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2. Kapitel: Erste Erfahrungen in der Fremde

Slavko hat das elterliche Revier, durch das er bisher gestreift ist, verlassen. Jetzt ist er tatsächlich gegangen.

Er freut sich darüber – und doch zögert er. Er versteht sich selber nicht. Die ganze Zeit hat er von diesem Moment geträumt. Hat sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich ins Ungewisse aufzubrechen. Abzuwandern und sich auf die große Reise zu machen. Und jetzt? Jetzt zögert er immer wieder und lässt Erinnerungen auftauchen, die ihn bremsen.

Er vermisst seine Mutter, die im Geiste neben ihm auftaucht. Er blickt sich um und versucht, bekannte markante Punkte zu erkennen. Da vorne ist die Ebene mit den menschlichen Behausungen, hinter der sich das Loch mit der großen Höhle befindet, die die Menschen besetzt halten. Weit dahinter kann er die Anhöhe erahnen, auf der er sich so oft aufgehalten hat, um in die Ferne sehen zu können. Dazwischen ist das Kernrevier, in dem sich seine Familie meistens aufhält. Bestimmt sind sie auch jetzt dort. Ob sie gerade an ihn denken? So wie er an sie denkt?

Allmählich verschwindet die Sonne hinter dem Horizont. Es ist eine gute Zeit zum Laufen, wenn die Schatten länger werden und eine huschende Gestalt gut verschlucken können. Etwas abseits von dem grauen Band, verborgen unter Bäumen, legt Slavko den Kopf in den Nacken und stimmt ein einsames Geheul an. Er lauscht. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Es kommt genau von dort, wo er es vermutet hat. Seine Familie antwortet ihm. Aber nicht nur sie. Aus der entgegen gesetzten Richtung hört er auch eine Antwort. Dort muss ein anderes Rudel sein. Davor sollte er auf der Hut sein. Vorsichtshalber wendet er sich in die Richtung, aus der er keine Wölfe gehört hat und entfernt sich zielstrebig von den Rändern seiner alten Heimat.

Nach kurzer Zeit lichtet sich der Wald und die grauen Bänder der Menschen werden mehr. Mehrfach muss Slavko eines überqueren und aufpassen, dass er nicht von den Menschen gesehen oder von ihren Rennhilfen gerammt wird. Es heißt, Menschen können nicht besonders gut hören und noch viel schlechter riechen. All ihre Sinne scheinen verkümmert zu sein. Ohne ihre Rennhilfen können sie sich offensichtlich auch nur recht langsam fortbewegen. Das bringt ihm deutliche Vorteile, denn als Wolf kann er schnell und ausdauernd laufen. Darüber hinaus hört und riecht er sehr gut und kann auch in der Dämmerung gut sehen. So wie alle erwachsenen Wölfe, die noch nicht zu alt geworden sind.

Dennoch ist ihm äußerst unwohl zumute, als er an ein besonders breites und lautes Band gerät, das auch noch mit dünnen glatten Ästen abgegrenzt ist, die sich nicht umbiegen lassen.

Kurz trabt er in die eine, dann in die andere Richtung daran entlang. Es ändert sich nichts. Daher sucht er sich eine möglichst dunkle Stelle und überspringt die Abgrenzung. Der Schwung, mit dem er auf der anderen Seite landet, treibt ihn hinauf auf den Rand des grauen Bandes. Obwohl dort gerade menschliche Rennhilfen unterwegs sind, rast er schnell weiter, setzt erneut zum Sprung an und landet sicher auf der anderen Seite. Schnell taucht er in die dunklen Schatten dahinter ein, um zu verschnaufen, bis sein aufgeregtes Herz wieder ruhiger schlägt. Um ihn herum bleibt alles ruhig. Offensichtlich wurde er nicht gesehen. Zumindest ist ihm niemand gefolgt.

Beruhigt trabt er weiter. Das graue Band ist immer noch in der Nähe. Und nicht weit davon taucht plötzlich ein zweites auf. Diesmal möchte Slavko den Rand davon besser erkunden. Er läuft in die Richtung der aufgehenden Sonne. Doch weit kommt er nicht, da die beiden Bänder aufeinandertreffen.

Also wendet er sich in die andere Richtung. Als er den Punkt, an dem er zuvor schon gewesen ist, passiert hat, dauert es nicht lange und er entdeckt ein kleineres graues Band, das unter dem großen hindurch führt. Er legt sich auf den Bauch und beobachtet die Stelle eine Weile. Es ist relativ ruhig. Nur ab und zu sieht er eine der Rennhilfen, die aus der Dunkelheit unter der Erde auftaucht und sich auf ihn zu bewegt. Slavko verharrt bewegungslos im Schatten und die Rennhilfen verschwinden hinter ihm, ohne von ihm Notiz zu nehmen.

Er nimmt all seinen Mut zusammen und nähert sich dem silbern schimmernden Balken. Schnell rennt er die Böschung hinunter, betritt das graue Band und rast unter dem anderen hindurch. Gerade, als er auf der anderen Seite die Böschung erklimmt, funkeln ein paar Lichter. Schnell hastet Slavko weiter, während sie näher kommen. Aber sie verlassen das graue Band nicht. Wenden sich nicht einmal in seine Richtung. Sie haben ihn nicht bemerkt.

Slavko hat Glück gehabt und hofft, dass er in Zukunft von diesen großen grauen Bändern verschont bleibt. Überhaupt würde er gerne von all diesen menschlichen Dingen verschont bleiben. Die Welt wäre viel schöner ohne all das, was ihren Geruch trägt. Vielleicht findet er ja eine Region, in der es keine Menschen gibt, sondern nur Wölfe und reiche Beute. Er ahnt, dass er so eine Gegend nicht finden wird. Dass es so etwas nirgendwo geben wird. Überall wird es Gefahren und unschöne Dinge geben. Aber die Menschen können doch auch nicht überall sein.

Als der Himmel heller wird und die Sonne hinter den Bäumen zum Vorschein kommt, sucht Slavko nach einem Versteck. Wo er jetzt ist, ist der Wald nicht mehr so dicht. Immer wieder läuft er über Wiesen und andere offene Flächen mit einzelnen Büschen und Bäumen, die nur wenig Schutz bieten. Nach einer Weile findet er ein paar Sträucher, die sich dicht aneinanderdrängen und ihn somit gut verbergen können. Er zwängt sich in ihre Mitte und ist froh, dass er so ein nettes Plätzchen zum Verweilen gefunden hat.

Sein Magen knurrt. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er seit seinem Aufbruch nichts gegessen hat. Das Mahl am Vortag war üppig, daher benötigt er nicht wirklich etwas. Dennoch hätte er nichts dagegen, wenigstens einen kleinen Happen zu sich zu nehmen.

Daher kriecht er wieder aus seinem Gebüsch hervor und sieht sich um. Es raschelt und riecht nach Maus. Er rennt ein wenig kreuz und quer, die Nase immer dicht am Boden, um zu verfolgen, wo der Geruch intensiver wird. Kurz darauf hat er eine Maus erwischt. Er grunzt zufrieden und will zurück in sein Versteck.

Doch zwischen ihm und den Büschen taucht gerade ein Mensch auf. Er hat einen Begleiter auf vier Beinen dabei. Eine Schnur verbindet die beiden miteinander. Ein Hund. Die wolfsähnlichen Wesen, die sich den Menschen angeschlossen haben und ganz unterschiedlich aussehen können. Den ein oder anderen hat Slavko zuvor bereits gesehen. Dieser hier ist groß und dunkel und hält gerade seine Schnauze in die Luft. Hat er seine Witterung aufgenommen?

Schnell duckt sich Slavko ins hohe Gras und beobachtet die beiden. Mensch und Hund haben ihn noch nicht bemerkt. Und der Wind steht günstig für Slavko. Aber sie entfernen sich nicht, sondern untersuchen den Bereich vor dem Gebüsch. Ob sie ihm auf der Spur sind? Vorsichtshalber schleicht Slavko zügig in die andere Richtung, bevor der Hund ihn tatsächlich wittert und ihm folgt.

In Zukunft will Slavko besser aufpassen. Nicht wegen der Lust auf die Jagd jegliche Vorsicht fallen lassen. Diesmal ist zum Glück alles gut gegangen. Nur muss er sich ein neues Versteck suchen und das gestaltet sich etwas schwieriger, als er gedacht hat. Er läuft ein wenig im Zickzack, überquert ein ruhig daliegendes graues Band und umrundet eine Stelle, an der einige Behausungen der Menschen beieinander stehen. Dann endlich findet er ein ähnlich schönes Plätzchen wie zuvor. Eine Kuhle unter einem breiten Strauch, dessen ausladende Zweige ihn gut verbergen. Die Sonne steht mittlerweile hoch am Himmel.

Durch das ganze Hin und Her hat er allerdings den Überblick verloren, wo er sich befindet. Vorsichtig entfernt er sich nochmal von dem schützenden Strauch, um sich zu orientieren. In weiter Ferne erkennt er den heimischen Wald. Er erkennt, in welcher Richtung sein altes Zuhause liegt. Somit weiß er, in welche Richtung er später weiterziehen will und kann beruhigt zu seinem Versteck zurückkehren und vor sich hindösen.

Als die Schatten wieder lang werden, setzt er seine Reise in die gewünschte Richtung fort. Er taucht in einen Wald ein und läuft so, dass sich die untergehende Sonne auf seiner linken Seite befindet. Er kann sie hier zwar nicht sehen. Aber er spürt sie genau.

Die Gerüche in dem Wald sind interessant und sorgen dafür, dass er von seiner geraden Linie abweicht. Er kann nicht anders, als immer wieder einem Duft zu folgen, bis er dessen größte Intensität erreicht hat. Mal sind es Pilze, mal Kräuter und mal riecht es nach Tieren wie Mäusen. An einem Stamm, an dem sich zuvor ein Hirsch gerieben hat, verweilt er und überlegt. Vieles kommt ihm bekannt vor, manches ist aber auch neu oder ähnlich aber dennoch ein wenig anders als er es kennt. Wahrscheinlich, weil dort andere Exemplare der jeweiligen Tiere oder Pflanzen leben, die es auch in seinem alten Revier gibt. Er hat ja auch einen anderen Geruch, als seine Mutter, obwohl sie nicht nur beide Wölfe sind, sondern sogar aus einer Familie kommen.

Seine Mutter! Sie vermisst er am meisten. Mehr als seinen Vater oder seine Geschwister. Die würden auch irgendwann abwandern. So wie seine älteren Schwestern einige Zeit vor ihm gegangen sind. Ob die anderen ihn auch vermissen? Oder ob sie ihr Leben weiterleben, wie sie es zuvor getan haben und ihn längst vergessen haben?

Eigentlich ist es egal, denn er wird sicherlich nicht zurückkommen und es somit niemals erfahren. Er ist sich aber sicher, dass er seine Familie nicht vergessen wird und hofft, dass die anderen auch ab und zu an ihn denken.

Bald lichtet sich der Wald erneut. Slavko überquert ein graues Band und umrundet eine weitere Ansammlung von menschlichen Behausungen. Dann schwimmt er durch einen kleinen Fluss und hat schon wieder eine Ansammlung an Behausungen vor sich. Offensichtlich ist er in einem Gebiet, wo es viele Menschen gibt. Das gefällt ihm nicht. Er ändert seine Richtung. Wendet sich der untergehenden Sonne zu. Doch auch hier wird es nicht besser. Wieder ändert er seine Richtung und überquert ein großes graues Band. Nur, um dann eine dieser schnaufenden Schlangen der Menschen vor sich zu haben. Vorsichtig schleicht er näher heran. Sie stößt einen lauten Warnschrei aus. Erschrocken rast Slavko davon. Sie folgt ihm nicht. Dann erst erinnert er sich daran, dass sie sich nur auf ihrer vorgegebenen Strecke bewegen kann. Das hatte er ganz vergessen.

Er war so fixiert auf die schnaufende Schlange, dass er zunächst nicht bemerkt hat, dass in seiner Nähe eine Gruppe Menschen aufgetaucht ist. Nun zeigen sie mit ihren Vorderpfoten auf ihn und brüllen währenddessen laut. Slavko beschleunigt seine Schritte und fällt in einen schnellen Galopp. In der Ferne kann er Bäume erkennen. Da hinten muss wieder ein Wald beginnen. Dort muss er hin. Er sieht sich nicht um, sondern rennt einfach immer weiter. So schnell ihn seine Pfoten tragen. Die Sonne ist bereits verschwunden. Die Schatten verbinden sich allmählich und gehen in die finstere Nacht über. Die Menschen sind ihm nicht gefolgt. Dennoch will er so schnell wie möglich wieder in ein Gebiet kommen, in dem er sich sicherer fühlt. Ein weiteres graues Band taucht vor ihm auf, dann kann er endlich in den Wald eintauchen. Eine der Rennhilfen ist ihm beim überqueren des grauen Bandes gefährlich nah gekommen und hat ein lautes Quietschen von sich gegeben. Aber das ist ihm egal. Es ist ihm egal, ob er kurz gesehen wird. Er will nur endlich wieder die schützenden Bäume um sich haben. In die Schatten eintauchen und selber zum Schatten werden, um sich wieder sicher zu fühlen.

Der Wald, in den er hineinrennt, ist ähnlich wie der Wald zuhause es war. Augenblicklich fühlt er sich besser. Hier kann er wieder ruhig atmen. Kann ein gemächlicheres Tempo anschlagen und in einen kraftsparenden Trab fallen, indem er einen Fuß vor den anderen setzt. Immer in einer Reihe. So könnte er ewig weiterlaufen.

Slavko nimmt einen verführerischen Duft nach Wild wahr. Wieder fällt ihm ein, dass er etwas essen könnte. Die Maus vom Vortag ist längst verdaut, sein Bauch ist dünn. Daher bleibt er stehen und lauscht. Schnuppernd hält er seine Nase in die Luft. Es riecht. Es riecht nach viel. Aber nichts ist direkt bei ihm.

Langsam geht er weiter. Geduckt. Unentwegt schnuppernd. Unentwegt lauschend. Es raschelt und wuselt. Bekannte und unbekannte Düfte vermengen sich. Er muss sich konzentrieren. Um so leicht und erfolgreich zu jagen wie seine Eltern, fehlt ihm die Erfahrung und die Gruppe. Aber jetzt riecht er etwas Interessantes. Etwas Krankes, das noch lebt. Zügig strebt er darauf zu. In seiner Nähe knackt ein Zweig. Welches Wesen ist so unvorsichtig?

Ein Verletztes. Jetzt kann er es sehen. Ein Reh. Es ist allein und es humpelt. Es kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Was für ein Glück. Slavko duckt sich und schleicht näher heran. Aber diese Vorsichtsmaßnahme hätte er sich sparen können. Als das Reh ihn entdeckt, bleibt es einfach ergeben stehen. Es weiß, dass sein Ende gekommen ist. So oder so.

Das Reh steht da, als hätte es auf Slavko gewartet. Kurz irritiert ihn das. Wenige Meter vor seiner Beute bleibt er stehen und starrt das zitternde Tier an. Schnell schüttelt er sich, um alle Verwirrung zu beseitigen. Sekunden später springt er es an und beißt ihm in die weiche Kehle. Im letzten Moment zuckt es zusammen und will doch noch davonspringen. Schlägt aus und windet sich. Dann ist der letzte Lebensfunke erloschen.

Slavko hat eine üppige Mahlzeit, die er ohne jegliche Mühe ergattern konnte. Das macht ihn stolz. Nun ist er sich ganz sicher, dass er gut für sich sorgen kann und nicht allein von Mäusen und Beeren leben muss. Hier hat er eine richtig fette Beute, von der er allein mindestens zwei, wenn nicht gar drei Tage essen kann, wenn ihm niemand anderes die Beute streitig macht. Dieser Gedanke lässt ihn erneut aufhorchen. Er hat noch keinen Raben und auch keine Krähen gesehen. Sonst waren sie immer schnell da, wenn seine Familie Beute gemacht hat. Ob es daran liegt, dass er hier fremd ist? Dass sie nicht wissen, dass sich hier ein Wolf herumtreibt, der ihnen einen zubereiteten Kadaver bereitstellt?

Er sollte aufhören, sich immer wieder über irgendetwas Gedanken zu machen. Er macht genau das, wovon er geträumt hat. Er ist bereits weit weg von seinen Eltern und hat hier die erste richtige Beute gemacht. Und das schon so kurze Zeit, nachdem er weggegangen ist.

Tief atmet er ein und dann taucht er seine Schnauze in den klaffenden Riss am Hals des Rehs. Er will endlich genießen, was er gerissen hat. Das Blut ist noch warm. Es riecht fantastisch. Viel besser als die Rehe, die er mit seiner Familie gejagt hat. Schnell leckt er das Blut auf, das ihm bereits über die Schnauze rinnt und reißt ein paar Brocken aus dem Hals. Dann wendet er sich lieber dem Bauch zu und reißt daran herum. Das Fleisch dort ist fetter und schmeckt daher noch besser. Bald hat er die Innereien freigelegt, die er mit besonderem Genuss verschlingt. Er ist froh, dass er das Reh mit niemandem teilen muss und einfach nehmen kann, was er will. Ohne Hast. Ohne Sorge, dass ihm die besten Bissen von einem anderen Wolf weggeschnappt werden.

Als sein Bauch dick und rund ist und er sich schwer und behäbig fühlt, lässt er sich neben seiner Beute nieder. Er legt den Kopf auf die Vorderpfoten und leckt sich über die immer noch nach Rehblut schmeckende Schnauze.

Warum ist er so froh über seine eigene Beute, die nur ihm gehört? War es nicht immer auch schön, im Rudel zu jagen? Sich eine Strategie zu überlegen, um erfolgreich zu sein? Und es war meist genug für alle da. Die Jagdstrategie kam stets von seinen Eltern. Er hat sich angepasst. Aber das war natürlich auch gut so. Seine Eltern haben deutlich mehr Erfahrung. Er hat viel von ihnen lernen können.

Genug, um alleine erfolgreich zu sein? Heute ist er sehr erfolgreich gewesen. Aber heute hat er auch Glück gehabt. Dessen ist er sich bewusst. Das Reh hat quasi auf ihn gewartet und sich ihm angeboten. Er war die Erlösung für dessen Schmerzen. Es würde nicht immer so leicht werden. Er würde noch viel lernen müssen und viele Misserfolge hinnehmen müssen.

Vielleicht hätte er noch länger bei seinem Rudel bleiben sollen, um mehr zu lernen. Aber diese elendige Unruhe in ihm hat ihn fortgetrieben. Er kann selber nicht sagen, warum diese so stark in ihm gewütet hat. Einige seiner Geschwister sind da ganz anders. Sie wollten erst noch sehr viel mehr lernen und älter werden, bevor sie gehen. Noch ein wenig länger das Vertraute und die Gemeinschaft genießen, bevor sie sich auf eigene Beine stellen, was auch bedeutet, erstmal in die Einsamkeit hinauszuziehen.

Das kann Slavko gut verstehen. So ist das auch normal. Dadurch können sich die älteren Geschwister um die jüngeren Geschwister kümmern und erst, wenn diese groß geworden sind und wieder neue Welpen angekommen sind, denken viele ältere Geschwister daran, wegzugehen, um eine eigene Familie zu gründen. So können sie die Eltern lange genug unterstützen und nur so können sie als Rudel jagen. Mit kleinen Welpen im Schlepptau ist das wesentlich schwieriger. Und die Welpen allein zurück zu lassen, während die anderen jagen, birgt immer eine Gefahr für die Kleinen. Seine gleichaltrige Schwester hat in letzter Zeit öfter auf die Welpen aufgepasst, während die anderen auf Beutezug gegangen sind.

Üblicherweise ist die Suche nach einem Partner der Grund, wegzugehen. Andere Wölfe verlassen ihre Familien, weil sie in einem eigenen Territorium leben wollen, zur Not auch ohne Partner. Doch wenn sie nicht alleine bleiben, sondern ein Rudel gründen wollen, benötigen sie einen passenden Partner. Das heißt, sie müssen nach einem suchen, denn es kommt selten vor, dass der einfach vorbei spaziert kommt. Seine beiden älteren Schwestern hatten offensichtlich darauf gewartet. Sie wollten nicht weg. Sie wollten, dass der Traumwolf vorbeikommt und sie direkt neben dem Revier ihrer Eltern ihr eigenes Revier gründen können. Doch dieser Traumwolf kam nicht und so sind doch sie es gewesen, die sich auf die Suche gemacht haben. So wie es alle – oder zumindest die meisten - Wölfe zuvor gemacht haben.

Ungewöhnlich war, dass seine beiden Schwestern gemeinsam gegangen sind. Sie wollten offensichtlich etwas Vertrautes bei sich behalten und sich nicht gänzlich ins Unbekannte stürzen. Vielleicht waren sie sogar unter den Wölfen, die Slavko am Tag zuvor hat heulen hören. Dann hätte er ihnen gar nicht ausweichen müssen, sondern sie besuchen können. Sie hätten ihn sicherlich nicht angegriffen. Aber vielleicht waren es auch fremde Wölfe, denn es waren mehr als zwei. Jedenfalls hofft er, dass es seinen Schwestern gut geht und sie so nah beieinander leben, wie sie es sich gewünscht haben.

Slavko wäre fast mit ihnen mitgegangen. Hatte ihnen hinterher sprinten wollen. Aber er hatte erkannt, dass er nur seiner Sehnsucht hatte folgen wollen. Nicht seinen Schwestern.

Der Sehnsucht, wegzugehen. Hinaus in die weite Welt. In die unbekannte Welt. Er hat nicht nach einer Partnerin Ausschau gehalten. Ihn lockte das Abenteuer. Und das tut es immer noch. Auch wenn es in seinem Magen mittlerweile immer mehr grummelt. Ein Grummeln der Unsicherheit, ob er die richtige Entscheidung getroffen hat. Viele entscheiden sich wie seine jetzigen Geschwister dazu, doch noch länger im Schoß der Familie zu bleiben und die Sicherheit und die besondere Gemeinschaft zu genießen. Auch ihm ist es schwergefallen, dieses Gefühl der Geborgenheit aufzugeben.

Aber die Verlockung der Ferne ist immer größer geworden. Zum Glück hat ihn seine Mutter verstanden und ihn irgendwann freiwillig ziehen lassen. Dieses Einverständnis war wichtig für ihn, denn seine Mutter bedeutet ihm nach wie vor viel. Auch wenn er sie ebenso wie die anderen aus seinem Rudel nicht mehr wiedertreffen wird, so hat er dieses Einverständnis dennoch gebraucht, um seiner inneren Unruhe folgen zu können.

Und, das versteht er jetzt, er braucht es auch ganz dringend, um nicht mit seinem Entschluss so sehr zu hadern, dass er wieder umkehrt, sondern mit gutem Gefühl dabeibleiben kann. Bei dem Entschluss, seinen eigenen Weg zu suchen. Sich auf den Weg zu machen. Er braucht keine Frau. Zumindest im Moment ist ihm noch nicht danach zumute. Vielleicht ändert sich das irgendwann. Wer weiß? Noch ist er sehr jung. Er hat noch nicht einmal zwei Winter erlebt. Aber bald. Bald würde neben der Kälte auch der Schnee kommen, der den Winter meist begleitet.

Er möchte vorerst allein bleiben und nur seiner eigenen Nase folgen. Er geht, wohin es ihn spontan treibt und will sich niemandem anpassen. Ist es das, wonach er gesucht hat? Er ist sich nicht sicher. Aber das ist ihm jetzt auch egal. Er will nicht weiter nachdenken. Er will weiterziehen. Zu viel denken tut ihm nicht gut. Es erzeugt nur Durcheinander.

Ohne diese verwirrenden Gedanken ganz abschütteln zu können schläft er ein und wacht erst auf, als die Sonne bereits wieder lange Schatten wirft. Die Reste des Rehkadavers liegen noch da, wo er sie zurückgelassen hat. So kann er sich ein zweites üppiges Mahl gönnen, bevor er sich wieder auf den Weg macht. Die letzten Überreste überlässt er den Raben, die sich mittlerweile auch hier eingefunden haben und ihn neugierig beäugen.

Slavko hört das Murmeln von Wasser und läuft drauf zu, bis ein kleiner Fluss vor ihm auftaucht, in den er hineinspringt. Der Fluss ist so flach, dass er hindurch waten kann und kaum einen nassen Bauch bekommt. In dieser Gegend gibt es viele kleine Flüsschen. Ein graues Band hat er hingegen schon länger nicht mehr überquert und auch menschliche Behausungen hat er eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Er betritt eine lange offene Fläche und trabt darauf weiter. Er fühlt sich gut. Gut und sicher. Hier wäre ein geeignetes Gebiet für ein Wolfsrudel, denkt er sich. Aber nicht für ihn. Er will seine Reise nicht zu schnell beenden, denn er hat sie gerade erst begonnen. Er will erst noch ganz viel sehen. Mindestens einmal die hohen Berge, die er von seinem heimatlichen Hügel so oft in der Ferne hat aufragen sehen. Wieso sollte er sich hier schon alleine niederlassen? Er hat das nicht vor, denn es ist nicht das, wonach er sich momentan sehnt. Er will nicht der Wartende sein, er will immer weiterziehen. Auch seine Schwestern haben es aufgeben müssen, auf den Traumwolf zu warten. Sie mussten doch aufbrechen, um selber nach ihm zu suchen.

Und was sucht er selber? Das weiß er nicht so genau. Er will eine Vielzahl an Gerüchen, Tönen, Geschmäckern und Bildern in sich aufnehmen, bis er ganz erfüllt davon ist.

In weiter Ferne hört Slavko ein Heulen. Irgendwo links von ihm, wo zuvor die Sonne untergegangen ist. Um einen besseren Überblick zu bekommen, erklimmt er den Hügel vor sich, anstatt ihn zu umrunden. Die Kuppe ist nicht bewaldet, sondern nur mit Gras bewachsen. So kann er überall gut hinsehen. Er dreht sich langsam im Kreis. In zwei Richtungen türmen sich die großen Berge auf. Slavko ist fasziniert. So nah ist er ihnen noch nie gewesen. Doch von den näher liegenden Bergen haben sich die anderen Wölfe bemerkbar gemacht.

Auf der gegenüber liegenden Seite wird ein riesengroßes Feld menschlicher Behausungen sichtbar. Es scheint unendlich groß. Als würden alle von ihnen dort zusammenkommen, um dort zu wohnen. Manche der Behausungen wirken so überdimensional, als würden Riesen dort wohnen. Unglaublich hoch, wie er es noch nie zuvor gesehen hat. Gerne würde er sich die mal aus der Nähe ansehen und an ihnen schnuppern. Es macht ihn neugierig. Aber er will lieber vorsichtig sein und sich von den Menschen fernhalten. Die letzte verbliebene Richtung wäre die zurück. Die kommt auf keinen Fall in Betracht. Also wählt er die, in die er zuvor schon gelaufen ist. In Richtung der hohen Berge, aus denen kein Wolfsgeheul gekommen ist.

Zufrieden, eine eindeutige Entscheidung getroffen zu haben, macht er sich an den Abstieg auf der anderen Seite. Er kommt erneut an einen kleinen Fluss. Direkt dahinter befindet sich ein graues Band. Das Ufer auf der anderen Seite ist steil und bietet keine Deckung. Dort sind nur Steine. Ungesehen wird er nicht beides überqueren können, denn auf dem grauen Band bewegen sich viele Rennhilfen.

Slavko legt sich auf den Boden und wartet, dass die Nacht ihm hilft. In dieser Nacht wird es allerdings nicht vollkommen dunkel, denn der Mond steht groß und rund am Himmel und zaubert mit seinem diffusen Licht tanzende Schatten auf den Boden. Aber er will nicht ewig zögernd daliegen und warten.

Also macht er sich endlich auf den Weg durch den Fluss. Als er den Abhang auf der anderen Seite erklimmt, kullern ein paar Steine nach unten und platschen in den Fluss. Slavko ist frustriert darüber, was für einen Lärm er macht. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Schnell kämpft er sich ganz nach oben und springt über den glatten graubraunen liegenden Ast, der die meisten grauen Bänder in Augenhöhe begleitet und rennt so schnell er kann auf die andere Seite. Er hört etwas quietschen. Aber er dreht sich nicht um, sondern sieht zu, dass er Abstand zu den menschengemachten Dingen gewinnt und so schnell wie möglich so viele Bäume wie möglich zwischen sich und das graue Band bringt.

Erst als er erneut an ein graues Band kommt, hält er an. Dieses ist deutlich schmaler und vollkommen leer. Nichts und niemand bewegt sich hier. Er kann sich wieder entspannen. Langsam trippelt er in die Mitte des Bandes und gönnt es sich diesmal, an dem Material zu schnuppern und zu lecken. Es riecht ein wenig wie Steine gemischt mit Sand und Erde und noch etwas ist dabei, das er nicht kennt. Er prägt sich den Geruch ein und fügt es zu der Geruchskarte in seinem Kopf hinzu.

Slavko befindet sich an einer riesengroßen Wiese im Wald, die er vorsichtig betritt. Es dämmert bereits. Rechts von ihm geht die Sonne auf. Doch hier findet er nirgends ausreichend Schutz. Also trabt er weiter. Ruhig, aber zügig. Im wolfstypischen energiesparenden Gang, bei dem er einen Fuß vor den anderen setzt, so dass seine Abdrücke eine Linie ergeben.

Als er fremdartige Geräusche hört, hält er inne und duckt sich in das halbhohe Gras. Die Geräusche kommen von links und werden immer lauter. Eine Mischung aus dem Stampfen von Menschenfüßen, dem Gebell von Hunden und einem eigenartigen Brummen. Dann hört er einen lauten Knall und zuckt zusammen. Das muss einer dieser Totmacher-Stöcke der Menschen sein. Das hat er schon einmal gehört.

Kurz darauf ertönt dieses beängstigende Geräusch zum zweiten Mal, näher diesmal. Er ist sich nicht sicher, ob die Hunde seine Witterung aufgenommen haben. Also erhebt er sich und entfernt sich in einem schnellen Galopp von den Geräuschen. Er rast in die entgegengesetzte Richtung davon und hat den Eindruck, dass die Hunde ihm folgen. Also wird er noch schneller und hofft, dass diese verfluchte Lichtung bald zu Ende ist und er in den Wald eintauchen kann.

Die Hunde werden leiser. Sie fallen zurück. Dennoch rennt Slavko weiter, bis er wieder in den wohltuenden vertrauten Schatten der Bäume schlüpfen kann. Dazu muss er nochmal ein graues Band überqueren und durch einen Fluss hindurch. Er rennt einfach, ohne auf irgendetwas rechts und links von sich zu achten. Zum Glück ist das graue Band leer der Fluss schmal und flach, sodass er fast ungebremst weiterrennen kann.

Erst ein gutes Stück dahinter, als er schon mitten im Wald ist, wird er langsamer und schließlich hält er an. Das erste Mal in seinem Leben fühlt er sich ausgelaugt. Er braucht dringend etwas zu trinken. In seiner Angst hat er bei der Flussdurchquerung nicht daran gedacht, seinen Durst zu stillen. Er hätte dort auch auf keinen Fall stehen bleiben wollen.

Also ruht er sich nur kurz aus und trabt dann langsam weiter. Diesmal ist seine Aufmerksamkeit auf den Boden gerichtet. Er achtet auf die Gerüche und Geräusche des lichten Waldes. Mittlerweile ist es taghell. Die Sonne ist dennoch nicht zu sehen. Der Himmel ist tief grau.

Auf einer offenen Fläche ohne Bäume findet er eine kleine Pfütze, aus der er ein paar Schlucke trinken will. Doch das Wasser ist hart. Er kann es zwar mit seiner Zunge flüssig lecken. Verwundert ist er aber dennoch.

Dann fallen weiße Flocken vom Himmel. Zaghaft. Vereinzelt. Und setzen sich auf Slavkos Nasenspitze. Er schnappt danach. Doch schon sind sie verschwunden. Die Flocken werden mehr. Immer wieder schnappt Slavko nach ihnen. Doch alle lösen sie sich wieder auf, bevor sie in seinem Maul ankommen. Slavko dreht sich im Kreis. Als es noch mehr werden, hat er das Gefühl, Wasser zu trinken. Erschöpft aber neugierig legt er sich ins Gras und wartet eine Weile.

Plötzlich hat er eine weiße Pfote. Er leckt daran und leckt kaltes Wasser. Interessant. Das muss er sich merken. Wenn man Schnee aufleckt, kann man Wasser trinken. Schnee ist noch toller, als er ihn aus dem vorigen Jahr in Erinnerung hat, wo er ihn das erste Mal kennen gelernt hat. Diesen interessanten Aspekt hat er gar nicht mehr in Erinnerung. Er weiß nur noch, dass es Spaß gemacht hat, wenn seine Umgebung unter einer dicken weißen Schicht begraben war.

Da nun die gesamte baumlose Fläche mit einer dünnen weißen Schicht überzogen ist, kann Slavko nicht anders, als wieder herumzuspringen, in den Schnee zu beißen und sich im Kreis zu drehen. Dann stellt er fest, dass man an manchen Stellen ausrutscht, wenn man nicht aufpasst. Auch das kann genutzt werden. Er nimmt Anlauf, lässt sich auf seinen Hintern fallen und genießt es, ein paar Meter weit zu rutschen. Es macht so viel Spaß, dass er es mehrmals wiederholt. Doch es funktioniert nicht überall, sondern nur an den freien Stellen ohne Bäume, an denen der Schnee ungehindert den Boden erreicht hat. Ein wirklich zauberhaftes Zeug.

Irgendwann ist er zu müde zum Spielen und rollt sich unter einer Fichte zusammen. Während er schläft, träumt er von viel mehr Schnee und von hohen Bergen, die er hinaufläuft. Oben ist er dem Himmel ganz nah und glücklich.

Slavkos Reise

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