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Kapitel 1
ОглавлениеEndlich Achtzehn
Der Garten ist eine Disco.
Die Bässe aufgedreht bis zum Anschlag, donnert der explosive Rocksong „Hell’s Bells“ von Altrockband AC/DC aus den mannshohen Musikboxen, die wohl nur zur optischen Tarnung und aus Angst vor eventuellen Regengüssen unter pinkfarbenen Zeltplanen versteckt worden sind.
Die Bässe wummern durch die gesamte Siedlung.
Die Höllenglocken dröhnen auch in meinem Kopf.
Irgendwann im Laufe des Abends fingen die im Takt dazu hämmernden Kopfschmerzen an.
„Warum musstest du dich auch durch jedes knallbunte neumodische Mixgetränk durchprobieren, dass dir das Jungvolk unter die Nase gehalten hat“, schimpfe ich genervt mit mir selbst.
Aspirin hilft.
Noch besser, ich spüle die kleine Tablette mit Sekt herunter.
Das entspannt.
Und dann vielleicht einen Moment ausruhen.
Irgendwo an einem kleinen versteckten Eckchen, wo es in unserem Haus noch Ruhe gibt.
Ich bin leider überzeugt, genau diese hier in diesem meinen Haus ausgerechnet heute Nacht lange suchen zu müssen.
Denn Johnny feiert seinen achtzehnten Geburtstag. Oder, wie es mein komplett euphorischer Sohn ausdrückt „Dies ist meine Nacht. Mein ganz persönlicher ‚Independence Day Number 18‘.“
Jawoll, mein Nesthäkchen, mein kleiner Welpe, mein süßer braunäugiger blonder Augenstern, mein einziger Sohn, lässt es die gesamte Nachbarschaft und alle seine Freunde lautstark wissen:
„Jetzt bin ich volljährig, bin ein erwachsener Mann, kann endlich tun und lassen, was immer ich will. Die Welt gehört jetzt mir.
Begleitet mich oder lasst es sein,
ab heute bestimme ich meinen Weg allein.“
So ganz allein will unser gerade mal flügge werdender Sohn diesen Weg dann doch nicht beschreiten. Alle seine Freunde und Vereinskameraden seiner diversen Freizeitaktivitäten sollen ihn zumindest an seinem Mega-Geburtstagsereignis dann gefälligst doch bitte ordentlich hochleben lassen.
Es ist ganz praktisch, dass zu diesem Anlass seine eingeladenen Mannschaftskameraden auch gleich das Partyequipment mitbringen.
Seit zwei Tagen gleicht unser Haus mit dazugehöriger Doppelgarage und Garten einer improvisierten Kommandozentrale des Technischen Hilfswerks. Kein Anblick, der unsere lärmempfindlichen Nachbarn nachts beruhigt einschlafen lassen könnte.
Schuld daran sind sicher zum Teil auch die vielen knallroten Feuerwehrfahrzeuge und Katastrophenschutzzelte, die sich im Vorgarten und auf dem Bürgersteig häppchenweise und Stück für Stück eingefunden haben.
Und auch das Festzelt mit dem überdimensionalen Schriftzug „DLRG Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft“ ermuntert sämtliche Nachbarn in unserer Straße zu den wildesten Spekulationen.
Herr Keppler von gegenüber fing mich beim Ausräumen meiner Einkäufe ab. „Sa‘n se ma, is dat wat Ernschtes? Habt ihr womöglisch im Keller eine Zwozentnerbombe us’m letzschten Kriech jefunden?“
Der Rentner machte sich wirklich Sorgen um Wohl und Segen seiner Nachbarschaft und seines liebevoll gehegten Häuschens. „Net, dat us hier die Brocken um die Ohren sausen“, beunruhigte es ihn.
„Keine Angst, Herr Keppler“, beschwichtigte ich meinen Nachbarn. „Die einzige Bombe, die hier platzt, ist die Eisbombe auf dem Geburtstagsbuffet.“
„Das muss ja ein gewaltiger Wasserschaden sein, den ihr zu beseitigen habt“, bedauerte mich Frau Kusemund gestern Nachmittag, als sie mich im Baumarkt an der Kasse traf.
Dabei schweifte ihr Blick über meinen Einkaufswagen, der randvoll mit Schaumstoffrollen, reißfesten Renovierungsfolien, Papierrollen und zehn Paketen Laminat bestückt gewesen ist.
„Kein Wasserschaden, sondern Johnnys Party in die Volljährigkeit“, klärte ich sie auf – und ich bin mir sehr sicher, dass ich ihr damit keine beruhigende Erklärung abgeliefert hatte.
Na ja, spätestens seit heute Abend 22 Uhr weiß Frau Kusemund endgültig Bescheid. Genau wie Herr Keppler und die übrigen zwanzig Nachbarn unser Straße links und rechts von unserem Grundstück.
Um diese Uhrzeit nämlich besinnt sich unser selbsternannter Discjockey Johnny auf seinen ganz speziellen Geburtstagsauftrag, seine fast einhundertköpfige Geburtstagsbande von den Biergartengarnituren runter und rauf auf die aus Laminat provisorisch zurechtgezimmerte Tanzfläche im eigens dafür aufgestellten DLRG-Pavillon zu treiben.
Johnny ist voll in seinem Element.
Er flirtet und schmust, er mixt Cocktails und wirft jedem Freund ein strahlendes Lachen zu. Er fühlt sich auf seiner Party glücklich. Und ich bin glücklich, weil er glücklich ist.
Achtzehnter Geburtstag!
Dieser Tag soll in der Erinnerung als einmaliges Ereignis erhalten bleiben.
Auch wenn ich mich an und für sich in diesem unkontrollierten Trubel inzwischen überflüssig fühle.
Wie ein Zuschauer, der heimlich über den Gartenzaun schielt.
Die Jugend tobt sich aus, so soll es auch sein.
Wir „Alten“ dürfen gnädigerweise mitfeiern und werden aus reiner wohlerzogener Höflichkeit toleriert. „Macht nix“, brummt es hinter mir. Johnnys Papa und mein persönlicher Held des Abends legt seine Arme um meine Schultern und küsst meine Wange. „Wir können doch sehr gut auch ohne das Jungvolk feiern. Machen wir halt unsere eigene Party.“
Damit zieht er mich zärtlich und unnachgiebig auf die kleine Küchenterrasse am Kellereingang und drückt mir ein frisch gefülltes Weinglas in die Hand.
„Jeder Sturm legt sich irgendwann. Und wenn sich die Wolken verzogen haben, zeigt uns der Himmel seine unbegrenzten Möglichkeiten“, nuschelt Henrik angetrunken und er weiß wahrscheinlich selbst nicht mehr, welchen großen Poeten er damit gerade rezitieren wollte. Manchmal bringt sein unergründlicher Verstand allerdings in lichten Momenten auch selbst solche herrlich romantisch, kitschigen, Metaphern zustande.
Gerade heute Abend liebe ich meinen Mann so abgöttisch wie sonst nicht unbedingt jeden Tag.
Denn er ist heute wirklich der Held.
Der Fels in der Brandung, der Kapitän, der unser Partyschiff sicher durch den Sturm trägt.
Denn wie es bei derlei Großveranstaltungen im heimischen Palast nun mal meistens so ist, verlief auch die Vorbereitung für Johnnys Megaevent nicht wirklich reibungslos.
Unser seit nunmehr zwei Stunden volljähriger Sohn war am Nachmittag noch den Tränen nahe, als die Lichterketten im DLRG-Zelt plötzlich klirrend explodierten.
Unsere schmalspurige Hauselektronik wurde einst für den Einsatz von Waschmaschine, Staubsauger und Weihnachtsbaumbeleuchtung konzipiert und ist somit für ein gleißendes „Disko-Fever“ nicht ausgelegt. Und dann fiel plötzlich auch noch eine der Musikboxen aus.
Schlimmer konnte es in Johnnys Augen wohl kaum noch werden!
Eine Party ohne hämmernde Bässe.
Eine Horrorvorstellung.
„Dann können wir ja gleich im Seniorenheim feiern“, maulte der Sohn.
Doch, es konnte schlimmer werden.
Richtig fertig war Johnny, als ausgerechnet seine Langzeitgefährtin Juliana ihm kurz vor Partybeginn per schnöder SMS eine knappe Absage erteilte.
Mustervater Henrik hatte allerdings ein unerschütterliches väterliches, und handwerkliches, Gespür dafür, wie er die Katastrophen einzudämmen hatte.
Die Technik bekam er in den Griff, indem er kurzerhand unseren Hauselektriker per Notfalltelefon antanzen ließ, um schnell noch ein paar neue Sicherungen und Stromverteiler anschließen zu lassen. Ersatzboxen besorgte er bei unseren Nachbarn, die er dafür spontan zur Party einlud. Wozu ist mein Henrik der Alleinherrscher über die einzige KFZ-Werkstatt in unserem Dorf. Er würde sich eben bei nächster Gelegenheit wieder mit ein paar Gratis-Ölwechseln revanchieren müssen. Nur ein gebrochenes Herz lässt sich nicht mit freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe reparieren.
Nur handfeste Ablenkung vom großen Herzschmerz kann zumindest kurzzeitige Abhilfe verschaffen.
Also schnappt sich Henrik kurzerhand Badehosen und Handtuch und stachelt seinen einzigen Sohn sportlich an: „Komm, mein Junge. Bevor hier die Fete richtig abgeht, werden wir noch eine kleine Runde in unserem Badesee schwimmen gehen. Mal sehen, ob du inzwischen Mann genug bist, um mich bei einem Wettschwimmen zu schlagen.“
„Ich komme mit“, ruft Opa Dieter spontan. Und schwupps sind die Männer des Hauses auf und davon.
Löblich, dass die Männer sich so solidarisch und uneigennützig um Johnnys Seelenheil kümmern.
Betrüblich, dass somit die Vorbereitungen für die Buffetschlacht an uns Mädels hängenbleibt.
„Na dann mal los. Jetzt ist Frauenpower angesagt“, ermuntert mich Oma Mechthild.
Sie übernimmt sofort die Küchenregie. „Daniela kann sowieso nicht kochen. Sie übernimmt den Aufbau der Biergartentische. Katja, du hast noch einen gesunden Rücken. Also schleppst du die Getränke ran. Ich kümmere mich um die Salate und die Käseplatten. Wäre ja gelacht, wenn wir das nicht ruckzuck alleine gestemmt kriegen.“
Tatendurstig schnürt sie sich die Küchenschürze über den fülligen Busen und beginnt mit dem Kartoffelschälen.
Spätestens um Mitternacht hat Johnny seine Juliana längst vergessen.
Und von dem Riesenberg Kartoffelsalat ist nichts mehr übrig.
Dann nämlich lassen unsere Gäste zur großen Feierstunde ein für Laien doch recht beeindruckendes Feuerwerk aus sorgsam gehorteten Silvesterrestbeständen am dunklen Firmament erleuchten.
Obwohl wir nun reichlich mit den Hilfsutensilien unserer städtischen Rettungsvereine ausgestattet wurden, mangelt es dann allerdings letztlich doch an notwendigen aktiven Unfallverhütungsmaßnahmen.
Das Feuerwerk sprüht fröhliche Funken in das Festzelt und findet reichlich Nahrung. Im Handumdrehen züngeln muntere Flammen an den einst so dekorativen Papiertischdecken empor.
Und da das Reaktionsvermögen der geladenen Feuerwehrleute nach mehreren Fässern frisch gezapften Bieres nicht mehr so ganz den Trainingsvorschriften entspricht, müssen auch noch einige zart blühende Oleanderbüsche und ein Vogelhaus in der fröhlich knisternden Feuerbrunst daran glauben, bevor unsere im Alkoholrausch schwankenden Feuerwehrmänner endlich dazu in der Lage sind, den Schaumregen der Feuerlöscher gezielt auf die Brandherde und nicht ausschließlich auf das glücklicherweise fast schon geplünderte Buffet zu richten.
Abgesehen von meiner Trauer um die liebevoll aufgezogenen Oleandersträucher betrachtet allerdings niemand unserer Gäste die ungeplante Showeinlage als bedenkliche Katastrophe.
Die Mädels feiern in den Resten der Feuerlöscher eine fröhliche Schaumparty, die Jungen erfreuen sich an den durchgeweichten T-Shirts ihrer Freundinnen und Johnny klopft seinen Feuerwehrkumpels herzlich auf die Schultern, weil sie sich doch so selbstlos in die Feuerschneise geworfen hätten.
Dabei habe ich genau gesehen, dass es letztlich mein tatkräftiger Mann Henrik wieder selbst gewesen ist, der dafür sorgte, dass nicht das gesamte Haus im Löschschaum unterging, während die kleinen Zauberfeuer sich lustvoll durch die Gartenanlage fraßen.
Henrik hat sicher Recht. Jeder Sturm zieht vorüber. Auch diese leicht ausgeartete Geburtstagsparty mit kleinen unbedeutenden Patzern, wie sie schließlich überall in den besten Familien vorkommen.
Warum sollte ich mich deswegen verrückt machen.
Solange ich noch ein Dach über dem Kopf habe und ein Bett, in das ich später meine bleischweren Beine legen kann, ist die Welt doch völlig in Ordnung. Mein Sohn feiert sich selbst, mein Mann feiert seinen Sohn und ich feiere schon mal den nächsten Sonnenaufgang, weil ich davon ausgehe, dass mir mein Haus, mein Garten und meine Familie dann wieder allein gehören werden.
Henrik zieht mich auf die knarrende Hollywoodschaukel, die wir vor ungefähr dreißig Jahren von meiner Oma geerbt haben und deren Federn und Scharniere genauso knarzen wie die Knochen eines alten Methusalem.
Wir stoßen mit den Weingläsern an. Kling.
„Hey, Süße. Du kannst so was von stolz sein. Schau dir an, welche Meisterleistung du in den vergangenen 18 Jahren zustande gebracht hast.
Es ist schon sowas wie Hexerei. Mit jedem Geburtstag deines Sohnes bist du immer attraktiver geworden.
Du bist einfach sexy.
Mit den jungen Hühnern da draußen im Partyzelt nimmst du es allemal noch auf!“
Ich kichere. Dieses Kompliment meines Herzallerliebsten geht mir nach dem extrem anstrengenden Abend runter wie eine Flasche mit Aloe Vera.
Entgegen seiner Äußerung fühle ich mich derzeitig um zwanzig Jahre gealtert und ungefähr so hübsch und spritzig wie eine Dörrpflaume.
Dankbar über seinen Aufmunterungsversuch lehne ich mich an Henriks Schulter.
Es tut so gut, nach all dem Stress der letzten Stunden solche süßen Zauberworte zu hören. Wenn sie auch vielleicht vom Bier und Schnaps etwas aufgeweicht sind. Und wie ich gerade so darüber nachdenke, dass es zu diesem Zeitpunkt überhaupt niemandem mehr auffallen würde, wenn sich Henrik und ich dezent in unsere eheliche Kemenate zurück zögen, um die Party mit unserem eigenen elterlichen Spaß ausklingen zu lassen, kommt mein Schwesterherz durch die Küchentür gestolpert.
„Na, Katja und Henrik, hierhin habt ihr euch also verkrümelt und überlasst uns ganz allein die harte Front mit Bierleichen und Trommelfellbombardement.
Pfui, sowas machen fürsorgliche Eltern aber nicht!“
Daniela plumpst schwungvoll auf die letzte freie Sitzfläche am Rand der Hollywoodschaukel.
Das altersschwache Möbelstück ächzt und wankt so bedenklich, dass ich uns alle drei schon zwischen einem rostigen Metallskelett auf dem Steinboden sitzen sehe.
„Mensch, was war der Johnny früher ein niedlicher Fratz“, erinnert sich Daniela und stiert in ihr halbvolles Rotweinglas, so als ob sie dort die Bilder aus der Kindheit meines Sohnes ablesen könnte.
„Tja, aus dem niedlichen Kind ist jetzt ein vollwertiger Mann geworden. Alles dran und alles dort, wo es hingehört“, nuschelt Henrik ein bisschen genervt. Ich denke, auch er hätte diese Minuten lieber mit mir allein in trautem Zwiegespräch verbracht.
„Ja, ja, als der Johnny noch ein Baby war, da gab es keine Aufregung, keinen Lärm und kein Geschrei!“, lamentiert Daniela mit zornigem Blick auf die bis zum Anschlag aufgedrehten Gartendisko, in der etwa einhundert fast nicht mehr zurechnungsfähige spät pubertierende Kinder und solche, die es heute Nacht wieder geworden sind, sich gerade solidarisch trällernd in den Armen liegen.
Ich starre die Sterne an.
Hm, keine Aufregung, keinen Lärm und kein Geschrei in Johnnys Babytagen?
Ich erinnere mich da an etliche schlaflose Nächte, in denen ich völlig überfordert und todmüde mit einem mürrisch krackelenden Baby durch das nächtliche Haus wankte und zum Schluss den Mixer anstellte, weil dieses Geräusch scheinbar eine unerklärlich mystische Wirkung auf Johnnys zarte Babypsyche auslöste. Kaum lief der Mixer auf Hochtouren erstarb das wehleidige Geschrei. Kind schlief, der Rest der Familie war hellwach.
Nur Daniela war ja eben in genau diesen Nächten nicht dabeigewesen. Sie hätte sich damals vielleicht doch öfter mal als Babysitterin anbieten sollen.
Mehr laut als schön wünscht sich Campino von den „Toten Hosen“ durch die bis zur Schmerzgrenze aufgedrehten Lautsprecher für sich und den Rest der Welt eine Partynacht mit endlos viel Zeit. „Hm, also ich habe nicht mehr endlos Zeit. Bis morgen Mittag müssen wir die Zelte wieder in den Vereinshallen gelagert haben…“, grummelt Henrik mit Blick auf die unverschämt schnell vorgerückten Zeiger seiner Armbanduhr.
Dann springt er auf. Ist ohne ein Wort weg. Daniela und ich sinnieren weinduselig vor uns hin und als Danielas Weinglas leer ist, springt auch sie wortlos auf und verschwindet irgendwohin ins Haus. Plötzlich bin ich ganz allein.
Allein auf einer kleinen heimeligen Insel inmitten eines tosenden Partygewitters.
Oase Hollywoodschaukel.
Leise knirschen die morschen rostigen Ketten des Gestells im Takt zu meinen sanft einlullenden Schaukelbewegungen.
Die Musik scheint so weit weg zu sein.
Die Party findet in exakt diesem wunderschön ruhigen Moment auf einem anderen Planeten statt.
Weinselig und ermattet dämmere ich wohlig vor mich hin. Genau diesen magischen Augenblick zwischen totaler Erschöpfung und quirliger Überdrehtheit braucht es anscheinend, damit die Gedanken in meinem Kopf ihr putzmunteres Eigenleben entfalten. Mir ist, als könne ich hören, wie sich in meinen Gehirnwindungen kleine sorgsam verschlossene Türchen und Schleusen öffnen, um all diese Bilder und liebevoll verpackten Erinnerungen frei und ungehemmt durch meinen Kopf tanzen zu lassen.
So viele kleine wunderbare Fetzen längst vergessener und verdrängter Ereignisse und Gefühle. Sie formen sich zu einem wunderbaren Portrait. Johnny. Mein Sohn. Achtzehn Jahre Achterbahnfahrt durch eine Kindheit, in denen ich lernte, wie sich Glück und Trauer und Schmerz und Angst anfühlen können. Ich schließe meine Augen und denke mir so: Dann steigen wir halt noch einmal für einen kurzen kostbaren Moment auf diese Achterbahn der Familie Hesselbach.
Denn gleichzeitig zischt mir eine Stimme im Inneren zu: „Letzte Gelegenheit. Die Fahrt in in der nächsten Kurve zu Ende. Dein Sohn ist erwachsen. Dein Job ist erledigt. Du bist ab jetzt Statistin in dem Leben deiner längst nicht mehr kleinen zarten Milchnase.“