Читать книгу Escape oder schreib um dein Leben - Maria Hademer - Страница 5

Donnerstag, 20. April

Оглавление

Gedankenverloren schlenderte Sophia am Donnerstagnachmittag an der Kirche vorbei Richtung Ortsende und erreichte einen Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wurde. Hier wohnte Oma Rosie, die Mutter ihres Vaters.

Eigentlich hieß sie Helene. Doch mit ihrem richtigen Vornamen konnte sie sich nicht anfreunden. Sie fand, Rosie war eine nette Abkürzung ihres Nachnamens, der viel besser zu ihr passte. »Ich bin schließlich nicht die fromme Helene von Wilhelm Busch«, antwortete sie, wenn sie mit ihrem offiziellen Vornamen angesprochen wurde. Wenn Sophia sie damit aufzog, dass ›Rosie‹ auch nicht eben für eine coole Frau stand, die »einer gewissen Intellektualität« nicht abgeneigt war – wie ihre Großmutter sich gern ausdrückte – verteidigte sie sich: »Rosenhaag – den Namen liebe ich – und alles, was daran erinnert!«

Die Haustür stand offen und Sophia hörte von draußen die Küchenmaschine laufen, mit der Oma Getreide mahlte. Sie selbst war nicht zu sehen.

»Hallo?«, rief Sophia ins Treppenhaus, »Oma!«

Sie wurde aber nur von Kater Slipper begrüßt. Ihre Oma liebte den Kater wegen seiner Gewohnheit, sich wie ein runder Pantoffel um ihre kalten Füße zu legen, wenn sie sich mal wieder wegen ihres Rheumas kaum bewegen konnte. Slipper schnurrte Sophia um die Beine und maunzte seltsam erbärmlich. Sophia kraulte sein flauschiges Fell hinter den Ohren.

Ihre Großmutter war durch das Küchenfenster auf der Terrasse zu sehen, wo sie gerade eine Tai Ji-Übung abschloss.

Danach kam sie zur Hintertür herein und erklärte ohne Begrüßung: »Ich habe koreanisch gekocht und Slipper hat von der Sauce etwas aufgeschleckt. Ziemlich scharfes Zeug. Rumort jetzt in seinem Inneren herum.« Sie öffnete ihren Kühlschrank, den sie regelmäßig mit einem kräftigen Schlag auf den Thermostat dazu animieren musste, weiter zu kühlen. »Ein paar Brocken Weißbrot in Milch könnten vielleicht helfen. Dir vielleicht auch! Wie geht’s den Bronchien?«, wandte sie sich an ihre Enkelin.

Sophia erblasste. »Du weißt es schon? Steht es auch in der Zeitung?«, fragte sie mit sarkastischem Unterton.

»Meine liebe Fee, wir leben hier in einem Dorf. Da müsstest du doch wissen, dass die Buschtrommel schneller ist als das Licht! Ich soll dir von Johannes gute Besserung wünschen. Sieht übrigens gut aus, der Junge. Und dein Bier habe ich bezahlt, – zusammen mit ’nem bisschen Trinkgeld.«

Sophia schoss die Röte ins Gesicht. Sie hatte gestern ganz vergessen, ihr Getränk zu bezahlen. Aber … »Bier?«

»Keine Sorge, ich petze nicht!« Mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck stellte Oma die Küchenmaschine ab.

Ich soll dir von Johannes gute Besserung wünschen, echote es in Sophias Kopf.

»Magst du Knubbelkuchen?« Das war typisch Oma. Themenwechsel in atemberaubender Geschwindigkeit. Man kam ihren Gedankensprüngen nur schwer hinterher. Und für viele Dinge hatte sie ihre eigenen Bezeichnungen. Das Wort »Muffin« mochte sie nicht. Also hatte sie einfach ein anderes dafür erfunden.

Vorsichtig erkundigte sich Sophia: »Scharf?«

Oma lachte und schüttelte den Kopf: »Zuckersüß, liebe Zuckerfee, mit Stevia gebacken!«

Sophia hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, aber das würde sich sicher bald aufklären. Wahrscheinlich hatte Oma wieder etwas Neues aus einem Artikel in einer Zeitschrift erfahren.

Frau Rosenhaag senior war in Gedanken ein Wirbelwind. Immer las sie mindestens drei Bücher gleichzeitig, die im Haus an verschiedenen Stellen deponiert waren. In verschiedenen Sprachen und über die verschiedensten Themen.

»Ich kann mich trotz meines Alters immer noch nicht entscheiden, was ich in der Welt am interessantesten finde«, sagte sie oft entschuldigend beim Anblick ihrer Bücherberge. Wenn man den Tisch in der Küche decken wollte, musste man zuerst den Sternenglobus und die Himmelsscheibe von Nebra vom Nervensystem des Aals trennen und die Heimatsagen auf die Philosophie Kants stapeln, um Platz für Tassen und Teller zu finden. Das alte Gewürzregal diente gleichzeitig als Medizinschrank, und in den Zimmerecken stritten sich menschengroße Stabpuppen mit dem Küchenbesen um den besten Platz.

Sophia ahnte, dass die Dorfbewohner die eigenwillige Frau, die erst vor ein paar Jahren hierher gezogen war, mit Skepsis betrachteten, passte sie doch in keine der üblichen Denk-Schubladen. Zwar war sie ständig am Herumwuseln, erreichte aber trotz aller Geschäftigkeit so gut wie nie, dass die Küche wirklich aufgeräumt war. Von der Abfolge der Jahreszeiten wurde sie stets aufs Neue überrascht. Wenn sie kurz vor Ostern die Weihnachtsbeleuchtung vom Balkon abnahm, konnte sie sich nicht genug darüber wundern, wie schnell die Zeit verging.

Trotzdem war es ihr gelungen, sich innerhalb des Dorfes einen gewissen Respekt zu erwerben. Denn Oma Rosie konnte eine Sache in besonderem Maße: Zuhören.

Bereits innerhalb kürzester Zeit war sie mit den Lebensumständen ihr vorher fremder Menschen vertraut, erahnte Schwierigkeiten unter Eheleuten oder zwischen Kindern und Eltern, lenkte Gespräche oft so, dass mancher selbst eine Lösung für sein Problem fand.

Oma Rosie verschenkte Zeit. Und das wussten die Menschen zu schätzen.

»Ich glaube, ’s wird besser«, sagte sie nun mit einem Blick auf Slipper, der sich auf der Couch zusammengerollt hatte. Die Nachmittagssonne, die durch das Fenster ins Zimmer leuchtete, schien Slipper in seinem Fell zu speichern. Für einen Moment herrschte absolute Stille und Sophia genoss wieder einmal diese Insel der Gelassenheit in ihrem sonst so getriebenen Alltag.

»Ach ja«, fiel ihr plötzlich ein. »Mama hat mir gesagt, du hast angerufen. Was gibt es denn?«

Ihre Großmutter konnte einen frisch geschlüpften Schwalbenschwanz für ebenso dringend mitteilenswert halten wie einen neu gekauften MP3-Player, den sie aus heiterem Himmel für notwendig hielt. Sich mit ihr zu unterhalten, war ein bisschen wie Surfen im Internet. Diese moderne Errungenschaft hatte die alte Dame längst in ihr Leben integriert und verstand mühelos das weltweite Netz zu durchstreifen. Trotzdem nannte sie das Internet die »falsche Welt« und hätte nicht einen Cent dem Online-Banking anvertraut, das ihre Bank ihr ständig nahe legte. »Mein Geld ist Privatsache. Solche sensiblen Dinge erledigt man am besten auf dem üblichen Weg«, war ihre Meinung.

»Du magst doch schwarz und weiß, so als Design-Elemente?«, erkundigte sie sich jetzt bei ihrer Enkelin.

Wie seltsam sich das bei dieser Generation anhört, fand Sophia. »Ja klar, aber ab und zu soll schon ein Farbtupfer dazukommen.«

»Hm, also schwarz und rot wären eine gute Kombination?«

»Ja, absolut stark«, begeisterte sich Sophia. »Irgendwie magisch. Denk mal an Musical-Plakate!« Sophia kaute an einem Muffin.

Oma stand vom Tisch auf und öffnete den Garderobenschrank im Flur. Sie zog einen Kleiderbügel aus dem völlig überfüllten Schrank und entfernte eine Schutzfolie.

»Schau mal!«

Sophia erhob sich ebenfalls und kam neugierig näher. Zunächst erkannte sie nur ein schwarzes Etwas in ziemlicher Länge. Eine dunkelrote, aus leicht irisierendem Garn gestrickte Rose links oben auf der Vorderseite zog sofort ihren Blick auf sich.

»Das Teil hab ich gestrickt. Aber wenn du es nicht magst, bin ich nicht enttäuscht. Das Stricken hat mir einfach Freude gemacht und ich habe dabei viel an dich gedacht. – Hm. Vielleicht ein bisschen zu viel. Deshalb ist es auch so lang geworden. – Ich weiß, ihr jungen Mädchen heute habt einen anderen Geschmack, sexy und eng, oder so ähnlich.«

Sophia grinste. Oma war einfach süß. Die Diät-Versuche der Enkelin mit dem Ziel Kleidergröße 34 scheiterten in der Regel an Omas »Wünsch-dir-was-Aufläufen« oder den berühmten »Mosaik-Pizzen«, die Frau Rosenhaag eckenweise nach den verschiedenen Geschmacksvorlieben ihrer Gäste belegte.

»Danke«, sagte Sophia gerührt, »der Pullover ist super. Und erst die tolle Rose!«

»Sei froh, dass du nicht Hirschgeweih mit Nachnamen heißt!«, neckte Rosie ihre Enkelin.

Sophia wollte ihrer Oma einen Gefallen tun und schlüpfte in den viel zu großen Pullover. Sie war selbst überrascht, wie wohl und frei sie sich in der weichen Wolle fühlte. Wirklich schade, dass sie dieses Teil nicht in die Schule anziehen konnte. Aber für zuhause war es genau das Richtige zum Relaxen. Ein leichter Kuss aufs Ohr belohnte Oma, die nun doch fast ein wenig aufgeregt die Anprobe verfolgt hatte.

»Passt eigentlich ganz gut. – Und dazu rote Enghosen«, meinte Oma Rosie anerkennend. Für das Wort »Leggins« wählte sie lieber ihre Eigenkreation.

Gut gelaunt tranken die beiden noch einen Kakao und Sophia nutzte die Gelegenheit, ihr Referat zur Sprache zu bringen. Im Handumdrehen steuerte Oma interessante Informationen zum Thema Impressionismus bei, kombinierte Texte und Bildbeispiele und lieferte sogar eine vernünftige Gliederung für Schulzwecke mit. Sophias Leben schien wieder in Ordnung zu kommen.

Als sie sich schließlich mit einer Tüte frisch gemahlenem Mehl und zehn Eiern auf den Heimweg machte, war es schon empfindlich kühl geworden und so ließ sie den neuen Pullover an.

Zuhause saß ihre Mutter wie üblich an einer Näharbeit, offenbar ein luftiges Coctailkleid.

»Ta daaaa!« Mit einer schwungvollen Model-Drehung betrat Sophia das Nähzimmer ihrer Mutter und präsentierte mit ausgebreiteten Armen Omas Werk. Den skeptischen Blick ihrer Mutter beantwortete sie, bevor diese sich äußern konnte: »Geschenk von Oma, selbst gestrickt.«

»Nett von ihr«, antwortete Karen Rosenhaag diplomatisch.

»Lass mich raten: zu weit, zu lang, zu schwarz!« Ihre Mutter schaute sie belustigt an. »Dir gefällt er also?«

»Jaaa«, meinte Sophia gedehnt, »für zuhause ist er doch ganz gemütlich und man muss nicht immer den Bauch einziehen!«

»Ahh! Das erinnert mich an meine Theaterschneiderei.« Ihre Mutter unterbrach für einen Moment ihre geschickten Stiche mit der Nähnadel. »Meine Opern-Diven gaben aus Eitelkeit oft eine falsche Konfektionsgröße an und hatten grundsätzlich nie Zeit, zur Anprobe zu erscheinen. Und dann musste in letzter Minute vor dem Auftritt noch die Taille angepasst werden.«

Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Sophias Mutter die Stelle am Theater aufgegeben, da die Arbeitszeiten nicht zu einem Familienrhythmus mit Baby passen wollten.

Ihren Sinn für Mode aber hatte Karen Rosenhaag keinesfalls an den Nagel gehängt. Im Gegenteil. Inzwischen hatte sie sich einen Namen im Dorf und der Umgebung gemacht. Sie war bekannt für geschmackvolle Abendkleider, die sie für Hochzeiten und andere Feierlichkeiten entwarf. Jeder wusste, dass er gut beraten war, ihren Vorschlägen, was Farbe, Stoff und Schnitt anging, zu folgen.

»Hm. So sehr ich Oma Schwiegermama schätze, dieser Pullover ist ein – Unikum.«

Sophia hatte die Reaktion ihrer Mutter vorausgesehen und spielte die Empörte. »Aber Mama!«

»Wenn Mimi in La Bohème einen solchen Pullover besessen hätte, wäre sie vermutlich nicht elend an Lungenentzündung gestorben und eine der schönsten Opern wäre nie geschrieben worden«, schloss Karen Rosenhaag ihr Urteil ab. In Sophias Augen ein zu verschmerzender Verlust. Sie teilte die Leidenschaft ihrer Mutter für diese Art Musik nicht.

»Übrigens, Timo hat dein Saxofon vorbeigebracht.«

»Ah ja, nett von ihm«, reagierte nun auch Sophia ohne große Begeisterung.

»Ich finde, er ist wirklich ein netter Kerl. Aber bis jetzt fällt ja wohl jeder Junge erbarmungslos durch dein Kriterienraster.«

Sophia rollte mit den Augen und wollte dieses Thema beenden. »Wenn sich Mimi in La Bohème einen ›netten Kerl‹ gesucht hätte anstatt diesen Möchtegernkünstler, wäre sie wahrscheinlich nicht krank geworden und eine der schönsten Opern wäre nie geschrieben worden«, konterte sie trocken.

Mama gab sich geschlagen. Sieg nach Punkten!

Escape oder schreib um dein Leben

Подняться наверх