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Kapitel 7

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Schornsteinfeger-Glück

Johnny schnarcht neben mir und versäuselt die nächtliche Schlafzimmerluft mit einem süßlich herben Duft aus Bier und Knoblauch. Henrik schnarcht auch.

Wie der Vater, so der Sohn.

Obwohl die heftige Geburtstagsparty sämtliche Vorstellungen einer gediegenen netten Hausparty gesprengt hatte, will sich bei mir einfach kein erlösender Schlaf einstellen. Immer wenn ich anfange, die Augen zu schließen und an möglichst gar nichts zu denken, scheint irgendwo so eine Art inneres Betriebssystem anzuspringen.

Mein Rechner macht das auch manchmal.

„Es wird das Update 3 von 104 aktualisiert. Bitte schalten Sie den Computer nicht aus.“

Im Moment ist mein weinschummriger Schädel wohl auch dabei, einige wichtige Daten zu verarbeiten. Allerdings keine Updates, sondern „Olddates“. Es ist Vergangenes, das mir in dieser Nacht keine wohlverdiente Ruhepause gönnen möchte.

Ich hole mir eine Flasche Wasser.

Aus lauter Erschöpfung erspare ich mir den Griff zum Lichtschalter. Deshalb übersehe ich eine herumstehende Bierkiste und ramme mit dem linken Dicken Onkel so richtig kräftig dagegen. Schmerz lasse nach.

Sterne sind nicht immer eine wunderbar Erscheinung. Der dicke Zeh schmerzt höllisch. Ich halte die aus dem Kühlschrank gefischte Wasserflasche kurzerhand dagegen und lindere die Schmerzen mit der kalten Flasche.

Tut das gut.

Tja, mit kleinen Unfällen ist die kleine Hesselbach-Bande schon von jeher reichlich gesegnet worden. Und es ist wirklich vertrackt oder Schicksal: Wieder spielte die 3 eine wichtige Rolle.

Wie so oft bei uns in der Familie.

Es war immer so:

Ein Unglück kommt selten allein.

Aller guten und schlechten Dinge sind drei.

Wie war das damals, als sich unsere kleine Milchnase zum allerersten Mal wie eine kleine Seerobbe auf dem Trockenen um den eigenen feisten Babybauch rollen konnte.

Und somit endlich die Fortbewegung von einem Ort zum anderen beherrschte: Wenn auch nicht elegant – schon gar nicht schnell - aber mit Erfolg.

Schon damals hatte ich wieder angefangen, für unsere dörfliche Lokalredaktion kleine aber feine Recherchen und Artikel zu übernehmen. An diesem Vormittag saß Mama Hesselbach also konzentriert mit Kaffee und Schreibblock am Telefon, um die Informationen eines Telefoninterviews wortwörtlich zu notieren.

Johnny brabbelte auf seiner kuschelig plüschigen Spieldecke auf dem Rücken liegend vor sich hin. Mit Händen und Füßchen grabschte er immer wieder und unermüdlich nach den Glöckchen und Püppchen, die an dem Spielbaum über ihm herumwackelten. Das, was Babys im zarten Alter von etwa vier Monaten eben gern tun, wenn die Neugierde erwacht und die Erkundungsmöglichkeiten noch sehr begrenzt sind.

Ich arbeitete.

Johnny wurde es zu langweilig.

In einem unbeobachteten Augenblick siegte dann doch der Expeditionsdrang des Kindes.

Hier ist es gerade öde, Mama schenkt dir für diesen Moment gerade keine Aufmerksamkeit und das Regal auf der anderen Raumseite scheint verlockendere Spielmöglichkeiten aufzuweisen. Also suche dir einen Weg, dich auch dorthin zu bewegen.

Johnny wählte den Weg des Um-sich-herum-Rollens. Leider hat er bei seiner ersten eigenmächtigen häuslichen Unternehmung übersehen, dass es bei uns auch anderes Inventar gibt. Johnny wusste seinen neu entdeckten Schwung nicht zu bremsen, er kullerte und kullerte und kullerte.

Und schlug mit dem kleinen Köpfchen gegen einen Keramiktopf mit Grünpflanze.

Geschrei, Weltuntergang, dicke Beule an der zarten Stirn.

„Kind, was machst du denn für Sachen!“ jammerte ich mit meinem Sohn um die Wette. Wieder dieses Gefühl der mütterlichen Unzulänglichkeit: „Wie hatte ich meinen kleinen Sohn denn auch für diese drei Sekunden unbeaufsichtigt lassen können, um mir einen dieser osteuropäischen Czs-Nachnamen buchstabieren zu lassen?“

Johnny auf den Arm, Kühl Akku aus dem Eisfach geholt, Fläschchen warmgemacht. Buntes Bilderbuch vor die Augen gehalten.

So eine Beule kann schlimm enden.

Wir modernen Mütter haben schließlich schon vor der Entbindung einen medizinischen Crashkurs und selbstverständlich einen Ersthelfer-Kurs für Neugeborene absolviert. Da haben wir dann ja auch gelernt, dass gerade der Kopf mit seiner noch unverschlossenen Fontanelle mitten auf dem vorderen Schädelbereich mit äußerster Vorsicht zu behandeln ist. Eine Gehirnerschütterung kommt immer schneller als man denkt. In diesem Fall hatte die Milchnase keine Gehirnerschütterung.

Im Gegenteil.

Die Tütelei und Schmuserei ließen ihn seine Beule schnell vergessen. Sei Geschrei wurde leiser, endete in einem fröhlichen Glucksen - weil er sich nun Mamas ungeteilter Aufmerksamkeit für einige Zeit erst einmal wieder absolut sicher sein kann.

Hat eigentlich schon mal jemand darüber nachgedacht, dass viele kindliche Unfälle von den kleinen Wesen tatsächlich eventuell unbewusst absichtlich herbeigeführt werden, um sich wirkungsvoll in den gewünschten Mittelpunkt der Familie zu rücken?

Und während ich gerade versuchte, eine normale rhythmische Atmung wiederzufinden und zu dem Schluss gekommen war, dass mein Kind das ungewollte Aufeinandertreffen von Schädel mit Blumentopf so gerade noch einmal überleben würde, bescherte unser erbarmungsloses Schicksal voller Schadenfreude zwei weitere Horrorszenen, denen ich mich mit Kind auf dem Schoß zu stellen hatte.

Es war November.

Um diese Zeit besucht uns regelmäßig in jedem Jahr unser Schornsteinfeger. Er misst die Abgaswerte unserer altmodischen Brennwertheizung im Keller, reinigt die sogenannte Strömungssicherung und klettert regelmäßig einmal oben auf das Dach unseres Hauses, um danach zu schauen, ob wieder einmal ein Vogelnest unseren Schornstein verstopft. Auch das hatten wir schon mal. Cleverer Vogel. Der hat quasi kostenlos unsere Heizwärme für die kalte Jahreszeit mitgenutzt. Schmarotzer!

Jedenfalls kletterte der Schornsteinfeger auf die Leiter. Unser Schornsteinfeger ist in der Siedlung bekannt. Er ist ja für alle Häuser hier zuständig. Er heißt Wolfgang Schwartz.

Ich sitze mit Johnny in der Küche.

Herr Schwartz krabbelt auf die Leiter.

Nun hat so ein fieser feuchter Novembertag aber leider durchaus seine Tücken. Überall verstreut liegen die nassen Blätter herum, die die Bäume in ihrer Wintermauser von sich geworfen haben. Der Boden ist vom tagelangen Nieselregen aufgeweicht, Moos setzt sich auf alle Fliesen.

Herr Schwartz wird all das nicht bedacht haben, als er seine Leiter riskant vor dem Haus in Stellung brachte und zunächst mit elegantem Schwung gekonnt in die Höhe kletterte. Johnny und ich beobachteten die meisterhafte Schornsteinfegerakrobatik mit Bewunderung aus dem Küchenfenster hinaus.

Und so wurden wir Zeugen einer tragischen Begebenheit, die unser Herr Schwartz wohl nicht so schnell vergessen wird.

Er erreichte die oberste Leitersprosse mit Bravour. Seine Hände griffen zur Regenrinne, um sich von dort weiter auf das Dach zu schwingen.

Genau in diesem Moment, als der gute Mann nur noch mit einem Fuß auf der Leiter balancierte, geriet der Untergrund unserer Terrasse in Bewegung. Die Erde gab nach, die nassen Blätter verrutschten, die Leiter verlor ihre Standfestigkeit und kippte in gefährlicher Schräglage zur Seite weg.

Herr Schwartz angelte mit den Händen in der Luft, seine Füße und Hände fanden keinen Halt am Dach und auch nicht mehr auf der seitwärts driftenden Leiter.

Hätte die Luft Seile, wäre sicher nichts passiert. So aber griff Herr Schwartz ins Leere, stürzte von der Leiter ab und konnte sich glücklicherweise so gerade noch an dem fast zwei Meter tiefer angebrachten Balkongeländer festkrallen. Da hing der gute Mann nun. Seine Füße schaukelten haltsuchend über unserem Küchenfenster.

Ich setzte Johnny in das von ihm gehasste Laufgitter und spurtete auf die Terrasse. „Bleiben Sie locker da hängen, Herr Schwartz. Da kann momentan ja nichts passieren“, rief ich optimistisch nach oben.

„Ach ja, mir ist da gerade schon genug passiert“, keuchte der Schornsteinfeger.

Ich lief aus dem Haus, um schnell die Leiter wieder aufzurichten, damit der arme Schornsteinfeger sich aus seiner misslichen unbequemen Lage befreien konnte.

Zu spät.

Herr Schwartz ist eben doch kein muskelbepackter Zirkuskünstler. Seine Kräfte schwanden, die Hände konnten sich nicht mehr an dem nassen Metallgestänge festhalten.

Also folgte, was gemäß Gesetz der Schwerkraft folgen musste. Unser Schornsteinfeger plumpste auch noch das letzte untere Stockwerk in die Tiefe und landete inmitten meiner sorgfältig gestutzten Heckenrosenbüsche.

„Aua, das war mal eine Bruchlandung“, knirschte Wolfgang Schwartz. Sein Gesicht war vor Schreck kalkweiß geworden und hob sich gespenstisch gegen die schwarze Schornsteinfegermütze ab. Seine Zähne klapperten zitternd aufeinander. Der Arme hatte sicherlich einen Schock erlitten.

„Oh, Gott. Haben Sie sich wehgetan?“ rief ich entsetzt. „Nein, ich habe ja Übung. Ich unterhalte meine Kunden regelmäßig mit solchen Stunteinlagen“, knirschte der gefallene Schornsteinfeger.

Er betrachtete zerknirscht die kleinen Wunden an den Armen, die ihm die Dornen meiner Rosen zugefügt hatten. Hätte ich im Garten Baumwollpflanzen stehen, würde Herr Schwartz sicher nicht so lädiert ausgesehen haben.

Er klagte: „Ich hoffe, für die ungeplante Akkupunktur mit ihren wehrhaften Bäumen stellen Sie mir nicht auch noch eine Rechnung aus.“

Sein rechtes Handgelenk sah nicht gut aus.

„Ihre Hand ist ganz geschwollen. Das sieht nach einer bösen Verstauchung aus. Oder ist es womöglich sogar gebrochen?“, wies ich ihn auf die rote dicke Schwellung hin.

„Ich bringe Sie sofort ins Krankenhaus. Das muss geröntgt werden!“

Herr Schwartz zuckte mit den Schultern und ließ sich auf einen Küchenstuhl hieven und mit heißem Kaffee trösten, während ich im Eisfach nach gefrorenem Gemüse suchte, das ich ihm als improvisierten Eisbeutel um die Hand wickeln konnte.

Johnny parkte ich auf dem linken Arm, den Autoschlüssel mit Handtasche in der rechten Hand und so stolperte ich aus dem Haus.

Der arme Herr Schwartz schien mir etwas wackelig auf den Beinen, so dass ich lieber das Auto vor die Tür fahren wollte, damit der gute Schornsteinfeger mir nicht womöglich noch auf dem Gartenweg in Ohnmacht fiele.

Das Auto stand vor der Garage.

Zur Garage führt eine breite mit Carport überdachte Einfahrt, die gern von Henrik, aber auch von allen Nachbarsjungen, als praktische Abstellfläche für kurzfristig ausgelagerte Fahrräder, Skateboards, Mofas und Rasenmäher, Surfbretter, Angelzubehör oder Gartengrill genutzt wird.

Ich setzte Johnny in seinen Babysitz und schaute beim Losfahren sorgenvoll nach unserem Schornsteinfeger, der mir nun doch eigenmächtig mit sichtlich unsicheren Schritten hinterher geschwankt kam.

Ich achtete also mit einem Auge auf meinen aktiv herumzappelnden Sohn, mit einem Auge auf unser kraftlos schwankendes Unfallopfer und mit keinem Auge auf das ständig anwachsende Gerätelager vor unserer Garage.

Leider gehörte dazu das neue Mountainbike meines Gatten.

Henrik hatte sich am Wochenende zuvor den Luxus eines neuen Freizeitgerätes gegönnt. Er meinte nämlich: „Das Vatersein allein macht träge. Ich brauche mehr ‚action‘“!

Ach ja? Mehr ‚action‘?

Henrik könnte ja mal ein paar Wochen lang die Stellung hier im Haus halten, während ich mich in die Werkstatt zu Schraubendreher und technischen Zeichnungen verzöge. Mir jedenfalls reichte die tägliche „action“ als hobbymäßig berufstätige Mutter und Hausfrau.

Vor allem zum aktuellen Zeitpunkt.

Sagte die Oma nicht immer, dass Schornsteinfeger Glück brächten? Mit unserem Herrn Schwartz haben wir scheinbar den einzigen Unglücksraben dieser Berufsgattung erwischt. Die Situation brachte mir so viel unerwünschte ‚action‘, dass ich Hitzepickel auf den Wangen bekam. Als unser Schornsteinfeger nun etwas lädiert und mit Rosendornen bespickt durch den Vorgarten gestolpert kam, setzte ich den Wagen schwungvoll zurück.

Es krachte, es schepperte!

Das schicke neue Mountainbike von Johnnys Papa sah ganz plötzlich gar nicht mehr so neu und glänzend aus.

Es hatte gegen eine der Mülltonnen gelehnt.

Die Pedale verhedderten sich mit meinem eingeschlagenen Hinterrad und damit verlor das schicke Fahrrad leider sein Gleichgewicht.

Ich bremste erschrocken.

Aber leider bleibt so ein Fahrrad ja in Schräglage und ohne Halteständer nicht einfach stehen, wenn es einmal in Bewegung geraten ist.

Es rutschte ein bisschen weiter, es rutschte gegen meinen Kofferraum. Der hintere Heckscheibenwischer verfing sich mit dem Fahrradlenker. So viel Kraftaufwand ist für dieses kleine Gelenk nicht vorgesehen. Der Scheibenwischer riss ab. Der Fahrradlenker verbog sich und schrappte über den schönen dunkelblauen Metallic-Lack meines Minis.

Der Ratscher im Lack hatte die Form eines „S“. „S“ wie „So eine verflixte Sauerei.“

Oder gefühlsmäßig passender; „S“ wie „Sch…e!!!“

Johnny hatte sich natürlich bei all dem Radau mächtig erschrocken und plärrte nervös aus seinem Babysitz. Da konnte auch „Schnulli“ ihn jetzt nicht mehr beruhigen.

Ich zitterte am ganzen Leib, als ich erst das lädierte Fahrrad wieder unter den Carport schob und dann den lädierten Schornsteinfeger ins Auto verfrachtete.

Der arme Mann war erschreckend ruhig geworden. Sicherlich befürchtete er inzwischen, mit mir als Fahrerin nicht lebend im Krankenhaus anzukommen.

So fuhren wir völlig aufgelöst, mit Rosendornen im Haar und mit Fahrradkettenfett an den Fingern, in die Ambulanz.

Wolfgang Schwartz kam bei seiner schmerzhaften Stunteinlage bei seinem Diensteinsatz im Hause Hesselbach mit einer glücklicherweise harmlosen Handgelenkstauchung davon. Er bekam einen Verband, Kühlsalbe und von mir eine Flasche mit besonders edler Beruhigungsmedizin aus Henriks hermetisch verschlossenen Spirituosenschrank.

Es handelte sich um eine jener mehr als zwanzig Jahre alten Whiskeyflaschen, die Henrik seit seiner eigenen Volljährigkeit mit begeisterter Sammelleidenschaft in unserem temperierten Kellerschrank verwahrte. Er würde diese Flaschen niemals geöffnet oder gar getrunken haben.

Aber ich fand, dass sich unser Unglücksengel nach dem Sturz vom Dach einen solch warmen und anregenden Tropfen redlichst verdient hatte.

Erst später belehrte mich mein schlauer Henrik nach meinem ausschweifenden Schadensbericht beim Abendessen darüber, dass ich dem Wert dieser verschenkten Flasche entsprechend unserem Schornsteinfeger auch ein Fünf-Sterne-Wellnesswochenende mit seiner Frau hätte buchen können.

Ich entgegnete: „Das sollte uns unser Schornsteinfeger doch wohl wert sein?“

Fand ich.

Schließlich wollen wir ja wünschen, dass er uns in den kommenden Jahren wieder etwas mehr Glück mitbringen möge.


Johnny

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