder ständig herumlaberten. Deshalb hatte er zwei unbequeme Holzstühle ohne Kissen aus dem 15. Jahrhundert an das Schachtischchen gestellt. Auf dem einen wartete der ehemalige Bundesrat. Seine damalige Idee, mit Hilfe der WG 91, die Schweiz zu einer inoffiziellen, aber auf der ganzen Welt gefürchteten Atommacht zu machen, war gescheitert. Er war 72 Jahre alt, verbittert und frustriert wegen all der Dinge, die er nicht mehr tun, befehligen oder manipulieren konnte. Als er die junge Frau erblickte, welche soeben aus dem Salon trat, blaffte er sie an:
«Gibt es hier auch etwas zu trinken?». Die Frau blieb erstaunt stehen und fragte ihn höflich:
«Möchten Sie einen Tee?». Er musterte sie streng von unten nach oben und nickte. Sie trug ein festliches, dunkelblaues Midikleid mit Spitzeneinsatz und elegante Pumps aus blauem Wildleder. Sie gehörte zusammen mit ihrem Mann zu einem kleinen Catering Service, der von Hans Wyss für das Wohl seiner seltenen Gäste beauftragt wurde. Als sie ihrem mürrischen Gast das bestellte Getränk brachte, setzte Georg Stähli sein eingeübtes Politikerlächeln auf und bedankte sich höflich. Die Serviererin hatte ihn jedoch bereits eingestuft. In die Kategorie ‚falsche Kläffer‘.
Der Waffenfabrikant und der ehemalige Anwalt wurden unterdessen mit dem Motorboot auf die Insel gebracht. Ersterer legte immer noch Wert darauf, dass niemand im Club seinen Namen kannte, obwohl er allen schon seit vielen Jahren bekannt war. Er hatte bei ihrem grössten Unterfangen, dem ‚Sustenprojekt‘, die Kontakte zu den ungarischen Waffenlieferanten, welche für die damalige Sowjetunion arbeiteten, hergestellt und die Logistik organisiert.
Der Anwalt, der letzte im Bunde, befand sich schon seit einigen Jahren im Ruhestand und gab sich seinen früheren Freizeitbeschäftigungen, dem Wandern und dem Vogelbeobachten hin.
Hans Wyss liess alle noch ein wenig herumstehen, dann begrüsste er sie, und lud sie in seinen Salon ein, wo für sie aufgedeckt worden war. Nach einem herkömmlichen Drei-Gang Menu übergab er dem Altbundesrat das Wort, um die Sitzung einzuleiten. Alle warteten jedoch ungeduldig, bis er, der Industrielle, ihnen seine Informationen und seine Projektidee mitteilen und sie um ihre Meinung bitten würde. Hans Wyss war sich völlig im Klaren, dass es seinen Kameraden mehr um die kriminellen Ausländer gehen würde, während es ihm um den Erhalt der westlichen Kultur ging. Er sah jedoch keine Notwendigkeit, diese Unterscheidung hervorzuheben. Sie würden eh auf ihren eigenen Auslegungen beharren wollen und für die Umsetzung seiner Idee waren diese irrelevant. Georg Stähli erhob sich, schaute jedem Anwesenden einen Augenblick lang in die Augen und begann:
«Seit einiger Zeit beobachte ich, wie wir von Menschen muslimischer Herkunft infiltriert werden. Sie beantragen bei uns Asyl oder den Flüchtlingsstatus, dann holen sie ihre Verwandten und Bekannten von zu Hause und nisten sich in unsere Kultur ein. Ohne sie jedoch zu übernehmen. Das heisst, sie behalten ihre Religion, ihre Essgewohnheiten, ihre Fast- und Feiertage, als lebten sie noch dort, von wo sie geflohen sind.» Der Altbundesrat hielt inne, um befriedigt feststellen zu können, dass alle gespannt darauf warteten, was er ihnen nun sagen würde. Dann strich er mit dem linken Zeigefinger über seine linke Braue, fuhr fort und hob dabei seine Stimme:
«Bis jetzt sage ich euch nichts Neues.» Wieder hielt er inne, wie wenn er nach geeigneten Worten suchen würde. Dabei hatte er diese Rede beim Warten auf sie vorbereiten können.
«Viele von ihnen bringen Unruhe, seltsame Bräuche und hohe Erwartungen mit. Einige aber, und es werden immer mehr, wollen uns und unsere Errungenschaften, die Früchte unserer Kultur und unseres Wohlstands kaputt machen. In anderen Ländern haben sie damit schon vor langem angefangen. Und sie werden es auch bei uns tun. Das ist wohl jedem von uns klar. Diebstähle, Plünderungen und Zerstörungen werden bald zu unserem Alltag gehören. Und jetzt? Was tun wir?»
Hans Wyss seufzte innerlich. Wann würde dieser Populist Stähli seinen Geltungswahn in den Griff bekommen und endlich diese törichte Rede beenden? Georg Stähli fuhr mit barscher Stimme fort:
«Nichts! Wir machen absolut nichts! Jedenfalls nichts, was nützt. Und warum nützt es nichts? Ich gebe euch ein Beispiel: Wenn ein Afrikaner bei uns in Bern unseren Jugendlichen Drogen verkauft, dann wird er irgendwann mal von unserer tüchtigen, aber in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkten Polizei erwischt und vor den Richter geführt. Vielleicht kommt der Neger dann irgendwann mal ins Gefängnis. Und was denkt er dann? Ich werde es Euch sagen. Dann wird er seinen Kumpanen sagen: ‚Ich habe es gut hier, die drei Mahlzeiten pro Tag sind super und abends kann ich fernschauen!‘» Georg Stähli liess diesen letzten Satz einige Sekunden wirken, dann holte er tief Luft und setzte zum letzten Abschnitt seiner Erläuterungen an und seine Stimme wurde laut und rauh:
«In seiner Heimat würden ihm beide Hände abgehackt und man würde ihn öffentlich auspeitschen. Dann, glaubt mir, wird er nie mehr dealen. Seht Ihr, auf was ich hinauswill? Wir dürfen Ausländer nicht mit unserer weit entwickelten Kuscheljustiz verurteilen, nicht mit einem Aufenthalt in unseren Hotelgefängnissen bestrafen. Nein! Wir müssen ihre Verbrechen mit ihren eigenen Mitteln verfolgen und bestrafen!»
Hans Wyss blieb sitzen und dankte ihm für seine inhaltlich kluge und rhetorisch perfekte Rede. Dann berichtete er ausführlich über seine Reise in den Nahen Osten und über die dort gewonnenen Erkenntnisse. Dann skizzierte er seine Idee. Nach seinen Ausführungen blieb es ein wenig still. Dann begann der Jurist für seine Kameraden auszuführen, welche Gesetze sie mit dem Projekt `Lumpenpack`, so wurde das Unterfangen auf Antrag des Anwalts bezeichnet, notgedrungen übertreten würden, als der Politiker ihn grob und mit seiner bellenden Stimme unterbrach:
«Was Sie da erzählen, ist jedem von uns klar. Was mir hingegen Sorgen bereitet, ist die Frage: Wer könnte uns diesbezüglich Probleme machen?» Hans Wyss erkannte, dass dies nur eine rhetorisch gemeinte Frage war, denn der Politiker hatte die Antwort bereits parat. Nachdem dieser sich mit dem linken Zeigefinger über seine linke Braue gestrichen hatte, fuhr er fort:
«Ich denke da an den militärischen Geheimdienst mit diesem Oberst König, dieser räudigen Klette! Er ist klug, hartnäckig und nachtragend. Er und sein Verbündeter, der holländische Kampftaucher, können für unser Vorhaben sehr gefährlich werden.» Alle erinnerten sich an die unangenehmen Verhöre in den Jahren nach dem Sustenprojekt. In diesem Moment fiel Hans Wyss ein, was ihn Tarek, der Geheimdienstchef von Us-al-Bin, gefragt hatte: Haben Sie bemerkt, dass Sie verfolgt werden?, und: Es sind nicht meine Leute, auch keine Katarer! Und plötzlich erkannte er: Er war von den eigenen Leuten beschattet worden! Dieser Geheimdienst, mit König und dessen Freund, war überaus lästig. Er war deshalb erleichtert, als der Politiker seinen Vorschlag eröffnete:
«Ich werde mich persönlich um diese zwei Herren kümmern!» Jeder wusste, dass Georg Stähli, ehemals Bundespräsident und Gründer der WG91, noch immer über diverse Verbindungen verfügte und auch wusste, wie diese zu nutzen waren. Hans Wyss berichtete von seinem Treffen in Katar und zeigte die Grundzüge seiner Projektidee auf. Befriedigt merkte er, wie eine frische Brise durch seine Kameraden hindurch zu fegen schien. Sie stellten diverse Fragen, brachten Einwände vor und erteilten ihm, ungefragt, diverse Ratschläge.
Nachdem Hans Wyss sich der ideellen Unterstützung sicher war, löste er die Versammlung auf und setzte sich mit dem Fabrikanten an den kleinen Schachtisch im Foyer. Der Waffenhändler hatte in den letzten Jahren verschiedene ehemalige Bunker, Wehrstollen und Festungsanlagen erworben. Bei dieser Unterredung ging es darum, einen geeigneten Ort für ihr Projekt ‚Lumpenpack’ zu finden.
Nachdem der Schachclub die Insel auf verschiedenen Wegen wieder verlassen hatte, begab Hans Wyss sich nach draussen, um frische Luft zu schöpfen. Zwischen der Villa und dem Bootshaus lag ein üppig bepflanzter, streng gegliederter und von Steinmauern eingefasster Garten. Er setzte sich in einen bequemen Hochlehner und trank einen Schlummertrunk. Er dachte an Mustafa und dessen Mutter.