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Astrid Adler

Wenn der Dachdecker beim Zimmermann vorbeischaut

Im August 2012 nahm ich als Mitarbeiterin auf einer Freizeit für Teenager in Schweden teil. Eines Abends saß ich in einer kleinen Gruppe Mitreisender zusammen und wir redeten darüber, was man aus den täglichen Andachten, Kleingruppen, Gesprächen und Aktionen mitgenommen hatte. Irgendwann sprachen wir auch über die Heilungsgeschichten von Jesus, die oft plakativ weitererzählt werden. Die meisten Menschen, die regelmäßig in kirchlichen bzw. christlichen Kreisen unterwegs sind, können mindestens eine der Geschichten wiedergeben. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass wir in eben jener Runde auch festgestellt haben, dass uns oft fehlt, dass Geschichten weitergedacht werden. Mit „weitergedacht“ meinten wir nicht die Frage, was genau das jetzt mit unserem Leben zu tun hat, sondern vielmehr die Frage nach dem „Wo kann ich dieses Erlebnis heute auch finden?“, gibt es ähnliche Handlungsfelder oder Ereignisse, zu denen Parallelen gezogen werden können? Als einer aus der Gruppe einen lose formulierten Gedanken in den Raum warf, konnte mir noch nicht klar sein, dass er damit den Grundstein für eine Entwicklung legen würde, die ich durchleben durfte und darf und die bis heute nicht abgeschlossen ist. Er sagte etwas wie „Ist euch eigentlich schon mal aufgefallen, dass die Geschichte, in der Jesus den Gelähmten heilt, auch ein super Bild für die Gemeinde Gottes ist?“ Ich weiß bis heute nicht, ob er selbst auf den Gedanken kam oder ob er damit eine alte theologische Deutung formuliert hat, ob bereits kilometerlange Abhandlungen darüber verfasst wurden. Wir finden diese Geschichte in drei Evangelien: Matthäus 9,1–8; Markus 2,1–12 und Lukas 5,17–26.

Ich bin keine studierte Theologin, Begriffe wie Exegese, Hermeneutik und Homiletik gehören nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Aber ich kann (vor allem durch meine Tätigkeit in der Jugendarbeit) mit Menschen über Jesus reden. Das tat ich an diesem Abend und wurde vollkommen überrascht davon, wie sehr mich das noch weiter beschäftigen würde.

Ich bin inzwischen seit zwölf Jahren Teil meiner Gemeinde, davon acht Jahre in verschiedener Weise in der Jugendarbeit ehrenamtlich tätig. Ich habe mich demnach schon in diversen Rollen innerhalb meines Glaubens bewegt. Im Glauben wachsen darf und durfte ich in einer pietistischen Gemeinde eines Gemeinschaftsverbands innerhalb der Evangelischen Kirche im Süden Deutschlands, bei der die Jugendarbeit vom Ortsverband des Südwestdeutschen EC-Verbands (Deutscher Jugendverband „Entschieden für Christus“ e. V.) übernommen wurde – eine typische Kooperation. Mein Gemeindebild wurde in diesem Kontext stark geprägt von wöchentlich stattfindenden Kreisen für Jung und Alt, aktiven ehrenamtlichen Mitarbeitern und dem pietistisch verkündeten Evangelium, das all das zusammenhält. Und plötzlich soll eine Wundergeschichte auch ein Bild für Gemeinde sein? Bis zu diesem Zeitpunkt waren Wundergeschichten für mich nicht mehr als viel erzählte Geschichten über Wunder, die Jesus getan hat. Weder war es für mich denkbar, dass dasselbe heute noch mal passiert, noch verstand ich die Lebendigkeit dahinter, schließlich wurde in meinem Umfeld meistens sehr texttreu und nüchtern gepredigt.

Jesus heilt einen Gelähmten, schön. Jesus ist also in Kapernaum, das Haus brechend voll mit Menschen, vier Männer bringen einen Gelähmten, decken das Dach ab, lassen den Gelähmten hinab und Jesus spricht ihm Vergebung seiner Sünden zu. Die anwesenden Schriftgelehrten finden das anmaßend – wie kann dieser irre Zimmermann aus Nazareth das tun? Jesus setzt eins drauf und heilt den Gelähmten auch noch, der daraufhin aufsteht und geht. Dieses Erlebnis muss für alle Anwesenden der finale Gottesbeweis gewesen sein, schließlich fingen dann alle an, Gott zu loben.

Schauen wir uns mal die beteiligten Personen und Personengruppen an. Jesus ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Alle sind und alles ist auf ihn ausgerichtet oder von ihm bestimmt. Zu ihm wird ein Gelähmter gebracht, der nicht mehr alleine gehen kann. Dessen körperliche Gebrechen für alle offensichtlich sind. Er braucht Hilfe und lässt sich von vier Männern tragen. Wir wissen nicht, ob der Gelähmte und die vier Männer Freunde sind, ob sie überhaupt in irgendeinem Verhältnis zueinander stehen. Aber die Bindung reicht so weit, dass die vier Männer einen Umweg in Kauf nehmen, um den Gelähmten zu Jesus zu bringen. Sie decken das Dach ab. Das ist keine Tätigkeit, die man schnell erledigt, und auch keine, die ohne Folgen bleiben würde. Wer weiß schon, wie der Hausbesitzer reagieren würde? Der Text verrät uns das leider nicht. Die vier Männer sehen aber keinen anderen Weg, zu Jesus zu kommen, denn eine große Menschenmenge versperrt den Weg. Es scheint, als wäre die Menschenmenge so sehr auf die Botschaft von Jesus konzentriert und damit beschäftigt, auch wirklich etwas von dem zu sehen, der sich für den Sohn Gottes hält, dass ihnen ihre Umwelt egal zu sein scheint. Die vier Männer werden übersehen oder nicht ernst genommen. Kein Durchkommen. In der Menschenmenge halten sich auch noch Schriftgelehrte auf. Diese Schriftgelehrten waren nicht da, weil sie sich von Jesus überzeugen lassen wollten. Ich würde ihnen sogar Sensationsgier und eine ordentliche Portion Skepsis unterstellen. Sie, die jahrelang studiert hatten, müssen sich doch mal davon überzeugen, dass dieser Jesus, dieser Zimmermann aus Nazareth, ihnen ganz sicher nicht das Wasser reichen kann. Sie kennen Jesus nur vom Hörensagen und es liegt ihnen fern, ihn näher kennenzulernen. Und Jesus? Jesus setzt seine Prioritäten anders, als man es von ihm erwartet. Anstatt den Gelähmten zu heilen, spricht er ihm zunächst die Vergebung seiner Sünden zu. „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Für mich gibt es nur wenige Sätze in der Bibel, die mehr in meine Lebensrealität eingreifen.

Wie wurde aus den handelnden Personen hier dann für mich ein Bild für Gemeinde, das mein bisher dagewesenes sprengte? Ich kann heute nicht mehr sagen, wie ich Gemeinde definieren würde, denn keiner meiner neuen Definitionsversuche erreicht die alte Funktionalität. Die alte Funktionalität kann aber auch gar nicht mehr erreicht werden, denn ich habe mich zu sehr verändert. Ich möchte niemandem absprechen, sich Gruppen, Gemeinschaften oder Konfessionen zugehörig zu fühlen. Aber letztendlich sind wir alle Individuen und als Ebenbilder Gottes wunderbar einzigartig gemacht. Gemeinde entsteht durch Gemeinschaft. Aber diese Gemeinschaft ist nicht von einer Ortsgemeinde abhängig, die als lokal gebundener Ableger der weltweiten Gemeinde Gottes gesehen werden kann, nicht an Zeit und Raum, nicht an Konfessionen, nicht an die Teppichbodenfarbe im Gemeindehaus, nicht an einzelne Personen, nicht an Haupt- oder Ehrenamt. Die hier aufgezählten Merkmale können einer Gemeinde zugeordnet sein, aber diese Merkmale machen sie nicht zu einer Gemeinde. Für mich beginnt Gemeinde immer dann, wo zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind. Es ist simpel, aber für mich das einzige Merkmal, das immer bestehen bleibt. Nur lässt sich für mich daraus keine Definition formulieren, mit der ich zufrieden bin. Gemeinde ist für mich auch immer dynamisch, ständig in Bewegung. Wenn ich mich bewege, bewegt sich die Gemeinde automatisch mit. Ich kann in einer Gemeinde ein Teil der Menschenmenge sein, wie sie in der Wundererzählung von Jesus und dem Gelähmten beschrieben ist. Manchmal tut es gut, sich das Geschehen einfach nur anzuschauen. Irgendwo hinzugehen, weil man gehört hat, dass Jesus da sein wird, und wer weiß, vielleicht passiert ja etwas. Ich bin ein Teil des Ganzen, und es ist egal, ob ich wirklich aufmerksam zuschaue, ob ich während der Predigt Gummibärchen esse, mir währenddessen einfällt, dass die Steuererklärung noch nicht fertig ist, oder ob ich einfach wieder nach Hause gehe. Es ist auch nicht wichtig, ob ich nächste Woche tatsächlich der Einladung der Pfarrerin folge und zum Kirchenkaffee gehe, weil ich das letzte Mal schon dort war. Es zählt, dass ich jetzt dabei bin. Denn um mich herum passiert etwas. Etwas, das ich vielleicht auch erst dann wahrnehme, wenn man mich direkt daraufstößt. Gott wirkt. Mein Gottesbild verändert sich nicht unbedingt, weil Jesus den Gelähmten geheilt hat, aber er hat es damit in irgendeiner Weise bekräftigt. Ja, mein Gott heilt zerbrochene Herzen und verbindet Wunden. Ob mir aufgefallen wäre, dass die vier Männer das Dach abdecken? Ich bin mir sicher, dass es in jeder Gemeinde tragende Personen gibt. Solche, die das Gemeindeleben und Miteinander aufrechterhalten, weil sie Gelähmte, also Menschen, die nicht mehr alleine gehen können, zu Jesus bringen. Damit meine ich nicht nur den streng missionarischen Ansatz. Natürlich gibt es unter ihnen die „missionarisch Begabten“, diejenigen, die Menschen aktiv zu Jesus bringen, um im Bild zu bleiben. Aber es geht mir hier vor allem auch um die Personen, die mich in meinem eigenen, vielleicht eher metaphorischen Gelähmtsein weiter-tragen können. Für mich zählen dazu offene Ohren, die sich anhören, was ich erlebt habe. Es sind auch die Menschen gemeint, die meine Augen für Neues öffnen. Diese Brüder und Schwestern, die aufgrund ihrer Erfahrungen meine Sichtweise und meinen Standpunkt in Frage stellen können, mir ein Aufstehen ermöglichen und mir einen neuen Weg zu Jesus offenbaren. Wege, die mir vielleicht nie gezeigt wurden, oder Blickwinkel, die ich ohne diese Menschen nie hätte einnehmen können. Ob der Gelähmte vorher wohl schon mal von einem Dach herunterblicken konnte? Diese vier Männer haben es ihm ermöglicht. Ich habe mich oft gefragt, ob die vier Männer gemeinsam den Entschluss gefasst haben, diesen Mann auf das Dach zu tragen und ihn vor Jesus zu bringen, oder ob einer der Männer sich Helfer gesucht hat, weil er gemerkt hat, dass er alleine das nicht schaffen wird, ihm aber die Notwendigkeit seines Handelns klar war. Im Laufe der Zeit wurde mir auch bewusst, dass es viele (Orts-)Gemeinden gibt, in denen Hauptamtliche die Tragenden sind. Oder noch schlimmer, alleine die Hauptamtlichen als Tragende gesehen werden. Für mich ist das bis heute fremd. Meine Ursprungsgemeinde basierte zu größten Teilen auf ehrenamtlicher Arbeit. Für mich steht fest, dass „Tragender sein“ nicht an ein Amt oder eine Rolle, die ich in einer Gemeinde einnehme, gebunden ist. Ebenfalls ist auch „Gelähmt sein“ keine Eigenschaft, die von Dauer ist. Jesus fordert dich auf zu gehen. Nimm deine Matte und gehe. Tragen und sich tragen lassen. Um tragen zu können, muss ich mich selbst tragen lassen. Es gibt vieles, was einen Menschen lähmen kann. Ob das nun Erfahrungen und Erlebnisse sind, die man machen musste, der Verlust von nahen Menschen oder andere Dinge, die einen vorübergehend aus der Bahn werfen. Für mich ist dieses Gelähmtsein aber auch ein Mangel. Es mangelt an der Fähigkeit, gehen zu können. In vielen Situationen war ich gelähmt, weil mir etwas fehlte. Mut, Weitsicht, Wissen, Verständnis, Vertrauen, Interesse, Kraft …, um nur einiges davon zu erwähnen. Oft fehlt auch die Einsicht, dass man gelähmt ist und Hilfe braucht. Hier kommen wieder die tragenden Personen ins Spiel. Sie erkennen mich und meinen Mangel. Sich tragen zu lassen bedeutet auch, kein Einzelkämpfer zu sein. Die Notwendigkeit des Miteinanders ist auch ein Geschenk, das Gott seiner Schöpfung gemacht hat.

Allerdings gibt es auch Arten des Miteinanders, auf die man gerne verzichtet. Für mich werden diese hier verkörpert durch die Schriftgelehrten. Sie sind nur da, weil diesem Jesus ein Ruf vorauseilt, den sie dringend überprüfen müssen. Was ist an dem dran, was so erzählt wird? Sie sind skeptisch, wollen Jesus nicht als Gottes Sohn anerkennen und versuchen natürlich, seine Autorität in Frage zu stellen. Sie glauben an Gott, keine Frage. Das wissen auch alle Anwesenden. Sie sind ein Teil der ganzen Geschichte, der nicht fehlen darf. Genauso wie es die heutigen Schriftgelehrten in einer Gemeinde geben muss. Damit meine ich nicht die besonders klugen Personen in Haupt- und Ehrenamt, nicht die Menschen mit einer besonderen Lehrbegabung und einer immensen Weisheit. Für mich sind das die Personen, bei deren Handlungen und Worten ich innerlich die Augen verdrehe. Für mich sind das die „Das war schon immer so!“-Sager und Finger-Erheber, die mahnen und wachen über dem, was ihnen heilig ist. Die aufpassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht und auch der Beleg über die 32 Cent, der bei der letzten Kassenprüfung nach dem Gemeindefest gefehlt hat, noch auftaucht. Ich weiß um mehrere Situationen, in denen ich zum penetranten Schriftgelehrten wurde und nicht besonders rücksichtsvoll mit meiner Gemeinde umgegangen bin. Situationen, in denen ich den geistlichen Mittelfinger erhoben habe, um mit einer gewissen Selbstzufriedenheit zu zeigen, dass sich am Ende alle vor Gott beugen müssen. Diese Schriftgelehrten sind anstrengend. Aber sie müssen da sein. Denn hier in unserer Geschichte bringen sie Jesus dazu, sich noch klarer auszudrücken und den Gelähmten tatsächlich zu heilen. Sie sind nicht die Wächter über Zucht und Ordnung, auch wenn sie es gerne wären. Sie sind diejenigen, die Jesus hier weiterwirken lassen und erkennen dürfen, dass dieser Jesus tatsächlich Gottes Sohn ist.

Jesus steht im Mittelpunkt der Handlung. In jeder Gemeinde, in jeder Gemeinschaft steht er in der Mitte und alles, was passiert, passiert mit ihm und durch ihn. Ganz oft erwischt er mich eiskalt, weil er anders handelt, als ich es eigentlich erwarte. So wie er die Schriftgelehrten davon überzeugt hat, dass er Gottes Sohn ist. Bisher habe ich dieses Bild von Gemeinde und diese beteiligten Rollen als sehr statisch beschrieben. Doch mir ist wichtig, dass es eben nicht statisch verstanden werden kann, vielleicht sogar darf. Jede Person, die in Gemeinschaft steht, kann gleichzeitig mehrere Rollen einnehmen. Oder auch innerhalb von Beziehungen die Rolle wechseln. Heute Gelähmter sein und morgen Schriftgelehrter und gestern noch Tragender gewesen sein. Dieses Bild ist für mich nicht mehr an Ort und Zeit gebunden.

Dies war nicht immer so. Damals, als ich zum ersten Mal davon gehört habe, dass diese Wundergeschichte auch ein Bild für das Gemeindeleben sein kann, war mir das nicht bewusst. Ich dachte, dass man eine Rolle hat und mit dieser Rolle lebt. Eigentlich verrückt, das zu glauben, zeigt doch die Geschichte ganz deutlich, dass sich die einzelnen Personen durchaus verändern! Der Gelähmte steht auf und geht. Die Schriftgelehrten loben Gott. Niemand bleibt da, wo er angefangen hat. Damals war das für mich noch anders. Dann durfte ich erleben, dass sich Lebenssituationen massiv ändern können, Lebensentwürfe im Papierkorb landen, von Plänen maximal noch Skizzen übrigbleiben. Durch diese Veränderungen änderte sich auch meine Rolle. Denn auf einmal konnte ich sie nicht mehr ausfüllen, sie passte mir nicht mehr. Wie ein alter Pullover, der durch jahrelanges Tragen so dünn geworden war, dass er eben nicht mehr richtig wärmt. Er passt noch irgendwie. Aber er erfüllt seinen Zweck nicht mehr. Ich wurde mir fremd und fing an, aus meiner Rolle herauszuwandern. Wenn ich mich ändere, ändert sich die Gemeinde auch, obwohl da vielleicht immer noch dieselben Personen sind. Es ändern sich Beziehungen und Freundschaften, die vorher Gemeinde ausgemacht haben. Verhältnisse wurden nun anders gepflegt, als das jahrelang vorher der Brauch war. Ich lernte, dass Gemeinschaft nicht als Kuschelclub funktionieren kann, sondern dass man Jesus als Maßstab für Gemeinschaft sehen muss. Wo es immer nur friedlich und höflich zugeht, wird es bald friedhöflich … Im Internet kursiert ein Bild, auf dem geschrieben steht: „If anyone asks you, ‚what would Jesus do?‘, remind them that flipping over the tables and chasing people with a whip is within the realm of possibilities.“ (Wenn dich jemand danach fragt, was Jesus tun würde, dann erinnere daran, dass auch Tische umwerfen und Leute verjagen zu den Möglichkeiten zählt.) Jesus handelt – nicht immer vorhersehbar, aber immer verständlich, so auch in dieser Wundererzählung. Und ich? Ich erkannte langsam, dass ich Gelähmte, Tragende, Menschenmenge und Schriftgelehrte in Personalunion bin. Gott sei Dank ist Jesus der Mittelpunkt meiner Geschichte. Denn hier sind die ersten Worte, die er an den Gelähmten richtet: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Ein Schriftgelehrter kann hier natürlich einwerfen, dass diese Worte nur an den Gelähmten gerichtet sind. Stimmt, aber auch die anderen Personen hören diesen Zuspruch! Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass alle beteiligten Personen diesen Zuspruch annehmen dürfen. Und ich glaube, dass Jesus darauf seine Gemeinde bauen will. Eine authentische Gemeinde, die weiß, dass sie aus Sündern besteht, dass Jesus Sündern gnädig ist und Wunder an ihnen tut. Mit diesem Wissen können wir Menschen Gemeinschaft bilden. „T’was grace that brought us safe thus far and grace will lead us home“, singen wir in dem alten Lied „Amazing grace“. Genau diese Gnade, die Sünden vergibt, ermöglicht Gemeinschaft.

Das bedeutet allerdings auch, dass wir in unserem Miteinander tiefer blicken müssen als aneinander vorbei. Keiner der Beteiligten hat hier das Recht, dem anderen seine Daseinsberechtigung abzusprechen, sie sind gleichermaßen am Geschehen beteiligt. Eine Gemeinschaft, wie sie hier bildlich dargestellt wird, gibt den Freiraum, so zu sein, wie man sich gerade fühlt. Egal ob ich getragen werden will oder ob ich selbst tragen möchte. Mich erwarten keine erhobenen Zeigefinger, wenn ich mich einbringen will, weil ich das Dach abdecke und einen Umweg gehe für jemanden, der selbst nicht mehr gehen kann. Ich darf meine Skepsis und meine kritischen Fragen äußern, wie es die Schriftgelehrten getan haben, und ich darf mich auch einfach mal berieseln lassen oder mal schauen, was denn da in diesem Haus passiert, so wie es die Menschenmenge gemacht hat. Die Grundvoraussetzung für all das ist einfach: Ich komme zu Jesus und er spricht mir zu, dass meine Sünden vergeben sind. Dass all das, was war, für jetzt nicht mehr wichtig ist, sondern er wirken möchte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Grundvoraussetzung sehr leicht gesagt ist, aber nicht ganz so leicht angenommen werden kann. Zum einen gibt es vieles, was mich dabei bremst, zu Jesus zu kommen. Bei dem Gelähmten war das offensichtlich schon der Weg, er alleine hätte nie zu Jesus kommen können. Für mich sind das oft persönliche Sachen, die ich zuerst in Ordnung bringen möchte, bevor ich zu Jesus komme. Zum anderen setze ich meine Prioritäten falsch. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit …“ – eine ganz klare Anweisung zur Priorisierung. Mir ist selten bewusst, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, zu Jesus zu kommen. Dieses zu Jesus kommen hat ja auch ungefähr sieben Milliarden Gesichter. Jeder von uns hat seine eigenen Methoden, mit Jesus in Kontakt zu treten, und meistens vergessen wir dabei, dass Jesus auch in unseren Mitmenschen steckt. Dieser Gedanke meint nicht, dass es in Gemeinden nur noch Glaubenshelden und Profichristen geben soll, die treu die Bibel lesen, beten und ihrem Gemeindedienst nachkommen. Denn dieser Anspruch wird hier zunichtegemacht. Jeder hat und macht Fehler, kann nicht Glaubensheld werden, wenn nicht Jesu Zuspruch „Deine Sünden sind vergeben!“ angenommen wird. Manchmal spricht Jesus auch sehr direkt: „Nimm deine Matte und gehe.“ Ich glaube, das war diese eine Art der Aufforderung, die keinen Widerspruch und kein „Ja, aber …“ duldet. Der Gelähmte steht auf und geht. So schnell passieren Wunder!

Dem Leser dürfte aufgefallen sein, dass diese Geschichte nicht endet, als der Gelähmte die illustre Runde verlässt. Sie endet, indem alle Beteiligten Gott loben und erkannt haben, dass Jesus Gottes Sohn ist. Begeisterung für Jesus entsteht hier aus vollkommen unterschiedlichen Situationen heraus. Ich frage mich, ob das wirklich das Ziel von perfekt gelebter Gemeinschaft ist: nach Hause gehen und Gott loben. Es ist eine schöne Vorstellung, keine Frage. Selbstverständlich wünsche ich mir Gemeinden und Gemeinschaften, die ihr Miteinander so authentisch leben, dass Leute das Geschehen verlassen und Gott loben, weil Jesus in ihrer Mitte steht und Wunder tut. Aber ich kann doch von meinem allmächtigen und gnädigen Gott nicht erwarten, dass das alles war. Darf ich überhaupt etwas von Gott erwarten?

Erwartungshaltung. Damit habe ich mir schon viel kaputt gemacht. Man schließt von sich selbst auf andere und wird enttäuscht, weil die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Ich bin mir sicher, dass jeder schon einmal diese Erfahrung machen durfte. Oft habe ich mir gewünscht, dass der Text weitergeht. Was passiert mit dem Gelähmten? Er nimmt seine Matte, steht auf und geht. Wo geht er hin? Vielleicht hat er ja Freunde und Familie, mit denen er seine Heilung feiern will. Möglicherweise ist er auch so durch den Wind, dass er gar nicht weiß, was er nun mit seinem Leben anfangen will, und setzt sich draußen erst mal wieder auf seine Matte. Es könnte auch sein, dass er fortan (wie es in dem Film „Life of Brian“ gezeigt wird) „Spenden für einen Ex-Gelähmten“ sammelt. Wir wissen nicht, wovon der Gelähmte vor seiner Heilung gelebt hat, ob er über Einkommen und Unterstützung verfügte. Die Wahrscheinlichkeit ist aber groß, dass er zu den Ausgestoßenen der Gesellschaft gehörte. Möglicherweise muss er nun wieder eingegliedert werden. War er je eingegliedert? All das wissen wir nicht, das gibt der Text nicht her. Auch von der Menschenmenge und den Schriftgelehrten wissen wir nicht mehr. Sie loben Gott und gehen. Klingt ein bisschen nach Gottesdienstbesuchen. Sonntags kommt man zusammen und montags ist schnell wieder vergessen, was sonntags ge-/erlebt wurde. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Vorwurf genauso alt ist wie Kirche an sich. Allerdings wird Gemeinde damit nicht zum offenen Miteinander. Auch wundere ich mich oft, wie so viele Menschen zusammenkommen konnten, um Jesus zu sehen. Natürlich war Jesus zu der Zeit schon bekannt und über ihn wurden Geschichten erzählt, die auf jeden Fall neugierig machten. Wenn er sich denn schon mal in Kapernaum niederlässt, dann kann man da ja auch mal vorbeischauen. Ein kleines Event in der Stadt, das schadet ja nie. Wieso eilen unseren Gemeinden solche Geschichten nicht voraus? Ich möchte an dieser Stelle nicht nur für meine Denomination und Konfession sprechen, sondern für den weltweiten Leib Christi. Das Letzte, was Jesus vor seiner Verhaftung getan hat, war, für die Einheit der Christen zu beten. Wahrscheinlich, weil er wusste, dass wir das zuerst an die Wand fahren würden. Man macht es sich nämlich zu leicht, wenn man Fragen, die gestellt werden, abwendet, indem man „Ja, das ist bei denen so, bei uns aber ist das ganz anders!“ antwortet. Die Botschaft an sich hat sich doch seit über 2000 Jahren nicht geändert. Und Gott ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit. Fakt ist: Man muss sich in Bewegung setzen lassen, um ein Wunder zu sehen. Aber sind wir so sehr mit uns beschäftigt, dass wir vergessen, dass wir auch noch einen weltumfassenden Auftrag haben? „Jesus Christus spricht: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Jesus richtet diesen Auftrag an gerade mal elf Jünger, wovon einige auch noch zweifelten. Es ist nicht so, dass Jesus mit diesen Jüngern seine Marketing-Abteilung zusammengestellt hat, die sich fortan um das Image Gottes kümmern soll. Hier finden wir aber den Zuspruch, dass Gott uns mit all seiner Autorität gebrauchen möchte, dass alle Menschen von ihm hören. Jesus möchte, dass wir Jünger machen. Solche, die rausgehen, Milieu, Heimat und Kirchengebäude verlassen und die Augen offenhalten und nach Menschen suchen, die noch nichts von Jesus gehört haben und ihr Hausdach abdecken lassen, damit Menschen in ihrer Mitte Wunder erleben. Solche, die unbequem werden können, weil sie Jesus herausfordern, oder diese, die einen Gelähmten vor Jesu Füße legen. Ich habe viel über mein eigenes Missionsverständnis und über das Missionsverständnis, mit dem ich im Glauben wachsen durfte, nachgedacht. Erstaunlich, wie sehr für mich der Begriff „Mission“ mit fremden Ländern, Ehepaaren mit drei oder mehr Kindern und Evangelisationsveranstaltungen verbunden war, bis ich mich persönlich mit dem Missionsbefehl auseinandergesetzt habe. Und bis heute ist nicht „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ der Teil, mit dem ich mich am meisten identifizieren kann, sondern der Teil danach: „Lehret sie zu halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Das ist auch Mission. Und dieser Auftrag schickt mich nicht in fremde Länder, sondern fängt bei mir an. Wenn ich lehren will, brauche ich Wissen und die Fähigkeit, dieses zu vermitteln. Dieses Wissen habe ich lange aus meiner Gemeinde, geistlichen Vorbildern, meinem Milieu und meinen Erfahrungen dort gezogen. Jetzt, wo sich mein Leben in den letzten Jahren mehr und mehr verändert hat, hat sich auch mein Platz in dem Gefüge verschoben. Mir ist wichtig geworden, dass Mission auf Augenhöhe passieren muss. Für mich manifestierte sich immer mehr, was lange Zeit nur im Raum schwebte. Wenn es mir so schwerfällt, mein geistliches Leben nach alten Maßstäben zu füllen, bzw. das, was mein geistliches Leben erfüllt, nicht den Vorstellungen vieler meiner Gemeindegeschwister entspricht, dann bedeutet das nicht, dass ich nicht trotzdem (oder gerade deswegen) Teil des ganzen Geschehens sein kann. Egal, ob ich Menschenmenge, Schriftgelehrte, Gelähmte oder Tragende bin. Festgefahrene Strukturen schaden einer Gemeinschaft, und es ist erstaunlich, wie sehr man sich ihnen beugt, weil das immer schon so war. Erstaunlicherweise fällt auch kaum auf, wie sehr das anstrengt! Auf Augenhöhe begeben heißt für mich, jede Situation neu zu erfassen. Wo bin ich, wo steht mein Gegenüber, welche An- bzw. Verknüpfungspunkte finde ich, findet mein Gegenüber? Das wird meine persönliche Aufgabe, die ich daraus ziehe, denn „alles, was ich euch befohlen habe“, ist unendlich. Mein Unwohlsein in einer Situation darf sein, aber ich darf mich daran nicht aufhängen oder darin verharren, sondern darf wieder das suchen, was Heimat ausmacht. Ich muss meine Erwartungen beiseitelegen, um wirklich wahrnehmen zu können, was direkt vor meiner Nase passiert, „… denn siehe, er ist bei mir, alle Tage“. Oft muss ich dafür meine persönliche Antwort auf die Aufforderung von Jesu „Komm und folge mir nach!“ neu finden, ich muss wissen, wo ich gerade stehe, um den Weg weitergehen zu können. Ich möchte mit dieser Aufforderung nicht plakativ werden. Natürlich sagt Jesus selbst, dass Nachfolge nicht einfach ist. Aber ich bin mir sicher, dass jeder Mensch auf sich aufpassen muss und nicht einfach losziehen kann. Wenn man nach außen aktiv ist, muss man nach innen genug Möglichkeiten haben, aufzutanken, sich zu erholen und passiv zu sein. Leider geht das in Gemeinden, in denen viel ehrenamtlich gemacht wird, häufig unter. Aber auch Hauptamtlichen fehlt das Getragensein. Es fehlt am achtsamen Miteinander. Wie großartig ist es hier, von Jesus zugesprochen zu bekommen, dass meine Sünden vergeben sind! Diese Geschichte aber zeigt mir deutlich, dass Begeisterung für Jesus aus vollkommen unterschiedlichen Situationen heraus entstehen kann. Egal in welcher Rolle ich komme und egal in welcher ich gehe. Vielleicht gehört es auch zum Leben eines Christen, sich immer wieder neu auszurichten. Möglicherweise ist es auch genau das, was Augustinus gemeint hat, als er in seinem Bekenntnis schrieb: „Ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Mir wurde auch klar, dass es nicht nötig ist, dass alle Jesus so schnell wie möglich kennenlernen. Wer weiß, wie oft die Anwesenden in Kapernaum vorher schon Jesus erlebt haben, und wer weiß, wie es bei ihnen nach diesem Wundererlebnis weitergehen wird. Aber jetzt, für den Moment, wissen alle Beteiligten, dass Jesus der Sohn Gottes ist.

Vom Wandern und Wundern

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