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Erstes Kapitel

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Im Kloster Mariabronn waltete eine eherne ewige Ordnung. Welcher Kaiser auch herrschte, ob er Huld und Milde walten ließ oder ob er ein ungerechtes Regiment führte und seine Untertanen knechtete, ob Frieden über dem Reich glänzte oder Kriegsscharen plündernd umherzogen, ob die Ernte in Fülle eingebracht wurde oder faulende Münder Hunger und Tod spuckten; welcher Papst den Heiligen Stuhl auch innehatte, ob er fromm und gottesfürchtig das ihm anvertraute höchste Amt auf Erden erfüllte oder über Kaiser, König, Fürsten und Volk despotisch Macht ausübte, ja, wer auch immer Abt war, ob hart und streng und selbstherrlich oder voller Güte, voller Einfalt, voller Demut war, so hatte die Ordnung des Klosters durch alle Wechselfälle und Zeiten einen Namen: Sie hieß Gehorsam.

So auch jetzt, da der weise alte Abt Daniel dem großen Kloster wie ein Heiliger vorstand.

Wenn auch die Zöglinge, die Novizen, die Mönche gehorsam waren, so verkörperte allein Narziß den vollendeten Gehorsam. Dieser Wunderknabe, dieser schöne Jüngling mit dem stillen, eindringlichen Denkerblick war vollkommen. Er nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt.

Umso mehr erstaunte es den Abt und erregte seinen Unwillen, als zwischen Narziß, obgleich er als Lehrgehilfe und Novize unten in der Hierarchie des Klosters stand, ein Zwist mit dem ihm vorgesetzten Pater Lorenz entsprang und hartnäckig von Narziß fortgeführt wurde. Es ging um eine Erneuerung des Griechischlehrplanes, zu der Narziß den Älteren und Erfahreneren bewegen wollte, um Verbesserungen, die er mit zwingenden Gründen zu verteidigen wußte. Pater Lorenz aber, sei es aus gekränkter Eitelkeit, sei es aus Überzeugung, beharrte auf Tradition und Gewohnheit. Die Sache kam vor den Abt, der hörte sich zwar geduldig die Auffassungen der beiden Gelehrten an, aber es war Narziß, der zurechtgewiesen wurde:

»Wenn sein Vorgesetzter anderer Meinung ist, so hat Narziß zu schweigen und zu gehorchen, und alle Verbesserungen der Schule wögen es nicht auf, wenn Ordnung und Gehorsam in diesem Hause gestört würden. Ich tadle Narziß, daß er nicht nachzugeben wußte.«

Sehr scharf achtete Abt Daniel darauf, ob zwischen den beiden Lehrern und Kontrahenten ein gutes Einverständnis bestehe, ob insbesondere Narziß sich einem Urteil unterwerfen würde, von dessen Richtigkeit er gewiß nicht überzeugt war. Abt Daniel konnte beruhigt sein, Narziß fügte sich gänzlich. Die immerwährende Ordnung des Klosters stand über allen Neuerungen, so sinnvoll sie auch sein mochten.

Gleichwohl kehrte die Ruhe, der immerwährende ereignislose Friede nicht zurück. Mit dem Zögling und Schüler Goldmund, diesem blühenden Knaben mit dem hellblonden Haar und den langen blonden Wimpern, war eine neue Beunruhigung ins Kloster getreten. Mit Besorgnis, ja mit Bangigkeit beobachtete Abt Daniel, daß der sonst unnahbare Narziß mit diesem Jungen, der noch dazu sein Schüler im Griechischen war, Umgang pflegte, ihn offenbar zu leiten wußte. Wohin, zu welchem Ziel?

Zur Krankheit? Zum Zusammenbruch? Zum Tod? Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie an dem Tag, als Goldmund gleich einem Toten im Kreuzgang aufgefunden wurde und Narziß derjenige war, der diese Krise durch sein Reden herbeigeführt hatte.

Vor sich selbst urteilte Abt Daniel, daß Narziß’ Gedanken und Anschauungen alle so etwas unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hätten. Weiß Gott, ob er hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war?

Was wußte er, was wußte überhaupt irgendjemand von Narziß, dessen Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft umgab.

Nur mit Goldmund, diesem blühenden Jüngling, führte er vertrauliche sonderbare Gespräche, die den Jüngeren von seinem Wunsch, später einmal Mönch zu werden, immer mehr abzubringen schienen. Doch auch diese Gefahr schien vorüber, denn Narziß hatte sich, nachdem er Mönch geworden war, vom Lehramt beurlauben lassen und, ehe er die Weihen erhielte, sich für viele Wochen zu Fasten und Exerzitien zurückgezogen. Er sprach kein weltliches Wort mehr, mit niemandem, auch mit Goldmund nicht. Sein Lesepult in der Bibliothek blieb leer. Narziß war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn bisweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend, man wußte, daß er die große Übung angetreten hatte, daß er fastete und dreimal in der Nacht sich zu Exerzitien erhob. Er war noch da und doch war er in eine andere Welt übergegangen.

So lag Narziß auch an diesem Tag in einer der Büßerzellen im inneren Kloster auf einer schmalen Pritsche. In der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte die Augen offen und schlief nicht. Narziß bemerkte nicht, wie sich leise die Tür öffnete, wie jemand unerlaubterweise hineintrat und mit einem Male vor ihm stand. Er war so in seiner Versunkenheit gefangen, daß er Goldmund nur aus tiefer Dämmerung wahrnahm und sich konzentrieren mußte, um sich aus dieser Weltenferne herauszureißen, den Freund zu erkennen und ihm zuzuhören, zu verstehen, daß er Abschied nehmen, das Kloster für immer verlassen wollte, um einem Weibe zu folgen. Narziß nannte es spöttisch Verliebtheit. Befremdlich aber war es für ihn, daß Goldmund ihn verbesserte mit Worten, die nicht aus kindlicher Rechthaberei entsprangen, sondern wahr waren. Jene Frau, die Goldmund um Jahre älter gemacht hatte, war nicht sein Ziel, er ging zu ihr, aber nicht ihretwegen. Er ging, weil er mußte, weil die Mutter, die Urmutter ihn rief.

Narziß verstand Goldmunds Aufbruch, er kam plötzlich, aber nicht unerwartet. Es war genau das, was Narziß vorausgesagt und liebend gewollt hatte. Das Ziel war erreicht, Goldmund hatte sich frei gekämpft und nun war ihm die Entscheidung in den Schoß gefallen, indem er auf einer sommerlichen Wiese eingeschlafen war und als er erwachte, ein schönes Weib seinen Kopf in ihrem Schoß hielt und ihm ihr Geheimnis verriet. Narziß konnte so etwas wie Neid nicht ganz unterdrücken, nicht Neid auf Goldmunds Erlebnis mit einem Weibe, sondern auf seine blühende Glückseligkeit. Und dazu erfüllte ihn, ganz wider seinen Willen, Traurigkeit. Goldmunds Beteuerung, wie sehr er Narziß liebe, half nicht darüber hinweg, daß Narziß traurig über des Freundes Fortgehen war, daß ihm das Herz schwer war und ihm nichts anderes blieb als den Freund zu bitten, ihn nicht zu vergessen, eines Tages wiederzukommen. Sich an seine frühere überlegene Stellung erinnernd, forderte Narziß den Freund auf:

»Wenn es dir einmal schlecht geht, amice, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl Goldmund. Gott sei mit dir!«

Danach gab es nichts mehr zu sagen. Die Nacht brach herein. Narziß schloß die Zelle hinter sich und ging die steinernen Platten zur Kirche, fühlte die liebenden Augen Goldmunds auf sich gerichtet, wie er seinem Freunde nachblickte, bis er Narzißens nicht mehr ansichtig ward, um dann aus dem Kloster fortzueilen, dem lockenden Ruf eines Weibes zu folgen und womöglich nimmer mehr zum Kloster zurückzukehren.

Er selbst aber betrat die düstere, die finstere Kirche, deren Schwärze ihn umfing. Narziß durchschritt das hohe Gewölbe, das er kaum erahnen konnte. Doch während er auf den von zwei Kerzen spärlich erhellten Altar zuging, hörte er zum ersten Mal, wie seine Sandalen auf den harten Steinfliesen klappten. Vor dem Gekreuzigten kniete er nieder, willens, sich wie in den vergangenen Wochen der strengsten Schule des Gehorsams zu unterziehen, nichts Weltliches zu denken, nichts Weltliches zu fühlen. Er war willens, aber nicht bereit, nicht mehr bereit, wie er mit Erschrecken feststellte. Er mußte nachdenken, er mußte sich Rechenschaft ablegen über das, was geschehen war.

Eben noch war er in der Büßerzelle im Inneren des Klosters auf dieser harten Pritsche gelegen, todmüde von den strengen Exerzitien, dem Fasten, den Nachtwachen, in einer Versunkenheit befangen, daß seine Augen nichts sahen. Leise war Goldmund eingetreten, um Abschied zu nehmen. Ja, Narziß biß sich auf seine schmalen Lippen, er hatte Goldmund unnützerweise gefragt, ob sein Vater oder eine Botschaft von ihm da sei. Wie konnte er eine solche Frage stellen, nachdem er es war, der in Goldmund den Willen erweckt hatte, nimmer mehr zu seinem engstirnigen, schuldeinflößenden Vater zurückkehren zu wollen, unter dessen Bann der Freund seine Kindheit vergessen hatte. Er war es doch, der Goldmund die Augen geöffnet hatte, daß seine Herkunft eine mütterliche, daß sein Leben im Kloster und sein Streben nach mönchischem Leben ein Irrtum war, daß es vielmehr seine Bestimmung sei, außerhalb des Klosters dem lockenden Ruf der Mutter zu folgen. Wie oft hatte er Goldmund zu verstehen gegeben, daß sie ganz und gar gegensätzlich seien, es nicht ihr Ziel sei, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen als des anderen Gegenstück und Ergänzung. Er hatte Goldmund geführt, hatte ihn kleiner Goldmund genannt. Aber der Goldmund, der zu ihm in die Büßerzelle getreten war und nach dem Weibe roch, der gekommen war, um Abschied zu nehmen und in die Welt hinaus zu gehen, der war ein Mann geworden. Die Zeit der Abhängigkeit war vorbei, er brauchte ihn nicht mehr. Goldmund hatte eine Stufe des Lebens, der Entwicklung durchschritten und war in eine neue Stufe eingetreten.

Und er selbst, Narziß? Hatte er eine neue Stufe der Erkenntnis, des Geistes erreicht? Hatte Goldmund aus seinen Worten etwa herausgehört, wie schwer ihm dieser Abschied fiel: ›Es ist plötzlich gekommen. Aber es ist das, was ich erwartet habe. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice.‹

Und um seine eigene Abhängigkeit zu überdecken, hatte er hinzugefügt: ›Kann ich etwas für dich tun?‹

Narziß gestand es sich ein, er blieb in kühler Einsamkeit zurück.

Narziß fühlte diese Leere, den kalten steinernen Boden, seine Knie schmerzten, obgleich er es gewohnt war, den Schmerz abzutöten. War es wirklich nur sein einziges Ziel gewesen, Goldmund zu sich selbst zu führen? Es war doch wohl so, wie Narziß sich eingestand, was er ohnehin die Zeit gewußt hatte, Goldmund mußte gehen, weil er für ihn eine Gefahr war, die Gefahr, sich zu verlieben. Er durfte sich nicht erlauben, nur einen Augenblick im Sinnlichen zu verweilen. Ihm war Lieben nur in der einzigen, der höchsten Form erlaubt. Darum mußte Goldmund fort. Der Gedanke war so hart, daß Narziß selbst aufschreckte, den demütig auf den Boden gerichteten Blick hob und die Augen auf den Jesus am Kreuz richtete, ihn, der von den beiden Kerzen erleuchtet wurde, betrachtete. Wie oft hatte er jede Nacht vor diesem Jesus gekniet, und doch hatte er ihn nie gesehen. Nimmer war ihm bisher das lockige, lange Haar, der nur mit einem Lendenschurz bedeckte muskulöse Körper, das männliche Gesicht aufgefallen. Nimmer hatte er, während er sich selbst fast zu Tode hungerte, daran gedacht, daß Jesus gegessen und Wein getrunken hatte, und während er selbst auf einer schmalen harten Pritsche lag, da hatte der Herr durchaus ein weiches Kissen nicht verschmäht, auf das er sein edles Haupt legen konnte. Doch während dieses alles letztlich Nebensächlichkeiten waren und als solche abgetan werden konnten, so doch nicht dies, Jesus hatte geliebt. Jesus hatte einen Lieblingsjünger. Narziß wurde es flammend bewußt und er murmelte unwillkürlich die Sätze aus dem Johannesevangelium: Einer von den Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tisch an der Brust Jesu. Jesus, der von sich sagte: Der Vater und ich sind eins, erlaubte sich zu lieben! Es zerriß Narziß’ Brust. Er mußte dies aushalten, wenn er der Wahrheit dienen wollte. Und noch eine weitere Bibelstelle drängte sich ihm auf, schnürte ihm die Luft ab: Jesus sagt sterbend am Kreuz: Als nun Jesus die Mutter sah und den Jünger, den er liebte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn.

Er aber hatte Goldmund hinausgeschickt, die Mutter zu finden. Nicht die Frau, die Goldmund geboren und kurze Zeit später den Mann und ihr Kind verlassen hatte, sondern die Mutter als die entgegengesetzte Kraft zum Geist, die Mutter, die das Leben gibt und es nimmt, die Urmutter. Er hatte Goldmund vorausgesagt, daß dessen Leben schöner, aber auch schwerer sein werde als seines. Was aber bedeutete schwerer? Jetzt noch war es Sommer, wie aber würde Goldmund den Winter durchleben, heimatlos, dem Frost, der Kälte, dem Hunger ausgesetzt? Wovon sollte er sich überhaupt ernähren? Und wenn er zu etwas Geld gekommen wäre, was bewahrte ihn davor, überfallen, ausgeraubt und ermordet zu werden. Mit einem oder zwei Banditen würde er es wohl aufnehmen können, nicht aber mit einer Überzahl. Trug er nicht die Verantwortung, wenn Goldmunds Leben sich nicht von Stufe zu Stufe weiter entwikkeln könnte, weil er zum Krüppel geschlagen oder ermordet worden wäre. Heiter, durchtränkt von beseeltem Liebes- und Sinnenglück hatte Goldmund ihn verlassen – aber dann? Nein, er sah Goldmund nicht solcherart sterben. So nicht! Aber könnte es nicht sein, dass er sich darin irrte, daß es seine Bestimmung sei, das Schicksal eines Menschen erkennen und in die Zukunft schauen zu können? Hatte nicht Abt Daniel recht, wenn er ihn mahnte, nicht zu sehr auf seine Gesichte zu vertrauen?

Die Kirchentür wurde laut aufgerissen und schwang dann wieder krachend ins Schloß. Schritte näherten sich und klangen erbost und triumphierend auf den harten Steinplatten.

»Narziß«, wurde er scharf von hinten von Pater Lorenz angesprochen: »Du sollst sofort und auf der Stelle zu Abt Daniel kommen.«

Der hämische Ton war nicht zu überhören. Narziß erhob sich, sah den Vorgesetzten unverwandt an, maß ihn mit einem Blick. In eisigem Schweigen verließen sie die Kirche und traten durch das finstere Paradies hinaus auf den von Linden umstandenen Hof, deren Blätter im Mondlicht silbern glänzten. Narziß sog, als wollte er sie trinken, die sommerliche Nachtluft ein. Wie viele Wochen war er, sich mit seinen Exerzitien selbst kasteiend, weder tags noch nachts draußen gewesen. Sie durchquerten den Hof und gingen dann den schmalen Weg am Laienrefektorium und am Herrenrefektorium entlang. Narziß warf einen Blick hinauf zum Dormitorium der Mönche und mit einem Mal überkam ihn der geradezu vermessene Wunsch, dort in seinem Bett zu liegen.

»Da sind wir«, sagte Pater Lorenz überflüssigerweise und öffnete die schwere Eichentür zur Abtwohnung. Demütig trat Narziß ein. Auf einem erhöhten Lehnstuhl saß Abt Daniel. Narziß traf es hart, daß Abt Daniel auf seinen Gruß »Gelobt sei Jesus Christus« nicht »Mit in Ewigkeit. Amen« antwortete.

»Goldmund ist fort«, begann Abt Daniel ohne Umschweife. »Er war heute von Pater Anselm zum Kräuterpflücken ausgeschickt worden, von dort ist er auch ins Kloster am frühen Abend zurückgekehrt, wie wir verbindlich wissen, denn er hat zwei Brüder nach dir gefragt. Du, Narziß, bist der letzte, der Goldmund gesehen hat. Sprich!«

Narziß fühlte den bohrenden, lauernden Blick Pater Lorenz’ auf sich gerichtet und den strengen, keineswegs nachsichtigen des Abtes.

»Gnädiger Vater. Goldmund kam in der Tat zu mir, er tat es, um Abschied zu nehmen. Goldmund hat das Kloster verlassen. Es ist keine Flucht, sondern sein ernsthafter Entschluß, das Leben zu führen, das ihm sein Schicksal vorgegeben hat.«

»Still! Schweig! Ich will keine Erklärung hören. Kein Wort mehr«, gebot Abt Daniel.

»Du weißt, daß du deine Gehorsamspflicht aufs Äußerste verletzt hast. Du hast die Klostergesetze gebrochen. Du hättest Goldmund zurückhalten und mir seinen Ungehorsam melden müssen.«

Narziß schlug die Augen nieder, hörte den Abt sprechen, doch es ging ihn nichts an. Er hatte es im Voraus gewußt, der Tadel, der scharfe Tadel, ja, die Strafe würden nicht ausbleiben. Goldmund hatte in seiner liebenswerten Einfalt ihn gar gebeten, ein gutes Wort für ihn beim Abt einzulegen. Später einmal ließe sich das versuchen, nicht aber jetzt.

»Geh«, befahl Abt Daniel, »geh in deine Büßerzelle. Dort erwarte deine Strafe.«

Narziß verbeugte sich und verließ die Abtwohnung. Um in seine Zelle im Innersten des Klosters zu gelangen, mußte er wiederum an den hohen ehrwürdigen Gebäuden entlang, die im Mondlicht zu träumen und zu schlafen schienen. Er schüttelte den Kopf über sich selbst, das wären wohl eher Goldmunds Worte, nicht die seinen.

Narziß schloß seine Zelle auf, die er zusammen mit Goldmund vor Stunden zugeschlossen hatte. Er setzte sich auf die Pritsche, auf der sie zusammen gesessen hatten, eng aneinander gelehnt, das erste Mal so dicht beieinander, wie er es nie zuvor geduldet hatte.

›Erwarte deine Strafe‹, dachte Narziß gefaßt. Klosterhaft im Kerker wäre eine mögliche Strafe, körperliche Züchtigung, also Schläge mit der Rute auf den nackten Oberkörper. Ausschluß aus dem Klosterleben, also das Verbot, an den Mahlzeiten im Refektorium und am Gottesdienst wie auch an den Besprechungen im Kapitelsaal teilzunehmen. Schweigegebot oder anders Redeverbot für ein ganzes Jahr oder gänzliche Entfernung aus dem Kloster, Rauswurf.

Nein, er würde nicht versuchen, sich zu verteidigen. Schweigend würde er seine Strafe entgegennehmen. Denn nimmer würde er bereuen, daß er Goldmunds Seele gesund gemacht, ihn zu sich selbst geführt hatte. Welche Art von Strafe Abt Daniel auch immer ersann, er würde nicht wie der Schächer am Kreuz kleinlich um Gnade flehen. Nein, er wußte, was er getan hatte und was ihm selbst dafür drohte. Was hatte er einmal zu Goldmund gesagt, Narziß mußte lächeln: ›Ich bin kein Feind von Schwierigkeiten.‹

Während Narziß in seiner Büßerzelle saß und keineswegs ängstlich angespannt auf die Entscheidung des Abtes wartete, schon der Umstand, daß Abt Daniel nicht den Konvent einberufen oder sich zumindest mit dem Prior und Subprior besprechen wollte, ließ auf ein weises Urteil hoffen, während also Narziß nachdenkend die Nacht verbrachte, ging Abt Daniel in seiner Abtwohnung, gepeinigt von Selbstanklagen, auf und ab, vom Kruzifix zu seinem Abtstuhl, hin – und her. Er, der Abt, war verantwortlich für das Seelenheil jedes ihm Anvertrauten, sei er Schüler, Novize, Mönch oder gar Prior. Er, nur er, würde vor Gottes Thron stehen und Rechenschaft ablegen müssen, ob ihm die Seele eines seiner Kinder verlorengegangen sei. Ihm galt Gottes Anklage. Je höher das Amt auf Erden, desto größer die Schuld. Er war bis in die Ewigkeit, bis in die Hölle hinein schuldig. Abt Daniel wischte sich mit dem Handrücken über die gefurchte Stirn, rieb sich die Augen, setzte sich auf seinen hohen Lehnstuhl, nahm die Wanderung wieder auf.

Nimmer hätte er diese Freundschaft zwischen dem älteren und hochgeistigen Narziß, vor dessen durchdringendem Blick man sich durchaus fürchten konnte, und dem in seiner Liebenswürdigkeit kindlichen Goldmund nur einen Tag dulden dürfen. Er mußte es vor sich eingestehen, er hatte die Gefahr unterschätzt. Durchaus war er darauf gefaßt, daß die Freundschaft zwischen einem Älteren, sei es Schüler oder gar Lehrer, zu unsittlichem Verlangen führen konnte, dagegen wußte er zwar mit Bedacht, jedoch in der Sache unerbittlich, vorzugehen. Die Tatsache, daß Narziß wie kein anderer Novize oder Mönch jede körperliche Berührung ablehnte, er selbst einmal zufällig und unauffällig gehört hatte, wie Narziß Goldmund zurechtwies: ›Fasse mich nicht an!‹, diese Abwehr alles Sinnlichen hatte ihn blind gemacht für die wirkliche Sünde. Wieso hatte er es durchgehen lassen, warum nicht Narziß zurechtgewiesen, als dieser ihm nach der Beichte einmal sagte, es sei seine Bestimmung, den Menschen dadurch zu dienen, indem er sie beherrsche. Ja, diesen Jungen, diesen goldigen Goldmund hatte er beherrscht, bis dieser nun davongelaufen war, allein in der Nacht – Wohin? Wer gab nun acht auf seine Seele, daß nicht ein Heide aus ihm werde. Abt Daniel wurde es heiß und stickig in der engen Stube, er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Denn wer hatte bisher in den drei Jahren, die Goldmund im Kloster verweilte, auf seine Seele geachtet? Narziß, allein Narziß. Der nun hatte dem erblühenden Jüngling so sonderbare, verführerische Worte eingeflüstert wie: ›Du hast deine Kindheit vergessen‹, der hatte ihn dadurch an seine Mutter erinnert, die ein nichtsnutziges, schändliches Weib war, das Mann und Kind verlassen hatte, um irgendwo ihre böse Lust zu suchen und dann kläglich elendig umzukommen. Und dahin, zu so einem heimatlosen Leben, einem Leben ohne Ehre, zu einem gottlosen Leben, wie es das Fahrensvolk führte, hatte Narziß diesen Jungen mit seinen schönen Anlagen, seinen hübschen Latein- und Griechischkenntnissen verführt. Ja, er hätte es wissen müssen, der Teufel, der große Menschenverführer, fraß nicht, trank nicht, hurte nicht, er war immateriell. Es war der Geist, der verführte, der Geist des Hochmutes. Und Narziß war hochmütig, er bekannte es selbst, hatte sogar darum gebeten, ihn deshalb zu strafen, in eine Einöde zu verbannen oder niedere Dienste tun zu dürfen. Wie hätte er dem zustimmen können bei diesen außergewöhnlichen Gaben des Geistes? Keiner der Gelehrten des Klosters sprach ein so elegantes Griechisch, er selbst konnte zwar keine drei Wörter dieser Sprache, aber er beobachtete es aus dem Verhalten der anderen Lehrer, die bei aller Anerkennung den Neid nicht zu verbergen wußten. Hätte er es doch getan, hätte er nimmer zugestimmt, daß Narziß gegen die Regel schon als Novize die kaum Jüngeren im Griechischen unterrichtete.

Abt Daniel seufzte tief. Und doch, auch Narziß war ihm seit Jahren anvertraut. Narziß war Zögling im Kloster gewesen, ein blasser schmaler Knabe, dabei hoch aufgeschossen, mit wunderschönen schwarzen Augen, die er, wie es noch immer seine Gewohnheit war, beim Sprechen zu einem Schlitz schloß. Schon damals als Schüler, gar als Novize hatte er Geltung im Hause, wurde bewundert und beneidet und heimlich gelästert. Auch für ihn, den sichtbar vom Schicksal Auserwählten, trug er als Abt die Verantwortung, er war für alles, was aus diesem jungen Menschen werden würde, vor Gott verantwortlich.

Was also tun? Wie ihn bestrafen? War es ratsam, vor dem ganzen Kloster ein Exempel zu statuieren für diesen unverzeihlichen, erschreckenden Ungehorsam? Sollte er Narziß aus dem Kloster weisen? Wohin eigentlich? Er konnte sich gar nicht entsinnen, ob Narziß jemals eine Familie gehabt hatte. Aber das war nebensächlich. Es ging um die Ordnung im Kloster, es ging um den Gehorsam. War es heilsam, wenn vom Schüler bis zum Prior, wenn alle auf Narziß mit dem Finger zeigten und den Hals langstreckten, um sich daran zu belustigen, wie dieser Edle davon gejagt würde?

Und was geschähe mit Narziß’ Seele? Wenn er doch nur etwas mehr von dessen Seele verstünde. Dieser junge Mönch meditierte zu viel, war zu sehr Asket, dazu Denker. Auch seine Aristotelesstudien waren beunruhigend. Wenn er nur ahnte, wie es mit Narziß’ Glauben stand. Dabei war er selbst sein Beichtvater, aber was dieser Jüngling beichtete, das war dermaßen langweilig, Abt Daniel schüttelte den Kopf, es fiel ihm einfach kein passenderes Wort ein, es war dermaßen langweilig, daß die wirkliche Seele dahinter verborgen blieb.

Was also war zu tun? Ein schelmisches Lächeln blitzte über sein altes Gesicht. Er würde Narziß rufen lassen und der sollte selbst entscheiden, welche Buße ihm auferlegt würde.

Gedacht – getan. Wenig später stand Narziß wieder in der Abtwohnung, demütig kniete er nieder:

»Gnädiger Vater, darf ich sprechen?«

»Es sei dir gewährt, mein Sohn.«

»Es geht mir um die Ordnung. Goldmund hätte, da seine reichen Gaben nicht zu lebenslangem Gehorsam passen, die Ordnung dieses Klosters gestört. Er wäre ein Schwärmer geworden oder aber hätte es eines Tages fluchtartig verlassen. Ihr schüttelt innerlich den Kopf? Ich sehe Vater, Ihr seid nicht einverstanden. Ich bin es auch nicht, denn wahrscheinlich wäre Goldmund, der zwar zornig werden kann, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, doch in seinem Innersten folgsam, ehrerbietig ist, ein braver Novize geworden, er selbst bezeichnete sich einmal als eifrig und gutwillig. Damit spreche ich die andere Ordnung an.

Es ist üblich, Kinder als Gottesgabe dem Kloster zu übereignen. Es ist üblich, wenn in den Familien zu viele Mäuler zu stopfen sind, eines der Kinder zum Klosterleben zu bestimmen, auf daß es für das Seelenheil der ganzen Familie Gnade bei Gott erwirke. Dies ist, so meine ich, eine verkehrte Ordnung. Um auf Goldmund zurückzukommen, laue Christen gibt es genug. Ein Mönch kann bei den Geboten stehen und weit von Gott weg sein. Womöglich findet Goldmund in der Welt eher zu Gott als hier im Kloster.«

»Das möchte ich nicht gehört haben«, unterbrach Abt Daniel. »Jedoch etwas anderes. Du behauptest von dir, Gesichte zu haben, das Schicksal anderer Menschen zu erkennen. Wie also urteile ich über dich? Was wünschest du dir?«

Leise und bescheiden antwortete Narziß: »Über meine eigenen Wünsche weiß ich nicht so genau Bescheid. Wie Ihr, gnädiger Vater, über mich urteilt, soll ich sagen. Ist das Euer Befehl, gnädiger Vater?«

»Mein Befehl.«

»Ihr denket, daß ich noch ein junger Mensch bin, daß Ihr verantwortlich für mich seid, daß Ihr eines Tages Rechenschaft ablegen müßt, nicht nur über das, was Ihr an Goldmund versäumt zu haben glaubet, sondern auch an mir, der ich schon immer in Eurer Nähe gelebt habe.

Ihr wollt mich strafen und wollt es nicht, weil Ihr meinet, daß ich zwar jede Strafe klaglos annehmen werde, sie aber an meiner Haltung nichts ändern könnte. Ihr denket nach einem Ausweg, der die Ruhe und Ordnung im Kloster nicht stört und womöglich zu meinem Seelenheil Gutes beitragen könnte. Ihr ziehet es in Erwägung, daß ich selbst es sein soll, der Goldmunds Vater die Nachricht von seinem Weggang aus dem Kloster überbringt. Ihr sinnet hin und her, ob es ratsam ist, daß ich weiterhin unterrichte, obwohl Ihr vermutet, daß darin keine Gefahr bestehen dürfte, weil es einen Zögling wie Goldmund nimmer wieder geben wird. Ihr überleget auch, was für mein Seelenheil zu tun ist, ob es heilsam sein könnte, daß ich längere Zeit in einem anderen Kloster weilen und dort eine Aufgabe erfüllen könnte. So ähnlich denket Ihr.«

»Es ist genug. Ich werde darum beten, daß Gott Goldmund und dir gnädig ist.«

Der Abt erhob sich und sagte in befehlendem Ton: »Im Morgengrauen reisest du ab.«

Hermann Hesses wundersame Geschichte

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