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4. Die Leiche auf der Burg

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»Ba Ba Banküberfall, das Böse ist immer und überall!«, rockte es durch die nächtliche Stille der Wohnung. Als Klingelton war der Hit der »EAV« eher ungewöhnlich.

Die Schnarchgeräusche verstummten mit einem letzten Seufzer. Wotan drehte sich auf dem aufblasbaren Gästebett ächzend von der Seite auf den Rücken. Verschwommen sah er, dass der Projektionswecker mit roten Ziffern 4.31 Uhr auf die Zimmerdecke warf.

Die »EAV« sang mit voller Lautstärke weiter.

»Alexa, mach das Licht an!«, befahl er mit schlaftrunkener Stimme.

»In diesem Raum befindet sich noch kein Endgerät, das ich einschalten kann. Soll ich die Lampe im Nebenraum einschalten?«, fragte die digitale Sprachassistentin monoton. »Alexa, einschalten!« Wotan war angesäuert. Die Deckenbeleuchtung im Flur ging an und ein Lichtstrahl fiel durch die halb geöffnete Tür.

Wotan Wilde gähnte, räkelte sich und blinzelte ins Licht. Er überlegte einen Augenblick, orientierte sich und kam zu dem Schluss, dass heute Donnerstag sein müsste und er in seiner neuen Wohnung war.

Er entdeckte das Smartphone auf dem Umzugskarton, der seit gestern als Nachttisch diente. »Küche«, stand mit dickem Filzer auf der Seite. Die Nachtkästchen hatte seine Frau mit dem Bett in den Container nach Kapstadt gepackt. Wilde stöhnte. Hier herrschte noch Chaos pur.

Er rollte sich zur Seite, stützte sich auf den linken Ellenbogen und griff nach dem vibrierenden Gerät.

»Ja!«, bellte er in den Hörer.

»Guten Morgen, Wotan. Hier ist Bernadette!«, flötete seine Assistentin gut gelaunt.

»Mensch, Bernadette, weißt du, welche Uhrzeit wir haben?«, stöhnte Wotan.

»4.30 Uhr!«, sagte die und lachte. »Hier ist die Zeitansage! Ich hätte eine schöne Leiche für dich! Haben Jogger beim Frühlauf entdeckt.«

»Die hätte auch noch ein paar Stunden warten können. Termine hat die Leiche ja nicht mehr!«, stellte Wotan grummelnd fest. Er setzte sich ganz auf und hielt nach seinen Hausschuhen Ausschau.

»Wer weiß! Ich konnte noch nicht mit ihr reden!«, scherzte Bernadette.

»Na gut! Kannst du mich abholen? Am Alten Güterbahnhof 17, seit gestern«, informierte er Bernadette.

»Was hast du denn geträumt?«, fragte Bernadette.

»Spinnst du?«, fragte er sie. »Was soll die Frage?«

»Du weißt doch, dass das in Erfüllung geht, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt!«, teilte Bernadette mit.

»So ein Quatsch! Ich bin doch nicht mehr vier! Hol mich lieber ab! Ich komm runter, kann eine halbe Stunde dauern. Bring Kaffee mit! Und tschüss!« Wilde warf das Smartphone auf die Bettdecke und ließ sich noch einmal kurz aufs Kopfkissen zurückfallen.

Er hatte nichts geträumt. Allein die Begegnung gestern Abend mit seinem Hausgenossen, Ambrosius Ackermann, der in der Wohnung über ihm residierte, war Albtraum genug gewesen. Er hätte sich für das erste Zusammentreffen auch einen netteren Anlass gewünscht.

Er hatte gestern Abend um 18.00 Uhr auch einen Engpass gehabt, als er sein großes Geschäft nicht mehr zurückhalten konnte. Aber dieser verfluchte Kümmerle, der Sanitärfritze, hatte die Kloschüsseln noch immer nicht installiert. Lieferengpässe!

In seiner Not schnappte er sich einen Piccolo und klingelte bei Saskia Klaschke unten im zweiten Stock.

Nachdem sich in der Wohnung nichts gerührt hatte, war er in den fünften Stock gefahren und hatte bei Ackermann Sturm geläutet. Sofort wurde die Tür aufgerissen.

Aber anstelle einer Begrüßung sah er nur noch den Rücken eines schwergewichtigen Mannes. Er trug ein blütenweißes Unterhemd und eine golden gestreifte Boxershorts.

»Wird aber auch Zeit, dass der Anzug kommt. Das war das letzte Mal, dass ich in der City Reinigung war. Hängen Sie den Anzug an die Garderobe!«, blaffte der Dicke und verschwand im Bad. Jetzt pressierte es aber wirklich!

Wilde orientierte sich kurz. Neben dem Bad, das musste das Gästeklo sein. Er stürmte hinein und erleichterte sich. Schöne Kloschüssel, dachte er. Dann spülte er ausgiebig und trat frohgemut in den Gang. Im Bad hörte er den Fön.

Wilde überlegte kurz. Sollte er noch etwas sagen? Aber so unfreundlich, wie der Mann gewesen war, hielt er das nicht für nötig. Er öffnete die Wohnungstür, schlich in den Hausflur, zog die Tür vorsichtig ins Schloss und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Den Sekt nahm er wieder mit.

Würde später mal eine Anekdote wert sein. Mein Toilettengang beim Herrn Ackermann. Hoffentlich funktionierte die Lüftung im Gästeklo, dachte er.

Der Kommissar hatte bei der Erinnerung an dieses kleine Abenteuer sofort gute Laune bekommen und musste grinsen.

Er fuhr sich durch seinen verstrubbelten dunklen Haarschopf. Jetzt musste er aber Gas geben. Er schwang die Beine von der Matratze und blickte an sich hinunter. Er hatte im Jogginganzug geschlafen. Sogar seine Socken hatte er anbehalten.

Das war gestern aber auch ein anstrengender Tag gewesen. Außerdem war es kalt in der Wohnung. Das lag wohl an der blöden Balkontür, die nicht richtig schloss. Er musste sich auf seinem improvisierten Nachtkästchen abstützen, um von der niedrigen Matratze hochzukommen. Er war doch nicht mehr der junge Hupfer, für den er sich immer hielt.

»Merde!«, fluchte er, ganz seinem französischen Großvater geschuldet. Alle Knochen taten ihm von der gestrigen Schlepperei weh.

»Alexa, mach das Rollo im Schlafzimmer auf!« Wie von Geisterhand fuhr das Rollo des raumhohen Schlafzimmerfensters nach oben.

Draußen erkannte man einen fahlen Mond über der Skyline des Neubauviertels. Es begann leicht zu dämmern. Ein paar dunkle Wolkenfetzen zogen über den Himmel. Zwei Kräne ragten dunkel empor. Nur in wenigen Fenstern der Nebenhäuser brannte schon Licht.

Wilde gab die Suche nach seinen Hausschuhen auf. Barfuß tappte er durch den Flur. Er fühlte sich komisch und fremd an, der erste Morgen in der neuen Wohnung.

Im Flur grüßte ein buntgefiederter Tukan aus einem farbenprächtigen Blütendschungel. Riesige Schmetterlinge saßen auf Fantasieblüten und Kolibris flatterten dazwischen. Die Tapete hatte Siegrun noch ausgesucht. Er hätte japanische Schwertkämpfer bevorzugt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Im Endeffekt war es ihm auch egal gewesen.

Wilde schlängelte sich an den Umzugskisten vorbei ins Bad, erleichterte sich ins Bidet und starrte auf die leere Stelle, die für die Kloschüssel vorgesehen war. Zusammengeknülltes Zeitungspapier ragte aus dem Loch im Boden.

»Merde!« Wilde drehte den Wasserhahn auf. Wie ein kleiner Wasserfall plätscherte das kalte Wasser in eines der beiden ovalen Granitbecken. Das zweite war für seine Frau gedacht gewesen. Aber das Kapitel Ehe war ja jetzt vorbei. Momentan hatte er weder Lust noch Gelegenheit auf eine neue Beziehung.

Er vermied es, in den Spiegel zu sehen. Auf das bleiche Gesicht mit dem Dreitagebart und den dunklen Rändern unter den Augen konnte er verzichten. Ihm war kalt, das Schlucken tat ihm weh. Er nahm einen Schluck aus der Flasche mit dem Mundwasser, legte den Kopf in den Nacken und gurgelte lautstark. Siegrun hatte das Geräusch gehasst.

»Du klingst wie ein Walross«, hatte sie immer genörgelt. Wilde nahm einen weiteren Schluck und gurgelte nochmals laut und ausgiebig. Jetzt war er ein freier Mann!

Langsam kamen seine Lebensgeister zurück. Er erinnerte sich dunkel, dass er gestern Abend mit sich selbst und einem Sixpack Tannenzäpfle auf das neue Leben angestoßen hatte. Sein Kopf schmerzte. Jetzt wäre ein Aspirin das Richtige, aber der Inhalt der Hausapotheke war noch irgendwo eingepackt.

Bernadette hatte bestimmt eine Tablette in ihrer unergründlichen Gucci Handtasche. Ihm wurde leicht schwindelig, als er sich hinunterbeugte, um die Jeans anzuziehen. Den dunkelblauen Rolli, der vom Vortag auf dem Badewannenrand lag, zog er sich über.

Dann trat er ins Wohn-Esszimmer und blieb unschlüssig vor der Arbeitsplatte der Küchenzeile stehen. Traurig starrte er auf die Kaffeemaschine. Wo sich wohl die zugehörigen Pads versteckten? Für eine ausgiebige Suche hatte er jetzt keine Zeit.

Er drehte sich um und betrachtete seine Schätze auf dem Küchentisch.

Zärtlich fuhr er mit dem Daumen über die messerscharfe Klinge des wertvollen Katana Schwerts, das er gestern ausgepackt hatte. Der Umzugscrew hatte er begeistert von seiner Schwertsammlung berichtet. Besonders Ben, der Rasta­man, schien schwer beeindruckt von seinen Erzählungen.

Sein Geldbeutel lag neben dem Schwertbeutel mit dem eingestickten Muster aus japanischen Schriftzeichen. »Hüter des Lichts«, stand da angeblich.

Den drei Männern der Firma »Umzüge Federleicht« hatte er ein fürstliches Trinkgeld gegeben. Er steckte das Portemonnaie in seine Gesäßtasche. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und seine schwarzen Budapester. Die handgefertigten Halbschuhe standen am Boden neben den leeren Pizzakartons und Bierflaschen des letzten Abends.

Wilde seufzte, als er über das Chaos blickte.

»Alles der Reihe nach, Wotan! Jetzt hat erst mal eine Leiche nach dir verlangt!«, sagte er halblaut.

»Alexa, mach das Licht aus!«, ergänzte er lauter.

Er warf die Wohnungstür ins Schloss und drückte den Schalter für das Flurlicht. Zufällig erwischte er erst einmal seine eigene Wohnungsklingel. Der Lichtschalter war genau darüber angebracht. So hörte er das erste Mal den Ton seiner Glocke. Sie hatte einen schrecklichen Klang. Sie schrillte wie eine Sirene. Er wollte den Hausmeister fragen, ob man das umstellen konnte. Wie hieß der schnell noch wieder? Er tröstete sich damit, dass der Name unten am Briefkasten stand.

Dann lief er aus alter Gewohnheit die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ihm ein, dass es ja einen Aufzug gab.

Im Treppenhaus stieg ihm ein widerlicher Geruch in die Nase. Er hielt die Luft an und stürmte weiter. Kam das noch vom Abendessen der anderen Anwohner? Kochten die alte Wollsocken?

Im Erdgeschoss angekommen, stand das Bobbycar mit dem Anhänger noch immer unter den Briefkästen. Die Tiere im Hänger waren mit dem kleinen König über Nacht in der Wohnung verschwunden. Aus den Briefkästen hingen Werbeprospekte eines Supermarktes. Er musste einen Keine-Werbung-Sticker auf seinen Kasten kleben, fügte er seiner imaginären Merkliste hinzu. Einen kurzen Augenblick überflog er die Namen an den Kästen. Kostka, Holger Kostka hieß der Mann mit der Gartenfirma und Teilzeithausmeister.

Bestens informiert, trat Wotan Wilde aus der Haustür. Der schwarze 5er BMW der Polizei parkte direkt vor dem Haus. Er erkannte Bernadettes schmale Silhouette auf dem Fahrersitz. Sie nippte an einem Kaffeebecher und nickte mit dem Kopf rhythmisch zur Musik. Ihr Pferdeschwanz wippte unternehmungslustig.

Hoffentlich hatte seine Kollegin ihm auch einen Kaffee mitgebracht. Wilde öffnete die Beifahrertür und ließ sich ächzend auf den Sitz fallen.

Sofort schaltete Bernadette die Musik aus. Sie wusste, dass ihr Chef Musical-Musik verabscheute.

»Morgen, Prinzesschen!«, brummte er. Seine Assistentin sog hörbar die Luft ein. Sie mochte es nicht, wenn er sie so nannte. Natürlich war sie ein Prinzesschen, das musste sie zugeben, aber nur in ihren Kreisen und nicht im Job. Sie konnte ja nichts dafür, dass sie eine von Hohenstein war. Aber das würden ihre Kollegen wahrscheinlich nie kapieren. Jetzt war sie die stahlharte Ermittlerin an Wotans Seite. Sie grinste innerlich.

»Na, wie du aussiehst, hast du wieder mal durchgemacht«, holte Bernadette zum verbalen Schlagabtausch aus.

»Umzugsparty mit DJ Chaos und seinem Bruder Tannenzäpfle. Hast du ’ne Tablette für mich?«, erwiderte Wilde, ohne auf die Frotzelei einzugehen. Bernadette hielt ihm einen Kaffeebecher hin.

»Wilde Krönung von McDo«, sagte sie.

Wilde nahm einen Schluck und verzog das Gesicht: »Zucker fehlt!«

Bernadette kramte unbeeindruckt in ihrer Tasche, drückte eine Tablette aus einem schmalen Blisterstreifen und reichte sie Wilde.

»Und?«, Wilde spülte die Tablette mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter, wobei er wieder leidend den Mund verzog.

»Was und?«, antwortete Bernadette und drückte auf den Starter des Autos.

»Tatort, Opfer, Verdächtige, Täter, Hund, Katze, Maus«, leierte der Kommissar mit monotoner Stimme herunter.

»Burg Hohenneuffen, männliche Leiche, vermutlich kein natürlicher Tod, Täter unbekannt!«, antwortete Bernadette mechanisch und steuerte das Auto mit quietschenden Reifen auf die B28.

»Mit Bernie on the road!«, murmelte Wotan und tastete demonstrativ nach dem Haltegriff.

Den Spitznamen »Bernie« hatte sie nicht von ungefähr. Sie fuhr zwar nicht sehr gerne Auto, dafür aber schnell. Bernie Ecclestone, der frühere Sportfunktionär der Formel 1, war daher ihr Namenspate.

Wilde klickte den Sicherheitsgurt zu und blickte aufs Navi.

»Aha, 26,9 km und 28 Minuten. Dann sind wir um 5.30 Uhr da. Über Riedlingen und Pfullingen.« Seine Fahrerin schaltete SWR 3 ein und raste schweigend durch die Dämmerung.

»Vorsicht, auf der Uracher Straße stehen zwei Blitzer!«, warnte der Verkehrsfunk. Der Regen trommelte auf das Autodach, als sie durch die menschenleeren Ortschaften fuhren. Die Straßenlampen spiegelten sich in der regennass glänzenden Straße. Erste Busse und Autos waren unterwegs.

Nach 25 Minuten bog der Wagen auf den Besucherparkplatz unterhalb der Burg ein. Kies spritzte, als er neben dem weißen Bus der Spurensicherung und zwei blauen Polizeiautos zu stehen kamen. Aus einem Lastwagen der Bereitschaftspolizei luden Beamte in grünen Einteilern Gestänge und Scheinwerfer.

Auch der graue Volvo Kombi des Pathologen Julius Burmeister stand schon da. Bernadette wunderte sich, dass ein Junggeselle mit gutem Gehalt so eine Familienschüssel fuhr. Aber ihr Kollege Robert Altmann hatte ihr erklärt, dass es sich um ein R-Design Modell mit über 300 PS handelte, also ein echtes Sportgerät.

Wotan ließ seinen Blick über den ausgedehnten Parkplatz schweifen. Der Größe nach schien Burg Hohenneuffen ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Es musste ein Maiausflug nach ihren Flitterwochen in Südfrankreich gewesen sein. Das waren noch glückliche Zeiten!

»Wotan, nicht einschlafen!«, riss ihn Bernadette aus seinen Erinnerungen.

Wilde stieg aus und blickte zur Burganlage, die hoch über ihnen thronte. Er ahnte Schreckliches.

»Müssen wir da rauf?«, fragte er mit leidender Stimme. Es hatte aufgehört zu regnen. Wilde machte einen scharfen Schlenker um eine riesige Pfütze und blieb interessiert vor einer Infotafel stehen.

Die Wanderungen am Albtrauf waren farbig markiert und mit kurzen Beschreibungen versehen.

»Hohenneuffen Tour 1«, las er mit erhobener Stimme, »Rundwanderung, kurzer Weg durch den Wald mit toller Aussicht, 4,8 km, 230 Höhenmeter.« Bernadette hörte gar nicht zu. Sie lief ums Auto und tauschte ihre hellen Sneaker gegen ein Paar dunkelgrüne Gummistiefel aus dem Kofferraum.

»Keine verfrühte Panik! Da müssen wir gar nicht hoch! Jedenfalls nicht gleich jetzt! Wir müssen runter zum Bach.« Sie deutete den steilen Abhang hinunter, der mit Gebüsch, kleinen Bäumen und bemoosten Steinen bedeckt war. Ein schmaler Pfad schlängelte sich in einen Tobel. Unten plätscherte ein Bächlein. Wilde zog seine Jacke enger um sich. Ein kalter Ostwind blies an diesem Morgen.

Er blickte auf seine blank gewichsten Halbschuhe. Das war hier nicht das geeignete Schuhwerk, stellte er fest und beneidete Bernadette um ihre Gummistiefel. Sie hätte aber auch ein Wort sagen können, obwohl er nicht aus dem Stand gewusst hätte, in welchem Karton seine Stiefel waren.

»Du hättest mich auch vorwarnen können, dann hätte ich meine Gummistiefel mitgenommen!«, Wotan konnte sich die Spitze nicht verkneifen.

»Frisch ans Werk!«, rief seine Assistentin, die schon den halben Weg nach unten bewältigt hatte.

»Merde!«, fluchte Wilde laut. Er hangelte sich an den Bäumchen entlang nach unten und versuchte, nicht auf die Schnauze zu fallen. Immer wieder rutschte er mit seinen glatten Sohlen weg.

»Dass ihr auch schon da seid!«, begrüßte sie Wolfgang Schickenrieder. Er nieste mehrmals und schnäuzte sich ausgiebig in ein kariertes Taschentuch.

»Hier gibt es jede Menge von dem Birkenzeugs«, beschwerte er sich und zog den Wollschal enger um den Hals.

»Dann nimm halt dein Nasenspray gegen die Allergie«, empfahl Wilde automatisch. Er betrachtete neidisch die Gummistiefel seines Kollegen.

Der Tatort war mit einem rot-weiß gestreiften Flatterband abgesperrt. Vier Polizisten in Uniform standen um den Tatort und sicherten ihn. Sie wirkten übernächtigt und durchgefroren.

»Heute nur kleine Besetzung?«, fragte Wilde einen Polizisten.

»Penny Schönblick von der KTU und weitere Beamte sind seit Mitternacht in der Kunsthalle«, sagte der.

»Wertvolles Gemälde vom Dingsda, ich komm jetzt nicht drauf, ist weg«, mischte sich Wolfgang ein, »bin kein Kunstkenner.« Er rieb sich seine geröteten Augen und nieste wieder.

Armer Kerl, dachte Wilde und fragte: »Wer hat ihn gefunden?«

Wolfgang Schickenrieder zog einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche, blätterte darin herum und las: »Ein Oliver Grimm hat um 4.00 Uhr auf der Dienststelle angerufen. Er war hier joggen. Er hat mit seinem Bruder Eugen für den Zugspitz Ultra Trail im Juni trainiert. Sie haben die Leiche hier unten liegen sehen. Waren beide total durch den Wind.« Wolfgang ging um den Toten herum.

»Und?«, fragte Wilde, hielt sich an Wolfgang fest und putzte mit einem Papiertaschentuch den Matsch vom linken Schuh.

»Wir haben den beiden ein Taxi bestellt und sie nach Hause geschickt. Sie kommen morgen aufs Revier«, sagte Wolfgang. Wilde nickte.

Der Pathologe Julius Burmeister, in einen weißen Ganzkörperanzug gekleidet, streifte gerade seine Kapuze ab und klappte einen silberfarbenen Metallkoffer zu. Wilde balancierte über die Steine, um näher an das Opfer heranzukommen.

Der Mann lag seltsam verkrümmt mitten im Bachbett. Wilde sah zunächst nur die nackten Füße, die unter einem Gewirr aus Balken und Bauschutt herausragten. Die Hosenbeine waren bis zu den Kniekehlen hochgeschoben.

Die Leiche lag auf dem Bauch, den Kopf nach links gewandt. Das Wasser des Baches suchte sich einen Weg zwischen dem Balkenchaos und abgerissenen Ästen. Wilde konnte erkennen, dass der Mann eine gelbe Regenjacke trug. Der Hinterkopf wies eine tiefe Wunde auf und die Haare waren vom Blut verklebt.

Das Gesicht lag im Wasser. Die Hände hatten sich in den schlammigen Boden gekrallt. Daneben lag eine schwarze Stretchtaschenlampe. Wie durch ein Wunder war sie unversehrt geblieben und leuchtete immer noch vor sich hin.

»Ist der vom Himmel gefallen?«, fragte Wotan Julius Burmeister. Beide sahen zur Burgruine hinauf. Bernadette stand auf der anderen Seite des Baches.

»Das glaube ich nicht!«, sie beugte sich über den Toten und versuchte, das Gesicht zu erkennen. Unter den dunklen Haaren sah man nur leichenblasse Haut. Wolfgang hockte auf einem Stein und starrte Burmeister erwartungsvoll an.

»Sturz aus großer Höhe.« Der Pathologe deutete zur Burgmauer empor, die teilweise von einem Baugerüst verdeckt wurde. »Todeszeitpunkt kann ich dank diesem kalten Rinnsal nicht genau sagen. Vielleicht so um Mitternacht. Todesursache, na ja, ihr seht ja die Mauersteine und massiven Balken. Die Wunde am Hinterkopf ist natürlich auch auffällig. Mehr nach der Obduktion. Dann frohes Schaffen, meine Herren! Die Dame!«

Er zog einen nicht vorhandenen Hut und bog vergnügt pfeifend in einen gepflasterten Weg mit gelber Beschilderung ein.

Wilde sah Julius erleichtert hinterher. Es gab also auch einen begehbaren Weg nach oben, der nicht nur für Bergziegen geeignet war. Ihm war klar, dass sie der Burg wohl oder übel einen Besuch abstatten mussten.

»Da ist er runtergekommen.« Wolfgang deutete nach oben. Aus der maroden Burgmauer hatten sich Steine gelöst und einen Teil des Gerüsts mit sich gerissen.

»Dann mal hinauf in luftige Höhen!«, flachste Bernadette. Nach zehn Minuten standen die drei schwer atmend im Burghof.

Unterwegs hatten sie die Angestellten des Bestattungsunternehmens mit einem Metallsarg getroffen. Die armen Schweine mussten den schweren Leichnam den Berg hochschleppen. Sie taten Wilde leid.

Weiter hinten im Hof lagen Baumaterial, Zementsäcke und Pflastersteine. Neben einem Bauwagen lehnte ein blaues Dixi-Klo. Ein Schild am Eingang zum Burghof verkündete: »Betreten der Baustelle strengstens verboten!«

Bernadette löste sich aus der Gruppe und begann, den Bauwagen zu umrunden. Wilde schritt zügig auf das Dixi-Klo zu und verschwand darin. Schickenrieder schnäuzte sich lautstark. Dann zog er sein Smartphone heraus und fotografierte die weißen Sneaker, die neben dem herausgebrochenen Mauerstück standen. Blaugestreifte Armanisocken lagen sorgfältig gefaltet daneben.

»Ob die wohl unserem Toten gehört haben?«, fragte Bernadette in die Runde.

»Das werden wir sehen!« Sie zog einen Plastikbeutel aus ihrer Jackentasche. Schickenrieder streifte sich dünne Plastikhandschuhe über und steckte Schuhe und Socken in das Behältnis. Der kalte Wind hatte etwas nachgelassen. Er wehte weiße Blütenblätter und süßen Fliederduft über den gepflasterten Hof.

Wilde setzte sich auf die Bierbank neben dem Bauwagen. Bernadette und Wolfgang gesellten sich dazu. Wolfgang holte ein Fläschchen Nasentropfen aus der Hosentasche, legte seinen Kopf in den Nacken und tröpfelte zwei Tropfen in jedes Nasenloch. Im Frühling, sobald die ersten Weidenkätzchen blühten, kämpfte der Ärmste jedes Jahr mit seiner Pollenallergie. Er schniefte. Dann schwiegen die drei in stiller Übereinkunft und ließen den mutmaßlichen Tatort auf sich wirken.

Es herrschte idyllische Ruhe. Vögel zwitscherten, ein Kuckuck rief. Plötzlich ertönte ein silberheller Gongschlag und dann setzte leise fernöstliche Musik ein.

Hinter dem Burgfried trat eine schmächtige Frau hervor. Ihre dunklen Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. Sie trug eine schwarze Yogahose und eine graue Vliesjacke mit Kapuze.

Sie legte einen Gegenstand auf den Boden und stellte eine Thermoskanne und einen Becher daneben. Ihre Füße waren hüftbreit aufgestellt, ihren Rücken hielt sie gerade wie eine Statue. Dann hob sie langsam den Kopf und blickte der aufgehenden Sonne entgegen, die sich durch die grauen Wolken quälte. Jetzt begann sie sich in fließenden Bewegungen wie in Zeitlupe zu bewegen.

Sie streckte die Arme aus, fing einen imaginären Ball, drehte den Kopf ganz sacht, strich sich über den Bauch. Dabei blickte sie wie in Trance über die Burgmauer hinweg weit ins Land hinaus, über blühende Obstwiesen, Weinberge, Hügel, Straßen und Wälder. Überall stiegen leichte Nebelschwaden auf.

»Qigong«, flüsterte Bernadette, »die acht Brokatübungen-Baduanjin.«

Wilde sah sie fragend an.

»Die Kultivierung des Qi durch Atmung und Vorstellungskraft«, fügte sie hinzu.

»Kann ich nichts mit anfangen«, brummelte Schickenrieder, »warum die Dame das mitten in einer Baustelle betreibt, übersteigt meine Vorstellungskraft.«

»Dann wollen wir die Teestunde mal hinterfragen«, konstatierte Wilde. Er stand auf, lief auf die Gestalt zu und tippte sie vorsichtig an der Schulter an. Die Frau fuhr erschrocken herum. Wilde blickte in ein blasses Gesicht, aus dem ihn dunkle Augen überrascht anstarrten. Er zückte seinen Polizeiausweis.

»Bitte nicht erschrecken! Hauptkommissar Wotan Wilde, Kriminalpolizei Tübingen. Das sind meine Mitarbeiter Hauptkommissarin Bernadette von Hohenstein und Hauptkommissar Wolfgang Schickenrieder.« Er deutete auf seine Mitarbeiter auf der Bierbank.

»Und mit wem haben wir das Vergnügen zu dieser frühen Stunde?«, fragte er die Fremde.

»Ich bin Silja Gundel und mache hier meine Morgenmeditation. Heute habe ich das Carsharing Auto, darum bin ich auf die Burg gefahren. Ein besonders intensiver Kraftort«, antwortete die Frau mit brüchiger Stimme und erstaunlich unaufgeregt. Dabei rang sie nach Atem, als wenn sie gerade erst den Burgberg bestiegen hätte.

»Was ist denn passiert?« Sie bückte sich, schraubte ruhig die Thermoskanne auf, goss eine dampfende Flüssigkeit in den Becher und nippte daran.

»Ein Unfall mit Todesfolge, unten im Tobel. Haben Sie etwas Auffälliges bemerkt?«, fragte Wotan.

»Ich habe nichts gesehen! Ich bin gerade erst hier eingetroffen!«, meinte Silja Gundel und nahm einen weiteren Schluck.

»Kommen Sie doch heute Nachmittag zu uns ins Kommissariat und wir machen ein Protokoll.« Wotan überreichte ihr eine Visitenkarte, die er aus seiner Brieftasche gefischt hatte.

»Kriminalkommissariat Tübingen, Konrad-Adenauer-Straße 30«, las sie laut vor, »da kann ich mit dem Bus hinfahren.«

Wilde warf Bernadette einen auffordernden Blick zu. »Meine Kollegin wird Ihre Daten aufnehmen. Dann schönen Tag noch! Wo geht’s hier zum Parkplatz?«

Silja Gundel zeigte auf einen kleinen Torbogen: »Da durch und dann die steile Auffahrt immer bergab. Kann man nicht verfehlen.«

Die beiden Männer liefen los und standen schon an ihren Autos, als Bernadette angerannt kam. Sie warf Wotan den Schlüssel zu.

»Damit du dich nicht wieder über meinen sportlichen Fahrstil beschwerst«, erklärte sie aufgekratzt.

»Danke, Bernie!«, grinste Wotan.

»Lagebesprechung in meinem Büro«, ergänzte er, an Schickenrieder gewandt, und stieg ein. Bernadette machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

Silja Gundel stand noch wie angewurzelt da, als sie die Motoren der Kommissare anspringen hörte und die Motorgeräusche dann leiser wurden. Wie in Trance steckte sie Becher, Thermoskanne und Handy in den Leinenrucksack, der am Boden lag. Ihr Atem ging pfeifend, als sie den kleinen Pfad in den Tobel hinabschritt.

Du musst mit deinen Kräften haushalten, mahnte sie sich innerlich. Mit ihrer angeschlagenen Lunge war nicht zu spaßen und sie hatte ihr Spray zu Hause im Bad vergessen. Der Tatort war mit einem rotweißen Band abgesperrt. Sie musste sich beeilen, bevor der Körper abtransportiert wurde. Sie wollte einen letzten Blick auf ihn werfen.

»Halt! Am Tatort kein Durchgang!« Ein Polizist in Uniform versperrte ihr den Weg. Silja starrte ihn wortlos an. Momentan konnte sie nichts tun. Sie hatte ja das Foto aus der Nacht, das musste erst mal genügen. Sie drehte sich um und lief den Pfad in Richtung Parkplatz bergauf. Sie keuchte vor Anstrengung und rang nach Luft, als sie endlich vor dem weißen Fiat mit dem Logo der Carsharingfirma stand.

Sie wartete eine kleine Weile, bis sie wieder zu Atem kam. Dann stellte sie sich breitbeinig hin und breitete die Arme aus. Ihr Blick ging in Richtung der aufgehenden Sonne. Sie warf den Kopf zurück und stieß ein lautes, stakkatoartiges Lachen aus. Dabei liefen Tränen über ihre Wangen.

Tübinger Fieberwahn

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