Читать книгу Teresas Reise zu sich selbst - Maria Amari - Страница 3
ОглавлениеTeresa
Es war vier Uhr morgens. Ein Herbststurm fegte brausend über die Dächer. Teresa konnte nicht schlafen, wie immer um diese Zeit. Sie lag unruhig und angespannt in ihrem Bett und ahnte, dass etwas in ihrem Leben geschehen würde. Sie wusste nur nicht genau was. Doch sie spürte Veränderung.
Sie hatte Schmerzen, ihr Atem ging schwer. Sie würde zum Arzt gehen müssen. Es ließ sich nicht mehr weg salben oder weg beten, geschweige denn, weg denken. Die dunklen Ringe unter den Augen sprachen Bände.
Nacht für Nacht dasselbe Spiel. Aufwachen, Bauchkrämpfe, Angst haben. Nach etwa einer halben Stunde war der Spuk meist vorbei und der erlösende Schlaf konnte sich wieder einstellen. Er trug sie fort wie ein Geliebter.
Den Bus zur Arbeit hätte sie an diesem Morgen fast verpasst und der Fahrer sah sie verdrießlich an, als sie kurz vor der Abfahrt völlig außer Atem in den Bus gesprungen war. Wenigstens fand sie noch einen Platz am Fenster, setzte sich erschöpft hin und ließ die Gedanken umherschweifen. Unmittelbar vor dem Klingeln des Weckers hatte sie noch intensiv geträumt. Leider konnte sie sich nicht mehr an den Traum erinnern, nur ein Gefühl war geblieben, ein Gefühl aus Leichtigkeit und Wärme.
Ja, sie würde einen Termin bei einem Arzt ausmachen und Fragen und Untersuchungen über sich ergehen lassen. Die Wahrheit konnte nicht schlimmer sein als ihre Ahnungen.
Sie sah aus dem Fenster. Wie schön das Herbstlaub doch war. Da waren Kinder unter einem Kastanienbaum mit dick gefüllten Taschen. Sie sah sich selbst, wie sie als Kind Kastanien gesammelt hatte. So viele Jahre waren seither vergangen.
Und dann stand dieses Kind plötzlich vor ihr. Wann war es denn eingestiegen? War es allein? Das Kind sah Teresa direkt in die Augen. Ein Erkennen durchzuckte sie. Aus seiner Tasche holte es eine Kastanie und ließ sie in Teresas Hand kugeln. Sie sah aus wie eingeölt, wunderbar glatt und glänzend. Feine dunkle Linien im Kastanienbraun bildeten ein Dreieck.
Teresa versank in diesem Anblick.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie – wo war sie nur? Was war geschehen? Eine Kastanie kugelte von ihrem Schoss, während sie sich aufrichtete. Sie hob die braune Kugel auf, fühlte sie in ihrer Hand.
Dann sah sie ihn. Er trat ihr entgegen. Seine Augen! Wo hatte sie diese Augen schon mal gesehen? So viel Liebe, so viel Wärme …
»Willkommen Teresa. Hab keine Angst. Du wirst bald verstehen.«
Aber wo bin ich und wer bist du?
»Mein Name ist Angelo. Ich bin dein spiritueller Lehrer.«
Bin ich tot?
»Nein, aber du bist hier, um zu lernen, wie man die Welten wechselt.«
Du meinst, wie man stirbt?
»Teresa, nur für die Menschen gibt es den Tod, denn sie sehen mit ihren Augen, nicht mit dem Herzen. Wer mit dem Herzen sieht, der begreift, dass es den Tod nicht gibt. Er existiert nicht.«
Der Tod. Wenn Teresa an das große Ende, wie sie es immer nannte, gedacht hatte, war da nur eine riesige schwarze Wand. Und Panik. Und Angst. Sie hatte oft an den Tod gedacht in letzter Zeit. Sie hatte seine kalten, grauen Hände schon um ihren Hals gespürt. Sie hatte seinen schlechten Atem gerochen … und sie war jedes Mal in Panik geraten. Das Herz klopfte bis zum Hals, Schweiß trat auf die Stirn, sie drohte ohnmächtig zu werden.
»Was heißt ohnmächtig«, riss Angelo sie aus ihren Gedanken.
Ohnmächtig, ja, ich habe keine Macht darüber …
»Und das macht dir Angst?«
Höllische Angst!
»Warum?«
Teresa blickte Angelo an. Ja, wieso machte das Angst?
War es denn so wichtig, alles im Griff zu haben, alles kontrollieren zu können? Wie fühlte es sich an ›ohnmächtig‹ zu sein, ohne Macht, einfach loszulassen?
Dabei war ihr das schon oft in ihrem Leben passiert: ohnmächtig aus Schmerz, aus Panik, aus Schreck, aus Verzweiflung … Wie hatte sie sich dabei gefühlt?
»War es nicht schön, die Kontrolle abzugeben?«
Angelo hatte ihre Gedanken gehört, schon wieder.
Ja, es war meist ein Gefühl von Leichtigkeit, Ruhe und Heimkommen.
»Genau das ist auch der Tod.«
Angelo legte seine Hände auf Teresas Schultern und wieder versank sie in seinem Blick, der nur aus reiner Liebe zu bestehen schien.
»Du bist hier, um das Sterben zu lernen.«
Das Sterben lernen?
Teresa war sprachlos, schockiert und noch etwas: neugierig?
»Es ist eine Chance. Wir möchten den Menschen helfen, ihre Angst zu überwinden, denn die Angst ist der größte Schrecken, nicht der Tod. Du hast nun neun Monate Zeit, deine Angst zu besiegen.«
Neun Monate Sterben …
»Ja.«
Aber wo bin ich hier?
»Wir nennen es die ›Spirale des Erwachens‹. Sie besteht aus drei großen Ringen: dem Äußeren, dem Mittleren und dem Inneren Ring.«
Da betrat eine weitere Gestalt den Raum. Teresa stockte der Atem: Es war ein Engel, durchscheinend, strahlend, in allen Regenbogenfarben.
»Das ist Angel, dein Schutzengel.«
Tränen liefen ihr über die Wangen. Natürlich hatte sie an Schutzengel geglaubt. Sie hatte Bilder von Engeln in ihrer Wohnung, einen kleinen Rosenquarzengel auf ihrem Nachttisch, aber gesehen, wirklich gesehen hatte sie noch keinen. Bis jetzt.
Angel blickte Teresa an. Er trat auf sie zu. Teresa schloss die Augen und legte ihren Kopf an seine Schulter. Mit seinen Flügeln umhüllte er sie sanft in strahlendem Regenbogenlicht.
Mit dem Öffnen der Augen war Teresa zurück in ihrer gewohnten Realität, saß immer noch im Bus und sah aus dem Fenster. Die Kastanie, sie war noch da … doch Angelo, Angel, das Kind? Sie waren verschwunden. Neun Monate sterben, was sollte das bedeuten?
Werde ich in neun Monaten sterben? Wieder erfasste sie Panik. In neun Monaten?
Dann wäre gerade Sommer … mein letzter Sommer? Und jetzt der letzte Herbst, der letzte Winter, der letzte Frühling – und dann?
Tränen liefen ihr über die Wangen.
Noch einmal Geburtstag feiern, meinen neunundvierzigsten Geburtstag.
Der Name ihrer Haltestelle ertönte über den Lautsprecher. Teresa steckte die Kastanie in die Jackentasche und eilte hinaus. Mit dem Sturm der vergangenen Nacht war eine Kältewelle hereingebrochen. Teresa fröstelte. In neun Monaten sterben? Oder gab es noch Hoffnung? War das alles nur ein böser Traum? Aber ›böse‹ war er ja nicht gewesen, ganz im Gegenteil.
Nein , dachte Teresa trotzig, ich werde nicht so bald sterben und zum Arzt gehen werde ich auch nicht. Da ist nichts, alles ist in Ordnung. Es könnten die Wechseljahre sein oder eine Allergie oder …
Sie musste etwas tun, wollte nicht nur warten und sich dem Schicksal ergeben.
Fasten!
Teresa freute sich über ihren spontanen Einfall .
Ja, das wird mich wieder auf Trab bringen. Den Körper entgiften, reinigen, das ist wirklich eine ausgezeichnete Idee. Danach wird alles wieder gut werden, alles …
Aber ... den Tod, den gibt es doch. Sterben muss jeder. Irgendwann. Wie hatte Angelo es genannt? ›Die Welten wechseln.‹
So sehr sie seine Nähe auch genossen hatte, Teresa wollte nicht mehr an ihre Vision denken.
Ich will nicht sterben! Ich will es auch nicht lernen! Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist!