Читать книгу #4 MondZauber: VERGELTUNG - Mari März - Страница 10
ОглавлениеGefühlschaos
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel über die blauen Weiten des Ozeans. Die Freiheit war nirgendwo intensiver spürbar als auf hoher See. Lyra genoss den frischen Wind und die Stille an Deck, welche nur vom lauten Dröhnen des Schiffsmotors begleitet wurde. Ein neuer Tag hatte begonnen, ein neues Jahr. Was es wohl bringen würde?
Im Gegensatz zum letzten Silvestermorgen fühlte Lyra heute weniger den sonst so vertrauten Neujahrsblues. War es tatsächlich erst ein Jahr her, dass sie sich den Schädel kahl rasiert hatte, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie anders war?
Jetzt lachte sie über ihren aus heutiger Sicht völlig absurden Versuch, mit Äußerlichkeiten ihre Individualität zu manifestieren. Aber das gehörte zur Pubertät dazu, genau wie zum Erwachsenwerden die Erkenntnis, dass Klamotten noch keinen Charakter machten. Solche Äußerlichkeiten dienten immer einem bestimmten Zweck, das wusste Lyra jetzt. Ihre schwarzen Schlabber-Outfits sollten ein Schutz sein, den sie irgendwann nicht mehr brauchte. Tiefe Dekolletés und hohe Schuhe polierten das eigene Selbstbewusstsein auf und konnten darüber hinaus für so manche Überzeugung oder Ablenkung dienlich sein. Und dann gab es eben noch praktische Kleidung. Die Seemänner trugen dunkle Overalls, auf denen nicht jeder Schmierölfleck gleich zu sehen war. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, im weißen Leinenanzug oder rosa Tutu den Maschinenraum des Frachtschiffs zu betreten. Kurzum: Nicht jedes T-Shirt und auch nicht jede Glatze kam einem Statement gleich, auch wenn Lyra noch vor einem Jahr vehement davon überzeugt war.
Ein Jahr, dachte sie und trat grinsend an die Reling. Wie naiv sie doch gewesen war. Damals hatte sie nicht den leisesten Hauch einer Ahnung gehabt, was die Zukunft bringen würde. Aber im Nachhinein war man schließlich immer klüger.
Aus einem Impuls heraus stieg Lyra auf die Reling und breitete die Arme aus wie einst Kate Winslet auf der Titanic. Nicht alles war schiefgelaufen im letzten Jahr. Ihre Höhenangst hatte sich zum Beispiel in Luft aufgelöst. Noch vor ein paar Monaten wäre es undenkbar gewesen, dass Lyra einfach so während großer Fahrt hier stand, dem Wind trotzte und sich nicht vor Angst in die Hosen machte. Ein Glücksgefühl mischte sich in ihre Bestandsaufnahme. Lächelnd stieg sie zurück aufs Deck und legte beide Hände auf das kalte Metall der Reling. Die Ärmel ihres Sweatshirts rutschten hoch und Lyras Lächeln erstarb. Die Zahnabdrücke der Göttertochter waren trotz ihrer magisch ausgeprägten Selbstheilungskräfte immer noch sichtbar. Vielleicht blieben sie als Narben zurück, als Zeichen, als Stigma wie bei Harry Potter.
»Das ist doch Bullshit!«, sagte sie zu sich selbst und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Beim Blick über die Weiten des Ozeans meldete sich das Tier in ihr. Wie gern würde sie ihrem Kopf eine Auszeit gönnen und als Katze in Ruhe schlafen. Aber wo auf dem Schiff sollte sie sich verstecken? Jeder Winkel an Deck war kameraüberwacht. Könnte sie sich als Luchs unter Deck verkriechen? Nein, das war keine Option. Das Tier in ihr wollte Freiheit, keinen stählernen Käfig.
Eine Weile genoss sie die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht und der Narbe an ihrem Handgelenk. Ihre neuen Sinne machten es möglich, dass Lyra die Fische um sich wahrnehmen konnte. Wie gern wäre sie jetzt einfach ins Wasser gesprungen und ihnen nachgejagt. Aber ein spontaner Sprung von Bord wäre nur schwer zu erklären gewesen, den Seemännern sowieso und auch Lyras Gefährten, die sich in den vergangenen Tagen schon genug Sorgen um sie machen mussten. Miranda und die Rabenbrüder schliefen wahrscheinlich noch, die Silvesterparty hatte erst im Morgengrauen geendet, als der Whiskey alle war.
Seufzend zog Lyra ihr Handy aus der Hosentasche. Sie war nicht ohne Grund an Deck gekommen, jetzt wollte sie endlich auf diese Facebook-Nachricht antworten.
Bist du es wirklich? Du siehst so anders aus.
Melde dich! Daris
In Venedig wusste die magische Welt also, dass etwas nicht stimmte. Oder? Weshalb sonst sollte Daris sich melden?
»Sicherlich nicht, weil er unsterblich in mich verliebt ist«, murmelte Lyra und tippte eine Antwort.
Ja, ich bin es.
Ruf mich an!
Lyra
Sie setzte ihre Handynummer darunter und schickte die Nachricht ab. Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis Daris sie las, schließlich war Facebook etwas für Rentner. Lyra kannte niemanden in ihrem Alter, der diese Social-Media-Plattform nutzte. Andererseits hatte sie auch nie viele gleichaltrige Freunde gehabt – damals in der Schule.
Zumindest ihre erste Überlegung stellte sich als falsch heraus. Ihr Telefon klingelte. Wow! Sie hatte hier echt Empfang und es war wirklich Daris.
»Na? Wie geht es dir, meine Schöne?«
Er klang so vertraut und doch so fremd. Bilder fluteten Lyras Kopf … sie und Daris in diesem Club, in ihrem Apartment …Venedig kam ihr vor wie ein Traum. Daris ebenfalls.
»Hallo, Daris!«, flüsterte sie mit monotoner Stimme. Lyra hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Was sie verband, war ein Flirt gewesen. Nicht mehr. Oder?
»Wie geht es dir?«, wiederholte Daris seine im Grunde banale Frage, die Lyra aber keinesfalls einfach beantworten konnte. Wie ging es ihr? Sie hatte keine Ahnung. Nicht in diesem Augenblick. Ihr Herz hämmerte laut gegen ihre Brust. Was war das … Aufregung, Freude, Liebe?
»Ich dachte, du könntest vielleicht meine Hilfe gebrauchen«, kam es von Daris, als Lyra nicht antwortete. Wie sollte ihr dieser charmante Typ in diesem globalen Schlamassel helfen? Moment! Er war ein Faun, ein Satyr, ein Lupercus, ein Wolfsabwehrer. Auf der kleinen Terrasse ihres Apartments in Venedig hatte Daris ihr davon erzählt, dass er einen hochfrequenten Laut erzeugen konnte, der Hunde oder Wölfe in die Flucht schlug. Damals war ihr das ziemlich egal gewesen, denn seine körperlichen Reize überzeugten seinerzeit weitaus mehr als dieser Umstand, der jetzt hingegen durchaus hilfreich sein konnte.
»Lyra, bist du noch dran? Der Empfang ist echt mies. Wollen wir später …?«
»Nein, alles gut. Daris, du wärst tatsächlich eine große Hilfe. Woher weißt du, dass …?«
Die Verbindung war wirklich schlecht, es knarzte in der Leitung, Daris war kaum zu verstehen. Er sprach davon, dass niemand so genau wusste, woher die Botschaft kam, aber die magische Welt in Gefahr sei und viele dem Aufruf folgten, nach Irland zu reisen, um dort gegen eine Armee untoter Werwölfe zu kämpfen.
»Nina ist mit den Nymphen schon unterwegs. Sie können schwimmen und haben es leicht. Zwar müssen sie über die Straße von Gibraltar und damit einen Umweg in Kauf nehmen, aber die Mädels werden in etwa vier Tagen an der südlichen Küste Irlands ankommen.«
Lyra hörte zwar nur bruchstückhaft, was Daris sagte, aber sie kam aus dem Staunen kaum heraus. Auch wenn der Anlass wenig Grund zur Freude gab, war es doch ein schönes Gefühl, dass da draußen magische Wesen bereit waren, sie als Verbündete zu unterstützen. Sogar Nina, die damals sagte, dass es nicht ihr Krieg sei.
Was oder wer hatte sie umgestimmt?
»Die Nachricht, dass ein großer Kampf bevorsteht, der uns alle betrifft, macht seit Tagen die Runde. Es wird erzählt, dass du die Auserwählte bist, die all das beenden kann. Ich wusste, du bist einzigartig, meine Schöne.«
Daris war immer noch so charmant, so wunderbar einnehmend. Lyra überlegte fieberhaft, was sie ihm antworten sollte. Bei all dem Irrsinn konnte sie jetzt kein zusätzliches Gefühlschaos gebrauchen und den Faun in ihre Welt lassen, in der Ian doch ihr Herz gehörte. Andererseits war es vielleicht gut, einen weiteren Freund an ihrer Seite zu wissen. Ein wirrer Gedanke formte sich in Lyras Kopf und ohne weiter darüber nachzudenken, rief sie: »Komm bitte direkt nach Island. Ich bin auf dem Weg dorthin.«
Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen. Was hatte sie da geplappert? Warum bestellte sie ihren Ex-Lover dorthin, wo ihre große Liebe Ian mit dem Leben rang? Hatte sie nicht schon genug Stress? Würde Daris überhaupt kommen?
»Schick mir einen Standort, ich buche den nächsten Flug.«
Die Funkverbindung brach ab.
Scheiße! Was hatte sie nur getan?
Wieder regte sich das Tier in ihr. Sie brauchte einen klaren Kopf. Nur wie? Lyra konnte sich hier an Deck nicht in einen Luchs verwandeln, als Katze konnte sie auch nicht ins Wasser springen – das Tier in ihr würde vielleicht einfach fortschwimmen, seinen Instinkten folgen und nie wieder zurück an Bord finden.
Aber der Hunger war groß, das Jagdfieber, der Drang nach Freiheit, die Gier nach Erlösung. Alles in ihr sehnte sich nach der Flucht vor den eigenen Gedanken und Gefühlen.
Komm zu mir!, hörte sie ein Flüstern aus dem Meer. Etwas rief nach ihr … etwas Dunkles, Verführerisches.
»Kätzchen, alles gut?« Miranda stand plötzlich neben ihr und spürte offenbar, dass Lyra mit ihren Gedanken woanders war. Konnte sie ihrer Tante erzählen, was in ihr vorging? Nein! Wie denn? Lyra konnte dieses plötzliche Gefühlschaos selbst kaum fassen, geschweige denn beschreiben.
»Ich muss mich bewegen«, sagte sie stattdessen. »Das Tier in mir braucht dringend Auslauf«, was nicht wirklich gelogen war. Über das Flüstern sagte Lyra nichts, vielleicht war ihre verkorkste Wahrnehmung auch nur ein Indiz, dass sie langsam durchdrehte.
»Äh, das ist jetzt echt ungünstig«, brachte es ihre Tante auf den Punkt. Miranda schaute sich um und überlegte offenbar, wie sie ihrer Nichte helfen konnte. »Hier sind überall Kameras, wobei … Heute hat Danny Schicht auf der Brücke, den könnte ich schon von den Überwachungsmonitoren ablenken. Im Grunde schaut da wahrscheinlich während der Überfahrt sowieso kaum jemand drauf, die sind eigentlich für den Hafen, wo verdammt viel geklaut wird.«
»Miranda, hör bitte auf zu quasseln und hilf mir!« Lyras Bitte war eine Mischung aus Jammern und Drohung. Gleich würde der Luchs aus ihr herausbrechen, was sie irgendwie verhindern musste.
»Lenk diesen Danny ab und schick bitte die Rabenbrüder an Deck. Ich …« Lyra schluckte, sie spürte bereits die Reißzähne an ihren Lippen. Was war nur los mit ihr? Beherrschte sie nicht längst das Tier in ihr und konnte genau bestimmen, wann und wo sie sich verwandelte? Mit eisernem Griff hielt sie sich an der Reling fest, konzentrierte sich auf die Wellen, die stetig an den Bug des Frachters knallten.
»Kätzchen, das Schiff hat volle Fahrt, in etwa zwanzig Minuten werden wir die Küste Islands erreichen. Hab Geduld!« Miranda tätschelte Lyras Schulter und machte sich dennoch auf den Weg zur Brücke. Sie wusste offenbar genau, dass Lyra nicht warten würde, nicht warten konnte.
Geduld! Klar, unter normalen Umständen hätte sie es vielleicht fertiggebracht, geduldig zu warten, bis das Schiff Island erreicht hatte und sich erst dann hoch oben auf der schneebedeckten Caldera des Vulkans Katla auszutoben. Nur jetzt konnte Lyra das Tier in ihr nicht mal mehr fünf Minuten unterdrücken. Und in Island konnte sie auch nicht einfach los zum Mýrdalsjökull, sie musste zu Ian, der sie hoffentlich noch wiedererkannte. Und sie musste zu ihrem Großvater, brauchte Gewissheit, dass sie nicht zu einem Vampir wurde oder verrückt.
Komm zu mir!
Etwas Dunkles, Mächtiges schien von ihr Besitz zu ergreifen. Und dieses Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker, das Tier in ihr mutierte zur Bestie.
Scheiße!
Lyra hörte die Rabenbrüder hinter sich. Sie war nicht länger allein, würde also im weiten Ozean kaum verloren gehen, falls ihr Verstand aussetzte. Mit einem Blick zur Brücke, wo Miranda laut kicherte und mit diesem Danny flirtete, kickte Lyra ihre Schuhe gegen eine Containerwand, zerrte erst die Jacke, dann Hose, Shirt und Unterwäsche von ihrem bebenden Körper und stürzte sich in die eiskalten Fluten des Atlantiks.