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ОглавлениеHanna Buiting
Worte statt Orte oder: Wie ich anfing, meine Kirche neu zu buchstabieren
Das Shirt unter dem Rucksack ist nass vor Schweiß, die Füße freuen sich, endlich nackt durch hohes Gras zu laufen, und flockiges Kartoffelpüree mit Paprikapulver, gekocht auf einem Camping-Kocher, ist ein echtes Festessen. Es ist ein Sommer vor einigen Jahren. Wir sind gemeinsam unterwegs. Mit Rucksäcken, in denen sich unser Hab und Gut für zwei Sommerferienwochen befindet. Mit klobigen Schuhen an den Füßen, die wir in der Innenstadt niemals tragen würden, die im Gebirge aber ganz okay sind. Mit einem grünen Halstuch um den Hals, das anzeigt, dass wir Pfadis sind und zusammengehören. Außerdem teilen wir Mückenstiche. Auch sie verbinden uns. Das Fenistil-Gel wandert zwischen uns hin und her. Eins für alle und alle für eins. Wir sind eine kleine Gemeinde. Pfadfinderinnen und Pfadfinder auf dem Weg durch Frankreich. Und ich bin eine von ihnen.
Wenn ich heute überlege, wie ich mir Kirche wünsche und wie ich sie in der Wirklichkeit erlebe, dann denke ich manchmal an unseren Pfadfinder-Hike durch Frankreich zurück. Zwölf Jugendliche und drei Erwachsene. Wir reisen mit leichtem Gepäck und schlafen doch im Tausend-Sterne-Hotel. Unsere Handys liegen zu Hause, und doch ist alles in uns auf Empfang gestellt. Wir teilen. Lebensmittel und Lebensmitte. Wir singen, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen und das Lagerfeuer nur noch glimmt: „Der Himmel wölbt sich übers Land. Gut Nacht, auf Wiedersehen. Wir ruhen all in Gottes Hand. Gut Pfad, auf Wiedersehen“, und fühlen uns wunderbar geborgen. Wir brauchen nicht viel zum Glücklichsein. Weniges genügt uns. Wir genügen einander. So wie wir sind. Jetzt gerade.
Nach zwei wunder-vollen Wochen kehren wir nach Hause zurück in den Schatten des Kirchturms, von dem aus wir losgelaufen sind. Der Sommer hat uns verändert. Innerlich und äußerlich. Wir kehren zurück mit Sommersprossen im Gesicht, Lagerfeuerliedern im Ohr und ein paar Aufnähern mehr an der Kluft. Unsere grünen Halstücher tragen wir mit Stolz. Im Sonntagsgottesdienst erwähnt der Priester kurz, dass wir wieder da seien. Alle wohlbehalten zurück im Schoße der Gemeinde. Diese Worte wählt er tatsächlich. Der Rest des Gottesdienstes zieht an uns vorüber, hat nichts mehr zu tun mit Zeltplatzsuche, Blasen an den Füßen und ersten Küssen am Lagerfeuer. Hat nichts mehr zu tun mit uns. So jedenfalls fühlt es sich an. In den darauffolgenden Wochen gehe ich nicht mehr in die Kirche.
Keinen Platz haben
So war es schon oft in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, größte Gotteserlebnisse zu machen, habe gestaunt und gebetet, gezweifelt und geweint. Nur in meiner Kirche schien kein Platz dafür zu sein. Immer war da eine Grenze, oft unsichtbar, manchmal mehr als sichtbar. Du bist „eingeladen zum Fest des Glaubens“, aber sei bitte nicht so laut, nicht so forsch, nicht so fragend. Fürbitten vorlesen, okay, aber eine Predigt halten? Du weißt schon, dass wir uns hier in der katholischen Kirche befinden, oder? Und du bist eine Frau.
Ich muss wohl ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als mir bewusst wurde: Ich bin zwar irgendwie willkommen in der Kirche, ja, ich werde sogar gebraucht, zwischen all den Silberschöpfen und Talarträgern, aber richtig was zu sagen habe ich nicht.
Dabei hätte ich wohl etwas zu sagen oder zu geben gehabt. Auch als Zwölfjährige schon. Mit einem Kopf in den Wolken, Fantasie bis zum Himmel und einer Liebe zum geschriebenen Wort. In einen Kindergottesdienst wollte das nicht so recht passen, dort regierten die Mitmach-Mamas, und die hatten ihre ganz eigenen Vorstellungen und vor allem ihre Verliebtheit in den Herrn Pastor. Und da kommt keiner so leicht dazwischen. Den großen Gläubigen, den treuen Schafen, die sich Sonntag für Sonntag auf den unbequemen Kirchenbänken niederließen, hätte ein zwölfjähriger Blick vielleicht mal ganz gutgetan, doch sie suchten die Stille, die Tradition und den Weihrauch. Auch dort kein Platz für die Gedanken einer Sechstklässlerin. Und so blieb ich irgendwo dazwischen. Ungesehen. Ein Lämmchen unter vielen.
Manchmal wundere ich mich im Rückblick, warum mir nicht längst die Puste ausgegangen ist. Hinter mir liegt ein langer Weg, dabei bin ich erst 24. Eine katholische Biographie, die ich wohl mit vielen anderen teile. Getauft im Alter von drei Monaten, aufgewachsen mit den Traditionen und Texten des Christentums. Mehr als einmal war ich die Maria im Krippenspiel, außerdem Erstkommunionkind, Messdienerin, Sternsingerin, Pfadfinderin, Firmling. Und dann auf einmal erwachsen, jedenfalls fühlte ich mich so, und damit irgendwie obdachlos. Meine Kirche kein schützendes Zelt mehr, von dem aus man, wenn man das Verdeck ein bisschen öffnet, die Sterne sehen kann. Stattdessen ein Raum, der mir zu eng erschien für meine Gedanken und für mein Gottesbild. Was mir all die Jahre Halt und Struktur gegeben hatte, fühlte sich auf einmal nicht mehr zu mir passend an. Zu viel hatte ich auf dem Weg bis hierhin erlebt. Zu viele Menschen hatten meinen Weg gekreuzt, die dieser Kirche mehr als skeptisch gegenüberstanden oder ablehnend. Zu oft hatte ich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen für Dinge, die mit meinem Leben und vor allem mit meinem Glauben doch so wenig zu tun hatten: kein Sex vor der Ehe, Missbrauchsfälle in Klosterschulen, größenwahnsinnige und geldgierige Bischöfe. Zu oft konnte ich über die weltfremden Worte, die in der Predigt fielen, nur den Kopf schütteln oder wütend die Zähne aufeinanderbeißen, bis mein Kiefer schmerzte. Und auch mein Herz.
Den Kern suchen
Dieses Dazugehören und gleichzeitige Danebenstehen war oft ganz schön herausfordernd. Doch was mich am meisten störte, war die Tatsache, dass all die heiß diskutierten oder totgeschwiegenen Themen nichts mehr mit dem Kern zu tun hatten. Dem goldenen, der, wenn man ihn ins richtige Licht hält, glitzert und funkelt und mein Menschenleben überstrahlt.
Vielleicht ist der Glaube an diesen goldenen Kern das, was mir einen langen Atem geschenkt hat, sodass mir bis heute nicht die Puste ausgegangen ist, ich mich weiterentwickelt habe. Früher war ich Pfadfinderin, heute bin ich Pfadsucherin. Ich bin eine Suchende. Eine Sehnsuchende. Denn ich glaube noch daran. Daran, dass es eine große, schöpferische Kraft gibt, die es gut mit uns meint, die meinem Leben eine weite Perspektive schenkt und einen tieferen Sinn. Ein großes Geheimnis, das mich wandern und wundern lässt und das ich gerne Gott nenne. Eine Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe, ein Angebot an die Menschheit, das Angebot des ultimativ Guten, nach dem ich sehnsüchtig bin und suche. Immer wieder.
Doch diese Suche findet nicht mehr allein im Rahmen der Kirche statt, in die ich hineingeboren und hineingetauft wurde. Mein Weg hat mich scheinbar von ihr fortgeführt, und doch begegnen wir uns immer wieder mal. Vor allem immer dann, wenn ich die Hoffnung habe, doch noch Anknüpfungspunkte zu finden, oder immer dann, wenn ich mich mal wieder über sie ärgere. Oder besser gesagt, über die Menschen, die sich die Kirche zu eigen machen, um sich selbst zu profilieren, sich von anderen abzugrenzen und dabei aus dem Blick zu verlieren scheinen, dass sie damit auch Menschen aus ihren eigenen Reihen ausgrenzen. Exkommunizierung eines Geschiedenen. Kündigung einer Kindergartenleiterin, weil sie es gewagt hat, sich in einen anderen Mann zu verlieben. Ablehnung eines homosexuellen Paares. Als sei die Kirche wirklich in der luxuriösen Lage, Leute, die aufrichtig glauben und vor allem aufrichtig lieben, ausschließen zu können.
Ich selbst war bisher nie direkt von den Einstellungen der Kirche zu Liebe, Sex und Partnerschaft betroffen und dennoch machen sie mich betroffen. Weil ich mir mehr Offenheit wünsche und mehr Rückbesinnung auf die Kerngedanken unserer Religion. Die Liebe ist stärker als der Tod. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Ganz schön viel Liebe für eine Religion. In der Kirche spüre ich sie nur selten. Höchstens die Selbstliebe. Die vielleicht auch wichtig ist, aber eben nicht nur.
Den Horizont erweitern
Dennoch ist mir die katholische Kirche die vertrauteste Konfession. Wie eine alte Tante, die bei allen Familienfesten immer dabei ist, aber die nicht unbedingt die besten Geschenke macht. Auf die Wange geküsst werden will sie trotzdem.
Durch meinen Umzug von Essen nach Berlin vor fünf Jahren und mein Studium der Religionswissenschaften habe ich meinen Horizont erweitert und kennengelernt, was das Christentum außerdem noch so alles in sich vereint. Die Familie ist gewachsen. Durch Protestanten, Orthodoxe, Kopten und Freikirchler und dann noch einmal tausend verschiedene andere Ausprägungen. Vieles war mir erst fremd und ich musste das Gemeinsame und Verbindende zwischen uns allen ein wenig suchen. Nie zuvor habe ich erlebt, dass Menschen sich so in Ekstase bringen können, dass sie ohnmächtig werden und hinterher vom Heiligen Geist erzählen. Nie zuvor habe ich Menschen in Zungen reden gehört. Nie zuvor habe ich so viele junge Leute von ihrer unendlichen Liebe zu Jesus sprechen gehört. Hatte ich vorher geglaubt, meine katholische Kirche hätte ein paar befremdlich anmutende Riten, die auf Außenstehende gruselig wirken könnten, wurde ich bei einem Erweckungsgottesdienst einer Pfingstgemeinde zunehmend entspannter: Es geht noch viel krasser. Meins war das nicht. Ich suchte weiter.
Manchmal fühle ich mich heute wie eine Nomadin. Ich wandere, bleibe mal hier stehen und mal dort, betrachte hier ein Fleckchen Erde, lese dort einen klugen Gedanken, treffe Menschen, die mir mal vertraut sind und mal fremd. Wie damals bei den Pfadfindern begebe ich mich auf Zeltplatzsuche: Wo kann ich bleiben? Wo bin ich willkommen? Wo passe ich dazu? Im religionswissenschaftlichen Jargon würde man mich wohl als eine Synkretistin bezeichnen. Ich puzzle, sammle und leihe, tausche, verschenke und teile. Ich schöpfe aus dem großen Schatz der Religionen und suche nach dem, was meinem Leben mehr Tiefe gibt. Ich suche Antworten, ein Dach für meine Sehnsüchte, mit einem Fenster, von dem aus man in den Sternenhimmel blicken kann. Weit und großartig. Das Kennenlernen anderer Konfessionen hat viel Gutes. Ich weiß meine geistliche Herkunft inzwischen stärker zu schätzen und habe gleichzeitig einen anderen Blick für das große Ganze gewonnen. Und vor allem für die vielen Möglichkeiten, die in Kirche stecken können: Einen Gottesdienstraum mit einer richtig guten Kaffeemaschine ausstatten? Warum nicht. Die Lieder nicht Lieder nennen, sondern Worship-Musik: auch eine Möglichkeit. Der Predigt mehr Gewicht geben und Hostien durch Fladenbrot ersetzen. Das ist dann vielleicht nicht mehr ganz so feierlich, aber vielleicht ein wenig ehrlicher.
Sich entscheiden müssen
Und doch: Meine Suche ist nicht weniger sehnsüchtig geworden. Noch immer vermisse ich den Kern des Ganzen. Denn obwohl ich inzwischen so viel mehr kenne an christlichem Content oder vielleicht gerade deswegen, habe ich das Gefühl, mich ständig entscheiden zu müssen. Bin ich katholisch oder evangelisch? Konservativ oder liberal? Bibeltreu oder charismatisch? Sängerin im Kirchenchor oder Leiterin der Kinderkirche? Vieles erscheint mir dabei viel zu menschengemacht, als dass ich glauben könnte, dass da ein göttlicher Gedanke drinsteckt. Ich fühle mich fremd in einer Kirche, in der es Schubladen gibt, aber keine Regale. In der keine Offenheit herrscht, Regalbretter zu versetzen, bis eben genug Platz für den Inhalt ist. Fremd in einer Kirche, in der Regale als zu offen empfunden werden, zu einsehbar, nicht zum üblichen Mobiliar passend.
Ich habe verschiedene Gemeindeformen ausprobiert, um herauszufinden, wen wir hier eigentlich anbeten, warum und in welcher Form. Ich habe das ernst gemeint mit dem goldenen Kern, mit der Suche nach dem ultimativ Guten, das ich gerne Gott nenne. Und habe dennoch wieder gemerkt: Die meisten Kirchen drehen sich nur um sich selbst und darum, ihre Schubladen zu füllen, sie sorgsam zu verschließen und zu etikettieren – manche mit Masking Tape, andere in guter alter Excelmanier.
Deswegen frage ich mich: Wo ist der Raum für uns, die sich irgendwie dazwischen fühlen und die in keine der bestehenden Schubladen so recht reinpassen wollen? Die aus einer Tradition kommen, aber nicht bei ihr stehengeblieben sind? Die an Gott glauben, aber gleichzeitig auch Zweifelnde sind? Die Jesu Botschaft für eine ziemlich großartige Message halten und die, wenn sie von ihrer großen Liebe sprechen, trotzdem nicht allein Jesus meinen. Die die Worte der Bibel schätzen und sie dennoch nicht als einen Tatsachenbericht lesen, sondern als ein Angebot zum Weiterdenken. Wo ist unser Platz?
Viele meiner Freundinnen und Freunde aus der Pfadfinderzeit, der Messdienergruppe und der Firmvorbereitung haben der Kirche längst den Rücken gekehrt. Weil auch sie sich nicht mehr zugehörig gefühlt haben. Oder die Kirche nicht mehr zugehörig zu ihrem Leben. Sie haben eine andere Richtung eingeschlagen, haben ihre Mitgliedschaft gekündigt, leben ein zufriedenes Leben, jedenfalls hoffe ich das. Vielleicht ist ihr Leben einfacher geworden. Sie müssen sich nicht mehr auseinandersetzen mit den Grenzen unserer Kirche, den Vorwürfen und dem oft schlechten Image aus weltlicher Sicht. Wenn ich nicht mehr dazugehöre, muss ich mich auch nicht rechtfertigen, ärgern, einen langen Atem haben. Manchmal finde ich das beneidenswert, und doch bin ich zu sehr in die Idee eines goldenen Kerns verliebt, als dass ich meine Sehnsüchte ganz einfach ausblenden könnte. Denn es gibt sie immer wieder: die kleinen Funken, die mich an den Ursprung des Ganzen erinnern. Manchmal sind sie so schnell verflogen, wie Wunderkerzen brennen, aber der Geruch nach Feuer und Eisenpulver bleibt noch eine ganze Weile in der Luft hängen und lässt mich nicht los.
Bei den Wurzeln beginnen
In solchen Momenten überlege ich dann manchmal, ob die Suche nicht auch eine Chance sein kann. Denn sie hält den Blick wach und das Herz. Sie macht offen für Wandel und für Wunder. Und sie beginnt immer vor allem bei mir selbst. Denn meine Sehnsucht ist am größten, wenn ich mir selbst fehle. Wenn ich nicht mehr weiß, was mich ausmacht. Wenn die Zweifel übergroß scheinen und ich so erschöpft bin, dass mir nicht mehr klar ist, was mich hält und schützt, mich segnet und beseelt. Das Gefühl des Verlassenseins in der Welt bringt mich zurück zu der Idee des ultimativ Guten, zurück zur Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe. Zurück zum Vater, zum Sohn, zum Heiligen Geist, der schon zu Beginn meines Lebens eine Bedeutung für mich erhielt. Damals nämlich, als mir Wasser über das babyflaumbedeckte Köpfchen gegossen und ein Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt wurde. Seitdem bin ich Teil dieser Großfamilie aus Christinnen und Christen, was längst nicht immer leicht ist; aber das hat ehrlicherweise ja auch niemand behauptet.
Bei den Pfadfindern haben wir früher oft von „back to the roots“ gesprochen. Zurück zu den Wurzeln, auf den Boden der Tatsachen, alles zurück auf Anfang. Und im Anfang war das Wort, heißt es. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort. So beginnt das Johannesevangelium, und vielleicht sind das meine Lieblingszeilen der Bibel. Weil sie mich berühren, mich in meinem goldenen Kern treffen, vom Anfang erzählen und von Gott und vom Wort. Seit ich denken kann, bin ich ein Buchstabenmensch. Immer waren es geschriebene Worte, die mein Leben begleiteten und beglückten. Erst wurden sie mir vorgelesen, dann las ich sie selber, dann begann ich eigene aufzuschreiben. Schon ganz früh war es mein allerliebstes Hobby, meine kleine Leidenschaft, im Dachgeschosszimmer im Haus meiner Kindheit auf dem Computer, damals Betriebssystem Windows 97, Geschichten zu schreiben. Viele wurden lang und länger, erzählten von dem, was ich sah und erlebte, durchmischt mit einer ordentlichen Portion Fantasie.
Im Markusevangelium heißt es: Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt. Ich erkannte schnell: Alle Dinge sind möglich dem oder derjenigen, der oder die sie schreibt.
Anfangs mit nur zwei Fingern, tippte ich Wort um Wort ein, erschuf eigene Welten und Figuren, ließ sie sich verlieben oder sterben, suchte Worte zum Trotz oder zum Trost. Vielleicht war ich ein etwas sonderbares Kind, vielleicht hatte ich aber auch nur das große Glück, schon ganz früh die Gnade der guten Geschichten zu erfahren, die sich in mein Herz schlichen, mir Worte ins Ohr wisperten und raus in die Welt zu wollen schienen. Und vielleicht war dieses kleine, feine Schreiben schon längst mein ganz persönlicher Gottesdienst. Gespeichert auf Disketten: mein Dienst an Gott. Oder mein Dienst mit Gott. Denn wenn das Wort bei Gott ist und Gott selbst das Wort, konnte er dann nicht auch zu Gast in meinem Dachgeschosszimmer sein? Als Kind habe ich das nicht in Erwägung gezogen, zu vertraut waren mir die vorgegebenen Vorstellungen eines Gottes, den ich wohl am ehesten in der heiligen Messe finden würde und nicht zwischen meinen eigenen Gedanken. Aber heute denke ich öfter über diese Möglichkeit nach. Denn wer sagt, dass Gott nur in Kathedralen zu finden ist, in Kapellen und Kirchen? Vielleicht ist er genauso oft auch im Kinderzimmer zu finden. Dort, wo die Fantasie wohnt, die Hoffnung auf das ultimativ Gute, die Quelle der Kunst, der Schönheit und der Liebe. Ein bisschen Bullerbü und ein bisschen Bibel. Warum nicht?
Das Gefühl, in den vorgegebenen Rahmen der Kirchen nicht so recht reinzupassen, hat mich oft auf diese Frage gestoßen: Warum nicht? Warum nicht mal querdenken? Traditionen toll finden, aber Innovationen mindestens genauso gut. Worte wörtlich nehmen. Gott ist das Wort. Wie großartig! Denn dann umgibt er mich ständig. Beim Anfang anfangen: back to the roots. Was sind die Wurzeln? Was ist der Kern? Was wollen wir erzählen, was glauben? Wo fangen wir an?
Geschenke auspacken
Ich habe schreibend angefangen. Weil mir das am meisten entspricht. Weil ich gemerkt habe: Es gibt sie, die heiligen Momente, wenn ich schreibe und schreibe, um Worte ringe, Gedanken teile und auf einmal selbst ein wenig ungläubig lese, was dort entstanden ist, und ich mich fragen muss: Woher, verflixt, kam jetzt diese Idee? Wenn ich vorsichtig zu fragen wage: Hallo, Mister Gott, hier schreibt Hanna. Do you read me? Do you lead me? Heilige Momente erlebe ich auch, wenn ich anderen zu lesen gebe, was ich geschrieben habe, und sehe, wie in den Augen meines Gegenübers plötzlich Tränen zu glitzern beginnen oder ein Lächeln die Lippen umspielt, ein Runzeln die Stirn ergreift oder der Kopf langsam zu nicken beginnt. Heilige Momente sind das, die ich voll Glück und voll Dankbarkeit annehme. Danke, Gott. Für deine Worte.
Ich glaube daran, dass jedem Menschen eine Gabe gegeben ist. Mindestens eine. Ich glaube daran, dass jeder Mensch auf besondere Art und Weise begnadet ist. Manche brauchen ein Leben lang, um diese Gnade zu entdecken und für sich annehmen zu können, manchen wird sie buchstäblich in die Wiege gelegt. Geschenke sind das, die wir auspacken dürfen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Unsere Aufgabe ist es höchstens, zu überlegen, an welcher Stelle diese Gabe wohl gut eingesetzt wäre. Auf dass sie nicht nur mich selbst beschenke, sondern auch andere. Genau das ist es, was ich mir von Kirche, wie ich sie bisher kennengelernt habe, immer gewünscht und so oft vermisst habe: die Offenheit, die wahnsinnige Dankbarkeit und Stärke, anzuerkennen, dass jede und jeder etwas mitbringt. Geschenke, die es auszupacken gilt, weiterzureichen und zu teilen. Das ist für mich ein Teil dieses goldenen Kerns: ein Funke Gottes in jedem von uns. Eine Krone der Schöpfung, die auf jeden Kopf passt.
Das Schreiben hat mich meinen eigenen Sehnsüchten nähergebracht, aber vor allem auch anderen Suchenden, Nomaden, Kirchenaussteigern. Zwischen den Welten und zwischen den Worten sind wir uns begegnet. Dafür musste ich mich allerdings erst mal trauen, meine Worte nicht in Schubladen einzusperren und verstauben zu lassen auf Disketten oder USB-Sticks, sondern sie zu teilen, in Regalen und im Internet. Auf einem Blog habe ich meine Geschichten und Gedichte hochgeladen. Mit klopfendem Herzen und immer der Frage im Hinterkopf: Will jemand lesen, was ich schreibe? Mehr als einmal musste ich mich daran zurückerinnern, wie glücklich mich das Schreiben an sich bereits gemacht hatte. So glücklich, dass es im Grunde gar nicht so wichtig war, wie andere mein Schreiben bewerten würden. Mein Gottes-Dienst war erfüllt. Heilige Momente lagen längst hinter mir. Und dann kamen plötzlich doch noch einmal tausend solcher dazu. Denn auf einmal war ich mit meinen Worten nicht mehr alleine. Andere teilten sie und meine Weltansicht, meine Fragen und meine Sehnsüchte. Sie ließen sich berühren von den Zeilen, die in meinem Kopf entstanden waren, dachten nach, dachten mit und dachten weiter. Texte voll Güte und voll Gnade entstanden so, voll Hoffnung und voll Heimat. Aus Orten, lang gesucht und nicht gefunden, wurden Worte. In meiner Timeline, bei Facebook und Twitter tummelten sich zunehmend Christinnen und Christen, aus dem Rahmen gefallen, auf der Suche. Sie wurden zu meiner Leserschaft, meiner Netzgemeinde, meinen Stichwortgebenden und Nächsten.
Dabei schreibe ich längst nicht nur zu christlichen Themen, jedenfalls auf den ersten Blick nicht. Wahrscheinlich ist auch das wieder eine Frage von Schubladendenken. Denn wenn Gott das Wort ist, ist dann nicht alles Gott, was wir sagen und schreiben?
Gemeinsam suchen
In Rückmeldungen und Kommentaren von Leserinnen und Lesern auf meine Blogbeiträge, Artikel und Bücher spüre ich immer wieder die gleiche Sehnsucht, die auch ich habe. Dass vielleicht alles irgendwann eins sein möge. Nicht mehr so strukturell gedacht. Nicht so sehr mit Blick auf das, was uns voneinander unterscheidet, sondern eher auf das, was uns eint. Wir wollen Traditionen weiterführen und schätzen lernen, was es schon gibt, aber ebenso Innovationen weiterdenken, damit es irgendwann noch mehr gibt. Wir wollen eine Haltung entwickeln, die einlädt zum Halt. Wie ein Stoppschild, um Gelegenheit zu haben, noch mal kurz nach rechts und links zu blicken und sich zu fragen, ob man noch der richtigen Spur folgt. Wir wollen das Evangelium auf unser Leben übertragen und unseren Alltag unterbrechen. Frohe Botschaften verbreiten. Nicht Erster sein, nicht Letzter, sondern Nächster. Wunden in Wunder verwandeln. Den Himmel auf die Erde holen. Neue Worte finden. Buchstabe für Buchstabe. Zeile für Zeile.
Seitdem ich öffentlich schreibe, ist meine Sehnsucht nach Verortung in einem expliziten Kirchenraum etwas kleiner geworden. Weil längst andere Räume entstanden sind. Räume der Begegnung und des Austausches, des Schenkens und des Beschenktwerdens. Aus Fremden wurden Freunde. Das Fremdgefühl verbindet uns miteinander. Wir, die dazwischen sind, sind es nun gemeinsam. Wir, die gegen Schubladendenken sind, bauen zusammen Regalwände. Wir, aus der Familie der Christinnen und Christen, feiern Familienfeste, werden zu Wahlverwandten. Vielfach virtuell, aber wenn wir uns dann doch mal im echten Leben treffen, fühlen wir uns an wie Vertraute. Wir lesen uns in- und auswendig. Welch ein Glück. Welch eine Gnade.
Und dann, ohne dass ich es drauf angelegt habe, gibt es auf einmal auch in bestehenden Kirchenräumen einen Platz für mich und mein Schreiben. Vielleicht, weil sich auch dort so viele dazwischen fühlen, so viele auf der Suche sind, nur haben wir bisher nie miteinander gesprochen, nichts voneinander geahnt. Ich werde eingeladen, meine Gedanken zu teilen, denjenigen meine Worte zu leihen, denen sie selbst so sehr fehlen. Mit einem Kopf in den Wolken, Fantasie bis zum Himmel und einer Liebe zum geschriebenen Wort. Das war ich auch als Zwölfjährige schon. Heute wird mir zugehört. So manches Mal war ich überrascht, wenn eine Anfrage in meinem Postfach landete: Ein Text, der vom Suchen erzählt, wurde gewünscht. Tröstend und trotzig. Liebevoll und leidenschaftlich. Ehrlich und erfinderisch. Für Katholikinnen, Evangelikale, Lutheraner und all die anderen. In jeder Kathedrale, Kirche und Kapelle scheint es sie zu geben, die Suchenden. Die vielleicht mit ihrem Latein am Ende sind, aber nicht mit ihrer Liebe. Ich suche Worte für sie, für mich, für uns.
Verbunden sein und frei
Glücksforscher sind sich einig: Am glücklichsten sind Menschen in Verbundenheit und Freiheit. Ich finde, diesen Satz könnte man wunderbar auch theologisch umformulieren in: „Am gläubigsten sind Menschen in Verbundenheit und Freiheit.“ Es ist wohl nur allzu menschlich, die Welt unterteilen zu wollen, sie in Schubladen zu quetschen und sorgsam zu etikettieren. Damit es keine bösen Überraschungen gibt, wenn man mal eine von ihnen öffnet. Wir suchen die Ähnlichkeit und die Verbundenheit. Auch ich tue das. Ich, die ich eine Suchende bin, geprägt vom katholischen Glauben, aber oft sehr viel weiter ausgerichtet, suche nach Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Mit denen ich mich verbunden fühle. Und sei es nur darin, dass wir gemeinsam nicht in andere Schubladen zu passen scheinen. Ich bin am gläubigsten, wenn ich darin ein großes Geschenk erkennen kann: gemeinsam mit anderen auf der Suche zu sein. Nach dem goldenen Kern, der unser aller Leben ausmacht, der uns eine Tiefe schenkt, uns segnet und begnadet. Nach einem Funken Gottes in jedem von uns. Nach dem, wovon die Väter und Mütter unserer Großfamilie aus Christinnen und Christen jahrtausendelang erzählt haben. Nach dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Nach der Quelle der Kunst, der Schönheit und der Liebe. Nach dem Angebot an die Menschheit, dem Angebot des ultimativ Guten. Nach Gott, der in den Worten wohnt und damit auch in meinen. Die Suche danach verbindet uns miteinander. Sie macht mich gläubig.
Aber genauso gläubig, glücklich und geliebt fühle ich mich, wenn ich merke, dass es eine Freiheit gibt. Dort, wo ich lebe, schreibe und bete. Wenn Fantasie und Glauben sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern beflügeln. Wenn die Vorstellung, dass Gott ein Angebot an die Menschheit ist, nicht gleich mit frommen Floskeln entlarvt wird, sondern gehört wird. Wenn es ein Bleiberecht gibt für jede und für jeden. Wenn „Willkommen“ zum Lieblingswort gekürt wird. Wenn alle eine Krone der Schöpfung tragen. Ich erwarte nicht, dass alle das Gleiche glauben oder hoffen oder beten. Kein bisschen erwarte ich das. Ich wünsche mir nur die Freiheit, dass all dieses Glauben, Hoffen und Beten sein darf. Dass es Ausdruck findet. Ganz so, wie es zu jeder und zu jedem eben passt.
Wenn ich mir eine Kirche erschreiben könnte, würde sie vielleicht ein wenig einem Pfadfindersommer gleichen: Das Shirt unter dem Rucksack ist nass vor Schweiß und die Füße freuen sich, endlich nackt durch hohes Gras zu laufen. Flockiges Kartoffelpüree mit Paprikapulver, gekocht auf einem Camping-Kocher, ist ein echtes Festessen. Am Lagerfeuer werden Lieder geteilt, Geschichten und erste Küsse, Lebensmittel und Lebensmitte. Und oft auch das Fenistil-Gel. Die Handys liegen zu Hause, und trotzdem ist alles in uns auf Empfang gestellt. Wir erzählen von gestern, von heute und von morgen. Finden neue Worte für alte Geschichten, erinnern uns an unsere Wurzeln und träumen von Flügeln. Es gibt guten Kaffee und Fladenbrot und grüne Halstücher erinnern auch äußerlich an unsere Verbundenheit miteinander. Aber gleichzeitig herrscht die Freiheit, das Halstuch abzulegen, wenn es einem zu eng erscheint. Immer wieder begeben wir uns auf Zeltplatzsuche, suchen ein Dach für unsere Sehnsüchte. Denn es gibt zu viele schöne Orte auf der Welt, um allezeit am gleichen Platz zu bleiben, und außerdem sind wir gern miteinander unterwegs. Wir bauen Regalwände und immer mal wieder stoßen Menschen zu uns. „Willkommen“ ist unser Lieblingswort. An jedem Tag gibt es ein paar heilige Momente und Geschenke, die es auszupacken gilt. Wir sammeln sie und nehmen sie mit auf unseren Weg. Im Rucksack ist genug Platz für sie alle. Wir feiern Familienfeste und aus Fremden werden Freunde. Geschlafen wird im Tausend-Sterne-Hotel, denn wenn man das Zeltverdeck nur ein wenig öffnet, kann man den Himmel sehen und erahnen, dass es einen goldenen Kern gibt, der unser Menschenleben überstrahlt, es segnet und beseelt. Wir singen, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen und das Lagerfeuer nur noch glimmt: „Der Himmel wölbt sich übers Land. Gut Nacht, auf Wiedersehen. Wir ruhen all in Gottes Hand. Gut Pfad, auf Wiedersehen“, und fühlen uns wunderbar geborgen. Wir brauchen nicht viel zum Glücklichsein. Weniges genügt uns. Wir genügen einander. So wie wir sind. Jetzt gerade. Morgen werden wir weitergehen. Warum nicht?