Читать книгу Unter dem Bootshaus - marcus townend - Страница 8
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Einmal hielt sich Mustafa, er war dreijährig, zusammen mit seiner Mutter in der weitläufigen Inselanlage auf. Mila trug einen Seidenschal, den sie im Nacken zu einem Kopftuch gebunden hatte. Sie spazierten entlang eines Weges, der mit Tagetes, auch Totenblumen genannt, gesäumt wurde. Es handelte sich um duftende, krautige Pflanzen, mit gelborangen Blüten. Diese dienten als Lebensmittelfarbstoff und als Futtermittelzusatz für Geflügel, damit deren Eidotter eine schöne Gelbfärbung erhielten. Einige Inhaltsstoffe halfen mit, einer Degeneration der Netzhaut des Auges vorzubeugen, die vornehmlich bei älteren Personen auftreten konnte. Die Totenblumen zogen Schnecken an. Mila ekelte sich vor Schnecken. Und hier auf dieser Insel hatte es viele, sehr viele Schnecken.
Sie hatte schon davon gehört, dass man diese schleimigen Fresser mit Hilfe von Bier in die Falle locken konnte. Aber der Gedanke daran, dass sie dann elendiglich ertrinken würden, gefiel ihr nicht. Schnecken mögen das Aroma von Kamille und Bohnenkraut nicht und reagieren empfindlich auf Trockenheit. Folglich hätten sie mit dem Bepflanzen dieser beiden Korb- und Lippenblütler sowie mit Hilfe von Steinmehl oder Branntkalk ferngehalten werden können. Von diesen Schutzmassnahmen wusste sie jedoch nichts und so zertrat sie die Schnecken mit ihren Häuschen während ihres Spaziergangs. Mustafa sah ihr fasziniert zu und begann, es ihr nachzumachen. Sobald er eine Schnecke mit ihrem Häuschen sah, rannte er zu ihr und setzte behutsam die Laufsohle seiner Sandale auf das Gehäuse und drückte dann mit dem Gewicht seines kindlichen Körpers auf das Schneckenhäuschen, bis es unter seiner Schuhspitze zersplitterte. Dazu rief er leise: «Tot, tot», und dann nochmals, lauter: «tot». Seine Mutter wartete einige Meter weiter vorne auf ihn. Sie hatte sich von ihm abgewandt, nicht alleine wegen seiner abstossenden Freude am Vernichten von Schnecken und ihrer Häuschen. Sie ekelte sich vor ihrem Sohn, denn er litt seit seinem ersten Lebensjahr an einer Hautkrankheit, bei welcher er rote, schuppende und nässende Ekzeme bekam. Und dies überall. Abscheu und Enttäuschung empfand sie auch, wenn sie an seinen Vater dachte. Diesen schien ihr Leiden und das seines Sohnes nicht zu interessieren. Nach der Geburt, welcher einige Monate mit grosser Traurigkeit, Ängsten und Reizbarkeit gefolgt waren, schien er das Interesse an ihr und seinem Sohn verloren zu haben.
Mustafa drehte sich zum Elternhaus um. Sein Vater stand am Fenster ihrer Wohnstube und trank aus einem farbigen orientalischen Teeglas. Er hatte ihm die ganze Zeit zugesehen. Der Goldrand des Glases funkelte in der Abendsonne. Er nickte seinem Sohn zu und lächelte.
***
Als Mustafa den Kindergarten und später die Schule besuchte, wurde er jeden Tag mit einem kleinen Motorboot auf das Festland gefahren und nachmittags wieder abgeholt. Die meisten seiner Mitschüler und Mitschülerinnen kannten die Insel nur von weitem. Es hiess, auf der Insel würden sich ein reicher Mann sowie Fremde aufhalten, die ihre Sprache nicht sprechen würden. Selten sah man jemanden von der Insel im Dorf. So kam es, dass kaum jemand aus dem Dorf wusste, wie es auf der kleinen Insel aussah.
Seine Kindergärtnerin spürte den Hunger des Jungen nach elterlicher Zuwendung und sie befürchtete, dass sich seine Mutter wegen des Aussehens ihres Sohnes schämte. Die Pädagogin konnte jedoch keine Beziehung zu seinen Eltern herstellen, was eine Voraussetzung dafür gewesen wäre, ihm helfen zu können. Sie blieben allen Eltern- oder Schulveranstaltungen fern.
Mustafa bewunderte und fürchtete seinen Vater. Dieser schien alles zu wissen, alles zu können und niemals Fehler zu machen. Er schien ihm geistig unerreichbar, emotional unnahbar. Er war sein grosses Vorbild, gleichzeitig aber auch Ursache heftiger Gefühle.
Den Grund für den väterlichen Liebesentzug und die mütterliche Abneigung suchte er bei sich selbst. Seine schlechten Zeugnisse und sein ständiges Sich-mit-sich-selbst-Beschäftigen mussten für seinen Vater eine endlose Enttäuschung sein. Mila fühlte sich von den plötzlichen Wutausbrüchen, seinen ungezügelten Essanfällen und dem Chaos, das er überall hinterliess, überfordert. Er empfand ihren Ekel vor seinen immer wieder erscheinenden Rötungen und Ekzemen als gerechtfertigt. Trotzdem begann er seine Mutter zu hassen.
Mustafa war ein unbeständiger Schüler. Er konnte sich nur für kurze Zeit auf den Lernstoff oder seine Lehrerin konzentrieren. Bald schweiften seine Gedanken ab und er begann etwas zu zeichnen oder aufzustehen, um auf die Toilette zu spazieren. Sein Kopf war gefüllt mit sprunghaften Ideen, Bildern und Tönen, sodass er oft abwesend und unbeteiligt wirkte. Er war kleiner als die meisten seiner Klassenkameraden und ab der 3. Klasse übergewichtig. Bisweilen wurde er verprügelt. Aus Langeweile, oder weil er sich nie wehrte. Mustafa weinte nie. Schon bald begann er, sich immer mehr zurückzuziehen, niemanden auf die Insel einzuladen. Er schloss und pflegte keine Freundschaften. Das führte nicht dazu, dass seine Klassengespanen ihn übermässig plagten, hänselten oder auslachten. Sie erlebten ihn eher als etwas Fremdes, das sie ignorieren wollten. Aus Trotz gegen diese Ablehnung vernachlässigte er seine Körperpflege und begann zu stinken. Dadurch wurde Mustafa immer mehr von sportlichen Anlässen, Schullagern oder Einladungen ausgeschlossen. Er schämte sich, wenn er wegen seiner Hautkrankheit errötete und sich aufgrund seines stetigen Kratzens blutende Wunden ergaben. Dies besserte sich eines Tages, nachdem Folgendes geschehen war:
Er befand sich zusammen mit seiner Mutter im Garten. Es war ein heisser Nachmittag im Sommer und so fand Mustafa einen Platz unter einer grossen Weide, welche Schatten und Kühle spendete. Nach einer Weile schlief er ein. Als er erwachte, erschrak er: Auf seinem nackten Oberarm befand sich eine Schnecke. Sie musste über seinen Handrücken den ganzen Unterarm hinaufgekrochen sein. Mit heftigen Bewegungen seiner Hand versuchte er sie abzuschütteln. Als er sie an ihrem Häuschen fasste, gelang es ihm. Der Junge stand auf und trat auf sie ein und schrie drei Mal: «Tot!». Er hatte kein sauberes Taschentuch dabei, mit welchem er die Schleimspur, welche sie auf ihrem Weg hinterlassen hatte, abwischen konnte.
Dieses Erlebnis hatte zur Folge, dass sich überall auf seiner Haut Ekzeme gebildet hatten. Ausser auf einem schmalen Streifen, dort wo sich die Schnecke fortbewegt hatte. Am nächsten Tag suchte er nach einer Schnecke, die so aussah, wie die vom Vortag. Bald fand er eine, bei welcher es sich, wie er später herausfand, um eine Gefleckte Weinbergschnecke handelte, welche mit der grösseren Weinbergschnecke verwandt war. Mit Hilfe einer Lupe, Sonnenlicht und viel Geduld entdeckte er am vorderen Ende des Kopfes Öffnungen, welche einen Ausfluss absonderten, über den die Schnecke kroch. War es dies, was eine Rötung seiner Haut zu verhindern schien? Er nahm den Schleim zwischen Zeigefinger und Daumen und rieb. Er wirkte elastisch wie seine Kaugummis. Als er seine Finger spreizte, wurde der Schleim flüssig.
In den nächsten Tagen und Wochen bastelte er eine kleine Umzäunung, welche er vor allen, die auf der Insel lebten, versteckt hielt. Dann begann er Schnecken zu sammeln und stellte sie in sein Tiergehege. Nach einiger Zeit konnte er eine kleine Zucht sein Eigen nennen. Seine Selbstbehandlung begann jeweils damit, dass er sich auszog, sich auf den Rücken legte, um dann während einiger Stunden mehrere Schnecken auf seinem Körper herumkriechen zu lassen. Ihm schien, dass er weniger schuppende und nässende Ekzeme bekam und der Juckreiz nachgelassen hatte. Und er fühlte sich entspannter und selbstsicherer.
Auf der Insel befanden sich zahlreiche Skulpturen aus Stein, Eisen oder Holz. Sie säumten die kurzen Wege, standen manchmal aber auch isoliert herum. Die Wohnung im Bootshaus war gefüllt mit antiken Möbeln und Gemälden aus verschiedenen Epochen. Für Milas Empfinden war diese, für sie überreiche Sammlung von Kunstgegenständen, weniger ein Ausdruck von Kunstliebe. Sie sah darin mehr das Bedürfnis beider Männer nach reiner Zurschaustellung. Goran gab seiner Gattin genügend Geld, sodass sie sich vieles, das sie brauchte, selbst erwerben konnte. Trotzdem begann Mila, sich immer unwohler zu fühlen. Sie erlebte die Insel als Gefängnis, ihren wortkargen Gatten als Wärter. Auf das Festland durfte sie nur mit seiner Erlaubnis. Mila war am Ende ihrer Kräfte und ihres Lebenswillens. Mustafa war inzwischen elf Jahre alt und besuchte die fünfte Klasse. Als die Sommerferien vorbei waren, fasste sie einen Entschluss: Sie wandte sich an den reichen Inselbesitzer und bat ihn um Hilfe.
Hans Wyss war gerne dazu bereit, hatte er ihre Überforderung und den damit verbundenen Stimmungswandel schon vor langer Zeit wahrgenommen. Er erinnerte sich an seinen eigenen Aufenthalt in einem Internat, in welchem er die dreijährige Handelsschule besucht und mit einem Diplom abgeschlossen hatte. Die Platzierung Mustafas in einer Lehranstalt würde ihr erlauben, wieder zu Kräften zu kommen. Zudem würde es ihm den häufigen Anblick dieses unappetitlichen Jungen ersparen. Das Internat befand sich in der Zentralschweiz und war Teil eines ehemals von Mönchen geführten Kollegiums. Hans Wyss setzte sich mit der Schule in Verbindung.
«Kannten Sie Pater Pirmin noch?», fragte er einleitend, nachdem er mit dem Schulleiter verbunden worden war.
«Nein, leider nicht», antwortete der Angesprochene mit einem Basler Akzent, «aber ich weiss, dass Pater Pirmin ein wunderbarer Mensch und ein offener Rektor gewesen ist.» Dann fügte er aufgrund eines Geistesblitzes freundlich hinzu: «Somit müssen Sie in den 60er Jahren hier im Benediktinerkollegium gewesen sein.» Der jovial wirkende Rektor am Telefon hatte seine schwarz umrandete Wayfarer Brille abgezogen und sass zurückgelehnt in seinem Sessel, um sich von der letzten Sitzung, welche er mit einigen Lehrpersonen hatte, zu erholen. Er hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters einen sehr wachen und offenen Geist bewahrt und er bemühte sich, sowohl für seine Lehrpersonen wie auch für alle Schüler und Schülerinnen eine offene und menschliche Ansprechperson zu sein.
«Ja, genau», sagte Hans Wyss, dann legte er ihm sein Anliegen vor. Dem Schulleiter, der sein letztes Amtsjahr als Rektor vor sich hatte, kam dieses Gespräch sehr ungelegen. Vor wenigen Tagen hatte ein in den Medien als Jahrhundertflut bezeichnetes Hochwasser, seine Kantonsschule überflutet. Da mehrere Gebäude stark beschädigt worden waren, musste eine Containersiedlung aufgestellt werden, damit der Schulbetrieb wieder in Gang gesetzt werden konnte. Er berichtete dem Anrufer ausführlich hierüber und drückte auf die Taste mit der Freisprechfunktion. Dann winkte er seinem Administrator, welcher auf der anderen Seite seines breiten Bürotisches sass, und dem Gespräch interessiert zuhörte. Er zeigte auf das Telefongerät und formulierte lautlos mit seinen Lippen: «Wer?» Hierauf fuhr er fort, dem Anrufer zu berichten, dass das Kollegi vor kurzem vom Kanton übernommen worden sei und nur noch sehr wenige Mönche im Kloster leben würden. Bevor er dazu kam, das Anliegen des Anrufers abzulehnen, unterbrach ihn der Industrielle:
«Ich kann mir vorstellen, dass die Katastrophe, die Sie eben erwähnt haben, grosse Investitionen nach sich ziehen wird!» Hans Wyss hörte den Rektor bestätigend seufzen und fuhr fort:
«Ich könnte mich hier oder dort, sagen wir über die nächsten fünf Jahre, denn solange werden Sie wohl haben, um wieder auf Normalbetrieb zu kommen, finanziell erkenntlich zeigen.» Hans Wyss überlegte, dann fügte er hinzu: «Damit Sie, Ihre Lehrpersonen und ihre Schüler ein paar Sorgen weniger haben.» In diesem Moment überreichte der Schuladministrator dem Rektor einen Zettel auf welchem er in grossen Buchstaben das Wort INDUSTRIELLER hingekritzelt hatte. Mit drei Fingern seiner anderen Hand machte er das Zeichen für Geld und sah seinen Vorgesetzten bedeutungsvoll an. Der Rektor war ein schnell denkender Mann:
«Können Sie etwas konkreter werden?» Der Industrielle hörte den Wandel in der Stimme des Baslers:
«Ich könnte mir vorstellen, dass ich Ihr Kollegi …», er benutzte absichtlich die alte Bezeichnung, um seine emotionale Verbundenheit mit der Schule zu demonstrieren, «…. mit den modernsten IT-Einrichtungen versorge, inklusive Nachqualifizierung Ihrer Lehrpersonen.» Der Rektor setzte sich aufrecht hin, begann zu schwitzen, blieb aber äusserlich gefasst und überlegte ruhig, wie er auf diese überraschende Offerte reagieren sollte. Der Industrielle missverstand seine Pause als Ablehnung und fügte deshalb eine weitere Variante an: «Oder ich könnte Ihr weitherum bekanntes und beliebtes Kollegitheater für die nächsten fünf Jahre grosszügig alimentieren.» Der Rektor wusste, er musste dies mit seinem Vorgesetzten, dem Vorsteher des Bildungs- und Kulturdepartements besprechen. Zu ihm hatte er eine herzliche und respektvolle Beziehung. Beide waren im Grunde Philosophen, welche ihr Alltagsgeschäft von den wesentlichen Dingen unterscheiden konnten. Das Anliegen des Anrufers würde bedeuten, dass der Junge eine Wohngelegenheit, Kost und Logis erhalten würde. Dies an sämtlichen Schultagen. Über die Wochenenden und während der Schulferien, so hatte der Industrielle ihm versichert, würde er den Zögling jeweils nach Hause holen. Doch da war noch die persönliche Betreuung rund um die Uhr. Im Internat, welches vor einigen Jahren aufgehoben wurde, gab es jeweils einen sogenannten Präfekten, der sich um das seelische und geistige Wohl der Zöglinge gekümmert hatte. Ein grosser Aufwand für ihn und das gesamte Kollegium! Dann jedoch dachte er an die junge Französischlehrerin und den unerfahrenen Geografielehrer. Diesen sollte er am Ende dieses Schuljahres die umfangreichen und herausfordernden Aufgaben einer Schulleitung übergeben, bevor er in den Ruhestand treten wollte. Sein Herz füllte sich mit Sorge. Würde ihnen das grosszügige Angebot des Industriellen die Bewältigung ihrer anspruchsvollen Aufgaben erleichtern? Er entschied sich, alles auf eine Karte zu setzen, atmete tief durch und fragte in einem harmlosen Tonfall:
«Und beides?»
Mustafa wurde nach den Herbstferien von seinem Vater in das Kollegium gebracht.
Mila hatte lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Sie packte heimlich ihre Sachen und verschwand am selben Tag von der Insel. Niemand versuchte sie zurückzuhalten. Niemand suchte sie.
***
Mustafa hatte einen schweren Einstieg in die Kantonsschule. Neu war, dass er nun mehrere Lehrpersonen hatte, für jedes Fach jemand anders. Seine Mitschüler und Mitschülerinnen gingen nach der Schule nach Hause oder sonst wohin, während er sich im alten Kollegium oder auf dem Gelände der Schule aufhalten musste. Er verbrachte seine Freizeit mit der Lektüre von Sachbüchern aus den Bereichen Tierkunde, Chemie und Physik und dem Zeichnen von elektrischen Motoren und mechanischen Geräten. Ab und zu lieh er sich den Schlüssel zur kleinen Kirche innerhalb des alten Kollegiums. Dort stand eine über hundert Jahre alte Orgel, welche anfangs der 90er Jahre nochmals revidiert worden war. Im Selbststudium erlernte er das Spielen auf zwei Manualen mit 15 Registern und Pedalen. Nach einem Jahr konnte er die Toccata und Fuge in d-Moll von Bach mit seinen schnellen Läufen und vollgriffigen Akkorden fehlerfrei und virtuos spielen. Das Eigenartige an seinen Interpretationen war, dass er gegen Ende das Original verliess und in eine ohrenbetäubende Kakophonie von Stakkati und Disharmonien überleitete, welche oftmals über eine halbe Stunde dauerte und ihn zum Schwitzen und Schnaufen und schliesslich zur erlösenden Erschöpfung brachte. Reichte dies nicht, erhob er sich, drehte sich um und durchlöcherte in seiner Vorstellung die in die Höhe strebenden Pfeifen mit je einer Maschinenpistole in jeder Hand von links nach rechts und von unten nach oben. Hierbei schrie er wiederholt: «Tot, tot!» und dann wieder «tot!». Dies ging natürlich nur abends, nachts oder an Wochenenden, wenn sich niemand in dem alten Klostergebäude aufhielt.
Das von den Benediktinern geleitete Knabeninternat gab es seit fünf Jahren nicht mehr. Dem Rektor war es gelungen, einen der ehemaligen Schlafräume im Dachgeschoss des alten Kollegiums, zu reaktivieren. Der altmodische Waschraum neben dem Zeichnungszimmer und der ehemaligen Bibliothek, der nach Knaben, Urin und Putzmitteln roch, musste für die Bedürfnisse ihres einzigen internen Schülers genügen. Mehr Beachtung schenkte der Rektor der Psyche des Schülers. Dafür reiste er zum Mutterkloster des Ordens, wohin sich die alten Patres zurückzogen, nachdem sie ihre Aufgabe als Lehrer erfüllt hatten. In zwei längeren Gesprächen mit dem Abt und dem Pater, den er für geeignet hielt, war es ihm gelungen, den ehemaligen, langjährigen Präfekten Pater Gerhard für ein Jahr zu gewinnen. Pater Gerhard war über 70 Jahre alt. Fast 40 Jahre lang hatte er sich im Kollegium als Präfekt um das seelische und geistige Wohl der internen Schüler gekümmert. Nach anfänglichen Widerständen freute er sich nun auf seine neue Aufgabe am alten, vertrauten Ort.
Mustafa war ein schwieriger Junge. Einmal geschah folgendes:
Es war eine kalte Nacht im Winter. Um 02.00 Uhr morgens klopfte es an der Tür von Pater Gerhards Zelle im Professorenhaus:
«Pater Gerhard, kommen Sie, schnell!» Es war der Bruder Pförtner, das erkannte der Pater trotz der hoch erregten Stimme. Der Bruder wurde so genannt, weil er zwar Mönch, aber nicht zum Priester geweiht worden war. Die Geweihten wurden mit Vater oder Pater angesprochen. Pater Gerhard hörte die aufgeregte Stimme des Fraters, und er hörte noch etwas Anderes, eine Glocke. Er hatte die beiden Glocken der alten Kollegikirche schon seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Er erinnerte sich, dass diese Glocken von Hand geläutet werden mussten. Schnell zog er sich die Soutane über und schlüpfte in seine Sandalen. Dies ging schneller, als sich umständlich seine Winterschuhe anzuziehen. Er öffnete seine Tür und hakte sich beim jüngeren Bruder ein. Sie schauten zum alten Kollegium hinüber. Kein Licht brannte. Gemeinsam verliessen sie das Professorenhaus und eilten über den Kiesweg hinüber zum alten Kollegium.
«Wie lang schoo?», fragte der Pater mit seiner näselnden Stimme und dem Ostschweizer Akzent.
«Seit einer viertel Stunde», sagte der Bruder, schnappte nach Luft und versuchte, im Schnee nicht auszurutschen. Dann murmelte er:
«Ich hoffe, die Feuerwehr und unsere Polizei halten dies nicht für ein Wetterläuten wegen eines Elementarereignisses!» Früher alarmierte das Sturmläuten die Bevölkerung wegen eines Brandes, eines Unwetters oder eines feindlichen Angriffs. Der Pater war in seinen Gedanken bei seinem Schützling Mustafa. Es war für ihn sofort klar, er musste es sein. Der Bruder Pförtner öffnete mit einem grossen Schlüssel das schwere Tor eines Seiteneingangs. Drinnen war es finster. Der Bruder hatte eine Taschenlampe bei sich. In dem Moment hörte das Geläut auf. Pater Gerhard sagte, er könne jetzt alleine weitergehen, aber der Bruder bestand darauf, ihn weiterhin zu begleiten. Als sie um die Ecke bogen und zum Eingang der Kirche kamen, stand Mustafa im Eingang und schaute zu Boden. Der Bruder meinte gequält:
«Für einen Weckruf ist dein Geläut ein wenig früh!» Pater Gerhard jedoch erkannte: Dies war weder ein Weckruf noch ein Wetterläuten sondern ein Notruf. Er sah, dass Mustafa sich im Zustand höchster Erregung befand und beruhigte deshalb nur:
«Soo, soo». Dann schaute er auf dessen vom Glockenseil zerschundenen Hände: «Cum mer göhn!», und hakte sich bei ihm ein. Zusammen stiegen sie behutsam und schweigend die breiten, steinernen Treppen hoch bis zum Dachgeschoss. Der Bruder folgte ihnen mit einigen Stufen Abstand. Mustafa legte sich auf sein Bett, Pater Gerhard deckte ihn zu und blieb auf dem Rand des Bettes sitzen. Er erkannte, dass das, was seinen Schützling beschäftigte, nicht in Worte zu fassen war. Er wartete, bis sich die Wut des Jungen legte und sich die ursächlichen Gefühle zeigten: Trauer und Verzweiflung. Mustafa war kein zorniger oder ein mit Hass, diesem bösen, sehr bösen Gefühl beladener Mensch, sondern ein trauriger und verzweifelter Junge, dachte der Pater. Traurig, weil er keine oder zu wenig menschliche Zuwendung erhielt, verzweifelt, weil er damit nicht umgehen konnte. Mustafa schien keine Werte, keine Grenzen und keine Menschen zu kennen, an welchen er sich orientieren konnte. Unlängst wollte der Pater seine Sorgen mit einem der Gymnasiallehrer teilen, doch dieser winkte ab und erklärte:
«Wir sind nur für die Wissensvermittlung zuständig!» Die wenig später konsultierte Schulpsychologin meinte:
«Sein originelles Verhalten weist auf eine unbehandelte Aufmerksamkeitsstörung hin. Und da helfen nur Medikamente sowie eine längerfristige psychotherapeutische Begleitung!» Und wieder dachte der Pater: Hier helfen keine Worte. Er faltete seine Hände und betete.
Auf seinem Weg zurück, fiel dem Bruder Pförtner erneut die leicht offenstehende Tür auf, an welcher sie vorhin einen Stock tiefer vorbeigegangen waren. Er öffnete sie ganz und suchte nach dem Lichtschalter. Doch es gab kein Licht. Mit der Taschenlampe als Sichthilfe wie auch als Waffe betrat er den Raum. Er kannte diesen Vorraum, von welchem man in den früheren Biologiehörsaal gelangte. Hier wurden dutzende, ja hunderte von präparierten und ausgestopften Tieren für deren Studium aufbewahrt. Es roch nach Leder, Teebaumöl, Gewürznelken und Arsenik, womit die ausgestopften Tiere äusserlich gegen Schadinsektenfrass eingerieben worden waren. Doch diesmal, fand der Bruder, kam noch ein beissender Geruch nach Naphthalin und Formaldehyd hinzu. Mittel, welche zum Kampf gegen Motten oder zum Sterilisieren verwendet wurden. Der Bruder erschrak: Jetzt lag alles überall verstreut herum, auf dem Boden, auf den Regalen. Schubladen waren herausgezerrt, Vitrinen zerschlagen worden. Der letzte Wolf, der 1833 ob Sarnen erlegt worden war, lag seitlich auf dem Boden. Er ging zu ihm hinüber und bückte sich. Dem schönen Tier war nichts geschehen. Dann dachte er an den letzten Bären, welcher Mitte des 18. Jahrhunderts am Arvigrat gesehen worden war. Wo befand er sich? Verwirrt und hastig sah er sich um. Er entdeckte ihn nirgends. Dem Bruder wurde übel. War dies der Auslöser für Mustafas Geläut?, fragte er sich und umrundete die Theken, welche sich in der Mitte des Raumes befanden. Da sah er sie, und sein Puls raste: Schnecken! Überall tote, zertrampelte Schnecken mit ihren Gehäusen. Mustafas Schneckenzucht! Er hatte schon davon gehört, aber nicht gewusst, wo sich die Schnecken aufhielten. Hier waren sie also, im Vorraum des Biologiehörraums versteckt! Was für einen schändlichen Streich hatten ihm seine Klassenkameraden gespielt. Wie übel! Oder war es Mustafa etwa selbst? Er überlegte, ob er zum Dachgeschoss zurückkehren sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte sich in Ruhe überlegen, wen er alles über seine Entdeckung informieren musste und kehrte aufgewühlt zum Professorenhaus zurück.
Nach seinem Gebet fragte sich Pater Gerhard, weshalb Mustafa nur eine Glocke und zwar die grössere der beiden für sein appellatives Sturmläuten ausgewählt hatte. Im selben Moment erlitt Mustafa einen heftigen, aber erlösenden Weinkrampf. Der Pater legte seine Hand auf dessen Kopf. Dann erinnerte sich der Pater an die Inschrift der grösseren Glocke und er hatte die Antwort gefunden. Die Inschrift lautete: «dona mihi interiorem pacem» - «Gib’ mir den inneren Frieden». Pater Gerhard blieb, bis er wahrnahm, dass Mustafa sich beruhigt hatte und einschlief. Dann verliess er ihn. Er würde den Rektor informieren und allenfalls die Feuerwehr und die Polizei, falls sie Anrufe besorgter Bürger wegen des Geläuts erhalten hatten. Die offene Tür zum Biologiehörsaal beachtete er nicht.
Mustafa fürchtete die geistlichen und weltlichen Lehrpersonen von Anfang an. Sie schienen ihm, als seien sie virtuelle Spione seines Vaters. Im Gegensatz zu ihm, schienen sie ihn ständig wortlos zu beäugen und zu bewerten. Das erste Mal, dass er sich seiner heftigen Gewaltphantasien bewusstwurde, war während einer Physiklektion.
Mustafa stand an der Wandtafel, mit dem Rücken zu seinen Klassenkameraden und schwitzte. Vorhin hatte er noch gewusst, wie er die Aufgabe angehen würde. Gerade noch hatte er die Lösung im Kopf, jetzt aber schien es ihm, als hätte er eine Leere im Gehirn, welche sich trotz extremer Anstrengung nicht füllen liess. Er atmete heftig und spürte seinen Puls am Hals. Seine Bewegungen waren erstarrt, sein Körper schien unbeweglich. Er empfand Übelkeit und brachte kein Wort heraus. Auf seiner linken Seite stand ein hohes Fenster, von welchem man auf das lila verputzte Professorenhaus, in welchem die Klausen der Mönche aneinander gereiht lagen, hinabschauen konnte. Daran angelehnt stand der Physiklehrer, ein etwas über 60-jähriger Pater mit beinahe kahlem Kopf und einer ovalen Stahlbrille mit feinen Seitenstegen und gebogenen Bügeln. Er hatte ein schiefes Lächeln aufgesetzt und schielte auf seine rechte Hand, in welcher er den Schmalz aus seinen Ohren zwischen seinem kleinen Finger und dem Daumen zerrieb. Mustafa ängstigte sich vor dem Pater. Er verabscheute den sarkastischen Ton in dessen Stimme, den Spott in seinen Augen. Und er hasste seine Kameraden, welche kicherten, wenn dieser eine seiner herabsetzenden Bemerkungen ausstiess. Während dieser wenigen, aber leidvollen Minuten wandte er jeweils unglaublich viel Kraft auf, seinem Impuls, sich auf den Gottesmann zu werfen und ihm den Kopf abzureissen, nicht nachzugeben. Wenig später sass Mustafa verletzt und frustriert wieder auf seinem Platz und stellte sich vor, wie er die Köpfe seiner Mitschüler mit einem gekrümmten, scharfen Messer langsam von ihren Hälsen trennen würde. Am Abend würde er sich an seinen Schreibtisch setzen und für jeden seiner Klassenkameraden einen Sarg zeichnen, detailliert und perspektivisch korrekt. Den Pater würde er sich später einmal vorknöpfen, irgendwann. In vivo.
Im Gymnasium und später auf der Hochschule zeigte er eine hohe Begabung darin, komplexe technische, chemische und biochemische Abläufe zu verstehen und sie für praktische Anwendungen zu nutzen. Mehrmals nahm er in den Ferien einen Anlauf, die Aufmerksamkeit seines Vater mit eigenen Erzeugnissen, wie selbstgebastelten Funkgeräten, Waffen, Sprengstoffen oder selbstentwickelten Schädlingsvernichtungsmitteln zu wecken. Diese zeigte er ihm jedoch nie, da er befürchtete, sie würden ihn nicht beeindrucken, oder, noch schlimmer, nicht interessieren. Irgendwann jedoch würde er etwas Komplexeres, Grösseres, Gewaltigeres bewirken. Und dann ….
Dinge, die schon immer existierten, interessierten Mustafa nicht. Der Himmel, die Natur oder das Klima waren Rahmenbedingungen für sein Wirken, mehr nicht. In manchen Tagträumen sah Mustafa sich als Ebenbild Prometheus’, eines Mitglieds der Titanen, einem Göttergeschlecht aus dem antiken Griechenland. Wie Prometheus sah er sich dann als genialen, schöpferischen Menschen. Anders jedoch, als in Goethes gleichnamigem Gedicht, würde er keine Menschen nach seinem eigenen Bild erschaffen, sondern eine Welt, die mit Apparaturen und mobilen Maschinen, mit Robotern bevölkert sein würde. Bald würden Genies wie er, mit Hilfe von Computerprogrammen und technischen Wunderwerken in der Lage sein, die Welt zu erforschen, technische, chemische oder architektonische Produkte zu entwickeln, ja sogar Plastiken, Bilder und Songs zu erschaffen.
Menschen, Tiere und Pflanzen wurden dann überflüssig.
***
Gegen Ende des ersten Schuljahres war Pater Gerhard in Sorge, wie es wohl weitergehen würde. Ihm war es nicht gelungen, mit dem Vater in Kontakt zu treten und die Mutter war nicht mehr zurückgekehrt. Seine Entscheidung, wieder ins Mutterkloster zurückzukehren, wurde durch einen Zufall erleichtert. Das Hilfswerk Caritas, welches ein Zentrum im Konvikt, einem ehemaligen Wohnhaus für die internen Schüler, führte, hatte die Kantonsschule um die Aufnahme eines Flüchtlings gebeten. Beim Jugendlichen handelte es sich um einen Vertriebenen, der in Folge des völkerrechtswidrigen Angriffs der USA auf den Irak von der Schweiz aufgenommen wurde. Seine Angehörigen waren von einer Bombe getötet worden. Yasin, so hiess der Junge, war vier Jahre älter als Mustafa und hatte in seiner Heimat die Oberschule besucht. Einige Tage vor den Sommerferien zog er ins Dachgeschoss des alten Kollegiums.
Yasin trat durch den Eingang des Schlafraums. Er sah, wie Mustafa vor einem grossen Papier, das er an die Wand gepinnt hatte, stand und mit beiden Händen wild um sich fuchtelte, wie wenn er mit einer imaginären Waffe überallhin schiessen würde. Yasin fragte ihn auf Englisch:
«Was machst du?» Mustafa hörte auf um sich zu schiessen und liess seine Arme hängen.
«Ich betrachte die Zahlen». Da er keine Anstalten traf, etwas hinzuzufügen, blieb der Iraker einfach stehen und studierte die zahlreichen Namen, welche handschriftlich auf der ersten Spalte des Papiers untereinander eingefügt worden waren. Eine zweite Spalte enthielt Ländernamen, in der dritten standen Jahreszahlen von 1943 bis heute 2006. Er zeigte auf die letzte Spalte, welche Zahlen von 1 bis 600 enthielt und fragte:
«Was bedeuten diese Zahlen?»
Mustafa drehte sich um und betrachtete seinen neuen Zimmernachbarn von unten bis oben. Er sah einen grösseren und älteren Jungen mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren und einer breiten, prägnanten Nase. Sein Kinn zierte ein kurz geschnittener Vollbart, seine dicken Augenbrauen verdunkelten seine schwarzen Augen. Als Yasin merkte, wie er gemustert wurde, musste er lachen und da zeigten sich einige hervortretende Adern auf seiner Stirn. Er drehte den Spiess um und betrachtete Mustafa nun seinerseits von oben bis unten: Braune Augen, schulterlange dunkle Haare, hinter seine grossen Ohren gekämmt, fleischige Nase, halbrunde Augenbrauen, lange Wimpern, schmale Lippen, ernster Blick, schelmisch beim Lächeln, rote Flecken am Hals, leicht übergewichtig. Mustafa war seinem Blick gefolgt. Yasin hatte die Ekzeme an seinem Hals entdeckt, sich aber nicht angeekelt abgewandt. Als er merkte, dass Yasin sich für seine Musterung extra Zeit nahm, musste er lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Yasin sah die zwei Grübchen auf der Höhe seiner Lippen, als Mustafa lachen musste. Mustafa drehte sich wieder um und zeigte erst auf die erste, dann auf die vierte Spalte:
«Das sind die Namen von Serienmördern und das die Anzahl ihrer Opfer». Er achtete darauf, wie Yasin reagierte, dann fügte er hinzu: «Hier die Nachgewiesenen, in Klammern steht die vermutete Anzahl der Opfer.» Yasin hatte inzwischen gerechnet:
«Das sind 84 Täter und 2’580 Opfer, also nur die Nachgewiesenen, das ergibt einen Durchschnitt von etwa 30 Opfern pro Täter». Mustafa ergänzte, erstaunt über das schnelle Kopfrechnen seines Schulkameraden:
«Ja, es sind genau 30,7 im Durchschnitt». Nach einer Weile präzisierte er: «Ich habe nur diejenigen notiert, welche mehr als zehn Menschen getötet haben. Es sind, wie du siehst, alles Männer und viele Christen».
«Ja, und viele Amerikaner», ergänzte Yasin, dann fragte er: «Bist du Muslim?». Mustafa drehte sich um und antwortete: «Ich bin Atheist!» Sie wandten sich beide wieder der Liste zu. Dann fragte Yasin:
«Du fragst dich sicher immer wieder, weshalb diese Männer so viele Menschen haben umbringen können?»
«Nein, ich frage mich, weshalb sie nur so wenige getötet haben. Man müsste doch meinen, sie hätten mehr, viel mehr töten können. Warum haben sie es nicht getan?» Yasin nickte nur. Dann bezog er freudig sein neues Domizil als Nachbar von Mustafa und fragte sich, ob er seinem neuen Freund je sein tiefstes Geheimnis würde verraten können.
Wenig später später lud Mustafa Yasin zu sich auf die Insel ein und sie verbrachten einen schönen Sommerurlaub.
Zwei Wochen vor Schulbeginn eröffnete Yasin seinem Freund sein tiefstes Geheimnis. Ein Geheimnis, das niemand ausser ihm kannte:
«Ich bin ein Hermaphrodit, ein Zwitter!» Mustafa verlor einen Moment lang die Fassung und schämte sich augenblicklich hierfür. Er sah seinem schluchzenden Freund in die Augen und lächelte: «Wie eine Schnecke». Da lachten beide und wurden ein Paar.
***
Yasin bestand die Matura zwei Jahre vor Mustafa. Yasins Noten waren ausgezeichnet und so konnte er ein Studium in Hochenergiephysik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich beginnen. Sein Ziel war ein Master in Atomphysik. Als Mustafa ihm, nach Abschluss seiner Kollegiumszeit, nach Zürich folgte, interessierte Yasin sich gerade für einen neuen interdisziplinären Studiengang zum theoretischen und experimentellen Wissen über Kernspaltung, Reaktor-Technologie, Nuklearchemie und Nuklearbiologie. Mustafa, welcher in den naturwissenschaftlichen Fächern ebenfalls sehr gute Noten erzielt hatte, begann Quantenmechanik, Festkörper- und Teilchenphysik zu studieren. Ihn interessierten die Lehre oder die Forschung weniger als die Planung und Umsetzung eigener Ideen.
Bisweilen, wenn Mustafa aufgrund seines Juckreizes nicht einschlafen konnte, oder, wenn er auf irgendetwas oder -jemanden warten musste, holten ihn seine Schiessphantasien ein, welche ihn seit seiner Jugendzeit beschäftigten: Er lag auf einem Bahndamm und erschoss alle Zugsreisenden mit einem Scharfschützengewehr. Oder, er befand sich auf einem grossen Kreuzfahrtschiff und spazierte, mit einer Pistole und Schalldämpfer von Kabine zu Kabine ….. Doch dann wurde ihm bewusst: Das kann es nicht sein, Schusswaffen genügen einfach nicht ….
Mustafa und Yasin zeichneten sich durch ein hohes Wissen über ihre Fachgebiete aus und würden, nach Meinung einiger Dozenten, bald von akademischen Ehrungen und Preisen profitieren können. Was sie verband, war eine hohe gegenseitige Anziehungskraft, ihre gemeinsame Ablehnung von sozialen Kontakten, Alkohol und Frauen. Und ihr Interesse für die nukleare Zerstörungskraft.
Mustafa und Yasin verbrachten beinahe jedes Wochenende und jeden Ferientag auf der Insel. Mit finanzieller Unterstützung des Inselbesitzers und der Mithilfe von Finn errichteten sie aus zwei der unterirdischen Räume, welche Finn zur Sicherung der wertvollen Kunstgegenstände seines Arbeitgebers erstellt hatte, eine Werkstatt und einen Schiesskeller.
An einem Frühlingstag trafen sich die beiden im Schiesskeller, zu welchem ausser ihnen nur Finn einen Zugang hatte. Sie trugen einen Gehörschutz und waren mit einer eingebauten Funkanlage miteinander verbunden.
Yasin legte seine Pistole auf die Theke vor ihm und sprach in sein Schwanenhals-Mikrofon:
«Reichst du mir mal die SSP rüber, bitte!».
Mustafa, der neben ihm stand, legte die GSP Expert, die weltweit beliebteste Sportpistole, die er eben verwendet hatte, ebenfalls auf die Metalltheke, öffnete den Kasten darunter, holte die SSP hervor und reichte sie Yasin. Die Walther SSP hatte einen Holzgriff sowie ein fünfschüssiges Magazin. Sie wog weniger als ein Kilogramm, der Abzug war elektronisch und sie überzeugte durch eine hohe Zuverlässigkeit und Präzision. Finn, der sowohl für die Planung wie auch für die Bauleitung der Anlage verantwortlich war, hatte dafür gesorgt, dass sie nebst einem Raum mit Schiessstand, über einen Anbau für die Aufbewahrung von Waffen und Munition verfügte. Diese Erweiterung wurde einige Jahre später zu einer Schleuse umfunktioniert, in welcher Mustafa und Yasin ihre Schutzanzüge an- und ausziehen sowie sich gegebenenfalls dekontaminieren konnten. Die bisherige raumlufttechnische Anlage für die Räume der Kunstarchive konnte entsprechend angepasst werden. Besonders freute Mustafa sich über einen Raum unterhalb des Bootshauses, der nur durch einen verborgenen Eingang und mittels einer modernen Schliessanlage zugänglich war. Dieser Raum beinhaltete seine technische Werkstatt. An den Wänden standen moderne Schweiss- und Lötgeräte sowie weitere Maschinen für die Konstruktion von metallenen Hohlkörpern und anderen technischen und elektronischen Bauteilen. Die Wände waren mit Spezialtapeten mit eingewebten Metallgittern sowie mit verschiedenen Lagen versehen, welche Boroflex und Cadmium enthielten. Dadurch war der grossflächige Raum strahlen- und gleichzeitig abhörsicher.
Der Schiessstand, in welchem sich Mustafa und Yasin aufhielten, war für das dynamische Schiessen eingerichtet. Das hiess, sie konnten sich in der Schiessbahn frei bewegen und auf Scheiben in unterschiedlicher Entfernung schiessen. Hierfür waren Geschossfänge notwendig, welche überall hingestellt werden konnten. Yasin hatte Spass daran, verschiedene Waffen in den Händen zu halten, den Rückstoss zu spüren und seine Resultate auf den Scheiben unmittelbar zu sehen. Er wusste, dass er durch die Beschaffenheit der Wände und der Blenden hervorragend gegen rück- und abprallende Geschosse oder Geschossteile geschützt war und dass Finn auf feuerfeste Materialien geachtet hatte. Dass die Räume absolut schalldicht gebaut waren, war für Yasin nachvollziehbar. Auch, dass die Anlage von keiner Baubehörde bewilligt und von keinem eidgenössischen Experten je besichtigt worden war. Das Einzige was ihn schon bei seinem ersten Besuch irritiert hatte, waren die Löcher. Die Wände, die mit zweifellos sehr teuren schwerentflammbaren Materialien eingekleidet waren sowie die Betonböden und -dielen, welche mit speziellen Gummiplatten fugenlos belegt waren, wiesen zahllose Vertiefungen auf. Diese waren unregelmässig und überall verteilt. Warum?
Nachdem die beiden eine Reihe von Pistolen und Revolvern abgefeuert hatten, begleitete Mustafa seinen Partner zum Ausgang und bat ihn, im Garten auf ihn zu warten. Dann kehrte er zurück, schloss die Schiessanlage von innen und öffnete die Waffenkammer. Hinter einer Schublade, unter einer Blende, ertastete er seine Lieblingswaffe. Es handelte sich um die belgische FN Project 90, eine Maschinenpistole, welche unter anderen von den Libyern, der türkischen Jandarma und dem Österreichischen Jagdkommando, einer Spezialeinheit des Bundesheeres, verwendet wurde. Ihr markantes Äußeres besass keine Ähnlichkeit mit einer herkömmlichen Waffe: So bestanden ihre beiden Griffstücke lediglich aus zwei Aussparungen, in die der Schütze hineingreifen musste, um abdrücken zu können. Mustafa wusste: In der Schweiz durfte damit nicht geschossen werden, ja sogar deren Erwerb und Besitz war hier verboten. Besonders an dieser Waffe gefielen ihm ihr Design und ihre hohe Durchschlagskraft, sogar durch Schutzwesten hindurch. Mustafa ging zu seiner mächtigen Stereoanlage und wählte Eminems Song Lose Yourself, stellte die Lautstärke des Verstärkers auf die zweithöchste Stufe und drückte die Repetiertaste. Dann fuhr er sanft mit seinem Mittelfinger über den kurzen Mündungsfeuerdämpfer, setzte ein volles Magazin ein und nahm die Waffe in beide Hände. Seine Augen glänzten, seine Atmung ging flach. Er spürte ein Kribbeln im Bauch und ein Hochgefühl, wie wenn er an einem Frühlingsmorgen durch den Garten auf der Insel spazierte und die frische, moos-, blüten- und laubgetränkte Luft einsog. Er ging zur Mitte seines Schiessraumes, spreizte die Beine und senkte seinen Schwerpunkt, indem er leicht in die Knie ging. Dann bewegte er den Umschalthebel für Feuerstösse und schoss ringsherum, sich um seine eigene Achse drehend sowie auf und ab, in den Boden und in die Decke.
«Tot, tot, tot», schrie er und nochmals:
«Tot, tot, tot», drei Mal hintereinander in kurzen Abständen. Er verschoss drei Magazine à 50 Schuss zum peitschenden Stakkato von Eminem. Dann begann er nochmals von vorne, und seine Stimme wurde immer lauter, die Worte immer schneller: Tot, tot, tot. Seine Atmung wurde schneller, seine Augen glänzten, seinen Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. Dann überschlug sich seine Stimme und er hielt inne, ausser Atem, schweissgebadet und überschwemmt von Adrenalin und Dopamin. Dann fing er nochmals von vorne an. Schliesslich fühlte er sich ausgelaugt und sackte in die Hocke.
Nachdem sie sich abgekühlt hatte, legte er seine P90 wieder in die Schublade, verliess seine Anlage und traf sich mit Yasin, welcher auf einer Holzbank im Garten sass und sich geduldig in die Lektüre des Korans vertieft hatte.
***
Bereits während seiner Zeit im Kollegium, begann Mustafa in seinem Laboratorium, welches er als Bastelraum bezeichnete, zu experimentieren. Durch die Vermittlung von Finn, erhielt er Geld für Maschinen und Geräte, die er sich sonst niemals hätte leisten können. Hans Wyss wollte nicht wissen, wofür er zahlte, solange im Kollegium und auf der Insel Ruhe herrschte.
Mustafa und Yasin verloren mit der Zeit den Bezug zur Umwelt und zum realen Geschehen: Sie wähnten sich phasenweise, ohne es sich bewusst zu sein, in einer eigenen Welt mit einer eigenen Logik, einem eigenen Zeitgefühl, wie Liebende während der ersten Flitterwochen. Die immer seltener werdenden Besuche der Hochschule, das weitgehend autarke Leben auf der Insel, das Fehlen jeglicher sozialer Kontakte führten bei beiden zu einer Art Privatleben, welches bald jedes Verständnis, jede Prüfung und jede mögliche Einflussnahme von aussen verunmöglichte.
Die Ablehnung durch seine Mutter und das Desinteresse seines Vaters führten bei Mustafa bisweilen zu heftigen Selbstzweifeln und Selbsthass. Yasin, der diese destruktiven Gefühle und Gedanken aufgrund des Verlustes all seiner Verwandten, Freunde und Bezugspersonen durch den Krieg, selbst kannte, versuchte seinem Partner zu helfen, indem er ihn ablenkte, unterstützte, bei ihm war. Dadurch geriet Mustafa gelegentlich in einen mehrtägigen Schwingungszustand, in welchem er sich überwältigend und grossartig fühlte.
In einer dieser Phasen, in welchen beide aufblühten, begannen sie, mit Neutronen zu experimentieren.