Читать книгу Ich war ein Kind der DDR - Margarithe W. Mann - Страница 4
Kinderzeit
ОглавлениеMeine Wenigkeit wurde am 3. April 1953 in Saalfeld geboren. Meine Mutter berichtete mir später, dass dieses Ereignis genau an einem Karfreitag mit herrlichem Frühlingswetter gewesen sein soll. Ich kam nicht im Krankenhaus zur Welt, sondern in einer kleinen Privatklinik meiner Heimatstadt Saalfeld in Thüringen. Diese kleine Klinik befand sich in der Oberen Straße, etwa da, wo ein paar Jahre später unser Zahnarzt Dr. Baumgärtl seine Praxis inne hatte. Ebenfalls zu DDR – Zeiten praktizierte dort unter anderem der Allgemeinmediziner Dr. Alexej, und auch gegenwärtig betreuen Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen an dieser Stelle ihre Patienten. Man kann dieses Gebäude auf Grund seiner Umstrukturierung, nach dem Bau des städtischen Krankenhauses, als Ärztehaus bezeichnen.
Der erste Spatenstich für das Krankenhaus in Saalfeld erfolgte am 19. November 1953. In späteren Jahren, am 16. März 1961 bekam es den Namen: „Agricola – Krankenhaus“. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich seit der Wende die genannte Einrichtung „Thüringenklinik“ nennt. Im Jahr 2013 begann man dort mit dem Anbau eines neuen Traktes für Neurologie und Psychatrie als Ergänzung des Klinikums, der am 5. Juni 2015 eröffnet wurde.
1962 wurde für das damalige Personal des Krankenhauses ein Schwesternwohnheim in unmittelbarer Nähe erbaut. Es existiert gegenwärtig noch immer und gehört meines Wissens in einer Form zum Komplex der Altenpflegeeinrichtung der AWO am Rainweg.
Die Frau des damaligen Chefarztes Dr. Kraus, eben dieser vorhin genannten früheren kleinen Privatklinik in der Oberen Straße, hat zu besagter Zeit für die Wöchnerinnen gekocht und gebacken. Meine Mutter spricht noch heute davon, wie schön diese individuelle Betreuung gewesen ist. Wenn man bedenkt, dass der 2. Weltkrieg erst am 2. September 1945 zu Ende gewesen ist, waren bis zum Jahr meiner Geburt, also 1953, gerade einmal 8 Jahre vergangen. So kann man die Zeit in der ich zur Welt kam durchaus noch als Nachkriegsjahre bezeichnen. Also eine Zeit, in der die Versorgung der Bevölkerung nicht gerade üppig war. Die DDR wurde wie man weiß am 7. Oktober 1949 gegründet, nachdem zuvor im September 1949 der westdeutsche Separatstaat errichtet wurde. Die Verfassung der DDR trat in Kraft und Wilhelm Pieck wurde am 11. Oktober 1949 zum Präsidenten der DDR gewählt und blieb in diesem Amt bis zu seinem Tod am 7. September 1960.
Meine Großeltern und auch meine Eltern erzählten mir später von diesen schweren Jahren nach dem Krieg und vom Wiederaufbau des Landes. Es fielen die Worte, wie Ruinen, Trümmerfrauen und der Satz: Viel Arbeit hatten sie und wenig Brot. Männer und Söhne kamen ausgemergelt und krank aus Krieg und Gefangenschaft zurück, … wenn sie überhaupt zurückkehrten. Junge Mädchen und Frauen, die durch die Zeit des Krieges viel entbehren mussten, wurden nun als junge Mütter gut versorgt. Der Aufenthalt in dieser kleinen Klinik war im Gegensatz zu Heute relativ lang, den Müttern wurde viel Ruhe verordnet. Heute verfolgt man nicht nur dahingehend andere Richtlinien.
Gewohnt haben wir nach meiner Geburt zusammen mit den Großeltern mütterlicherseits in der Leninstraße, die nach der Wende wieder ihren alten, ursprünglichen Namen Knochstraße erhielt. Dieses Haus in der Leninstraße steht übrigens noch heute, es befindet sich vom Oberen Tor kommend, in etwa auf halber Länge dieser Straße auf der linken Seite. Das alte Haus hat noch heute den original gemauerten Balkon in Richtung Straßenseite.
Mein Opa, der wie meine Oma aus Johannesthal ( Polen )stammte, war zu dieser Zeit Kreistuberkulosearzt und arbeitete in der Tuberkuloseberatungsstelle am Promenadenweg, genau da, wo heute das Polizeikreisamt ist. Allerdings hat man es vorgezogen, dieses Polizeikreisamt dem schönen alten Gebäude, eben dieser Tuberkuloseberatungsstelle, vor die „Nase zu setzen“, warum auch immer. Wahrscheinlich spielen ungeklärte Besitzansprüche eine Rolle, wie so oft. Ich habe mir vorgenommen, mich diesbezüglich einmal genauer zu informieren und nach dessen Erfolg dazu ein paar Zeilen ergänzen.
Sehr oft fuhr mein Opa auch in seine Praxis nach Lobenstein und Lauscha, wo er sich ebenfalls intensiv um seine Patienten kümmerte. Ich habe mir sagen lassen, dass mein Großvater ein sehr guter Arzt gewesen ist, der jeden einzelnen Patienten liebte und dem der Eid des Hippokrates noch etwas bedeutete. Damals stand noch der Mensch im Vordergrund, heute ist es der Profit, aber dazu komme ich später noch. Als angehender junger Mediziner versorgte und betreute er während des ersten Weltkrieges verletzte Soldaten auf dem Schlachtfeld und im Lazarett. Nach dem Krieg nahm er seine verantwortungsvolle Aufgabe als Landarzt auf. Auch nach dem 2. Weltkrieg, (als Lagerarzt verpflichtet), setzte er seine Tätigkeit als Landarzt fort und erarbeitete sich später den Titel Medizinalrat um als Kreistuberkulosearzt zu fungieren. Während seiner damaligen Dienstjahre als Landarzt waren die Bedingungen äußerst erschwert, besonders im Winter. Oft musste er seinen Weg zu Fuß oder auch mit den Skiern fortsetzen, wenn der Schnee so hoch war, dass selbst der Pferdeschlitten stecken blieb. Dennoch gab es für meinen Opa niemals ein: Das geht nicht. Auch in den fünfziger Jahren, als er dann mit dem Auto fahren konnte, es war zu dieser Zeit ein alter BMW, endete die Fahrt nicht selten auf freiem Feld in einer Schneewehe. Als beliebter „ Herr Doktor“, wie ihn die Leute nannten, schaffte er sich eine gewisse Position, die ihm einen äußerst guten Ruf einbrachte. Natürlich gab es im Krieg und auch in den Jahren danach sehr viele Menschen, besonders bei der Landbevölkerung, die zwar durch ihre Landwirtschaft genug zu essen, aber kein Geld hatten, um einen Arzt bezahlen zu können. Sie entlohnten meinen Opa mit Naturalien, die er dann an die ärmsten Patienten weitergab, wenn er zu ihnen zum häuslichen Arztbesuch gerufen wurde und er sie besuchte. Er brachte ihnen also noch etwas mit, anstatt entlohnt zu werden. Seine Hosentaschen waren stets gefüllt mit Bonbons für die Kinder. Vom erzählen meiner Mutter weiß ich, dass meine Oma dann immer sagte: „Meine Güte Gottfried, so wirst du nie zu etwas kommen“. Aber er antwortete nur: „Ach lass` nur Wally, wir haben doch immer noch genug“.
Meine Großmutter Walburga war in meinem Geburtsjahr 1953 als Lehrerin für die Fächer Mathematik, Musik und Handarbeiten bereits in Rente. Sie war übrigens so ziemlich die einzige in unserer Familie, die gut singen und rechnen konnte. Alle anderen Familienmitglieder sind bis in die heutige Zeit hinein als total unmusikalisch und als „Mathematikkünstler“ zu bezeichnen.
Die Eltern meines Vaters und seine älteste Schwester stammten ursprünglich aus Oldenburg in Niedersachsen, zogen später nach Osterburg (Altmark) und bauten ein Haus, indem mein Vater 1928, geboren wurde, so wie auch noch zwei weitere Schwestern meines Vaters. Mein Opa väterlicherseits war Schneidermeister und besaß seine Werkstatt im Hof. Die Mutter meines Papas durfte ich leider nicht mehr kennenlernen. Wie gesagt bin ich zu Ostern 1953 geboren und die Oma verstarb plötzlich zu Pfingsten des gleichen Jahres, bevor sie uns besuchen und mich in Augenschein nehmen konnte. An meinen Großvater väterlicherseits kann ich mich nur sehr wage erinnern, er heiratete nach dem Tod meiner Oma noch einmal. Nach den Berichten meiner Mutter soll dessen Wahl nicht so recht im Sinne der übrigen Familie gewesen sein, wohl auch, weil der Opa sich so schnell entschied, ein zweites Mal zu heiraten. Mir selber kommt es nicht zu darüber zu urteilen. Mir ist nur der letzte Besuch in Erinnerung geblieben, an dem ich meinen Opa im Krankenhaus Osterburg mit den Eltern besucht hatte. Seine Haut war ganz gelb, heute weiß ich, dass er eine Lebererkrankung hatte, 1960 ist er verstorben.
Mein Papa, 1928 geboren, war zu der Zeit, als ich in das weltliche Dasein eintreten durfte, Leiter der Konsumgenossenschaft in Saalfeld und meine Mutter Waldheide, 1923 geboren, war mit mir ein Jahr zu Hause. Das war zu dieser Zeit nur möglich, weil sie von meinem Opa finanziell unterstützt werden konnte.
Die Eltern meiner Mutter, sowie meine Mutter selber, stammten wie schon gesagt aus Oberschlesien und gelangten 1948 während der Flucht über Brünn (Tschechien) nach Pirna (ehemalige russische Besatzungszone). Von da aus zogen sie, bedingt durch die Tätigkeit meines Großvaters über Eggesin nach Neubrandenburg, um schließlich 1950 in Saalfeld sesshaft zu werden. Meine Mutter hatte noch eine Schwester, Sieglinde, die in diesen Jahren im Harz wohnte und auch wie ihr Mann Theo im Gesundheitswesen arbeitete, beide waren sie Apotheker.
Im Sommer 1953 zogen meine Großeltern, sowie auch meine Eltern mit mir in der Sonneberger Straße in ein Mehrfamilienhaus. Gemeinsam mit uns wohnte dort auch noch der Bruder meiner Oma, mein Onkel Josef, der, um es vornehm auszudrücken, etwas speziell war. Gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich über viele Jahre hindurch die naturkundliche Sammlung des Forschungsreisenden Emil Weiske.
Habt Ihr eigentlich schon gewusst, dass ich bereits als Baby in der Regionalzeitung von mir zu hören machte? Nein? Dann will ich es euch verraten: Ich war das erste Kind, welches in diesen Jahren in Saalfeld und Umgebung gegen Tuberkulose geimpft wurde. Was glaubt ihr wohl, wer mich geimpft hat? Genau, es war mein Opa als Kreistuberkulosearzt persönlich.
Als ich etwa ein Jahr alt war zogen meine Eltern mit mir nach Lauscha. Wir hatten dort eine Wohnung im gleichen Haus, in der sich auch die Dienststelle meines Großvaters und ein Labor befand. Man könnte es auch als kleines Ärztehaus bezeichnen. Es war ein großes Mehrfamilienhaus im oberen Lauscha in der Friedensstraße. Wie gesagt hielt dort mein Opa einen Teil seiner Sprechstunden mit integrierter Röntgenabteilung ab. Meine Mutter nahm als Laborantin im gleichen Haus ihre Arbeit auf. Mein Vater bekleidete das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters im Rathaus der Stadt Lauscha. Und ich? … ich sollte natürlich in der Kinderkrippe untergebracht werden. Allerdings machte ich meinen Eltern damit einen Strich durch ihre Rechnung, … ich war ein ständig kränkelndes Kind. Also suchte mein Opa für mich ein Kindermädchen und hatte dann endlich beim dritten Anlauf Glück damit. Das erste Mädchen war unehrlich und wurde beim Stehlen erwischt. Das andere Mädchen, welches sich um mich kümmern sollte, hatte für mich kleine Mohnsäckchen angefertigt und mir diese wie einen Nuckel in den Mund gesteckt, damit ich schlafen sollte. Sie wollte nicht so viel Arbeit mit mir haben.
Während wir in dieser Dienststelle wohnten, prägten sich erste Erinnerungen in meinem Leben ein. An alle einzelnen Begebenheiten meiner ersten Lebensjahre, sowie an diese Wohnung kann ich mich natürlich nicht mehr im erinnern. Ganz wage tauchen noch Bilder vor mir auf, von einer relativ großen Küche zum Beispiel, in der ein Tisch in der Mitte stand. Ich weiß aber noch, dass mein Opa öfter mit uns an diesem Tisch saß, sicher immer dann, wenn er zwischen seinen Sprechstunden eine Pause gemacht hatte.
Es ist natürlich klar, dass ich als Kleinkind von den wirtschaftlichen Verhältnissen im Land nichts mitbekommen habe, sondern diese Dinge später von meinen Eltern erfragen musste. So berichtete man mir unter anderem, dass es zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten gab. Das heißt, jeder Haushalt hatte nur ein bestimmtes Kontingent an Waren zur Verfügung, jeder Einkauf musste sorgfältig bedacht werden. Diese Karten waren in bestimmte Rubriken eingeteilt, die bei jedem Einkauf vom Verkäufer abgeschnitten wurden. So gab es zum Beispiel Abschnitte für Süßigkeiten, es konnte gewählt werden zwischen Zucker oder Schokolade. Erst im nächsten Monat gab es dann eine neue Karte. Man musste also genau überlegen, wie man diese Dinge einteilte, oder ob es vielleicht gerade ein Monat war, in dem jemand Geburtstag hatte und man deshalb diese Karte für den Kuchen, für Schokolade oder Kakao benötigte. Wie für die Lebensmittel gab es Karten für Textilien, auch Windeln gehörten zur Bekleidung. Die Eltern mussten sich entscheiden, entweder gab es etwas zum Anziehen für Mama oder Papa, … oder Windeln für mich. Man erzählte mir, dass eine Schwester meiner Oma den Stoff für die Windeln aus Westdeutschland schickte und meine Oma nähte für mich die Windeln daraus. Die Kleider – und auch die Lebensmittelkarten wurden erst 1958 abgeschafft.
Staatsoberhaupt der DDR war in diesen Jahren als Präsident des Landes Wilhelm Pieck (1949 – 1960). Eigenen Erinnerungen zur Folge lebt in mir die Tatsache, dass ich immer genug zu essen hatte. Ich glaube, dass das ein Kriterium ist, was sich im frühsten Kindesalter manifestiert. An Zeiten, in denen man hungern musste, an die erinnert man sich mit Sicherheit, die vergisst man auch als Kind nicht. In diesem Zusammenhang ist mir in Erinnerung geblieben, dass meine Mutter immer in einem großen Geschäft einkaufte. Am Abend klingelte es an der Tür und jemand brachte die große Einkaufstasche zu uns nach Hause. Das gibt es wohl heute auch noch, aber nicht mehr unentgeltlich, … damals gehörte das noch zum Service.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich nicht so sehr gerne in meinem Kinderwagen, in der Sportkarre wie man sagte, gesessen habe, sondern diese lieber selber schieben wollte. Jedes mal sagte dann meine Mutter: „Wenn ich dich jetzt aus dem Wagen nehme weil du laufen willst, kannst du aber nicht mehr zurück in deinen Wagen, deine Schuhe sind dann ganz schmutzig! “. Sie hob mich meistens doch heraus, ich hielt mich links und rechts an der Lenkstange der Karre fest und watschelte genau vor den Füßen meiner Mutter weiter. Manchmal stolperte sie über mich und stöhnte, sicher ging es ihr nicht schnell genug.
Irgendwann kam das Kindermädchen nicht mehr und ich war viel bei meinen Großeltern in Saalfeld, vorwiegend bei der Oma, denn der Opa war noch vollauf beschäftigt mit seinen Patienten. Ich war sehr gern in Saalfeld bei Oma und Opa, … ich bin nie gern in so eine Kindereinrichtung gegangen. Das war für mich eine äußerst leidige Angelegenheit, an die ich mich nicht gewöhnen konnte und die ich noch heute deutlich vor Augen habe. Wenn ich nicht bei den Großeltern sein durfte oder konnte, dann „schleppte“ man mich eben dort hin. Die einzige „Tante“, die ich in meiner Zwangslage ein wenig mochte und die mir den Aufenthalt dort erträglich machte war die Tante „Mietzi“, vielleicht weil sie ganz oft mit uns gesungen hat. Ich glaube, nur ganz wenige Kinder kennen heute noch das Lied:
„Hänschen klein, ging allein in die weite Welt hinein,
Stock und Hut steht ihm gut, er ist Wohlgemut,
aber Mama weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr...“
oder das Kreisspiel:
„Petersilie, Suppenkraut wächst in unserm Garten,
Unser Hannchen ist ne Braut, soll nicht länger warten!
Roter Wein, weißer Wein
morgen soll die Hochzeit sein“.
Oder wie wäre es mit:
„Häschen in der Grube saß und schlief,
armes Häschen, bist du krank, dass du nicht mehr
hüpfen kannst?
Häschen hüpf, Häschen hüpf“.
Ich weiß nicht mehr, wie die Tante Mietzi mit richtigen Namen hieß, ich erinnere mich nur an eine bunte Strickjacke die sie immer trug. Bestimmt weil ich eben so schrecklich ungern in den Kindergarten ging, war ich auch weiterhin sehr oft krank und mein Opa holte mich zurück nach Saalfeld. Auf einmal war dann die Welt wieder für mich in Ordnung. Es war nie langweilig bei Oma und Opa. Ich weiß noch wie heute, dass eines Tages ein fremder Mann kam, der einen großen Kasten mitbrachte und im Wohnzimmer meiner Großeltern auf einen Schrank stellte. Der Mann beschäftigte sich eine ganze Weile damit und meine Oma stand dabei und sah ihm zu. Auf einmal wurde der geheimnisvolle Kasten vorne ganz hell, es war ein Bild zu sehen und das bewegte sich sogar: Ein Fernseher. Ich habe noch genau die Worte meiner Oma im Ohr, die zu mir sagte: „Schau mal, wie die Manneln umherlaufen, alle nur hinter einem einzigen Ball her, wenn jeder so einen hätte, dann brauchten sie nicht so arg zu laufen!“. Ich war fasziniert, schließlich hatte ich zuvor noch nie so etwas gesehen. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und versuchte hinter den Kasten zu schauen, ich konnte mir nicht erklären, wie diese Manneln, wie sie meine Oma nannte, in den Kasten hinein gekommen waren. Der Mann, der diese tolle Sache mitgebracht hatte lächelte auf mich herab und meine Oma begleitete ihn zurück zur Tür. Bestimmt hat sie auch über diesen Kasten gestaunt, denn sie hielt noch immer den großen Kochlöffel aus Holz in der Hand und eilte damit zurück in die Küche. Die Manneln, wie sie meine Oma bezeichnete waren Fußballspieler. Obwohl eben diese Fußballer das erste war, was ich in meinem Leben im Fernsehen gesehen hatte, blieb das Thema Fußball bis heute für mich so ziemlich das langweiligste was es im Leben überhaupt gibt. Aber dafür besaß meine Oma in der Küche etwas, womit ich am liebsten den ganzen Tag zugebracht hätte: Ein richtiges, echtes, großes Huhn. Ihr glaubt das nicht? Wenn ich es euch doch sage, ihr könnt es mir ruhig glauben, es war tatsächlich so. Es war groß, dick und braun und saß in einem richtigen Nest aus Stroh unter der Abwäsche. Früher, also zu meiner Kinderzeit gab es noch keine Anbauküchen, so wie sie heute modern sind, na und Geschirrspüler schon garnicht. Alle Schränke standen einzeln, sie waren nicht miteinander verbunden. Es gab einen großen Küchenschrank, einen Herd und einen Kühlschrank. Dieser hatte nur ein ganz winzig kleines Gefrierfach wo vielleicht gerade einmal ein Eis darin platz gefunden hätte. Einen Gefrierschrank kannten wir zu der Zeit noch nicht und ich ließ mir sagen, dass damals nicht einmal alle Leute in Besitz eines Kühlschrankes waren. Ich erinnere mich aber daran, dass der Kühlschrank mit einem Schlüssel abgeschlossen werden konnte. Neben dem Kühlschrank befand sich die eben genannte Abwäsche. Ihr wisst nicht, was das ist? Heute sagt man Spüle dazu, nur dass diese beiden Spülbecken nicht verkleidet waren und dadurch der Blick auf die Abflussrohre freigegeben wurde. An so etwas wie einen Geschirrspüler dachte wie schon gesagt zu dieser Zeit noch niemand. Mein Opa ließ von einem Handwerker ein Schränkchen mit zwei Vordertüren um diese Abwäsche bauen, … und in diesem Schränkchen wohnte das dicke Huhn, eine Glucke. Ich fand das genial, damals als Kind. Meine Oma legte Eier in das Strohnest, damit die Glucke Küken daraus machen sollte, … so jedenfalls waren meine kindlichen Gedankengänge. Ich war natürlich sehr neugierig und machte dauernd die Türen des Schränkchens auf, um zu sehen, ob die Küken schon da sind. Meine Oma meckerte dann immer und sagte, dass die Glucke gestört wird, wenn ich dauernd den Schrank auf und zu mache, aber ich musste doch sehen, was das Huhn den ganzen Tag da macht. Sobald meine Großmutter die Küche verließ, ging ich sofort zum Schränkchen zurück, öffnete die Türen und schaute nach. Aber die dumme Glucke gackerte jedesmal ganz laut und verriet dadurch mich und meine Neugier. Meine Oma kam dann sogleich herbei geeilt, ich machte schnell die Tür wieder zu und versuchte an den Luftlöchern an der Seite des kleinen Stalles etwas zu erkennen. Endlich war es soweit, eines Morgens hüpften piepsende, allerliebste kleine gelbe Bälle im Nest umher. Nach ein paar Tagen wurde mein Onkel Josef damit beauftragt, die ganze Hühnerfamilie nach unten in den Hof zu bringen.
In diesen Jahren stand, so wie bei meinen Großeltern auch, in den meisten Haushalten ein Sofa in der Küche. Die Küchen waren meist geräumig und fungierten als Wohnraum, wo sich so gut wie das ganze Familienleben abspielte, man bezeichnete es allgemein als Wohnküche. Im Wohnzimmer, in der so genannten „guten Stube“ hielt man sich seltener auf, meist war das nur zu Feierlichkeiten. Erst später, als es Den Fernseher in den meisten Familien gab, „zog“ man dann am Abend von der Wohnküche ins Wohnzimmer. Natürlich gab es auch noch keine moderne Heizung an der Wand oder gar im Fußboden. Ein Kohleherd musste angefeuert werden, wie man das nannte, damit es schön warm war in der kalten Jahreszeit. Man konnte auch sehr gut das Essen darauf warm stellen, zudem befand sich immer eine Kanne mit Malzkaffee auf der hinteren Seite des Ofens. Lange vor meiner Zeit wurde ausschließlich auf dieser Ofenplatte gekocht, aber nun gab es bereits dafür einen Gasherd neben diesem Ofen. Diese Kombination von Gasherd und Kohleherd war, so finde ich, eine geschickte Sache. Heute vermisst so mancher den alten Ofen nicht nur wegen der Kartoffeldetscher, die eben nur schmecken, wenn sie auf der guten alten Ofenplatte gebacken werden. Unter dem Kohleofen waren zwei Schubfächer, in einem davon lagen die Kohlen und in dem anderen das Holz, um das Feuer in Gang zu bekommen. Später nahm mein Opa ein Schubfach heraus und so bekam der schwarzbraune Kurzhaardackel Seppl seine Unterkunft. Links neben der Küchentür war ein altes kleines Ausgussbecken aus Emaille. Das benötigte man, als es vor meiner Zeit noch ganz alte Abwäschen gab, die noch keine Becken hatten, in die man zum Reinigen des Geschirrs das Wasser einlassen und dann danach wieder ablassen konnte. Das Geschirr wurde in Schüsseln abgewaschen. Dazu gab es Schränke mit zwei großen Schüsseln zum Einhängen. Ähnlich wie bei einer Besteckschublade zog man sie heraus, füllte die eine mit heißem Wasser und nutzte die zweite Schüssel zum Ablegen für das gesäuberte Geschirr. Es waren jene Jahre, in denen es auch noch keine Wasserboiler gab, die mit Hilfe des elektrischen Stromes heißes Wasser produzieren konnten. Das Wasser, auch zum Waschen, musste in großen Töpfen auf dem Kohleherd erhitzt werden, denn in den meisten Wohnungen gab es noch kein Badezimmer und nicht selten war die Toilette im Flur, eine Etage tiefer oder auf dem Hof.
Dieses kleine, eben genannte Ausgussbecken wurde von den Großeltern nicht entfernt, weil es zum Beispiel noch gute Dienste leistete, wenn man die Kartoffeln abgießen wollte, … oder einfach, um sich schnell einmal die Hände zu waschen. Neben der Küche war eine Speisekammer, alle Lebensmittel, die nicht unbedingt im Kühlschrank aufbewahrt werden mussten, konnten dort gelagert werden. Ich weiß noch, dass es schon damals reichlich Ameisen gab, mit denen meine Oma immer zu kämpfen hatte, sicher angelockt durch angebrochene Marmeladengläser, die meine Oma dann immer auf Teller mit Essig stellte. Die Wohnung in der Sonneberger Straße war für mich als kleiner Zwerg riesig und für damalige Verhältnisse schon fast so etwas wie eine Luxuswohnung. Warum? Weil diese Wohnung bereits ein gefliestes Bad hatte. Allerdings brachte dieses Bad einmal ein Schreckenserlebnis für mich mit sich. Als ich einmal hinein auf die Toilette geschickt wurde, da hing an der Seite, wo sonst immer die Handtücher am Haken zu finden waren ein toter Hase ohne Fell. Das war für mich so grauenvoll, dass ich bis heute keinen Hasenbraten essen mag. Sicher hatte ihn der Onkel Josef umgebracht, so formulierte ich es jedenfalls damals. Ich fand das voll gemein, dass man die Häschen erst fütterte, … und dann so etwas. Es bereitete mir immer viel Freude, gemeinsam mit meiner Großmutter im Hof die Hühner und die Hasen zu füttern.
Außerdem gab es bei Oma und Opa eine Seltenheit die Telefon hieß. Mein Opa benötigte dieses Telefon, damit er für seine Patienten erreichbar sein konnte. Zu dieser Zeit hing das Telefon an der Wand in der geräumigen Diele und hatte eine große Wählerscheibe. Es gab das „Fräulein vom Amt“. Die junge Dame war dafür zuständig, den einen Gesprächspartner mit dem anderen zu verbinden. Schade, dass das Telefon so hoch hing, dass ich es nicht erreichen konnte. Ich hätte es zu gern einmal ausprobiert und herausgefunden, wer sich hinter diesem Ding versteckt.
Mein Großvater ließ die Verbindungstür zwischen der Küche und der großen Diele entfernen und stattdessen wurde eine Schaukel für mich aufgehängt. Das fand ich natürlich super. Allerdings raubte ich damit meiner Oma oft den letzten Nerv, wie man so sagt. Manchmal zwängte sie sich an mir vorbei und stöhnte dabei vor Verzweiflung auf, während sich mein Opa darüber freute. Bestimmt war er zufrieden, weil ich meinen Spaß hatte. Als Kind glaubte ich allerdings, dass er sich freut, weil meine Oma beim sich an mir Vorbeizwängen stöhnt und meinte, sie könne wegen mir nicht hintereinander ihre Arbeit machen.
Ich habe mir sagen lassen, dass mein Opa sogar für mich in der Wohnung einen Sandkasten aufstellen lassen wollte, damit ich auch im Winter im Sand spielen könne. Neben der Küche war eine Veranda, dort sollte der Sand aufgeschüttet werden. Das allerdings machte dann meine Oma doch nicht mit „Du bist doch wohl nicht ganz gescheit“, soll sie gesagt haben.
Ein ganz besonderes Ereignis war es immer für mich, wenn ich mit meinem Opa hinaus auf die Straße gehen durfte, sobald es draußen dunkel wurde. Ich ging mit meinem Großvater die Straße entlang und beobachtete den „Laternenmann“, wie ich ihn bezeichnete. Er lief von einer Laterne zur anderen und zündete mit einem langen Stock das Licht an. Mein Opa war ein großer und kräftiger Mann und ich musste, wenn wir gemeinsam spazieren gingen, immer meinen Arm weit nach oben strecken, damit er mich an der Hand fassen konnte. Manchmal blieb er neben dem Laternenmann stehen und hob mich zu sich hinauf, damit ich alles noch besser sehen konnte. Ich wollte immer gar nicht nach Hause gehen und sagte: „Ach Opaaaa, … bitte, bitte, … nur noch ein ganz kleines bisschen dem Laternenmann zuschauen“. Mein Opa konnte nicht anders als zu antworten: „Na, gut, … Puppilein, aber dann müssen wir nach Hause gehen, die Oma wartet schon auf uns“. Es gab damals noch keine elektrische Straßenbeleuchtung so wie wir sie heute kennen. Die Zeit brachte es mit sich, dass es den Laternenmann nun schon lange nicht mehr gibt, aber es bleibt für mich eines der schönsten Erlebnisse mit meinem Großvater.
Während mir mein Opa nichts abschlagen konnte, machte meine Oma nicht einfach so alles mit, wie man sagt. Sie sorgte gern für mich wenn ich mich bei den Großeltern aufhielt, aber sie sagte auch bisweilen etwas lauter und energisch, wenn in ihren Augen etwas nicht richtig war. So zum Beispiel, wenn ich mal wieder für meinen Opa „gekocht“ hatte, eine grausige Mischung aus rohen Linsen, Bohnen, Reis und Grieß. Manchmal, wenn ich es irgendwo in einer Ecke gefunden hatte, zierte ich das Ganze mit einem klebrigen Bonbon. Und was soll ich sagen? Er hat auch noch gegessen was ich „zubereitet“ hatte, … zum totalen Unverständnis meiner Großmutter. Wenn sie dann immer vor Entsetzen aufschrie: „Um Gottes Willen, das kann man doch nicht wirklich essen!“, meinte mein Opa immer nur: „Lass` nur mein Puppilein, das schmeckt sehr gut“. Wenn meine Oma über etwas besonders entsetzt gewesen ist, dann streckte sie ihre Arme hoch in die Luft und fuchtelte dabei mit einem Kochlöffel oder Holzquirl herum, um ihre Verzweiflung über bestimmte Geschehnisse zu unterstreichen. Wenn sie „unbewaffnet“ war, schlug sie im wahrsten Sinne des Wortes die Hände über ihrem Kopf zusammen. Um diesen Gesten noch einen nachhaltigen Ausdruck zu verleihen rief sie jedes Mal: „Jesses Maria!“. Sie meinte: „Jesus Maria“ und fügte dann oft: „ … und Josef“ dazu.
Einmal habe ich meine Oma geärgert, allerdings ist es mir als Kind nicht bewusst gewesen. Ich besuchte sehr oft und gern den alten Mann, der unter uns im Haus im Erdgeschoss wohnte. Ganz dunkel kann ich mich an ihn erinnern. Alle Leute im Haus sagten Onkel Mundus zu ihm, aber ich weiß heute nicht mehr, ob er tatsächlich so hieß oder nicht. Ich wusste aber, welche Klingel ich bedienen musste, damit er mir die Tür öffnen konnte. Ich stellte mich dabei auf meine Zehenspitzen und „angelte“ nach der Klingel. Es dauerte immer eine ganze Weile, bis er mit seinem Rollstuhl an der großen Tür ankam und sie aufmachen konnte. In seiner Küche angekommen, steuerte er immer zuerst in Richtung Herd und füllte seine Tasse mit Kaffee, dann rollte er damit zum Küchenfenster und sah hinaus. Dort stand ein Stuhl, auf den ich immer kletterte, um mit dem Onkel Mundus gemeinsam aus dem Fenster schauen zu können. Er freute sich immer über meine Gesellschaft und erzählte mir Märchen von Hänsel und Gretel und vieles andere mehr. Ich habe nie jemanden gesehen bei diesem alten Mann, er war wohl viel allein. Ich sagte einmal zu ihm: „Du, Onkel Mundus, ich habe auch Durst“, als ich sah, dass er sich Kaffee in seine große Tasse füllte. Er schüttelte mit dem Kopf und meinte: „Nein, mein Kind, das ist Kaffee, den kannst du leider nicht bekommen, ich habe keine Milch und auch keinen Saft, den ich dir geben könnte, du musst zu deiner Oma hinauf gehen, die hat sicher etwas zu trinken für dich, du kannst ja nachher wieder kommen, wenn du möchtest“. Also ging ich hinauf zu meiner Oma: „ Oma, … ich habe Durst, gibst du mir bitte etwas zu trinken?“. „Du warst doch die ganze Zeit bei dem Onkel Mundus, lasse dir doch von ihm etwas geben!“, erklärte sie. „Der Onkel Mundus hat keine Milch, hat er gesagt“, antwortete ich. „Dann kann ich es auch nicht ändern“, äußerte meine Oma etwas mürrisch. „Wenn Du mir nichts gibst, dann fahre ich nach Lauscha zu meiner Mama!“, sagte ich daraufhin. „Dann musst du eben fahren“, entgegnete meine Großmutter und war sich sicher nicht bewusst, dass ich ihre Worte für bare Münze nehmen würde und sie meinte erneut zu mir: „ Ja, dann musst du eben fahren, dann kann ich es auch nicht ändern“. Ich besaß als kleines Mädchen einen winzigen roten Koffer mit weißen Punkten, in dem ich meine Habseligkeiten aufbewahrte. Ich zog meine Jacke an, schnappte diesen Koffer und sagte: „Oma, … ich fahre jetzt los“. Meine Oma antwortete nicht, also ging ich mit meinem Koffer hinaus auf die Straße. Als ich schon ein ganzes Stück des Weges auf dem Bürgersteig gegangen war, holte mich meine Oma ein. Sie fasste mich ein wenig schroff an der Hand und brachte mich stöhnend wieder zurück in die Wohnung. „Oma du hast doch gesagt, dass ich fahren soll“, gab ich zu verstehen. Sie stöhnte erneut auf, aber sie sagte nichts mehr. Ich begutachtete sie von der Seite und kann mich während dieser erinnernden Gedanken noch genau an sie erinnern, so dass ich sie sofort malen könnte, wie man sich manchmal ausdrückt. Meine Oma war eine kleine, schlanke Frau. Sie hatte dunkle, zum Teil ergraute Haare, die sie in Zöpfen geflochten um den Kopf gewickelt und festgesteckt hatte. Sie trug immer einen Rock, der meistens grau gewesen ist und darüber eine Schürze, die man hinten zusammenband. Ich habe meine Oma nie in einem bunten Kleid gesehen oder gar mit einer Hose, aber das ist in diesen Jahren wohl so üblich gewesen. Heute sieht man wenig ältere Leute, dessen Bekleidung darauf schließen lässt, dass es sich um eine Oma oder auch um einen Opa handelt, … ganz anders eben. Auch meine Mutter habe ich als Kind meistens nur mit einem Rock bekleidet gesehen, seltener mit einer Hose. Wenn wir gerade beim Thema anziehen sind, weiß ich sehr genau, dass ich als kleines Mädchen noch Leibchen besaß. Später sagte man Strumpfhaltergürtel dazu. Wenn ich die heutige Bezeichnung dazu nenne und „Strapse“ sage, dann weiß jeder was damit gemeint ist, weil diese Wäschestücke mittlerer Weile der erotischen Bekleidung zugeordnet werden. Allerdings zog man damals lange Schlüpfer darüber, um die „Strapse“ zu verdecken. Im Winter waren diese Schlüpfer „Schlüpfer mit langen Beinen“, wie sie auch genannt wurden, oft aus Wolle und selber gestrickt. Ich weiß hundertprozentig, dass auch ich solche gestrickten Schlüpfer hatte! Lustig was? Das war halt so, … aber soll ich euch etwas sagen? Warm waren diese gestrickten Schlüpfer im Winter! Das könnt` ihr mir glauben, auch wenn sie nach häufigen Wäschen am Hintern gekratzt haben.
Während der Jahre, in denen ich ein kleines Mädchen war, ist mir ein Garten mit einem grünen Holzhäuschen in deutlicher Erinnerung geblieben. Unmittelbar vor der kleinen Hütte blühte immer eine gelbe Kletterrose. Ein Stück links daneben stand eine große Tanne und unter ihr eine alte rostige Regentonne. Hinter dem niedlichen Gartenhäuschen gab es für mich eine Schaukel und einen Sandkasten. Mein Großvater hockte viel mit mir in diesem Buddelkasten und wir haben gemeinsam Kuchen aus Sand gebacken. Meine Oma spottete dann immer: „Na, willst du den Kuchen nicht auch noch essen Gottfried?“. Manchmal ging ich auch mit meiner Oma allein in den Garten, ich weiß noch, dass wir dann mit einem Körbchen nach Hause zurückkehrten, in dem sich Obst und Gemüse befand. An den Wochenenden kamen auch meine Eltern mit in den Garten, der auch von uns liebevoll Gärtchen genannt wurde. Wenn ich nicht mit meinem Opa im Sandkasten spielte, dann ließ ich mich auf der Schaukel aus. Meine Oma schrie dann immer: „Um Gottes Willen, … Jesses Maria, ich kann das gar nicht sehen, Heidi, sag` dem Mädel, sie soll nicht so hoch und so wild schaukeln, … sie wird noch herunter fallen!“, … und natürlich schlug sie erst die Hände über ihrem Kopf zusammen und hielt sich anschließend die Augen zu. Wenn es schön warm war und die Sonne schien, füllten meine Eltern oder Oma und Opa eine kleine Blechwanne mit Wasser und ich konnte den ganzen Tag planschen oder auch das Wasser zum Sandkuchen backen in den Sandkasten schleppen, … bis irgendwann das Wasser alle und die Wanne leer war. Auch meine Tante Lindi, also die Schwester meiner Mutter war hin und wieder mit bei uns im Gärtchen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass man mich einmal austricksen wollte. Außer Blumen und Gemüse gab es auch einen Kirschbaum und ich erschluckte versehentlich beim Kirschen naschen einen Kern. Wie bei allen Kindern war das natürlich ein echtes Malheur. Meine Mutter schenkte dieser „Tragik“ wenig Beachtung und meinte nur: „Irgendwann wird der Kern schon wieder hinten heraus kommen“. So recht zufrieden bin ich wohl nicht mit dieser Antwort gewesen. Meine Tante meinte: „ Komm´, setze dich im Häuschen auf deinen Topf, dann wird der Kern bestimmt in dein Töpfchen fallen“. Das tat ich dann auch. Nach einer Weile kam meine Tante herein und sagte: „Ich schaue jetzt mal nach, ob der Kern schon in dein Töpfchen gefallen ist“. Sie half mir hoch und ich habe ganz genau mitbekommen, dass sie einen Kirschkern hinein „zauberte“ und freudig rief: „Na siehst du, da ist er doch schon, der Kern, den du verschluckt hast!“. Die Erwachsenen wollten mir allen Ernstes glauben machen, dass der Kern allein den Weg aus meinem Po gefunden hätte. He Leute! So klein war ich ja nun nicht mehr, dass man mir so etwas „weiß machen“ konnte. Trotzdem danke, Tante Lindi!
Meine Mutter machte nicht unnötig viel „Ruß“ mit mir, wie man es bezeichnen könnte. Manche Erinnerungen bleiben hängen, auch wenn man klein ist. Ich hatte irgendwann in diesen Jahren einmal Nasenbluten, weil ich mich beim Herumtollen heftig gestoßen hatte, natürlich heulte ich laut. Meine Tante hob mich auf einen Stuhl und meine Mutter brachte einen nassen Lappen und fummelte mir im Gesicht herum. Ich wollte Trost suchen bei meiner Mutter und mich an sie lehnen. Ich werde nie vergessen, dass sie mich von sich weg drückte, sanft, aber dennoch schob sie mich beiseite. „Du schmierst alles voll“, sagte sie. Meine Tante säuberte mich und zog mir einen frischen Pullover an.
Meine Mutter war immer „reserviert“, wenn ich es so bezeichnen darf, das ist jetzt kein schlecht machen meiner Mutter, aber es war eben so. Sie nahm mich auch kaum einmal hoch auf den Arm und sehr selten saß ich auf ihrem Schoß. Also ging ich lieber zu meinem Papa. Auch mein Opa schleppte mich oft umher, auch dann, wenn ich bequem hätte laufen können. Auch in späteren Jahren, als ich ein junges Mädchen war und auch noch später als Erwachsene wich meine Mutter immer irgendwie aus, wenn ich ihr zu Nahe kam und ich sie aus welchem Grund auch immer umarmen wollte. Das ist jetzt natürlich kein Indiz dafür in der DDR gelebt zu haben, aber es gehört zu meinem Leben dazu, ob nun in der DDR oder anderswo, also halte ich auch diese Dinge, so wie sie mir gerade einfallen, fest.
Auch im Winter war es nie langweilig bei den Großeltern, ich war ja nun nicht mehr so klein, dass ich nicht auch mal allein im Hof spielen durfte. Zudem war ich dort nie wirklich allein, es gab Nachbarskinder mit denen man spielen konnte. Entweder kamen sie zu mir herüber oder ich war bei ihnen auf dem Hinterhof, wie man sagte. Ich erinnere mich an eine Brigitte und einen Henri, zu dem alle immer der „Upsi“ gesagt haben, warum, das weiß ich allerdings heute nicht mehr.
Von heute auf morgen wurden die Tage in Saalfeld, für mich grundlos, plötzlich unterbrochen und ich musste mit meinen Eltern zurück nach Lauscha fahren und den „Leidensweg“ Kindergarten fortsetzen. Vielleicht wollte man ausprobieren, ob ich nun nicht mehr so oft krank sein würde, so dachte ich jedenfalls. Ich freute mich immer, wenn meine Mutter sagte: „So, jetzt geht es los, jetzt fahren wir zu Oma und Opa“.
Ich meine, mich daran erinnern zu können, dass ich eines Tages auf einer Fahrt von Saalfeld nach Lauscha mit meinem Opa und meinem Vater allein im Auto saß, ohne Mama, das war im Frühjahr 1957. In der Wohnung, in der Friedensstraße angekommen, lief ich in das Zimmer, wo sich meine Spielsachen befanden, und auch mein Bettchen stand dort, … aber was war denn das? Mein Bettchen war besetzt, etwas lag darin. Ich stieg auf den Rand des Gitterbettes und zog mich ein Stückchen hoch, um über das Gitter schauen zu können. Es sah aus wie eine Puppe, aber auf einmal fuchtelte diese Puppe mit den Armen in der Luft herum und fing an zu schreien bis sie ganz puterrot im Gesicht war. Ich war so intensiv mit diesem schreienden Bündel beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass mein Papa zu mir ins Zimmer trat, … und wo war Mama? Ich wurde erst aus meinem Erstaunen gerissen, als ich die Hand meines Papas auf meinem Kopf spürte. „Das ist dein Brüderchen, es liegt in deinem Bettchen, weil du jetzt die Große bist und es nun ein anderes, neues Bett für dich gibt“. Ich sah zu meinem Vater hinauf, er lächelte und nickte mir zu. Ich war stolz, weil er zu mir Große gesagt hatte. Das Bündel, welches sich mein zukünftiger Bruder nannte schrie indessen unentwegt und lautstark weiter bis meine Mutter hereinkam. Sie lupfte das lärmende Paket regelrecht in die Höhe und verschwand mit ihm aus dem Zimmer. „Komm`, ich zeige dir dein neues Bett“, sagte mein Vater und wir verließen ebenfalls das kleine Zimmerchen. Also hatte ich von fort an einen Bruder, Holger, geboren am 21. April 1957, … und ich war nun die „Große“, … vier Jahre alt. Ich hatte von der Schwangerschaft meiner Mutter nichts mitbekommen, aber ich war noch zu klein, um mir darüber ernsthafte Gedanken zu machen, ich hatte nun einen Bruder und fertig.
Ein Jahr später zog ich mit meinen Eltern und meinem Bruder in eine andere größere Wohnung, „Am Alten Weg 3“. Es war ein Mehrfamilienhaus, welches auf einem Berg stand. Ein schmaler, steiler Weg führte hinauf. Wir wohnten unten im Parterre, in der Mitte lebte eine Familie mit einem kleinen Mädchen, Sibylle hieß sie und war bei unserem Einzug erst ein paar Monate alt. Oben im Haus wohnte eine Familie, die einen Sohn hatte, er hieß Rolf und war etwa vier Jahre älter als ich, er ging demzufolge schon zur Schule.
Es muss kurz nach unserem Umzug gewesen sein, als wir in der alten Wohnung, in der wir zuvor gewohnt hatten irgendetwas gefeiert haben. Ich weiß nicht was es war, nur dass viel Schnee lag und mein Vater nicht nach Hause gehen wollte. Wo mein Bruder war, kann ich natürlich auch nicht sagen. Jedenfalls befanden wir uns dann auf der Straße, um endlich heim zu gehen. Ich war sehr müde, aber mein Papa rutschte dauernd auf der glatten Straße aus und fiel auf seinen Hosenboden. Meine Mutter half ihm beim Aufstehen, dann ging es wieder von vorne los und mein Vater saß schon wieder auf der Straße. Wenn ihn meine Mama hoch gezerrt hatte, dann ballte er seine Faust und drohte auf die Fenster verschiedener Häuser an denen wir vorbei liefen. „Lass` das und komm` jetzt weiter“, sagte sie und zog an seinem Ärmel. „Ja, Papa, geh weiter, los jetzt“, gab ich meinen Senf dazu und schob ihn an seinem Hinterteil vorwärts. Jahre später klärte man mich auf. Es wurde der Geburtstag meines Großvaters gefeiert und mein Papa hatte wohl viel Spaß dabei. Er hatte ein wenig „über den Durst“ getrunken und war nicht dazu zu bewegen nach Hause zu gehen. Mein Papa war Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und nur ein in die Geburtstagsrunde geworfenes lautes: „Es brennt, … es brennt“, ließ meinen Vater aufspringen und die Runde verlassen. Warum halte ich dieses, nicht unbedingt für andere interessantes Ereignis fest? Für mich ist es von Wichtigkeit, denn nie wieder habe ich meinen Vater so erlebt. Mein Papa war sein ganzes Leben lang ein sehr bescheidener und ruhiger Mann, der immer besonnen handelte, den ruhigen Pol in der Familie verkörperte und mein Anlaufpunkt war.
Und wie ging es mit mir weiter? Ich lebte nun wie gesagt mit meinen Eltern und meinem Bruder am „Alten Weg 3“. Mal war das Übel Kindergarten nicht vermeidbar, mal war ich auch während der Woche bei den Großeltern in Saalfeld. An den Wochenenden, besonders in der warmen Jahreszeit kamen dann meine Eltern mit meinem Bruder und wir gingen in den Garten mit dem kleinen grünen Häuschen. In den Wintermonaten war das Leben in Lauscha vorrangig. Mein Vater war noch immer Stellvertretender Bürgermeister der Stadt und meine Mutter setzte nach wenigen Wochen Babypause mit meinem Bruder ihre Arbeit im Labor fort. Mein Bruder wurde in die Kinderkrippe gebracht und ich hatte wieder das „Vergnügen“ Kindergarten. Ich erinnere mich sehr genau daran, denn irgendwie konnte ich mich einfach nie an den Aufenthalt im Kindergarten gewöhnen, nur an diese Tante Mietzi eben, von der ich schon einmal sprach. Als dann endlich meine Mutter kam, um mich abzuholen, zog sie mich hastig an, um mit mir noch meinen Bruder von der Kinderkrippe abzuholen. Manchmal stand auch der Wagen mit dem schreienden Bündel schon vor dem Kindergarten, dann gingen wir noch einkaufen.
Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir die Lauschaer Jahre durch den vielen Schnee in jedem Winter. Meine Mutter blieb mit dem Kinderwagen oft im hohen Schnee stecken, obwohl dieser wie ein Schlitten Kuven hatte. Als mein Bruder etwas größer war, nahm sie dann lieber den Schlitten und zog uns in Decken eingepackt hinter sich her. Unser Wohnhaus am „Alten Weg“ in Lauscha stand wie schon gesagt auf einem Berg, ein langer, schmaler Steg führte hinauf, der im Winter mühselig freigeschaufelt werden musste. Auch die Kohlen zum Heizen mussten mit Hilfe eines Buckelkorbes hinauf geschafft werden.
Schöne und friedliche Weihnachtszeiten mit viel Schnee blieben bis zum heutigen Tag in meinem Gedächtnis wohnen. Mein Vater zog mit uns Kindern an Heilig Abend mit dem Schlitten, und als wir größer waren, mit Skiern los bis auf einen Berg, der unserem Haus gegenüber war. Von da aus konnte mein Vater die Lichtzeichen meiner Mutter sehen, die sie ihm mit einer Taschenlampe gab. Es hieß: Ihr könnt` jetzt kommen, der Weihnachtsmann war da und der Karpfen ist fertig. Die Weihnachtsfeste, die ich als Kind zu Hause erlebte, habe ich bis heute nicht vergessen. Natürlich freuten wir uns auf die Bescherung, welches Kind tut das nicht, aber wir haben uns nicht so auf die Geschenke gestürzt und gleich aufgerissen wie es heute manchmal gemacht wird, alles ging irgendwie leiser vor sich. Zudem war das Einpacken der Geschenke bei uns daheim eigentlich nicht üblich, es wurde alles von meiner Mutter liebevoll unter dem Weihnachtsbaum angeordnet. Wenn wir mit unserem Vater zurück kamen wurde zuerst gegessen. Tradition ist bei uns bis heute der Karpfen blau, Butterkartoffeln und Apfel – Sahnemeerrettich geblieben, nachdem zu Mittag die Fischsuppe gegessen wurde. Danach durften wir langsam in die gute Stube kommen, so wie das Wohnzimmer auch genannt wurde. Mein Papa hatte vorher unbemerkt die Kerzen am Christbaum angezündet. Die Geschenke für uns lagen unter dem Weihnachtsbaum, sie waren in diesen Jahren nicht ärmlich, aber dennoch bescheiden. Wir haben uns über die Gaben gefreut und waren stets zufrieden. Ich kenne bei uns zu Hause keine Bescherung ohne Weihnachtslieder, die wir gemeinsam mit den Eltern gesungen haben. Am nächsten Tag fuhren wir nach Saalfeld zu Oma und Opa. Bevor meine Eltern den ersten Trabi besaßen, fuhren wir mit der Eisenbahn nach Saalfeld. Später stand das Auto in einer Garage in der Nähe vom Bahnhof in Lauscha. Fast immer musste im Winter erst die Tür zur Garage freigeschaufelt werden, damit wir losfahren konnten. Der Schnee war oft so hoch, dass er an den Seiten der Straße zu hohen Mauern aufgetürmt war und den Bürgersteig nicht mehr erkennen ließ.
Auch bei den Großeltern gab es einen Weihnachtsbaum, er stand in der großen Diele und hatte jedes Jahr genau neunundneunzig Kerzen. Es gab noch keine elektrische Weihnachtsbaumbeleuchtung, … trotzdem ist nicht ein einziges Mal etwas passiert. Meistens blieben wir bis über den Jahreswechsel in Saalfeld, meine Mutter bestätigte mir diese Kindheitserinnerung als richtig in meinem Gedächtnis geblieben.
Um noch ein wenig beim vielen Schnee in Lauscha zu bleiben, sehe ich noch ganz deutlich die großen Skulpturen aus Schnee vor mir, die vor größeren Gebäuden der Stadt zu finden waren. Meistens stellten sie Tiere oder Märchenfiguren dar, die in Originalgröße auf einem großen Schneesockel standen und am Abend angeleuchtet wurden. Es sah fantastisch aus. Besonders eindrucksvoll war für mich damals als kleines Mädchen ein Elefant aus Eis und Schnee, der auf dem Bahnhof in Lauscha zu sehen war. Schade, dass es diese einzigartigen Dinge heute nicht mehr gibt, nur noch verblichene Fotos erzählen davon.
Natürlich verbinde ich Lauscha und den vielen Schnee mit ausgiebigem Schlittenfahren, in dessen Genuss wir Kinder kommen konnten. Wir waren immer eine ganze Meute. Nicht weit von unserer Wohnung entfernt gab es die Bätzenecke, ein ziemlich steiler Abhang, der von uns Kindern so benannt wurde, weil dort vor dessen Anstieg ein Fleischergeschäft war dessen Inhaber eine Familie Bätz gewesen ist. Mit den beiden Jungs Ralf und Egon Bätz kam ich dann auch zur Schule und wir waren zusammen in einer Klasse.
Heute kann sich wahrscheinlich kaum noch ein Kind vorstellen, wie schön diese Winter für uns damals gewesen sind. Jede freie Minute waren wir mit dem Schlitten oder den Skiern unterwegs. Man konnte scherzhaft sagen, dass wir Kinder schon mit den Skiern umgehen konnten bevor wir richtig laufen gelernt hatten. Unermüdlich und ausdauernd erklommen wir die Bätzenecke. Mit lautem Jubelgeschrei fuhren wir hinab. Auf der einen Seite dieser „Rodelbahn“ war ein angrenzender Zaun zu einer Wiese, auf der anderen Seite standen Häuser, in denen die Leute wohnten. Niemanden, auch nicht einer einzigen Oma oder einem einzigen Opa fiel es ein über uns zu schimpfen, wenn wir lauthals rufend: „Achtung, ...Bahn frei, ...Kartoffelbrei ...“ den Berg herab geschossen kamen. Die Omis flüchteten mit ihren Einkaufstaschen zur Seite und tasteten sich an den Häuserwänden entlang bis sie ihre Wohnung erreicht hatten. Sehr oft haben wir die Schlitten aneinander gebunden, oder sind bis zum Dunkelwerden mit unseren Taschenlampen noch so lange gefahren, bis ein Elternteil von uns Kindern den ganzen Spaß beendete und uns alle, von oben bis unten mit Eis verkrustet, nach Hause schickte. Es gab kaum einen Vorgarten oder einen Hof in dem man nicht einen stolzen, oft riesengroßen Schneemann bewundern konnte, einer war schöner als der andere, jeder wollte, dass sein Schneemann der allerschönste ist. Schneehöhlen und Burgen wurden gebaut, es gab Wettbewerbe, welcher Iglu am besten gelungen war. Wer es nicht erlebt hat, der kann sich das in der heutigen Zeit nicht mehr vorstellen. Die Ursache dafür ist sicher außer dem Schneemangel auch darin zu suchen, dass sich die Kinder in der heutigen Zeit viel zu wenig draußen im Freien bewegen, weil sie es vorziehen, oft den ganzen Tag vor dem Fernseher oder dem Komputer zu zubringen. Das natürlich nicht nur im Winter, sondern auch in den übrigen Jahreszeiten. Leider wird diesem Tatbestand von den betreffenden Eltern viel zu wenig Bedeutung beigemessen und Beachtung geschenkt. Die Fantasie, die ein Kind beim Spielen entwickelt wird ausgebremst und die Gesundheit nicht gerade gefördert. Gewichtszunahmen und chronische Erkrankungen, sowie ein schwaches Immunsystem sind vorprogrammiert, weil zudem oft viel zu ungesund gegessen wird. Ihr braucht euch nur umzusehen, man entdeckt kaum noch Kinder, die draußen spielen und umher tollen. Einen Beitrag dazu leisten ohne Zweifel auch manche Erwachsene, die sich aufregen, weil Kinder auch einmal Lärm verursachen. Auch das ist ein Kriterium der heutigen, nicht immer schönen Zeit. Übrigens: habt ihr schon gewusst, dass Stubenhocker, die sich fast ausschließlich mit dem Komputer und etc. beschäftigen, viel häufiger eine Kurzsichtigkeit entwickeln als Kinder, die sich viel im Freien aufhalten und bewegen? Der Grundstein dieser Tatsache wird im frühen Kindesalter an bis zur Pupertät gelegt.
Fakt ist auch, dass wir Kinder damals einen besseren Zusammenhalt innerhalb unserer Meute hatten. Wenn einer von uns einen Auftrag von den Eltern bekam, dann wurde er von den anderen begleitet. Ich kann mich erinnern, dass wir als Kinder häufig in den nahe gelegenen Konsum geschickt wurden. Der Konsum war eine kleine Verkaufsstelle, ein kleiner Laden. Der Konsum war die Marke der Konsumgenossenschaften in der DDR. Die einzelnen Genossenschaften betrieben Lebensmittelgeschäfte, Gaststätten und Produktionsbetriebe, man kann sagen, die Konsumgenossenschaft war eine flächendeckende Ladenkette, schon vor dem 2. Weltkrieg. So viel ich weiß wurde im Dezember 1945 der Konsum durch die Sowjetische Militäradministration als Genossenschaft wieder hergestellt. Jedes noch so kleine Dorf hatte einen Konsum, in dem man Waren des täglichen Bedarfs kaufen konnte. Wie hinter einem Tresen gab die Verkäuferin die Waren heraus die man gerne haben wollte, es war eine schöne, persönliche Bedienung und Beratung der Kundschaft. Verbunden mit jedem Einkauf erhielt man je nach Warenwert Konsummarken, die in ein Heftchen eingeklebt wurden. Zum Jahresende bekam man dafür eine Rückvergütung ausgezahlt. Die Höhe der Vergütung richtete sich nach den getätigten Warenumsätzen und jeder freute sich über ein lohnendes „Zubrot“. Es gab noch keine Kaufhallen oder Supermärkte, wo sich aus den Regalen selbst bedient und alles in einen Einkaufswagen oder Korb gepackt werden musste, um es an der Kasse auf ein Band zu legen.
Des Öfteren traf man auf Freunde mit der gleichen Aufgabe, wie zum Beispiel Milch holen. Es gab noch keine Milchflaschen oder gar Tüten. Die Milch, Quark und auch die Sahne kaufte man lose. Das heißt, die Verkäuferin füllte aus einer großen Kanne so viel Milch in unsere kleinen Blechkannen ab, wie wir Geld dafür mitbekommen hatten und verschloss dann das Gefäß mit dem dazugehörigen Deckel. Aber kaum waren wir auf der Straße, nahmen wir den Deckel ab und begannen mit unserem Wettkampf, mit dem Schleudern der Milchkanne. Die Kanne wurde mit einem Arm ganz schnell im Kreis geschlenkert, dabei durfte keine Milch verschweppern. Ich weiß noch zu gut, dass unserem Kumpel Fritz einmal dabei die ganze Milchkanne samt Inhalt aus der Hand flog und irgendwo im Dreck landete. Der stimmte natürlich sofort ein mächtiges sirenenartiges Geheul an, es war kaum noch Milch in seiner Kanne verblieben, sie war logischerweise ausgelaufen. Stattdessen war Dreckwasser aus der Pfütze mit dabei, … aber wir waren ja Freunde und jeder von uns gab ihm etwas aus seiner Kanne ab, egal, ob nun noch Dreck in Fritzens Kanne war oder nicht. Zu Hause sagte ich auf den fragenden Blick meiner Mutter: „Mutti, es gab heute leider nicht mehr so viel Milch, weil sie schon gleich alle war“. Ob sie das wohl geglaubt hat? Wohl eher nicht, denn das Geld war ja auch „alle“.
Natürlich hatten wir als Kinder damals auch allerhand Unsinn im Kopf. „Flausen im Kopf“, wie sich mein Vater immer auszudrücken pflegte. So haben wir zum Beispiel den Durchgang auf dem Bürgersteig mit einem Strick abgesperrt, uns rechts und links davon postiert und die Leute erst vorbei gelassen, wenn sie uns einen Groschen ( heute 10 Cent ) dafür bezahlt haben. Es gab kaum jemanden, der uns seine Bezahlung für das weitere passieren des Bürgersteiges verwehrte. Auch der alt bewährte „Klingelsturm“ war bei uns beliebt und manchmal waren wir auch dabei recht kess. Wir klingelten solange, bis jemand vom Fenster heraus auf die Straße schaute um zu sehen wer da sei. Dann haben wir etwas zugerufen, wie zum Beispiel: „Haben Sie Schokolade oder Bonbons für uns?“. Wenn man es verneinte, dann riefen wir: „Dann machen Sie das Fenster zu, sonst wird es kalt!“. Aber fast immer warf man uns eine Hand voll Bonbons herunter. Der kleine Fritzla, wie wir ihn auch nannten, hatte mal bei einem Klingelsturm einem Opa oben am Fenster zugerufen: „He, Opa, … hast du Weißkraut?!“. Als dieser mit:„ Nein, hab` ich nicht!“, antwortete, schrie der Fritzla zurück: „ Warum steckst du dann deinen Kohlkopf zum Fernster hinaus?“. Oh, da wurde der Opa natürlich ärgerlich: „Du kleine Rotznase! Du verflixter Bengel! Na warte, gleich komme ich herunter, dann gibt’s was auf dein Hinterteil!“. Natürlich nahmen wir schleunigst reiß aus und versteckten uns im nächst besten Hauseingang bis die „Gefahr“ vorüber war.
Als größere Schwester hatte ich manchmal den Auftrag kurz auf meinen Bruder aufzupassen, wenn meine Mutter außer Haus ging um noch schnell etwas zu erledigen. Einmal, als meine Mutter nicht da war und mein Bruder vom Mittagsschlaf aufgewachte, tobte er in seinem Bett umher und rief: „Guck mal, ich bin Helmut Recknagel!“(damaliger bekannter Skispringer). Von einem Stuhl aus absolvierte er mehrmals seinen Absprung ins Bett, solange bis er irgendwann sein Ziel verfehlte und mit der Stirn auf die Bettkante knallte. Das Resultat war eine stark blutende Platzwunde über der einen Augenbraue und meine Mutter war „bedient“, weil der Rest des Tages in der Poliklinik zugebracht werden musste, damit die Wunde genäht werden konnte. Ich war damals noch nicht alt genug, die eventuellen Folgen abzusehen und ihm zu sagen, dass er das lieber bleiben lassen sollte. Meine Mutter meinte aber: „Du bist die ältere und müsstest eigentlich schon vernünftiger sein“.
Die Zeit verging und irgendwann brauchte ich nicht mehr in den Kindergarten zu gehen, … ich war nun ein Schulkind. An meine Schuleinführung kann ich mich eigenartiger Weise überhaupt nicht erinnern, aber sehr wohl an meinen ersten Lehrer. Er hieß Lehrer Müller und war in meinen Augen ein uralter Mann, ein Opa, aber er war sehr gut und geduldig mit uns Kindern. Ich kann mich an kein einziges lautes Wort von ihm erinnern. Er trug immer einen langen dunkelgrünen Lodenmantel und eine Baskenmütze. Unser Lehrer Opa Müller war viel mit uns Schülern unterwegs in der Natur, er unternahm mit uns Kindern Spaziergänge über Felder und Wiesen, ging mit uns in den Wald und zeigte und essbare Pilze. Er lehrte uns grundlegende Dinge, zum Beispiel, wie man Kühe, Schafe und Ziegen von einander unterscheidet und wie man sie füttert. Er erzählte uns von Haustieren und sorgte mit der Erklärung dieser Dinge für ein grundlegendes Allgemeinwissen bei uns Kindern.
Am Anfang meiner Schulzeit habe auch ich noch im Unterricht mit Kreide auf Schiefertafeln geschrieben. Wenn etwas verkehrt war, was wir geschrieben oder gerechnet hatten, konnte man es leicht mit einem kleinen Schwämmchen abwischen. Wenn wir fertig mit dem waren, was man von uns wissen wollte, dann haben wir unsere Schiefertafeln hoch gehalten, damit unser Lehrer sehen konnte, ob es richtig war, was wir gerechnet oder geschrieben haben. Unsere Schulbänke sahen ganz anders aus als heute. Es waren Bänke aus Holz, immer vier Kinder saßen nebeneinander in einer Schulbank. Die Sitze waren miteinander verankert. Die Schreibfläche war leicht nach vorne geneigt und hatte eine Einkerbung für die Kreide. Später diente diese Rille als Ablage für die Stifte. Es gab eine Vertiefung für das Tintenfass, weil wir noch keine Füllfederhalter mit Tintenpatronen so wie es sie heute gibt besaßen. Ganz am Anfang schrieb man mit Federkielen, die man in das Tintenfass eintauchen musste. Später gab es dann den Federhalter, man zog ähnlich wie mit einer Spritze die Tinte aus dem Tintenfässchen auf um die Tinte nachzufüllen. (Meine Eltern schrieben zu ihrer Schulzeit noch mit dem Griffel, der bestand auch aus Schiefer. Besonders bei der Landbevölkerung benutzte man lange diese Schiefertafeln und Griffel, das ergab sich aus dem oft sehr weiten Weg zur Schule, damit in der Schultasche so wenig Ballast wie möglich mit sich geführt werden musste. Der Schulweg war nicht selten mehrere Kilometer lang. Busse gab es nicht und ein Fahrrad besaß vor meiner Zeit kaum ein Kind.)
Während ich die erste Klasse besuchte wurden wir in die Pionierorganisation Ernst Thälmann aufgenommen (Gründung dieser Organisation war am 13. Dezember 1949). Drei Jahre lang waren wir nun Jungpioniere. Wir bekamen ein blaues Halstuch, eine weiße Bluse und ein blaues Käppi. Bis zur 3. Klasse nannten wir uns also Jungpioniere. Die Mädchen trugen einen blauen Rock und die Jungs eine blaue Hose. Pionierkleidung, sagte man dazu. Diese Pionierkleidung wurde getragen, wenn wir auf dem Schulhof Fahnenappell antraten, der zu verschiedenen Anlässen, wie beispielsweise zum Schuljahresende oder – Anfang veranstaltet wurde. Der Appell wurde mit dem Pioniergruß eröffnet, dabei wurde die rechte Hand über den Kopf gehoben, der Daumen zeigte zum Kopf, die restlichen, nebeneinander liegenden Finger wiesen in Richtung Himmel. Blaue Wimpelketten zierten den Schulhof. Der Pioniergruß lautete vom Lehrer gesprochen: „Für Frieden und Völkerfreundschaft seid bereit“. Wir antworteten mit „Immer bereit“. Auch gingen wir mit genannter Pionierkleidung zum Pioniernachmittag. Das waren Veranstaltungen, bzw. Treffen, die außerhalb des Unterrichtes stattfanden. Es wurde gebastelt, gemalt, getöpfert, gesungen und Altpapier gesammelt. Wir Kinder gingen von Haus zu Haus und fragten die Leute, ob sie alte Zeitungen und alte Flaschen oder Gläser für uns haben.
(In späterer Zeit schrieb Kurt Demmler: … „Hab`n se nicht noch Altpapier, Flaschen Gläser oder Schrot, … liebe Oma, lieber Opa, klingelinge ling ein Pionier, klingelinge ling steht hier ein roter. Habn`se nicht noch Altpapier, Flaschen, Gläser oder Schrott, klingeling, schnell geb`n ses mir, sonst holt sich`s die FDJ“ ...)
Das dabei verdiente Geld kam in die gemeinsame Klassenkasse und wurde entweder für Schulnachmittage verwendet oder für Afrika gespendet. Das war doch alles gar nicht so schlecht, oder? Wir waren unter Aufsicht und wurden beschäftigt.
Bei uns in der DDR hatten Polizeibeamte den Namen: Volkspolizei, die insbesondere während der ersten Schuljahre, aber auch teilweise bereits im Kindergarten uns Kindern einen Besuch abstattete, um uns richtiges Verhalten auf der Straße beizubringen. Schüler der höheren Klassen fungierten als Schülerlotsen, die den Kleineren beim Überqueren der Straße vor dem Schulgebäude behilflich waren. In diesem Zusammenhang ist mir das Lied vom Volkspolizisten als regelrechter Ohrwurm in Erinnerung geblieben:
„Ich stehe am Fahrdamm, da braust der Verkehr,
ich trau mich nicht rüber, nicht hin und nicht her,
der Volkspolizist, der es gut mit uns meint, der führt mich hinüber, er ist unser Freund …“.
Natürlich bekamen wir auch Besuch von den Soldaten der Nationalen Volksarmee. Es wurde uns erklärt, dass unsere Soldaten darauf Acht geben, dass wir alle in Frieden leben und lernen können. Wir sangen das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube. Heute kennt es leider fast nur noch die ältere Generation, obwohl ich ganz sicher bin, nicht die einzige zu sein, die der Meinung ist, dass dieses Lied, und wie so manches andere aus dieser Zeit, heute noch mindestens genauso aktuell ist wie damals. Ich finde, dass gerade dieses Lied zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, deshalb habe ich hier den vollständigen Text noch einmal festgehalten:
„Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land.
Allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohl bekannt.
Du sollst fliegen, Friedenstaube, allen sag es hier,
Dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir.
Fliege übers große Wasser, über Berg und Tal,
Bringe allen Menschen Frieden, grüß sie tausendmal.
Und wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück.
Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück“.
Es wurde in der Schule, vorwiegend in den unteren Klassen, wie auch bereits im Kindergarten, viel gesungen. Nicht nur während des Musikunterrichtes wurde gesungen, sondern auch bei den genannten außerschulischen Veranstaltungen und auch bei Sport und Spiel.
Im Deutschunterricht wurde sehr viel gelesen, zumindest in den ersten Klassen des schulischen Daseins. Und zwar wurden die Texte aus den Lesebüchern zur Lernkontrolle nicht nur von einzelnen Schülern separat vorgelesen, sondern ich kenne es noch, dass die ganze Klasse einen ganzen Text gleichzeitig gemeinsam laut vorlas.
Es gab Auszeichnungen, sehr gute Schüler durften in den großen Ferien 18 Tage lang kostenlos an einem Pionierlager teilnehmen.
Ich also ging nun zur Schule, Walter Ulbricht wurde zu dieser Zeit erster Staatsratsvorsitzender der DDR (1960 – 1971).
Natürlich habe ich in den ersten Jahren meiner Schulzeit noch kein politisches Vorstellungsvermögen und eine eigene Meinung schon gar nicht. Man nimmt das an, was wir Kinder von den Lehrern beigebracht und gesagt bekommen haben. Es war eine Erziehung zum Miteinander, Freundschaft, gegenseitiger Hilfe und Ordnung. War es so falsch, wenn jedes Kind in der Schule mit dem Begriff Timurhilfe etwas anfangen konnte? Wir wurden als Schüler dazu angehalten, besonders alte Leute zu achten, zu respektieren und ihnen zu helfen. Timur ist die Hauptfigur des Buches „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar, welches 1940 veröffentlicht wurde. Es signalisiert freundschaftlichen Zusammenhalt und die Bereitschaft anderen zu helfen. In den Schulen gab es dafür das Abzeichen „Timurtrupp“ für hilfsbereite Jungpioniere. Ich habe diese Zeit als gut und zwanglos in Erinnerung, wenn man die Notwendigkeit der leidigen Hausaufgaben ausklammert und die kleinen Verspöttelungen, die jeder Erstklässler über sich ergehen lassen musste außen vorlässt, wie man sagt. Jeder ABC – Schütze wurde damals in Lauscha von den Schülern höherer Klassen ein wenig gehänselt, indem man ihm in den Pausen oder auch auf dem Heimweg zurief: „Hi hi,... Erstjahrsnörberle, Ziegenschnörberle...“. Hatte man dann die erste Klasse hinter sich gebracht, konnte man lauthals mit den anderen mitrufen, denn dann zählte man zu den „Großen“, auch wenn man gerade erst die 2. Klasse angefangen hatte. Diese unbeschwerte Zeit schloss ein intaktes Familienleben und eine schöne Opa und Omazeit ein, in der es wie gesagt immer genug zu essen gab, auch wenn manche „Wessis“, wenn ich diejenigen, die solche Äußerungen von sich geben , einmal so nennen darf, noch heute etwas anderes behaupten.
Mein Bruder Holger wuchs heran und mit ihm die kleine Sybille, die bei uns im Haus wohnte. Auch der Junge, der ganz oben im Haus lebte, beteiligte sich an unserer Gemeinschaft. Eben von dieser Wohnung aus, in der der Rolf mit seinen Eltern lebte, führte ein tolles Treppengeländer aus Holz bis herunter in die Diele unserer Wohnung ins Erdgeschoss, von dem man fast durchgehend bis zu uns prima herunterrutschen konnte. Wenn man unten ankam wurde die Fahrt durch einen großen Holzknauf ruckartig abgebremst. Das gab nach jeder Ankunft einen richtigen „Rumps“, was besonders meinen ansonst so ruhigen Vater dann doch hin und wieder genervt hat. Einmal kam er aus der Küche, das ständige „Gerumpse“ war ihm nun doch zu viel geworden. Er blieb irgendwie an der Tür hängen und stolperte, seine Brille fiel dabei zu Boden, weil er sich an der Tür auch noch den Kopf stieß. Natürlich lachten wir und er rannte uns noch ein Stück hinterher, schnell nahmen wir „Reißaus“, aber mein Papa machte sich nicht die Mühe die Verfolgung aufzunehmen. Er wusste genau, spätestens wenn es etwas zu essen gab, dann waren wir wieder da, meist in Begleitung von Sybille. In unserer großen Küche stand ein Tisch, an dem wir alle genug Platz fanden. Die Sybille war zu der Zeit öfter der kleinste Gast in unserer Runde. „Möchte auch was“, sagte sie dann immer und schaute mal eben gerade mit großer Mühe über den Rand des Tisches. Manchmal waren wir auch oben bei der Sibylle zum spielen. Besonders toll war es für uns, wenn Sibylles Papa nach Hause kam, weil er dann mit uns herum tobte und die von uns beliebte Kissenschlacht mit uns vollführte. Die war manchmal so heftig, dass in der Stube meiner Eltern die Lampe wackelte.
Gebadet haben wir in der Küche. Wir hatten kein Badezimmer in dieser Wohnung, es existierte eine Zinkbadewanne, in die das Wasser eingefüllt werden musste. Auch wenn wir nicht jeden Tag gebadet haben oder duschen konnten, so wie es heute vielfach üblich ist, sind wir nicht verdreckt. Kleine Kinder wurden zusammen in die Wanne gesteckt. Als wir dann größer waren, lief die Badeprozedur nacheinander ab. Immer wenn einer sein Bad beendet hatte, wurde ein wenig Wasser aus der Wanne entfernt und neues heißes Wasser dazu gegeben, … bis eben alle fertig waren. Das letzte Badewasser wurde noch zum Einweichen besonders schmutziger Wäsche verwendet. Es gab damals nur sehr wenige Haushalte, in denen eine Waschmaschine vorhanden war. Ähnlich wie beim Trabi wurden Anmeldelisten für größere elektrische Geräte, so eben auch für Waschmaschinen geführt. Die Wäsche wurde, auch bei uns, im Keller gewaschen, im Waschhaus. Dazu musste ein großer Kessel, der Waschkessel angeheizt werden, um die Wäsche kochen zu können. Mit einer Waschrumpel wurde dann jedes einzelne Wäschestück mit der Hand bearbeitet. Damals stimmte die Äußerung noch: „Ich habe keine Zeit, ich habe große Wäsche“, denn damit war man mindestens einen Tag lang voll beschäftigt. Im Sommer brachte meine Mutter die weiße Wäsche nach dem Spülen hinaus auf die Wiese, dort wurde sie ausgebreitet, man bleichte sie auf diese Art und Weise. Die ganze Wiese war oft belegt mit großen Wäschestücken, wie beispielsweise Bettwäsche. Dann stand da noch eine Gießkanne mit Wasser, immer wenn die Wäsche trocken war, wurde sie erneut begossen, um sie dann wieder trocknen zu lassen. Für uns Kinder war das hinderlich und natürlich äußerst überflüssig, weil wir beim Spielen Obacht geben mussten, damit wir nicht aus Versehen auf die saubere Wäsche traten. Es passierte des Öfteren, dass einer von uns seinen Abdruck hinterließ und alle fünf Zehen deutlich zu sehen waren, weil wir im Sommer meist barfüßig umher getollt sind. Wir versuchten den Schaden zu beheben und schütteten Wasser aus der besagten Gießkanne darüber, um unsere Spuren zu beseitigen. Manchmal höre ich noch heute meine Frau Mutter sagen: „Das ist aber eigenartig, manche Wäschestücke sind bereits trocken und andere nicht, … und ich dachte, ich habe die Gießkanne erst mit Wasser aufgefüllt, es kann doch nicht sein, dass sie schon wieder fast leer ist“.
Von unseren Eltern wurden wir Kinder zur Folgsamkeit, Ehrlichkeit und Freundlichkeit erzogen. Parallel dazu legte man, wie bereits gesagt, die Grundsteine im Kindergarten und in der Schule. Es wurde darauf geachtet und uns Kindern beigebracht, dass wir den Erwachsenen gegenüber Respekt zu zollen haben und dass man miteinander und nicht gegeneinander leben soll, also eine Erziehung zur Gemeinschaft. So lernten wir zu Hause, im Kindergarten und auch in der Schule, dass man verschiedene Sachen miteinander zu teilen hat, gerade die Dinge, die eine gewisse Rarität aufwiesen. Für Kinder spielt sich das natürlich in anderen Dimensionen ab, als es bei den Erwachsenen der Fall ist. Weil es nun mal in der DDR Engpässe verschiedener Waren gab, hielt man zusammen, borgte oder tauschte miteinander, aber zu einzelnen Beispielen komme ich später noch. Ich weiß noch, dass uns einmal als Kinderhorde bei unserem vorhin bereits erwähnten Klingelsturmspiel wie so oft eine Hand voll Bonbons aus dem Fenster zugeworfen wurde. Wir waren aber mehr Kinder als Bonbons für uns „geflogen“ kamen. Ein Bonbon fehlte, tja, und was jetzt? Ich schenkte mein Bonbon dem kleinsten Mitglied unserer Kinderhorde, das kleine Mädchen war nicht schnell genug. Dafür überließ mir ein Nachbarsjunge sein Bonbon und ging an diesem Tag leer aus. Wenn ich heute daran denke finde ich es niedlich, damals war es schon so etwas wie wahre Großzügigkeit.-
Oder Was ist daran nicht richtig, wenn ein Kind dazu angehalten wird, einem anderen Kind von seinem Frühstücksbrot etwas abzugeben, weil es sein Brot zu Hause vergessen hat? Das ist meines Erachtens ein kleines Beispiel für einen Schritt in die richtige Richtung bei der Erziehung. Heute hört man Äußerungen wie: „Was bist du so blöd und lässt dein Brot zu Hause liegen? Selber schuld!“.
Was die Ehrlichkeit betrifft habe ich ein für mich ganz fatales Ereignis in Erinnerung. Ich habe meiner Mutter einmal aus ihrer Geldbörse eine Mark entwendet, geklaut, auf Deutsch gesagt. Ich wollte mir Kokosflocken kaufen, die habe ich für mein Leben gern gegessen und Taschengeld gab es für uns in diesem Alter noch nicht. Meine Mutter hatte aber bemerkt, dass diese Mark fehlte und dass nur ich sie genommen haben konnte. Oh die Reformante war schlimmer als es heut` zutage mit Tagedieben auf der Polizeidienststelle gehandhabt wird, weil ich zuerst auch noch abgestritten hatte, das Geld genommen zu haben. Meine Mutter sagte: „Du bist ein Dieb und Diebe sperrt man ins Gefängnis. Wenn du jetzt erwachsen wärst, dann würde man dich einsperren, weil du nicht nur gestohlen, sondern auch noch gelogen hast“. Mein Vater war der Sache gegenüber ein wenig gelassener und nickte nur beipflichtend mit dem Kopf. Ich wurde natürlich bestraft, ich bekam von meiner Mutter ein paar Tage Stubenarrest. Damals habe ich lange Zeit geglaubt, dass man mich für diesen Diebstahl einsperrt sobald ich erwachsen sein würde. Als ich einige Zeit später mit meiner Oma einmal im Konsum war, entdeckte ich in einer Schublade Trockenpflaumen, ich mochte sie gerne, weil sie so süß und lecker sind und ich nahm eine heraus, … da fiel mir urplötzlich das Drama mit den Kokosflocken ein und dass man ins Gefängnis kommt, wenn man etwas stiehlt, also schmiss ich sie lieber schnell wieder zurück. Wie gesagt gab es noch keine Supermärkte im heutigen Sinne, man ging auch in Saalfeld in den Konsum. Es gab verschiedene kleine Schubfächer, die dem Kunden zugänglich waren. In so einem Fach lagen eben auch die besagten Trockenpflaumen. Ich erinnere mich weiter an sehr große durchsichtige Gläser, wie große Gurkengläser, in denen bunte Bonbons lagerten. Wir Kinder bekamen immer von der Verkäuferin eins davon geschenkt, wenn wir zum Einkaufen im Laden auftauchten, egal ob allein oder mit der ganzen „Meute“, mit den Eltern oder der Oma.
In der DDR gab es auch noch die so genannte HO, eine Handelsorganisation geführt als staatliches Einzelhandelsunternehmen in oder als Form des Volkseigentums, gegründet 1948. Die HO war in die Bereiche Industriewaren, Gaststätten, Hotels und Lebensmittel (Ohne Sammelmarken) aufgegliedert. Die HO war also eine Staatliche Organisation und die Konsumkette ein genossenschaftliches Unternehmen. Beide etablierten sich zusammen im DDR – Alltag.
Nach wie vor fuhren wir in den Ferien und an den Wochenenden mit den Eltern nach Saalfeld, allerdings immer erst am Sonnabend nach dem Mittagessen. In diesen Jahren war am Sonnabend in der Schule noch Unterricht und die Eltern mussten arbeiten. Meine Oma wartete schon auf uns und mein Opa spielte mit uns das Spiel „Räuberwald“, bis es hieß: Kaffee trinken. Auch damals besaßen Kinder kein „Sitzfleisch“, es war genau nicht anders als heute und unser Opa ließ sich nicht lange bitten, das tolle Spiel mit großem Jubelgeschrei fort zu setzen. Meine Großmutter schüttelte nur mit dem Kopf und hielt sich bald darauf die Ohren zu. Zum „Räuberwaldspiel“ wurden die Stühle so aufgestellt, dass sie mit Fantasie als Auto fungieren konnten. Mein Großvater war meist der Taxifahrer, mein Bruder Holger der Räuber und ich der Beifahrer. Mein Bruder musste uns im Wald überfallen, ausrauben und fesseln. Das alles ging mit viel Lärm vor sich, wir Kinder fanden das einmalig. Aber fast noch besser gefiel uns das Spiel „Musikkapelle“. Mit zwei Stürzen (so nannte man Topfdeckel) pro „Mann“ ging es im Gänsemarsch durch die ganze Wohnung. Die Topfdeckel wurden dabei heftig aneinander geschlagen, das ergab für uns ein herrliches Getöse. Meine Oma war bereits verzweifelt, meine Eltern durften nichts sagen, sie waren bei solchen Angelegenheiten, die mein Opa mit uns vollführte entmündigt und er amüsierte sich königlich. Mittendrin waren auch noch die beiden Hunde, zu der Zeit ein brauner Langhaardackel namens Knirps und eine Chow – Chow -Hündin, die Arta hieß. Es war der zweite Dackel an den ich mich erinnere. Ich weiß noch, dass der erste Dackel, den ich immer mit knapp zwei Jahren im Hof meiner Großeltern gebürstet habe, ein schwarz – brauner Kurzhaardackel war, zu dem ich immer Seppl, mein Goldschatzerle gesagt haben soll. Die Arta und der Knirps vertrugen sich nicht so sehr gut, es musste Obacht gegeben werden, damit sie nicht zusammengerieten, das war die Aufgabe vom Onkel Josef, also dem Bruder meiner Oma. Überhaupt war die Beziehung zwischen dem Onkel Josef und der Arta ein Ding für sich. Die Arta saß immer neben meinem Großvater wenn er sich im Sessel ausruhte und knurrte sofort wenn der Onkel Josef in der Tür erschien, auch wenn er es gut meinte und eine leere Bierflasche von meinem Opa mitnehmen wollte. Der Onkel Josef durfte nur in Artas Nähe kommen, wenn er ihr Futter geben oder mit ihr Gassi gehen wollte. Alle sagten: „Die Arta hat etwas gegen den Onkel Josef, weil er ihr bestimmt einmal etwas Böses angetan hat“. Er mochte Tiere nicht besonders. Der Hund hatte es wohl nicht vergessen und spürte zudem die Abneigung meines Onkels, denn mein Bruder und ich durften auch mit ihr spielen. Die Arta bekam auch einmal Babys, mein Papa war ärgerlich, denn es waren keine „echten“ Kinder, aber mit echt oder unecht konnte ich in diesem Alter noch nichts anfangen. Ein Hundebaby von der Arta war noch recht lange bei uns verblieben, Ursus hieß es und war ganz kuschelig. Eines Tages war Ursus weg. Man beschwindelte mich auch noch, indem man mir erzählte, der Ursus sei zur Hundeschule unterwegs. Irgendwann fand ich doch die Wahrheit heraus, er war verkauft worden. Ich fand das voll gemein, ich war schwer enttäuscht, es ist doch egal, ob echt oder nicht, - oder? Außerdem hatte mein Papa damals bei meinem Kokosflockenattentat gesagt, dass man nicht lügen darf, … also bitte!
Kurz darauf bekam der Dackel Knirps vier Babys, es waren zwei Langhaar und zwei Kurzhaardackel, nun verstand ich als Kind halt gar nichts mehr, die waren doch nun echt, wie man sagte und wurden trotzdem weggegeben.
Mein Opa kaufte ein Pony und löste damit bei uns Kindern ohne Frage optimale Freude aus, es hieß Peter und war schwarz – weiß gescheckt. Einmal hatte sich das Pferdchen über den Kuchen hergemacht, den meine Oma gebacken hatte und den es zum Kaffee geben sollte. Ich sehe das für uns Kinder äußerst amüsante Ereignis von damals noch genau vor mir: Der Tisch in der Sitzecke hinter dem kleinen grünen Gartenhäuschen war bereits für die bevorstehende Kaffeezeit gedeckt. Meine Großmama brachte den Kuchen, stellte ihn auf den Tisch und rief uns: „Kommt alle bitte Kaffeetrinken!“. Ich saß auf meiner Schaukel und sah, dass meine Oma noch einmal in die Laube zurück ging, sie hatte bestimmt etwas vergessen. Plötzlich war der Peter da, er schniefte auf dem Tisch herum und machte sich im gleichen Augenblick über die Torte her. Ich konnte nur noch: „Oooomaaa, der Peter frisst den Kuchen auf!“ schreien. Nun kamen alle aus verschiedenen Richtungen herbei gestiebt, meine Oma schlug vor Schreck und Entsetzen die Hände über ihren Kopf zusammen, wie sie es jedes mal tat, wenn sie glaubte in einer ausweglosen Situation zu sein. Ihr verzweifelter Hilferuf ließ meinen Opa in schallendes Gelächter ausbrechen. Durch den ganzen Lärm erschrocken buckelte das Pferdchen, drehte sich um und schlug nach hinten aus. Mein Papa, der gerade um die Ecke kam ließ geistesgegenwärtig die Harke fallen, um den Tisch im letzten Moment fest zu halten, der schon verdächtig schwankte, wackelte und drohte, mit samt dem Geschirr und der verunstalteten Torte ähnlich wie beim „Zappelphillipp“ den Abgang zu machen. Mein Großvater lachte noch immer herzlich aus vollem Halse, ich kann es noch heute deutlich hören, während meine Oma sich nicht wieder einkriegen konnte und noch immer händeringend hilflos kreischte „Oh, … Jesses Maria, … der wird noch alles umreißen!“. Wie immer schlug sie in ihrer Verzweiflung die Hände dabei über ihrem Kopf zusammen, um alles ihrer Ansicht nach dramatische Geschehen zu unterstreichen. Nachdem sich alle beruhigt hatten, stellte man fest, dass noch genug köstliche Torte für alle da war.
Mein Opa „ärgerte“ zu gerne meine Oma, spaßig gemeint natürlich und setzte damit dem ganzen Ausnahmezustand mit dem Pferdchen noch einen drauf, indem er zu uns Kindern sagte: „So, … nun wollen wir alle mal wieder unanständig essen“, das war für meinen Bruder und mich verständlicher Weise eine Aufforderung allerhöchster Güte und jedes mal das Erlebnis pur, … unvergessen für alle Zeit. Meine Oma setzte bereits eine süß säuerliche Mine auf, meine Eltern schauten etwas ratlos in die Runde und mein Opa fing an, wie angekündigt unanständig zu essen und kommentierte das Ganze ausführlich: „Soooo, jetzt schmatzen wir so laut es geht und schlürfen dazu richtig laut beim trinken, … und wenn wir fertig sind, dann lecken wir noch den Teller ab, einmal links herum und dann rechts herum, … und dann alles noch einmal von vorn, …“. Einfach herrlich ist das für uns gewesen. „Du bringst den Kindern schöne Sachen bei!“, flötete meine Oma bereits am Rande ihrer Verzweiflung angekommen und gestikulierte mit ihren Armen, um wie ich es beschrieben habe, der Angelegenheit genügend Ausdruck zu verleihen. Noch immer lachte mein Großvater über die vermeintlichen Sorgen und Befürchtungen meiner Eltern und der Oma hinsichtlich unserer guten Erziehung und freute sich, dass wir Kinder so einen Spaß dabei hatten. Mein Opa wusste genau, dass er solche Späße anbringen kann, weil wir Kinder wiederum ganz genau wussten, dass man so etwas nicht macht, wenn wir in der Gaststätte sind oder wenn Besuch da ist.
Irgendwann zu Beginn der sechziger Jahre sprachen alle Erwachsenen vom Bau einer Mauer, aber als Kind konnte ich damit noch nichts anfangen, ich konnte nicht wissen, was das ist und was es damit auf sich hat. Ich war acht Jahre alt, ich hörte, wie sich die Erwachsenen unterhielten. Es fielen die Worte Osten und Westen, Walter Ulbricht, DDR und Westberlin. Später begriff auch ich, man sprach vom Bau der 156 km langen Mauer am 13. August 1961. Walter Ulbricht veranlasste die Trennung Deutschlands in zwei Staaten, in Ostberlin, also in die DDR und in Westberlin.
Aber wie gesagt, ein Kind beschäftigt sich mit den für ihn erst mal wichtigeren Dingen, so mit der Tatsache, dass wir alle auf für mich unerklärliche Weise nicht mehr in den Garten mit dem kleinen grünen Häuschen gehen konnten, weil alles weg ist, wie man uns sagte, … ohne dass ich es zu der Zeit begreifen konnte. Mein Opa versuchte es mir zu erklären: „Die Stadt Saalfeld will dort, wo unser kleines grünes Gartenhäuschen steht Häuser und Wohnungen bauen“, aber meine Frage, warum man denn die Häuser nicht woanders bauen könne blieb offen, weil sie niemand beantworten konnte. Heute stehen da, wo einst der Garten mit dem kleinen grünen Holzhäuschen war Einfamilienhäuser, … und nicht nur von der schmalen Treppe, die hinauf in das Gärtchen führte, bleibt die Erinnerung an eine schöne Zeit zurück.
Unser Opa bemühte sich um einen neuen Garten und kaufte 1962 ein großes Grundstück am Steiger. Wir wohnten noch immer in Lauscha und die Eltern fuhren mit uns Kindern an den Wochenenden und in den Ferien nach Saalfeld. Alles wie gehabt, in der hellen Jahreszeit waren wir im Garten, im Winter blieben wir hin und wieder auch mal zu Hause in Lauscha.
Mein Großvater ließ im neuen Garten ein Häuschen bauen, es war viel größer als die Hütte im Garten in der Stadt. Der Steiger lag, bzw. liegt recht weit vom Stadtkern entfernt am angrenzenden Wald. Von der Sonneberger Straße, also der Wohnung meiner Großeltern bis zum Steiger sind es gut 5 km, die zurückgelegt werden mussten, um den Garten zu erreichen. Dabei ging es auch noch zeitweise recht steil bergauf. In der ersten Zeit besaßen meine Eltern noch kein Auto, aber viele Dinge, die geerntet werden sollten. Von Johannisbeeren, über Kirschen, Äpfeln, Birnen bis hin zu Pflaumen war alles in großen Mengen vorhanden, weil eine Vielzahl von Bäumen und Beerensträuchern bereits zum Zeitpunkt des Gartenkaufes von der Vorbesitzerin Frau Röscheisen eingebracht waren. Sie verkaufte aus Altersgründen den größeren Teil des Gartens und behielt nur einen kleineren Part für sich. Die alte Dame wohnte sogar in ihrem Garten, in einem alten, aber irgendwie urigen Holzhaus ohne Wasser und ohne Strom. Das Wasser holte sie an der Pumpe und als Beleuchtung diente eine Petroleumlampe. Von einem alten Ofen, den sie mit Holz beheizte lugte ein langes Rohr aus ihrem Dach heraus. Alles in allem also noch ein wenig „vorsintflutlicher“ als es in diesen Jahren bei uns zu Hause in Lauscha war.
Wir schrieben bereits das Jahr 1963, ich war zehn Jahre alt, mein Bruder sechs Jahre.
Um noch einmal auf das viele Obst, welches es in unserem Garten gab zurück zu kommen, blieb uns in der ersten Zeit nichts anderes übrig, als die voll mit Obst beladenen Holzstiegen mit dem Handwagen zu transportieren.
Zu meinem 10. Geburtstag bekam ich von meinem Opa Anbaumöbel geschenkt, sie waren aus Holz und sehr stabil, nicht so wie es heute die gängigen Schrankwände aus Presspappe gibt, die bereits nach dem 2. Umzug aufgeben, weil sie in ihre Einzelteile zerfallen. Diese Schränkchen von meinem Großvater dienten später noch meinen Kindern als Kinderzimmerinventar, ich besaß sie knapp fünfzig Jahre lang, heute ist diese Vorstellung eine Fiktion.
Im Juni 1963 starb mein lieber Großvater an einer Lungenentzündung, die er sich wohl bei schlechtem Wetter am Steiger eingefangen hatte, als er sich dort bei den Bauarbeiten des Gartenhäuschens zu schaffen machte. Er erlebte die Fertigstellung des Häuschens und die Schuleinführung meines Bruders nicht mehr. Der Tod meines Opas hatte zur Folge, dass die Eltern mit uns 1964 zurück nach Saalfeld gezogen sind. Die Wohnung in der Sonneberger Straße war für meine Oma und den Onkel Josef zu groß geworden. Es bestand die Gefahr, dass man auf Grund der Wohnungsknappheit fremde Leute einmieten würde. Also gab es für uns Kinder einen Wechsel der Schule mit Beginn des neuen Schuljahres am Dienstag, den 1. September 1964 in Saalfeld. In der DDR begann das neue Schuljahr immer am 1. September, mit Ausnahme wenn der 1. September auf einen Sonntag fiel, denn der Sonnabend war zu meiner Zeit, wie schon einmal gesagt ein Unterrichtstag. Meine Mutter fing im Labor des Krankenhauses in Saalfeld an zu arbeiten. Mein Vater musste noch ein Jahr in Lauscha bleiben, das hing mit seinem Amt als Stellvertretender Bürgermeister zusammen. Gleichzeitig sorgte er dort für die Auflösung der Wohnung und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Wenn ich es richtig einordnen kann, ist es auch jene Zeit, in der es für unsere Familie den ersten Trabi gab, der später den Namen „Kugelporsche“ erhielt. Der Trabi damals in der DDR war nicht nur ein Auto, sondern er war ein Familienmitglied, auch bei uns zu Hause. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an häufige Pendelfahrten zwischen Lauscha und Saalfeld, besonders im Winterhalbjahr. Mein Vater meinte vor Antritt der Fahrt zurück nach Lauscha immer: „Na hoffentlich kommen wir gut den Lichtener Berg hinauf, es ist glatt und es schneit auch schon wieder“. Ohne Schneeketten ging da gar nichts. Aber der Trabi kam so gut wie immer über diesen Berg an sein Ziel, die Fahrt wurde nur gestoppt, wenn vor uns ein Auto ins stocken geriet. Dann mussten wir alle aussteigen und schieben bis wir wieder in Gange kamen, dazu wurden Decken unter die Reifen gepackt.
Im Sommer gestaltete sich der Transport des geernteten Obstes für meine Eltern nun wesentlich leichter. Einkäufe für das Wochenende und andere Dinge, die am Wochenende im Garten benötigt wurden konnten nun mit unserem Trabi transportiert werden.
Ich erinnere mich daran, dass wir mit dem Trabi in den Urlaub gefahren sind, an die Ostsee, und einmal waren wir in der Landeshauptstadt Berlin. Wir fanden es als Kinder toll in diesem für uns riesigen Hotel zu schlafen. Das Essengehen war für uns eine Attraktion, denn das kam bei uns zu Hause äußerst selten vor.
Wie ging es uns nun in der Schule weiter? Von Politik verstand ich als elfjähriges Kind kaum etwas, mein Bruder erst recht nicht. Mir „stinkte“ es nur an, wie man sich heut` zu Tage auszudrücken pflegt, dass ich mir neue Freunde suchen musste. Ich bin in meinem Wesen eher zurückhaltend gewesen und brauchte eine Weile, um mit der neuen Situation klar zu kommen, während sich mein Bruder in dieser Beziehung nicht so schwer tat und schnell neue Kumpels gefunden hatte, mit denen er draußen herumtollte. Seine Lieblingsbeschäftigung war Räuber und Gendarm spielen oder mit dem Tretauto zu fahren, in das ich nun leider nicht mehr hinein passte. Ich zog es vor, mit ein paar Gleichaltrigen meine neuen Rollschuhe auszuprobieren. Hinter dem Wohnhaus in der Sonneberger Straße befand sich im Anschluss an die dazugehörigen kleinen Gärten eine Vielzahl von Garagen, die mit Betonplatten umgeben waren. Diese schöne glatte Fläche war nicht nur zum Hüpfkästchen spielen bestens geeignet, sondern auch zum Rollschuhlaufen wie geschaffen. Ein Mädchen musste immer auf ihren viel jüngeren, Bruder aufpassen, der nun wirklich noch zu klein war, um mit uns mithalten zu können. Sie war genervt, sie musste ihn überall mitschleppen. Wir wollten ihr helfen, sie lief mit uns und der ganzen Meute weg, wir ließen den Kleinen einfach stehen und dachten uns nichts dabei. Der rannte natürlich hinter uns her und schrie als ob es ihm ans Leben ginge. Alles rannte und es kam was kommen musste, er stolperte und fiel der Länge nach auf die Nase. Er hörte im ersten Moment auf zu brüllen, stand dann auf und drohte hinter uns her. Erst beim Anblick seiner aufgeschrammten Knie fing er wieder an zu heulen und rief: „ … Hilfe! Hilfe … es kommt Blut, es kommt Blut!“. Seltsamerweise ist bei allen Kindern etwas ganz besonders schlimm, wenn irgendwo Blut zu sehen ist. Jedenfalls blieb uns nichts anderes übrig, als die für uns unbequeme Last wieder weiter mit uns zu führen.
1965 Kam auch mein Papa zu uns nach Saalfeld und nahm im Schloss seine Arbeit in der Abteilung Verkehrswesen und Straßenbau auf. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Einteilung des Winterdienstes. Nicht selten schlug er sich selber so manche Nacht um die Ohren, weil er mit den Räumfahrzeugen unterwegs war. Ich muss sagen, in der damaligen Zeit klappte die Räumung der Straßen bei Schnee und Eis besser als heute, auch auf der Saalfelder Höhe und in abgelegenen Dörfern. Jetzt führen schon ein paar wenige Schneeflocken zur vermeintlichen Katastrophe.
Kurze Zeit später wurde meine Oma krank, sie bekam Diabetes und meine Mutter musste ihr immer das notwendige Insulin spritzen.
Das Pferdchen Peter war während des Sommers am Steiger und im Winter hatte es einen Stellplatz in einem Stall in der Stadt, aber es dauerte nicht mehr lange und es musste verkauft werden. Die Eltern hatten keine Zeit, wir Kinder schafften es noch nicht allein und der Onkel Josef kam einfach nicht zurecht mit dem kleinen Pony. Sicherlich deshalb weil der Onkel Josef keine Tiere mochte. Er zerrte an dem Pferdchen herum und wunderte sich, wenn er einen Tritt bekam und hochkant auf den Misthaufen flog. Dann fluchte er, wurde böse und machte damit alles noch schlimmer. Wir Kinder waren sehr traurig, dass unser Freund fort gegeben wurde. Wenn der Opa noch gelebt hätte, wäre es ganz sicher nicht so weit gekommen.
Überhaupt habe ich den Onkel Josef als einen eigenartigen, oft sogar bösartigen, kleinen, dünnen alten Mann im Gedächtnis. Dementsprechend war natürlich unser Verhalten als Kinder ihm gegenüber. Er schimpfte viel auf uns, nahm uns das Spielzeug weg, brachte es in sein Zimmer und versteckte es unter seinem Bett. Einmal schlichen wir uns in sein Zimmer, wir wollten unsere Sachen zurückholen. Plötzlich hörten wir ihn kommen, ich versteckte mich in einer Zimmerecke und der Holger kroch schnell unter sein Bett. Der Onkel Josef führte Selbstgespräche, er entdeckte uns schließlich weil wir über ihn lachen mussten. Unser Onkel nahm einen Besen, er versuchte damit den Holger unter seinem Bett hervor zu holen, aber mein Bruder hielt den Besen fest, der Onkel Josef hüpfte vor Wut wie ein Rumpelstielzchen auf und nieder und fluchte dabei so doll, dass wir noch mehr lachen mussten. In einem günstigen Moment konnten wir mit unserer zurück eroberten Beute fliehen.
Oft, wenn der Onkel Josef in den Hof ging, um die Asche aus den Öfen in die dafür vorgesehenen Vorrichtungen zu schütten, banden wir Stofftiere an eine lange Leine. Damals gab es auf den Höfen noch riesige gemauerte Behälter mit Metalldeckel für die gesamte Hausgemeinschaft. Einzelne separate Mülltonnen für jede Familie kannte man erst später. Die Mülltonnen waren damals wegen der oft noch heißen Asche aus den Öfen aus Metall. Die Tonnen aus Kunststoff kamen erst Jahre Später auf als die meisten Wohnungen mit Fernheizungen ausgestattet wurden. Vom Küchenfenster aus ließen wir die Stofftiere auf seinem Rücken oder auf seinem Kopf tanzen. Das sollte unsere Rache für das versteckte Spielzeug sein, wir freuten uns immer, wenn diese Revanche angekommen war. Er drohte uns mit seiner Faust, schimpfte uns eine verfluchte Bande und machte Anstalten uns fangen zu wollen, aber bis er die Treppen oben war sind wir längst außer Reichweite gewesen.
1965 wurde meine Oma operiert, sie hatte Darmkrebs. Ihr Zustand verschlechterte sich ganz schnell, sie lag sehr viel im Bett. Meine Mutter war neben ihrem Beruf voll mit ihrer Pflege beschäftigt. Sie hatte viel zu tun, der große Garten und wir Kinder waren auch noch da. Bald konnte meine Großmutter überhaupt nicht mehr aufstehen und ging schließlich im Januar 1966 ganz von uns.
Ich war fast 13 Jahre alt, langsam vollendete sich damit der Lebensabschnitt, den man als Kinderzeit bezeichnet. Das Spielen im Hof und auf der Straße mit einer Horde anderer Kinder wurde immer seltener. Wie alle anderen auch ging ich einem Alter entgegen, indem man manchmal nicht so recht wusste, ob man Fisch oder Fleisch ist. Ich traf mich lieber mit meiner Freundin Gabi aus meiner Klasse, mal war ich bei ihr und manchmal hockten wir in meinem Zimmer zu Hause, sehr zum Leidwesen meines Bruders, der halt noch nicht verstand, warum das so ist oder war. Die Interessen von uns heranwachsenden Mädchen klafften mittlerer Weile mit denen, die mein Bruder Holger und seine Freunde in Bezug auf Spiel und Herumtoben noch miteinander verbanden recht weit auseinander. Wir hatten jetzt keine Ambitionen mehr, uns mit lautem Jubelgeschrei am verstecken oder fangen spielen zu beteiligen.
Man kam in ein Alter, in dem man nicht nur in der Schule mit politischen Begebenheiten konfrontiert wurde und diese, wenn vielleicht auch vorerst für sich selbst, versuchte zu verstehen und dessen Bedeutung richtig einzuordnen. Fragen traten auf: Warum macht man Geheimnisse um „Westzeitungen“, „Westkinofilmprogramme“ oder Fotos mit „Westschauspielern oder Sängern“? Warum darf man diese Dinge nicht besitzen und erst recht nicht mit in die Schule bringen, um eventuelle „Tauschaktionen“ vorzunehmen? Warum ist der Kontakt mit westdeutschen Familienmitgliedern untersagt und warum verbietet man das westdeutsche Fernsehprogramm? Eines Tages wurde ich mit einem diesbezüglichen Ereignis das erste Mal konfrontiert und versuchte mich damit auseinander zu setzen. Ein Mädchen aus meiner Klasse reichte eine westdeutsche Illustrierte in der Pause herum. Sie schaffte es dann nicht schnell genug, die besagte Zeitung wieder rechtzeitig in ihrer Schultasche verschwinden zu lassen. Der Lehrer nahm ihr sofort die Zeitung weg „Wo hast du das her?! Das ist klassenfeindliches Material, gib das her, das wird eingezogen und vernichtet! Wenn ich dich noch mal damit erwische muss ich es dem Direktor melden!“. Meine Freundin Gabi flüsterte mir zu: „Wir gehen in Zukunft lieber erst zu mir, um die Bilder zu holen, die wir tauschen wollen“. Ich stimmte ihr leise flüsternd zu: „Ja o.k. ist sicher besser so“. Auch wir nahmen zu Anfang manchmal solches angeblich „klassenfeindliches Material“ mit in die Schule, um gleich vor Ort unsere neuen Errungenschaften zu präsentieren. Ich war stolz einen Stapel westdeutscher Filmprogramme, Fotos von Schauspielern und etc. von einer Kollegin meiner Mutter geschenkt bekommen zu haben. Eine wahre Schatzkiste war das damals für mich, … eine verbotene noch dazu. Also unterließen wir es künftig lieber, besagte Dinge mit in die Schule zu nehmen. Heute lächele ich darüber, wenn ich an die Worte meiner Freundin denke, die da sagte: „Mensch, das wäre ein riesiger, unwiederbringlicher Verlust gewesen, wenn das alles weg gewesen wäre!“. Die Sachen, die vom so genannten Klassenfeind, also von den Kapitalisten stammten waren eben verboten. So gab es nur wenige Kinder, die hin und wieder Garderobe aus Westdeutschland erhielten. „Westklamotten“, nannte man das. Um die Herkunft eben dieser Klamotten zu tarnen, mussten Firmen oder Reklameschilder die darauf aufgenäht waren entfernt werden, wir brauchen keinen westdeutschen kapitalistischen Schund, … so hieß es. Bis auf wenige Ausnahmen hatten wir Kinder damals keine auffallende Kleidung an, in der Schule schon gar nicht. Heute haben die Kinder, dessen Eltern nicht das Geld haben, um teure, so genannte Markenware zu kaufen das Nachsehen. Sie werden gehänselt oder sogar gemobbt, ein Umstand, den ich aus meiner eigenen Schulzeit überhaupt nicht kenne.
Meine Eltern gingen, so gut wie alle Mütter und Väter, den ganzen Tag zur Arbeit, also aßen wir in der Schule zu Mittag. Diese Schulspeisung gab es in der DDR bereits unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, obwohl nach dem Krieg die Versorgungslage sehr schlecht war. Wir Kinder waren nicht verwöhnt und ich habe somit nicht wirklich negativen Erinnerungen an das Schulessen. Wie immer und überall gab es natürlich Gerichte, von denen man nicht so begeistert war. So zum Beispiel erinnere ich mich an Nudeln und Tomatensoße, wobei die Nudeln immer in einer riesengroßen Pfanne ganz dick zusammengeklebt waren, sodass die Köchin sie mit einem Pfannenwender abstechen musste. Die Nudeln landeten dann wie ein Paket auf unserem Teller. Verzichtet habe ich nur auf mein Essen, wenn es das so genannte „Saure“ gab, das war ein Ragout aus Innereien, welches mit Essig sauer zubereitet war. Wenn ich diese graue, dünne Soßenbrühe sah, dann lief es mir kalt den Rücken hinunter. Dafür verschlang meine Freundin ihre Portion mit wachsender Begeisterung, … und meine gleich mit, weil ich sie ihr „großzügig“ überließ und froh war, dass ich diese Herrlichkeit los war. Zum Tausch bekam ich ihren Nachtisch, den es jeden Tag gab, mal als Pudding, Obst oder Quarkspeise. So ein Schulessen kostete 50 bis 0,75 Pfennig. Wir konnten auch in der Pause an der Frischmilchversorgung teilnehmen, die es als Milch und manchmal auch als Kakao in kleinen Flaschen (250ml) gab. Wie viel sie gekostet hatte weiß ich nicht mehr so genau, nur, dass man im Laden für eine Flasche Vollmilch (500ml) 0,36 Pfennig bezahlte. In den Ferien, wenn wir nicht am örtlichen Ferienlager teilgenommen haben, besorgte unsere Mutter im Krankenhaus für uns Kinder Gastessenmarken. In den Betrieben, so auch im Krankenhaus gab es für das Personal meist drei verschiedene Essen, wobei eins davon speziell für Diabetiker zubereitet wurde. Diese Essenspreise bewegten sich zwischen 0,75 Pfennig und 1,20 Mark.
Wir Kinder besaßen, wie alle Mitschüler, jeder einen Haustürschlüssel weil die Eltern nicht zu Hause waren wenn wir von der Schule kamen. Daheim warteten verschiedene Aufträge auf uns, die wir Kinder nach der Schule zu erledigen hatten, zumindest die größeren von uns. Weil mein Bruder, wie schon gesagt, vier Jahre jünger war als ich, kam er in dieser Beziehung noch „gut weg“, wie es heißt. Mein Zimmer aufzuräumen war die erste Pflicht, Mädchen haben besonders ordentlich zu sein, meinte meine Mutter immer sehr bestimmt. Es ärgerte mich schon manchmal, dass mein Bruder oft in einem Zustand sein Zimmer verließ als hätte es gerade einen Bombenangriff gegeben. Als nächste Aufgabe musste ich immer in der Küche nachsehen, ob ein Einkaufszettel für den Konsum auf mich wartete. Das Geld dafür lag meist genau abgezählt daneben, denn alles hatte immer und überall den gleichen Preis, egal wo man einkaufte.
Meinen ersten Kuchen habe ich gebacken da war ich neun Jahre alt. Leider hatte ich dabei das Backpulver vergessen und damit eher einen Stein, als einen Kuchen produziert. Der Onkel Josef aß ihn trotzdem, in dem er ihn in seinem Tipfel, so nannte man kleinere Töpfe mit einer Ausgusstülle, „eingebrockt“ hatte. Wenn er auch ansonsten sehr speziell war, aber da zeigte er sich kulant.
Zu meinen Standardarbeiten gehörte regelmäßig das Wischen und Einbohnern des Treppenhauses, ich machte es nicht gerne, besser gesagt, ich hasste es. Heute gehört es zu den Dingen, an die ich mich gern erinnere, … und zwar besonders an den Geruch einer frisch gebohnerten Treppe, auch wenn es „spießig“ klingen mag, wie Udo Jürgens es in einem Schlager beschreibt. Holz und Kohlen aus dem Keller holen löste stöhnen und meckern unsererseits aus. Und Heute?. Heute verkörpert der Gedanke an einen warmen Kachelofen im Winter, an den man sich so schön mit dem Rücken dagegen lehnen konnte, so wie das knisternde Feuer im Badeofen, wenn wir aus dem Garten zurück kamen Sehnsucht nach einer gewissen unwiederbringlichen Gemütlichkeit. Alle diese Dinge sind für mich heute Erinnerungen an ein gemütliches Zuhause.
Neben den Aufgaben zu Hause warteten natürlich auch schulische Verpflichtungen, mit denen nicht nur das Erledigen der Hausaufgaben gemeint war. Oft hatten wir am Nachmittag Sportunterricht oder Gruppennachmittage, an denen wir beispielsweise den Auftrag bekamen eine Wandzeitung in der Schule zu gestalten, oder eben wie bereits erwähnt Altstoffe zu sammeln, oder auch mal ins Kino zu gehen. Spezielle Bücher mussten von uns in der Freizeit gelesen werden. Wir konnten uns nicht davor drücken, weil wir eine schriftliche Inhaltsangabe abliefern mussten, oder die Handlung des Buches war das Thema für den nächsten Aufsatz. Manche Lehrer waren dabei (in unseren Augen) so hinterhältig und fragten stichprobenartig nach Kleinigkeiten der Handlung, die nur jemand wissen konnte, der das Buch auch wirklich richtig gelesen hatte ohne ein paar Seiten auszulassen. Gelesen wurde zum Beispiel: „Timur und sein Trupp“, „Wie der Stahl gehärtet wurde“, „Robinson Crusoe“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, um nur einige zu nennen.
Während dieser Zeit meldete ich mich auch beim Pferdesport an und trat in den DTSB ein. (Deutscher Turn und Sportbund, ihn gab es auch für andere Sportarten). Das bereitete mir sehr viel Freude. Ich lernte dabei nicht nur reiten, sondern auch sehr viel rund um das Pferd.
Man kann also sagen, dass wir Kinder und Schulkinder immer intensiv beschäftigt waren und das meist auch unter Aufsicht. Man hatte quasi kaum Gelegenheit, um irgendwo groben Unfug zu treiben. Sicher gab es auch in der DDR Spitzbuben, die nur Blödsinn im Kopf hatten und jede Gelegenheit nutzten, um Unfrieden zu stiften. Im Großen und Ganzen aber waren die meisten von uns durch eine präzise Beschäftigung, bzw. Aufgabenstellung, die ihnen angetragen, und dessen Erfüllung erwartet wurde, beaufsichtigt und unterlagen damit einer gewissen Kontrolle. Man überließ nicht alles seinem Selbstlauf, so wie es heute vielfach der Fall ist.
Ein ganz großer „Renner“ während meiner Schulzeit war das so genannte Poesiealbum, für uns Mädchen war dieses Büchlein meist in den unteren Klassen aktuell. Manche Poesiealben konnte man auch mit einem kleinen Schlüsselchen abschließen um den Inhalt vor den „neugierigen“ Blicken der Eltern und Geschwister zu schützen damit die „geheimnisvollen“ Einträge unentdeckt blieben. Nach der Jugendweihe fühlte man sich dafür schon viel zu erwachsen und es verschwand in einer Schublade. Meine Generation wird sich bestimmt daran erinnern. Jedem, den man für „wert“ erachtete, bat man, sich in Form eines kleinen Verses zu verewigen. Erinnert ihr euch? : Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken, aber nur die eine nicht, die da heißt Vergissmeinnicht. Wenn man das Büchlein einem Jungen gab, wurde er meistens rot und tat, als ob das für ihn irgendwie lästig wäre und er darüber „erhaben“ sei. Ganz im Geheimen aber erfüllte ihn die Bitte von einem Mädchen mit Stolz, wenn er dazu auserkoren wurde, sich mit einem Vers „unsterblich“ machen zu dürfen, … aber welcher „Kerl“ hätte das schon zugegeben? Auch den Lehrern gab man dieses „Posie“, wie man es auch nannte. Meine Klassenlehrerin schrieb damals: Ich kenne keine anderen Vorzüge des Menschen als die, die ihn zu den besseren Menschen zu zählen machen.
Alles Um und Auf, was mit dem Onkel Josef zusammenhing verschärfte sich. Bevor ich mich um die Einkäufe kümmern musste, war das die Aufgabe vom Onkel Josef, schon zu Lebzeiten von Opa und Oma. Meine Oma hatte manchmal gemeckert, weil er das ganze Geld welches ihm mitgegeben wurde ausgab, oder er kaufte viel zu viel ein, entweder was überhaupt nicht gebraucht wurde oder von uns verbraucht werden konnte. Mein Opa nahm die übrigen Dinge mit und teilte sie unter seinen Patienten auf. Das war sicher möglich, weil mein Opa wohl recht gut verdient hatte. Aber nun ging das nicht mehr, meine Mutter musste dem Josef das Geld abgezählt mitgeben, bis man ihn eben gar nicht mehr zum Einkaufen schicken konnte und ich das Ganze übernehmen musste. Ich hörte so manches mal meine Mutter sagen:„Du, Josef, das geht so nicht, das können wir uns nicht leisten, du musst schon nur das bringen, was ich dir sage“.
Auch mit uns Kindern wurde es schwierig mit dem Onkel Josef. Einmal hatte er mich direkt angegriffen, warum weiß ich nicht mehr. Jedenfalls holte der Holger darauf hin sein Wassergewehr und schoss damit vom Bauernschrank in der Diele auf den Josef herab. Das machte ihn natürlich noch wütender, er packte und hielt mich fest, … es gelang mir zu entkommen, ich konnte ihm einen Scheuerlappen über den Kopf schmeißen. Schnell flüchteten wir aus der Wohnung in den Hof. Am nächsten Tag war dafür Rache unsererseits angesagt. Als er von seinem Dachbodenzimmer herunterkam, hielten wir die Dielentür zu, wir wollten ihn nicht herein lassen. Bei der ganzen Aktion ging die Glasscheibe in der Tür zu Bruch. Wir riefen unsere Mutter auf Arbeit im Krankenhaus an und nervten sie damit. - Ein paar Jahre später wusste man es besser, der Josef war nicht mehr ganz zurechnungsfähig und es wurde klar, dass man besser daran getan hätte, ihm nachzugeben oder nicht auf seine Sticheleien zu reagieren, wenn er Streit anfing. Stattdessen fanden wir Kinder es eben besser, nichts auf uns sitzen zu lassen und uns lieber zu rächen. Wie gesagt wären solche Eskapaden nicht entstanden, wenn wir einen Bogen um ihn gemacht hätten, aber wie gesagt, haben wir es als Kinder eben nicht besser gewusst und immer darüber nachgedacht, wie man sich rächen könnte. Kurze Zeit später wurde auch der Onkel Josef krank und verließ uns im Januar 1967, er starb an Kehlkopfkrebs.
Für mich begann nach einer schönen Kindheit bald ein neuer Lebensabschnitt, die Zeit der Mädchenjahre.