Читать книгу #4 MondZauber: VERGELTUNG - Mari März - Страница 7
ОглавлениеAuf hoher See
Wo war sie?
WAS war sie?
Lyra hörte die Stimmen ihrer Tante Miranda und der beiden Rabenbrüder. Doch da war noch mehr. Geräusche, Gespräche, Musik, Lachen, Weinen … und die tosende See. Ihre Sinne waren schärfer denn je. Sie nahm ihre Umwelt nicht mehr nur durch ihre kognitiven Fähigkeiten wahr, sondern in einer weiteren Dimension. Ganzheitlich – als wäre sie sowohl in ihrem Körper als auch außerhalb davon. Sie dachte an ihre erste Verwandlung unter dem Apfelbaum in Irland, an die Höhle der Beanna. Damals war ihr Geist aus ihrem Körper geflogen, sie hatte die Welt von oben betrachtet, bis die Verwandlung vollzogen und sie als Luchs in den Wald gelaufen war.
Und jetzt?
Verwandelte sie sich jetzt wieder?
Nein, es war anders. Sie konnte gleichzeitig innen und außen sein. Sie fühlte die warme Hand ihrer Tante, hörte Dagur und Arnar über ihren Zustand diskutieren, sie roch gebratenen Fisch und sah trotzdem das Schiff, in dem sie sich offensichtlich befanden. Es trotzte dem stürmischen Wetter, sein Bug schnitt die hohen Wellen.
Was war geschehen? Redrubi hatte sie gebissen, die Pollnagollum-Höhle, der alte Cathán war zum Leben erwacht. Und sie, Lyra? War sie noch die alte?
»Kätzchen, mach die Augen auf!«
Nein, sie war noch nicht bereit für die Realität. Was, wenn Ian längst ein Zombie war? Was, wenn der Krieg alle vernichtete, die Lyra liebte? Was, wenn …?
Nein, sie durfte nicht länger hier herumliegen.
Sie musste etwas tun.
»Da, sie blinzelt wieder!«
Lyra öffnete die Augen, bekam ein Bild zu dem, was sie gehört hatte. Miranda und die Rabenbrüder hockten vor ihr. Sie lag auf einem Bett. Langsam drehte sie den Kopf und sah ein großes Bullauge, davor Wasser, das im stetigen Rhythmus der Wellen an die Scheibe klatschte. Sie waren tatsächlich auf einem Schiff, auf hoher See.
»Wie lange war ich weg?«
»Knapp vier Tage«, flüsterte Miranda und wischte sich Tränen von den Wangen. Noch nie hatte Lyra ihre toughe Tante weinen sehen.
Vier Tage.
Aber sie war am Leben.
»Wie geht es Ian?«, murmelte Lyra jene nächste Frage, die ihr auf der Seele brannte. War auch er am Leben oder längst eine untote Bestie?
»Nichts Neues aus Island«, sagte Miranda und schaute kopfschüttelnd auf ihr Handy. Warum war ihre Tante so wortkarg? Irgendeine Nachricht musste in vier Tagen doch gekommen sein?
Dagur und Arnar plapperten dafür umso enthusiastischer – mal abwechselnd, dann wieder synchron erzählten sie Lyra, was geschehen war.
»Cathán senior hätte uns gern ausgelutscht. Der war krass drauf, als er von den Toten auferstand«, sagte Dagur.
»Aber Redrubi hielt ihn zurück«, fügte Arnar hinzu. »Ich sage dir, die führt noch mehr im Schilde, sonst hätte sie uns nicht verschont.«
Lyra hatte einige Mühe, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Während sie sich aufsetzte und durstig vom Wasser trank, das Miranda ihr gereicht hatte, hörte sie zu und dachte nach.
Die Rabenbrüder erzählten weiter, wie sie Lyra aus der Höhle getragen hatten. Es musste eine ziemliche Schinderei gewesen sein. Sie war zwar nicht mehr so pummelig wie noch vor einem Jahr, aber doch größer und auch schwerer als die kleinwüchsigen Zwillinge. Dagur berichtete, dass sie vor der Höhle eine Trage gebaut hätten, um Lyra bis zum Auto zu schleppen. Miranda schaltete sich in die Ausführungen ein und sagte, dass sie in einem kleinen Gasthof übernachtet hätten und dann direkt zum Hafen nach Belfast gefahren wären. Es gab keine Fährverbindung von Irland nach Island. Sie hätten über Dänemark reisen können, aber das wäre ein Trip von etwa einer Woche gewesen. Mit dem Flugzeug wäre es am schnellsten gegangen, aber nicht mal Mirandas magische Überredungskünste hätten die Mitarbeiter am Flughafen davon überzeugen können, der halb toten Lyra ein Ticket auszustellen. Also waren sie auf einem Frachtschiff unterwegs. Die ausschließlich männliche Besatzung hatte Miranda relativ schnell überzeugen können – zum einen mit ihren erotischen Reizen, zum anderen mit einer ordentlichen Stange Geld.
Durch Lyras schmerzenden Kopf geisterten Bilder von Kapitän Ahab und Moby Dick, der Meuterei auf der Bounty und Herbert Grönemeyer als Leutnant Werner an Bord von U 96. Allesamt keine besonders attraktiven Männer, was sie zu der Frage brachte: »Du musstest aber nicht mit einem der Kerle ins Bett, oder?«
Miranda kicherte. »Und wenn, war das mein Privatvergnügen. Seeleute sind so hübsch hungrig.«
Lyras Sinne schweiften zu dem Geruch nach gebratenem Fisch, den sie eben noch wahrgenommen hatte. War das nur Einbildung gewesen? Nein, es roch tatsächlich …
Sie sprang auf, schaute sich hektisch in der kleinen Kabine um, fand eine Tür, an der kein grünes Schild angebracht war, das auf einen Fluchtweg hinwies. Dahinter entdeckte sie ein Waschbecken, eine Dusche und …
Würgend riss sie den Toilettendeckel hoch und spuckte das Wasser wieder aus. Mehr hatte sie offenbar nicht im Magen. Wie auch – nach vier Tagen im Koma?
Kalter Schweiß bedeckte ihren zitternden Leib. Vor der Tür hörte sie Dagur und Arnar lamentieren, ob es sich um Anzeichen einer Verwandlung, Genesung oder Seekrankheit handelte. Miranda war praktischer veranlagt. Sie kam in das winzige Bad, knallte die Tür hinter sich zu und half Lyra beim Aufstehen.
»Kätzchen, du wirst jetzt duschen, deine Zähne putzen und dann besorgen wir dir was zu essen.«
Beim letzten Wort musste Lyra erneut würgen, aber da war nichts, was sie hätte von sich geben können. Nur grüne Galle, die aus ihrer Kehle zum Wasser im Klosett spritzte. Keuchend tastete sie nach der Spülung. »Wo …?«, fragte sie und stöhnte. Miranda betätigte einen Knopf, woraufhin der Inhalt des Toilettenbeckens geräuschvoll abgesaugt wurde.
»Ich kann nichts essen«, seufzte Lyra und zog sich das verschwitzte Shirt über den Kopf.
»Doch, Kätzchen! Gegen Seekrankheit hilft am besten Essen. Gegen die Folgen eines massiven Blutverlustes ebenfalls, vom Biss einer Göttertochter mal ganz abgesehen.«
Auf wackligen Beinen stand Lyra am Waschbecken und betrachtete das ausgemergelte Wesen vor sich im Spiegel. Sie sah echt scheiße aus. Ihr Blick senkte sich resigniert und blieb an ihrem rechten Unterarm hängen. Dort waren immer noch die Bissspuren zu sehen. Warum verheilten sie nicht?
»Meinst du, ich bin jetzt auch infiziert wie Ian?«, fragte sie aus einem ersten Impuls heraus. Doch dann besann sie sich auf das, was Redrubi gesagt hatte.
Keine Angst, Kätzchen, ich werde dich nicht zu einem Vampir machen. Du bist die Auserwählte, also wird dein magisches Blut meinen Liebsten zum Leben erwecken.
Die Tochter der Geisterkönigin, jene fiese rothaarige Bitch, die mit ihnen spielte, als wären die Bewohner der magischen Welt nur Schachfiguren, lediglich Staubkörner in der Zeit, hatte Lyra fast zärtlich mit »Kätzchen« angesprochen.
Wieso?
War das wieder eines ihrer Spielchen gewesen oder steckte mehr dahinter?
Im Nachhinein glaubte Lyra, etwas wie Dankbarkeit in Redrubis Augen gesehen zu haben.
»Keine Ahnung, ob du jetzt infiziert bist, Kätzchen. Sag du es mir!«, erwiderte Miranda und half ihr beim Ausziehen. Fürsorglich hielt sie Lyras geschwächten Körper unter der Dusche, wusch ihr strähniges Haar und trocknete sie anschließend ab.
»Ich bin dankbar, dass du noch lebst. Und ich hoffe, das bleibt so!«, murmelte Miranda wenig später, als sie Lyras Haar in ein frisches Handtuch wickelte und ihr eine Zahnbürste reichte. »Fürs Erste wäre ich glücklich, wenn du dir den Grind von den Zähnen schrubbst. Du riechst echt widerlich aus dem Mund.«
Da war er wieder, Mirandas Sarkasmus. Wenigstens etwas Vertrautes, das Lyras Herz wärmte. Ihre Tante öffnete die Badtür und wies die Rabenbrüder an, etwas Essbares aufzutreiben. Während sie sprach, schaute sie zurück zu Lyra und fragte: »Das hier ist zwar nicht die AIDA, aber der Smutje an Bord kocht nicht schlecht. Hast du Appetit auf was Besonderes?« Miranda bedachte sie mit einem durchdringenden Blick und fügte dann hinzu: »Blut, Menschenfleisch oder so?«
Lyra grinste, obwohl ihr nicht unbedingt nach Scherzen zumute war. Eine Sekunde horchte sie in sich hinein und wollte erspüren, ob da tatsächlich der monströse Drang war, ihre Zähne in etwas anderes als ein Kaninchen oder Reh zu rammen. Nein, da war nichts. Sie schüttelte den Kopf und versuchte es mit einem Lächeln. »Nee, ein rohes Stück Tier würde mir reichen.«
»Jungs, sie ist immer noch eine Katze und kein Vampir. Also schaut mal, ob ihr in der Bordküche ein halbes Rind auftreiben könnt … ein Huhn vielleicht oder rohen Fisch.«
»Ja, roh! Der Bratenduft bringt mich sonst gleich wieder zum Kotzen«, rief Lyra aus dem Bad und ließ sich müde auf der Toilette nieder. Egal, was die Rabenbrüder ihr brachten, sie musste es tapfer in sich hineinstopfen, dem Würgereiz trotzen und wieder zu Kräften kommen. Ihr Trip in die Marble Arch Caves war ein Desaster gewesen, völlig sinnlos. Sie hatten weder Blut noch Gewebeproben vom alten Cathán. Ganz im Gegenteil, der vergnügte sich jetzt mit Redrubi irgendwo. Und der junge Cathán spielte Gott und erschuf seine Armee der Untoten. Hatte er deshalb nur Teile des Urvampirs mitgenommen, weil Redrubi genau wusste, dass sie mit Lyras Blut ihren Liebsten zum Leben erwecken konnte?
Aber was wollte der junge Cathán mit den Armen und Beinen des Urvampirs? Er war kein Wissenschaftler wie Lyras Großvater, sondern ein beschissener Fanatiker. Allerdings hatte sich etwas verändert, eine durchaus wichtige Variable im Spiel der Götter. Der junge Cathán wollte sich an seinem Bruder rächen, ja. Aber er inszenierte diesen Krieg doch auch, weil er glaubte, auf diese Weise Redrubi für sich zu gewinnen. Er wollte in die Fußstapfen seines Namensvetters treten. Nur ging das jetzt nicht mehr, da der alte Cathán wieder lebendig war.