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DIE FARBE WEISS

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Warten Sie hier, sagt der Helfer und öffnet die Tür.

Der Mann wirkt jünger als er ist. Sein hellgrauer Anzug sitzt einwandfrei. Korrekte Armlänge, modisch schmal geschnitten, ohne den geringsten Faltenwurf – eine vorgefertigte Plastikschablone, die so lange auf Bewerber um Bewerber gelegt wurde, bis der passende Kandidat gefunden war.

Die Spur von Unsicherheit in seinem Wesen kompensiert er durch den entschlossen gehorsamen Blick seiner wässrigen Augen. Das Kinn ist etwas zu breit für sein Knabengesicht, seine Wangen blass und fast ohne Bartwuchs, der Scheitel wie mit dem Skalpell gezogen. Warten sie hier – beim Sprechen blähen sich seine Nüstern auf. Ich nenne ihn den Helfer.

Wie ein Hotelpage bleibt er in der Tür stehen und hält sie geöffnet, ich schiebe mich hindurch und höre sie metallisch hinter mir einrasten.

Der Raum ist weiß.

Keine Fenster. Keine Unregelmäßigkeit. Keine Struktur an den Wänden, keine Fliesen und keine Fugen, nichtmal verschiedene Materialien. Nur ebenmäßiges Weiß. Keine Lichtschalter, keine Steckdosen oder Fußleisten. Über mir eine kalte weiße Lichtquelle.

In der Mitte ein Tisch und zwei Stühle. Ich will mich setzen und greife einen Stuhl an der Lehne. Er bewegt sich nicht. Ich untersuche die Möbel und stelle fest, dass sie am Boden fixiert sind.

Ich gehe zur Tür. Sie hat kein Schloss. Keinen Knauf.

Ich warte.

Ich setze mich. Der Stuhl ist zu nah an der Tischkante.

Der zweite auch.

Ich setze mich schräg. Und warte.

Mein rechter Unterarm liegt auf dem Tisch. Der linke hängt über die Stuhllehne.

Das Licht ist grell und kalt.

Erst jetzt spüre ich meine Verletzungen wieder: Die gebrochenen Rippen, die Wunde am Kopf, die geplatzte Unterlippe. Aber ich versuche die Schmerzen zu ignorieren. Sie zu vergessen.

Ich klopfe mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.

Ich beginne zu zählen, wie oft ich klopfe.

Ich klopfe schneller. Dann langsamer. Warten Sie hier.

Ich höre auf.

Ich greife die Tischkante mit der rechten Hand. Damit sie nicht klopft. Und konzentriere mich auf meine Atmung.

Ich atme ganz langsam. Ein Zug nach dem anderem.

Ruhig und tief. Zug um Zug.

Erst einer. Dann noch einer.

Meine Hand hält die Tischkante. Und ich atme.

Ich zähle meine Atemzüge.

Wieviele sind es in der Minute?

Wie lange dauert ein Atemzug?

Wie viele waren es bisher?

In diesem Raum. An diesem Tag. In meinem Leben…

Die Tür öffnet sich.

Ein zweiter Mann kommt herein. Er ist älter. Der für Herren mit Bauch typische Zweireiher umhüllt seine wuchtige Statur, die breite Krawatte wird von einer schweren goldenen Spange gehalten und die schlaffe Haut seines Halses lappt über den eng geschlossenen Hemdskragen. In seinen langen Dienstjahren hat er sich das Zugeständnis erarbeitet, unmodisch sein zu dürfen. Ein grauer Haarkranz ringt sich um seinen kahlen Kopf, hinter der Brille quellen die weißen Augäpfel hervor und seine Wangen hängen hinab wie die Lefzen eines Bluthundes.

Wortlos nimmt er einige Winkel des Raums in Augenschein. Sein Blick geht zur Decke, gleitet die Wände entlang, über die Tischplatte. Er geht kurz in die Knie, neigt den Kopf, richtet sich wieder auf, dreht sich um die eigene Achse.

Dann nimmt er auf dem Stuhl gegenüber Platz.

Alles fertig, sagt er gedämpft aber deutlich. Als besäße er einen unsichtbaren Gesprächspartner außerhalb dieses Raums.

Dann nickt er und fährt fort: Gut.

Haben Sie irgendwelche Gegenstände bei Sich?

Was für Gegenstände? erwidere ich.

Spitz, scharfkantig, Metall. Auch Plastikkarten.

Ich durchforste meine Taschen, fördere alles zutage und deponiere den Inhalt neben dem Manuskript auf der Tischplatte.

Das hier, sagt er und nimmt mein Handy, einen Kugelschreiber, alle Münzen und das Feuerzeug an sich. Die Geldscheine, die Zigaretten und diese … Unterlagen hier können Sie behalten, fügt er hinzu und deutet mit einer Kinnbewegung auf den Stapel Papier vor mir auf dem Tisch. Sie bekommen alles zurück.

Er besieht sich meine Habseligkeiten und fährt fort: Sie sind nicht schlecht vorbereitet - keine persönlichen Dokumente, Mobiltelefon mit Prepaid-Karte…

Ist er sauber? fragt er nach einer Weile – wieder an die Person außerhalb des Zimmers gerichtet.

Und entgegnet kurz darauf nickend: Gut. Wie ist Ihr Name? Adresse? Geburtsdatum?

Hören Sie, entgegne ich krächzend. Ich räuspere mich einmal entschlossen und fahre fort:

Wenn ich nicht etwas hätte, das Sie von mir wollen, wäre ich vermutlich schon tot. Vielleicht eine Wasserleiche am Stauwehr? Ohne erkennbare Anzeichen auf Fremdeinwirkung?

Nun übertreiben Sie es mal nicht – so etwas haben wir nun wirklich nur in Ausnahmefällen nötig, entgegnet er amüsiert. Außerdem haben Sie uns offenbar die halbe Arbeit bereits selbst abgenommen! Sie sehen nicht gut aus…

Vielen Dank. Fühle mich auch nicht besonders.

Wer hat Sie denn so verbeult?

Lassen wir die Nebensächlichkeiten doch einfach beiseite, entgegne ich säuerlich. Wie sagt man so schön: Meine Name tut nichts zur Sache. Und diese Schrammen genauso wenig. Wenn Sie dennoch herausfinden wollen, wer ich bin, müssen sich Ihre Leute schon selbst die Mühe machen…

Ich sehe, entgegnet er mit weiter ungespielter Freundlichkeit, Sie scheinen eine recht präzise Vorstellung unserer Methoden zu besitzen. Dann gehen Sie doch auch sicher davon aus, dass wir in der Lage sind, gewisse Informationen aus gewissen Personen … herauszubekommen?

Sicher, antworte ich. Deshalb befindet sich meine Lebensversicherung an einem Ort, der mir selbst nicht bekannt ist.

Trotzdem dürften sie Informationen über die Person besitzen, welche diese Lebensversicherung für Sie aufbewahrt…

Weniger als Sie denken: Weder der Aufenthaltsort noch der wahre Name dieser Person sind mir bekannt. Ob Sie es glauben oder nicht! Bis Sie die wenigen relevanten Informationen aus mir herausgefoltert hätten, wäre das Paket schon längst verloren. Für Sie. Denn das geschieht automatisch nach Ablauf einer bestimmten Frist.

Was für ein grässliches Wort Sie da in den Mund nehmen – als wären wir die letzten Barbaren! Die Menschen scheinen uns auch wirklich alles zuzutrauen… Glauben Sie mir, für so etwas gibt es heute wesentlich … dezentere Methoden.

Und wie ich Ihnen glaube! Deshalb sitze ich hier mit zittrigen Fingern und der kalte Schweiß steht mir auf der Stirn, erwidere ich. Doch das ändert nicht das geringste an der Tatsache, dass Sie nichts aus mir herauskriegen würden – weil ich nunmal nichts weiß. Sie können mich gerne jeder Art von Test unterziehen! Wenn Sie wollen, schließen Sie mich an einen … Lügendetektor an. Oder wie immer Sie diese Dinger heutzutage nennen…

Wieder blickt er zur Decke, als suche er Kontakt zu seinem verborgenen Gesprächspartner. Alle Parameter normal, keine Unregelmäßigkeiten, wiederholt er nickend und hält sich dabei den Mittelfinger ans Ohr.

Wie gesagt, Ihre persönlichen Gegenstände kriegen Sie zurück, raunt der Bluthund nach einer Weile und erhebt sich. Er wird gleich bei Ihnen sein.

Kann ich vielleicht eine rauchen? Und einen Kaffee haben? rufe ich hinterher.

Bedaure.

Wieder warte ich. Doch diesmal bleiben meine Finger regungslos. Meine Atmung arbeitet unabhängig, ich schenke ihr keine Aufmerksamkeit. Er wird gleich bei Ihnen sein… Ich versuche mir vorzustellen, wie Er aussehen könnte. Meine Finger sind klebrig und kalt. Von innen zittern sie, doch die Bewegung überträgt sich nicht auf die Oberfläche. Mein ganzer Körper ist weich – aber ich verstecke ihn unter einer zum Standbild erfrorenen Schale. Starr klebt meine Hand auf der Tischplatte. Von außen bin ich ein totes Objekt: Mann im Sitzen – Skulptur. Nur drinnen überschlägt sich meine schwindelnde Seele.

Die Tür öffnet sich: Bleiben Sie sitzen!

Ein alter Mann betritt den Raum.

Sein Haar ist weiß. So weiß wie die Unschuld. Seine ganze Erscheinung ist weiß. So rein wie seine Kleidung ist sein Gewissen. Seine Seele. So rein, dass er leuchtet.

Sein gegerbtes Gesicht ist durchzogen von den Furchen des Schicksals. Nichts an ihm ist Zufall. Sein Leben ist Pflicht, sein Dasein Bestimmung. Seine Augen sind müde – tiefe Ringe tropfen von ihnen herab. Weil seine Aufrichtigkeit niemals schläft. Doch ihr Blick ist wach. Die weiße Flamme der Überzeugung hält ihn am Leben. Den Gedanken ans Aufhören kennt er nicht.

Genau wie sein Körper scheint seine Stimme ein unaufhörliches Zittern zu unterdrücken. Wie eine kalte, klare Melodie schneidet sie in den Raum:

Haben Sie Angst?

Ja, antworte ich.

Angst hat, wer Unrecht tut.

Oh nein! Angst hat, wer sich erwischen lässt.

Sie haben Sich erwischen lassen.

Nein. Ich bin zu Ihnen gekommen.

Um Buße zu tun?

Nein. Um zu verhandeln.

Über Recht und Unrecht verhandle ich nicht.

Darum geht es auch nicht.

Aber natürlich! Sie haben Unrecht getan.

Ich habe vielleicht gegen das Gesetz verstoßen.

Vielleicht? Der Besitz von 20 Kilogramm Kokain verstößt eindeutig gegen das Gesetz.

Wenn Sie so wollen, besitze ich dieses Kokain gar nicht. Ich weiß lediglich, wo es sich befindet. Und biete Ihnen die Information darüber gegen einen … Finderlohn an.

Wenn ich so will… Aber vielleicht will ich Sie auch einfach nur bestrafen.

Ich hoffe, dass Sie das nicht wollen.

Und was gibt Ihnen diese Hoffnung? Ich bin ein sehr idealistischer Mensch – das sollten Sie nicht unterschätzen! Mir ist wenig so verhasst wie der Werterelativismus dieser heutigen Zeit…

Genau das gibt mir diese Hoffnung! Vor einem Richter dürfte ich mit der Rechtfertigung meines Handelns Probleme bekommen – denn mir bliebe nichts übrig als der erbärmliche Versuch des Relativierens: jugendlicher Leichtsinn, finanzielle Probleme, vielleicht noch ein Attest über meine labile Psyche, Alkohol- und Drogenprobleme? Aber Sie gehören in eine andere Kategorie als die kleingeistigen Kettenhunde bürgerlicher Gesetzgebung. Mit Ihnen kann ich mich auf einer anderen Ebene unterhalten.

Ist das so?

Warum sollten Sie sonst dieses Gespräch mit mir führen? Ich habe Ihrer Organisation ein Geschäft vorgeschlagen. Das hätte ich auch mit einem Ihrer Stellvertreter verhandeln können. Aber Sie haben sich persönlich die Mühe gemacht…

Zum ersten Mal schleicht sich Wohlwollen in seinen Blick.

Alles, was ich Ihnen darüber hinaus anbieten kann, ist eine Unterhaltung. An deren Ende werde ich Ihnen dargelegt haben, dass ich kein ordinärer Verbrecher bin, der aus Habgier gegen Prinzipien verstößt, die ihm als solche geläufig sind. Sondern dass mein Handeln klar mit einem differenzierten Wertesystem korrespondiert, das mich ethisch in keinerlei Konflikte bringt. Ich habe ein reines Gewissen.

Diese Leute sind die Schlimmsten.

Sie meinen die, die Böses tun und es für das Richtige halten?

So ist es.

Ich stimme Ihnen zu. Aber seien Sie unbesorgt – ich bin keiner dieser Fanatiker.

Auch das behaupten sie alle.

Ich weiß. Und dennoch bin ich anders. Aber beweisen kann ich Ihnen das nur, wenn Sie mich sprechen lassen…

Sie bringen es auf eigentümliche Weise fertig, dass ich Ihre Couragiertheit, die Sie zweifelsohne mit diesem Besuch an den Tag legen, nicht als Größenwahn interpretiere.

Von Größenwahn kann nun wirklich kaum die Rede sein. Schließlich habe ich keine Ahnung, ob und in welchem Zustand ich diesen Raum je wieder verlassen werde…

Jetzt hätten Sie wohl gern meinen Widerspruch gehört, wie? entgegnet der Alte kichernd. Doch wenn Sie gestatten, hätte ich zunächst ein paar Fragen an Sie.

Aber natürlich – was bleibt mir anderes übrig, antworte ich durch eine lakonische Geste.

Gut. Also: Wie sind Sie an diese Tasche gekommen?

Ich erinnere mich… Alles fing damit an, dass ich eines Tages dieses Manuskript gefunden habe, entgegne ich und lasse die Seiten das Stapels Papier durch meine Finger gleiten, der vor mir auf der Tischplatte ruht.

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Es ist handschriftlich verfasst, beginne ich meine Geschichte. Und beim Autor handelt es sich offenbar um einen jungen Mann, der seinen Namen allerdings die ganze Zeit über geheimhält. Doch er scheint hier in dieser Stadt zu leben! Denn obwohl er selten konkrete Anhaltspunkte verrät, erkenne ich viele Orte und Situationen aus seiner Schilderung eindeutig wieder… Ich habe versucht, diesen jungen Mann ausfindig zu machen – und bin ihm die verschiedenen Stationen entlang seiner Geschichte gefolgt. Nicht selten habe ich dabei geglaubt, mich selbst in seinen Zeilen wiederzuerkennen.

Auf meinem … auf seinem … oder besser: auf unserem gemeinsamen Weg sind mir dabei einige denkwürdige Gestalten begegnet, die mich schlussendlich zum Fund der Tasche geführt haben, von der hier die Rede ist. Doch lassen Sie mich meine Geschichte von vorne beginnen:

Es war ein durchschnittlicher aber glücklicherweise halbwegs sonniger Nachmittag, als ich vor einigen Tagen in meinem Stammcafé ankam. Nachdem die Tische im Inneren von einigen wenigen Gästen besetzt waren und ich mich freute, dass gerade die Sonne durch die Wolken lugte, nahm ich an dem gusseisernen runden Tischchen draußen vor dem Café platz. Neben einer leeren Kaffeetasse und einem übervollen Aschenbecher aus selbstgedrehten Kippen fand ich die Seiten, die ich hier gerade in Händen halte.

Ist hier draußen besetzt? fragte ich die Kellnerin. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. Also setzte ich mich. Eigentlich rechnete ich damit, dass jeden Augenblick ein einzelner Gast von der Toilette zurückkommen würde, um meinen Platz für sich zu beanspruchen. Doch es kam niemand. Ich wartete dort sicher eine halbe Stunde lang. Als immernoch niemand aufgetaucht war, erkundigte ich mich drinnen, ob jemand womöglich sein Manuskript hier vergessen hatte. Doch die Kellnerin meinte bloß, sie habe draußen am Tisch niemanden bemerkt. Sie wirkte gleichgültig – daher hielt ich es für keine gute Idee, das Manuskript an der Bar abzugeben. Vielleicht würden sich aus den Zeilen Hinweise auf die Identität des Verfassers ergeben, dachte ich – und so gab ich nach einer Weile meiner Neugier nach und vertiefte mich in den Text.

Die Geschichte schlug mich schnell in ihren Bann. Sie beginnt mit einem tagebuchartigen, melacholisch anmutenden Eintrag, den ich anfangs nicht wirklich zu deuten verstand. Doch was sich kurz darauf für den Erzähler – und mich selbst! - entwickelte, übertraf meine kühnsten Erwartungen…

Bei dem Verfasser handelt es sich allem Anschein nach um einen jungen Mann – ich erwähnte es breits – der sich offenbar als Schriftsteller versucht. Er wirkt unausgeglichen, rastlos, nicht selten geradezu aufgewühlt. Und seine Geschichte beginnt mit folgenden Worten:

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Weiß.

Riesengroßes sich auftürmendes Weiß. Das gewaltsam Besitz ergreift.

Überall.

Nur Weiß.

Es zieht sich zusammen. Kommt näher und zieht sich zusammen, bis es mich in sich eingeschlossen hat.

Es legt sich wie flüssige Angst um meinen Körper und schließt ihn ein.

Es schließt meinen Körper ein und presst ihn zusammen.

Zähflüssig wie warmer Beton dringt es durch alle Körperöffnungen in mich ein.

Es fließt in meinen Mund, durch die Stirnwände bis in die Augenhöhlen, durch die Luftröhre und Lungen bis in den Magen.

Und erstarrt. Ich bin völlig bewegungsunfähig.

Es härtet aus und lässt mich liegen.

Eingegossen in steinernes Weiß.

Ich müsste ersticken aber ich kann es nicht. Weil meinem Körper ausreichend Platz für seine abgehackte, panische Atmung gelassen wird. Damit ich die Angst spüren kann. Das Weiß aus Nichts frisst sich in meine Seele und tötet jeden Gedanken. Daran wer ich bin und daran was ich kann. An alles, was ich jemals vollbracht habe. Meine Seele müsste erfrieren und gleichgültig werden aber sie kann es nicht. Weil ihr ausreichend Platz für eine einzige Empfindung gelassen wird: Die Nichtswürdigkeit.

Ich bin der Mittelpunkt eines geometrischen Körpers, der nur ein Innen besitzt. Sein weißes Inneres hat sich auf mich hinabgewölbt und mich verschlungen. Hat meinen Körper und meine Seele präpariert wie das Gestein ein prähistorisches Schneckengehäuse. Doch es ist nicht mein Körper, der konserviert werden soll. Es ist die Angst. Mein Selbsthass und das Alleinsein. Die gnadenlose, martialische Bestrafung meiner Unfähigkeit. Meiner Untätigkeit. Das einzige, das wertloser ist als das Versagen.

Außerhalb des geometrischen Körpers ist nur das All. Das völlig entleerte, materielose Universum aus abermilliarden Lichtjahre währender Dunkelheit. Ein Raum von der Größe jenseits aller Vorstellungskraft, der nur aus Leere besteht.

Die Leere ist um die Einsamkeit mehr als das Nichts.

Und ich bin in dem Kern aus Weiß inmitten des endlosen Schwarz um die Verzweiflung mehr als nur organische Masse.

Also geht es weiter?

Ich warte.

Ich warte solange es geht.

Kann ich die Augen schließen?

Die weiße Masse zieht sich langsam aus meinem Körper zurück. Die auf den Lichtstrahlen tänzelnden Schmerzen verlassen die Netzhaut. Wie flüssige Tinte das klare Wasser löst die Dunkelheit alle Farben in sich auf. Die unbegreifliche Leere schrumpft zu einem vorstellbaren Kosmos. Ein Kosmos aus kühler, materieller Dunkelheit. Immer konkreter zieht der Raum sich zusammen. Und modelliert Annahmen, Bilder und Erinnerungen. Die Vorstellung einer Welt.

Ich will die Augen öffnen aber zwinge mich, sie geschlossen zu halten. Ich sehe meine Umgebung trotzdem ganz genau. Die weißgetünchten Wände meines schmalen und schmucklosen Zimmers. Die niedrige Decke, die den langgezogenen Raum abschließt. Ich sehe, wie der Tag hell und kalt durch das Fenster leuchtet und sein flimmerndes Licht von den kahlen Wänden in meine Pupillen geworfen wird. Ich erinnere mich, dass irgendwo ein Handtuch herumliegen müsste und taste mich blinzelnd zum Fußende. Weil ich es auf den Boden geworfen hatte, ist das schwere Stück Stoff noch klamm von der letzten Dusche. Ich hänge es über das gekippte Fenster am Kopfende meiner Matratze, damit es den Raum abdunkelt, und lasse es Tag werden.

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Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann der Wunsch – oder vielmehr: das Verlangen in mir aufkam, den Urheber dieser Geschichte ausfindig zu machen. Ich hatte den jungen Mann und seine Zeilen mit nachhause genommen, mich hingeletgt und war in Gedanken an ihn eingeschlafen.

Ich erinnere mich, wie ich am nächsten Morgen aufwachte. Und daran, dass ich geträumt hatte:

Ich ging wieder zur Schule. Ich erkannte den betongrauen Flachbau draußen in der Peripherie – jenem klinisch toten Niemandsland aus Einkaufszentren, Waschstraßen, Fastfoodrestaurants. Und Parkplätzen. Endlosen Spalieren ergonomisch angeordneter Parkplätze, auf denen tagsüber die Minivans weideten. Ein Ort zwischen zwei Welten, zu leblos um Stadt, zu trostlos um Land zu sein.

Ich erkannte die Klassenzimmer wieder, inhalierte den Geruch von Backstein und frisch gewischtem Linoleumfußboden. Die Lehrkräfte gab es immernoch: Der bärtige Oberstudienrat mit seinem wippenden Gang und dem schütteren, über die Glatze gekämmten Haar, die Mathematiklehrerin in ihrer verblichenen Schönheit, deren üppiger Busen auf der Tischplatte ruhte. Ich unterhielt mich mit den Geistern meiner Klassenkameraden: Wir rauchten auf der gegenüberliegenden Straßenseite, tranken Cola aus Dosen und tauschten Befürchtungen über die bevorstehenden Klausuren aus. Doch mein Ich war nicht mehr der Teenager von damals, sondern der erwachsene Mann, der ich heute bin.

Und ich hatte alles vergessen. Ich konnte keinen Dreisatz mehr lösen, keine Kurvendiskussion, keine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich kannte keine chemischen Verbindungen mehr, keine Vokabeln, keine Grammatik. Die lateinischen Texte verschwammen vor meinen Augen zu Reihen aus unergründlichen Hieroglyphen. Ich wühlte mich durch die Jahrgangsstufen, wiederholte die Kurse wieder und wieder, Vektoren, Periodensystem, Gedichtanalyse, Doppelspaltexperiment… Es dauerte Jahre, Jahrzehnte, eine willkürliche Groteske, mal wurde ich vorgelassen, dann wieder zurückversetzt, ich fiel durch, fiel auf, fiel aus, ich fiel und fiel, taumelte und wankte, durch die Gänge, durch die Jahrgangsstufen, durch mein Leben.

Manchmal, sehr selten, gefühlt lagen Jahre dazwischen, die ersten grauen Haare sprossen an meinem Kinn - manchmal schaffte ich es in die Abiturprüfung. Ich saß allein in der dämmrigen Aula, an einem einzelnen Pult, vor mir stapelweise Aufgaben, Aufgaben über Aufgaben, schwarze Schrift auf muffig grauem Recyclingpapier.

Und Leere.

Anfangs beginnen meine Finger zu zittern, ich atme schwer, immer heftiger, ein Spanngurt quetscht meinen Brustkorb zusammen, bis ich meine Rippen bersten höre – dann werde ich ruhig, immer ruhiger, hauche die Seele aus meinem Körper, die kalt in der Luftröhre brennt, und ergebe mich. Leere umfängt mich, die Wände der Aula sind zurückgetreten, noch immer kein einziger Gedanke in meinem Kopf, keine Idee und keine Erinnerung. Ich breite die Arme aus, sinke nach hinten und falle, falle zurück und ergebe mich, zurück in mein Schicksal, zurück in die Zukunft, eine ewige Reise, die nur nach hinten gerichtet ist.

Und dann geht es von vorne los.

Wieder Jahrgangsstufen, Seminare, Klausuren, wieder Ohnmacht und Hilflosigkeit, in Latein, Biologie, Mathematik, wieder fortwährende Rückwärtsbewegung. Die Blätter fallen draußen vor den braungerahmten Fenstern, eine Decke aus schmutzigem Schnee legt sich auf die verlassenen Betonfelder, die fensterlosen Gewerbekomplexe ertrinken im Grau des Nachmittagshimmels.

Wie konnte ich nur! Wie konnte ich so dumm, so unvorsichtig – so überheblich sein? Noch mehr als an meinen Lebensumständen zweifelte ich an mir selbst. Denn die Tatsache, dass ich mich hier befand, war weder göttliche Strafe noch irgendein absurder Zufall. Sie war mein eigenes Verschulden: Da ich mich für so intelligent und so talentiert hielt, hatte ich mich entschlossen, mein Abitur noch einmal zu machen. Ich hatte mein altes Abschlusszeugnis im Direktorat abgegeben und damit all meine Rechte verwirkt. Weil ich der Überzeugung war, mit Leichtigkeit und innerhalb kürzester Zeit eine Traumnote zu erzielen, jetzt, wo ich erwachsener und so viel klüger war als damals.

Im Gegenteil.

Ich lief durch die Gänge, wanderte die Treppenhäuser auf und ab, Tag für Tag, von Seminarraum zu Seminarraum, vor dem Fenster wurde es Frühling, Sommer und wieder Herbst, der Busen meiner Mathematiklehrerin wankte, und ich versagte, versagte weiter, begleitet von schlaflosen Nächten und der ständigen Angst vor der nächsten Klausur.

Schlimmer als der Stillstand und das Ohnmachtsgefühl war nur mein Selbsthass - meine Wut, das verzweifelte Unverständnis, mit dem ich auf diese maßlos überhebliche, unnötige, größenwahnsinnige Entscheidung zurückblickte.

Und schlimmer als mein Selbsthass war nur die Häme. Die Häme der anderen. Derer, die damals wirklich mit mir zur Schule gegangen sind. Während ich colatrinkend und zigarettenrauchend mit ihren Geistern auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle stand, sah ich die Bilder ihrer jetzigen, heutigen, realen Persönlichkeiten vor mir: Ich sah, wie sie studierten, Abschlüsse fabrizierten und Doktorarbeiten schrieben, wie sie in gepflegten Anzügen zur Arbeit gingen, wie sie heirateten, Kinder bekamen und geräumige Altbauwohnungen in der Innenstadt bezogen, ich sah, wie sie ins Ausland abwanderten, in die Businessmetropolen, London, Toronto, Peking, wie sie in der großen weiten Welt ihr Glück machten und ihre Gehaltsschecks immer üppiger wurden.

Und ich sah mich selbst: Einen arbeitslosen Literaturwissenschaftler. Wie ich mich beim Sozialamt von bissigen, ungezogenen Frauen bewerten und maßregeln ließ, die einen Bruchteil meiner Qualifikation und Intelligenz besaßen. Ich sah, wie all meine früheren Mitschüler, vom größten Einfaltspinsel bis zum dümmsten, alles auswendig lernenden Streber, mich überflügelt hatten. Mich. Der ich immer der klügste, gewitzteste, leichtfüßigste – der außergewöhnlichste von ihnen war.

Sie alle lachten mich aus. Zeigten mit dem Finger auf mich und verlachten mich schallend: Sieh hin, was aus Dir und deiner Großspurigkeit geworden ist!

Und sie lachten zu Recht.

Ich erinnere mich.

Ich erinnere mich, dass ich aufwachte.

Dass ich geträumt hatte.

Es war der erste Tag meines Lebens. Der erste Tag, den ich mit dem Urheber dieser Seiten verbracht hatte.

Und ich bin mir sicher, dass es dieser Moment war, in dem ich wie er sein wollte.

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Da es bisher mein einziger Anhaltspunkt auf der Suche nach dem Urheber des Manuskripts war, suchte ich am nächsten Tag wieder das Café auf. Genau wie ich schien er häufiger an diesen Ort zu kommen und ich fragte mich, ob ich ihm in der Vergangenheit bereits unwissentlich begegnet war.

Außer der Kellnerin, die mit gelangweiltem Gesichtsausdruck an der Kaffeemaschine herumwischte, war niemand dort. Obwohl ich normalerweise Cappucino trinke, bestellte ich schwarzen Kaffee und las, um die Spur des mysteriösen Verfassers weiterzuverfolgen:

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Durch die Nordlage des einzigen Fensters meiner Wohnung, ihr fahles, indirektes Licht, weiß ich nie, wie das Wetter gerade ist. Hätte ich keinen Kalender in meinem Handy, könnte ich nichtmal die Jahreszeit feststellen. Jeder Tag, selbst im Hochsommer, wirkt aus meinem Fenster betrachtet zunächst wie kalter grauer Januar. In all der Zeit habe ich mich nie daran gewöhnt.

Auf meinem winzigen Ess- und Schreibtisch steht neben einem überquellenden Aschenbecher und einer fast leeren Flasche billigem Scotch der aufgeklappte Laptop. Hinter dem schwarz schweigenden Bildschirm kann ich noch immer das leere weiße Textdokument sehen, vor dem ich den gestrigen Abend vergeudet habe. Angewidert winde ich mich am Tisch mit dem Computer vorbei, als wäre er ein Eimer voll in der Sonne verwesender Fleischabfälle. Auf der Ablage neben der tragbaren Elektroherdplatte, auf der eine Dose Ravioli verschimmelt, finde ich mein Geld, die Zigaretten und mein Notizbuch.

Ich sammle all meine Zettel zusammen, lege sie in mein Notizbuch und verschließe es mit dem Gummiband. Wenn das Papier, auf dem ich arbeite, schon benutzt ist, wenn bereits etwas darauf geschrieben steht, ist die weiße Leere meist etwas weniger angsteinflößend.

Ich stopfe alles in meine Jackentaschen und hechte zur Tür hinaus.

Der Himmel hat ein lockeres Hellgrau übergestreift, doch es ist wärmer als erwartet und dünne Regenfäden nieseln die letzten bräunlichen Schneereste aus den Rinnsteinen. Nach kurzem Spaziergang erreiche ich das Café, in dem ich am häufigsten bin, und breite die mitgebrachte Zettelwirtschaft vor mir auf dem Tisch aus. Der Kaffee, schwarz, ohne alles, ist grässlich aber er kostet nur 1.50 und ich brauche hier pro Stunde nicht mehr als einen zu trinken, um nicht als Belästigung empfunden zu werden. Die Betonglocke über meinem Gehirn scheint sich um wenige Millimeter zu heben und in dünnen Rauchschwaden einige Gedanken einströmen zu lassen…

Erst sterben die Schurken.

Dann sterben die Helden.

Dann sterben alle Geschichten.

Was macht Sherlock?

Harting stellt die falsche Frage.

Dann bricht das Dokument ab.

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Ich konnte mir auf diese letzte Notiz nur schwer einen Reim machen. Mit Holmes konnte nur Sherlock, die berühmte Romanfigur von Sir Arthur Conan Doyle gemeint sein. Mit dem anderen Namen vermutlich Joe N.K. Harting – ein sehr erfolgreicher zeitgenössischer Krimiautor.

Vielleicht arbeitete der Verfasser gerade an einer Neuinterpretation des Stoffs? Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich die Geschichten um den Londoner Meisterdetektiv zum letzten mal gelesen hatte – und musste unweigerlich an die unzähligen Verfilmungen denken.

Dabei hatte ich mich schon immer daran gestört, dass so gut wie alle Adaptionen den interessantesten Aspekt dieses Charakters völlig vernachlässigen. Denn in Conan Doyles Erzählungen ist Sherlock Holmes ein tragischer und zutiefst zerrissener Charakter: Wenn er keine Herausforderungen in Form geheimnisvoller Kriminalfälle vorfindet, neigt er zu Launenhaftigkeit und Depressivität, betäubt sich mit harten Drogen und gerät an den Rand der Selbstzerstörung.

Wer Sherlock Holmes zeitgemäß interpretieren will, müsste diese dunkle Seite seines Charakters berücksichtigen und zum Mittelpunkt seiner Geschichte machen!

Die dunkle Seite der Schickeria: Drogenhandel beim Nobelitaliener? las ich als Schlagzeile in der Zeitung, die in eine Holzschiene gespannt vom Kleiderhaken hinter der Scheibe des Cafés baumelte.

Ich nahm die Zeitung vom Haken und blätterte sie durch. Offenbar hatte das Landeskriminalamt in Zusammenarbeit mit der Polizei großangelegte Razzien in italienischen Lokalen im gesamten Stadtgebiet durchgeführt. Von insgesamt mehr als 30 Betrieben war die Rede. Darunter auch ein von der lokalen Schickeria gern frequentiertes In-Restaurant namens Bellagio. Die Betreiber würden mit dem Kokaingeschäft in Verbindung gebracht. Bisher war nur bekannt, dass über 20.000 Seiten Akten sichergestellt wurden. Die Ermittlungen dauern an.

Desweiteren war mal wieder von einer Wirtschaftskrise die Rede: sinkende Nachfrage in den USA, Kursverluste an den Börsen, Geschäftsklimaindex, IFO-Institut, geringeres Wirtschaftswachstum, angespannte Arbeitsmarktsituation, die EZB senkt den Leitzins.

Schwerer Verkehrsunfall auf der Autobahnumgehung Ost, Abstiegs-Chaos in der Fußball-Bundesliga…

Fast den ganzen Nachmittag verbrachte ich in dem kleinen Café, blätterte in der Zeitung, beobachtete die Passanten und versuchte mir zusammenzureimen, an welcher Art Geschichte der unbekannte Autor gearbeitet haben konnte. Doch in Wahrheit wartete ich nur darauf, dass er plötzlich leibhaftig vor mir stehen würde.

Es dämmerte bereits. Und als nach Stunden immernoch niemand aufgetaucht war, der als der unbekannte Autor infrage kam, gab ich das Warten auf. Meine einzige Hoffnung bestand darin, in seinem Text auf weitere Spuren zu stoßen. Und ich sollte bald fündig werden:

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Langsam verblüht der Tag vor meinem Fenster. Und es wird Abend.

Wie viele Lieder der Nacht schon gesungen wurden! Mit Lauten und Harfen und Flöten und Hörnern, in Versen und Strophen, Balladen und Oden, geschrieben von weißen und schwarzen Händen, von kleinen und großen, groben und zarten, aus den Kehlen von Müttern und Männern und Kindern, an all den wunderlichen Orten dieser Erde, über die sich je ein Sternenhimmel wölbte, in eisigen Höhen und südlichen Buchten, in schattigen Gärten und Meeren aus Häusern, in all den wundersamen Sprachen und Schriftzeichen dieser Welt, durch alle Epochen und Jahrhunderte. Und doch darf es jeden Tag eines mehr sein, wenn sich das Wunder der Abenddämmerung wiederholt.

Die Nacht legt sich besänftigend auf die Welt wie der erste Schluck Schnaps einen Hauch von Milde in das verhärmte Gesicht eines bösen alten Mannes zaubert. Sie ist ein Schleier, der die Wirklichkeit weichzeichnet. Und alles ein bisschen ferner und leichter erscheinen lässt. Wärme breitet sich im spärlichen Licht meines Zimmers aus. Die Betonwand vor dem Fenster ist zurückgewichen und im Schatten der Straßenlaterne darunter könnten sich geheimnisvolle Dinge ereignen. Wenn es noch Wunder gibt, dann geschehen sie jetzt. Ich streife die Jacke über, stecke Dorian Gray in die Tasche und trete vor die Tür. Die Laternen spiegeln sich in der regennassen Straße wie Lichter eines Rollfelds, das zu beiden Seiten im Nebel verschwindet. Gleich landet stotternd eine alte Propellermaschine und trägt mich mit grollenden Motoren einem Abenteuer entgegen…

Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin. Dieser Teil der Stadt kommt mir bekannt vor, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wann ich zum letzten Mal hier gewesen bin. Schemenhaft erkenne ich auf der anderen Straßenseite die schweren Wände eines alten Backsteingebäudes. Wie ein Fischer, vor dessen Kahn plötzlich die Kaimauer aus dem Morgennebel auftaucht. Wenn ich mich nicht täusche, ist das Gemäuer früher eine Markthalle gewesen. Und zwei Ampeln weiter gelangt man auf die Stadtautobahn. Vorn an der Ecke öffnet sich eine Gasse, die an der verwitterten Mauer entlang führt. Wie feuchtes modriges Holz wirkt das poröse Gestein, in dessen Ritzen sich Moos abgesetzt hat. An einigen Stellen sind Ziegel herausgebrochen, Büsche wuchern durch die Scharten und hängen ihre Zweige über den Gehsteig. Die Straße ist vom Regenwasser aufgeweicht. Zwischen den Teerflecken wölbt sich das darunterliegende Kopfsteinpflaster empor und verwandelt die ehemals ebene Piste in einen sich glitschig dahinwindenden Schlauch. Als würde ich über den schuppigen Rücken eines riesigen feuchten Reptils balancieren.

Erst jetzt bemerke ich, dass in diesem Teil der Stadt offenbar die verschnörkelten gusseisernen Straßenlaternen der Jahrhundertwende erhalten geblieben sind, die mich immer an das viktorianische London aus englischen Romanen erinnern. Auch die Häuser erscheinen mir ungewohnt. Schmale und langgestreckte, sich eng aneinander schmiegende Ziegelsteingebäude, von weißen Säulen und Simsen durchsetzt, die Fassaden im Erdgeschoss mit grün, schwarz oder bordeauxrot lackiertem Holz verkleidet, gesäumt von filigran geschwungenen Messingzäunen. Ich wüsste nicht, in welchem Viertel derartige Architektur überdauert haben könnte – meines Wissens nach hat es sie hier in dieser Form überhaupt nie gegeben. Ich muss tatsächlich einen Bezirk meiner Stadt entdeckt haben, der mir in all den Jahren völlig unbekannt geblieben ist.

In keinem der Fenster brennt Licht und kein einziges Auto parkt vor den Toren. Trotzdem wirken alle Gebäude sorgfältig gepflegt, nirgends sind Anzeichen von Verfall auszumachen, sodass ich nicht einschätzen kann, ob diese Behausungen bewohnt oder unbewohnt sind.

Doch nirgendwo eine Hausnummer, nirgendwo ein Name, nichtmal Briefkästen scheint es zu geben. Und mir fällt auf, dass anstelle herkömmlicher Klingeln altmodische Glocken neben den Eingangstüren angebracht sind.

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Die Aufzeichnungen des jungen Mannes begannen mich zunehmend zu verwirren. Zu seinen kryptischen Notizen Holmes und Harting hatte sich nun auch noch Dorian Gray gesellt.

Ich überlegte, wann ich die Geschichte zuletzt gelesen hatte, und durchforstete zuhause sofort mein Bücherregal.

Zwischen unzähligen zerfledderten Reklamheftchen aus meiner Schul- und Studienzeit, die mit Zeichnungen und Sprüchen verschmiert waren, fand ich tatsächlich eine Ausgabe von Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray, die bis auf eine leichte Staubschicht einen tadellosen Eindruck machte.

Ich warf mich aufs Bett und begann zu lesen: Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles…

Zum ersten mal wurde mir bewusst, dass Sherlock Holmes und Dorian Gray in derselben Epoche angesiedelt sind – einem ähnlichen Gedanken muss auch der geheimnisvolle Autor gefolgt sein!

Wenn Holmes sein Ausgangspunkt war (vielleicht handelte es sich bei seiner Bemerkung zu Harting nur um eine stilistische Notiz) und wenn er die gleiche Idee hatte wie ich, nämlich die Drogenabhängigkeit und charakterlichen Untiefen des Sherlock Holmes zum Thema seiner Arbeit zu machen, dann war Dorian Gray vielleicht so etwas wie sein zweites Ich. Sein sinnlicher, irrationaler Widerpart…?

Es war noch nicht spät. Ich steckte die zerfledderte Reclam-Ausgabe in die Hosentasche und fuhr ins alte Schlachthofviertel, um mich bei dem verfallenen Gebäudekomplex umzusehen, in dem sich früher die Großmarkthalle befunden hatte.

Das Kopfsteinpflaster löste sich vor mir in der Dunkelheit auf, ich erkannte die verwitterte Mauer, hinter der die mächtige Backsteinruine vor dem Nachthimmel gähnte. Und obwohl ich keine viktorianische Architektur, Gaslaternen oder vertäfelte Fassaden ausmachen konnte, wirkte meine Umgebung dennoch wie eine dreidimensionale Leinwand, auf der die Erinnerungen des jungen Künstlers wie Projektionen sichtbar wurden.

Ein Straßenname!

Ich machte mich auf die Suche nach irgendeinem Schild, einer Straße, einem Platz, dem Namen einer Bar oder eines Ladens – um eine Referenz zu haben. Um zweifelsfrei sicherstellen zu können, dass ich mich gerade im Moment in derselben Gegend befand, sollte dieser Name irgendwo auf den folgenden Seiten des Manuskripts auftauchen…

Tiefer und tiefer wand ich mich in die Eingeweide aus Gassen, Brücken, Winkeln und Torbögen hinein, bis ich die Orientierung verloren hatte. Regen setzte ein.

Und plötzlich rannte ich los. Ich lief die Straße zurück, die ich gekommen war. Ich hatte das irrationale Bedürfnis - das kindliche, abergläubische, esoterische, psychopathische, gänzlich irrationale und dennoch vorhandene, gegen jede Vernunft faktisch anwesende Bedürfnis, mich zu vergewissern, ob ich noch in derselben Stadt war. Ob der Rückweg in die Realität, die Welt, in der ich heute morgen aufgewacht war, sich noch hinten bei der alten Markthalle befand. An der verfallenen Mauer entlang bis zur beleuchteten Kreuzung, wo es Richtung Stadtautobahn geht. Nur einen Blick in den letzten mir bekannten Straßenzug, wie der Griff nach dem Hausschlüssel, bevor man die Tür zuzieht.

Ich fand ihn nicht.

Im Schein der nächstgelegenen Straßenlaterne zog ich die Aufzeichnungen aus meiner Jackentasche. Wenn ich mich nicht täuschte… Da stand es:

- 10 -

Bin ich abgebogen? Soweit ich weiß, bin ich immer gerade an der Mauer entlanggegangen. Aber hier ist sie nicht. Ich denke nach, rufe mir meinen Weg ins Gedächtnis. Da war die Kreuzung. Die alte Markthalle im Nebel, gegenüber auf der anderen Straßenseite. Die kleine Gasse an der Mauer entlang, immer geradeaus. Die alten Laternen und die seltsamen Häuser. Keine Autos, keine Hausnummern.

Mich überkommt das Bedürfnis, einfach irgendwo zu läuten. Um herauszufinden, wer hier wohnt. Doch dazu müsste ich zuerst eines der Tore öffnen und in den Vorgarten treten. Und was sollte ich dann sagen?

Guten Abend. Wohnen sie hier? Warum haben sie kein Auto?

Mit Sicherheit sind die Tore ohnehin verriegelt. Und ich kann schließlich nicht einfach so über den Zaun klettern. Ich greife trotzdem zwischen den Metallstäben hindurch, drücke von innen die Klinke und das Tor öffnet sich. Mit wenigen Schritten durchquere ich den Vorgarten und stehe dicht vor einer massiven schwarzen Holztür mit Goldbeschlägen. Mit zwei kräftigen Zügen betätige ich die Glocke. Wie das Läuten von San Marco in der totenstillen Mittagshitze dröhnen die beiden Schläge durch die Finsternis.

Einmal, zweimal.

Ich stehe regungslos auf dem Absatz und verfolge das Echo, wie es über die Dächer der Stadt in die Ferne tanzt.

Einmal, zweimal.

Ich kann mich nicht rühren. Erstarrt blicke ich auf die schwarze Tür wenige Zentimeter vor mir und versuche auf alles gefasst zu sein, egal welchem Gesicht ich gleich gegenüberstehe.

Langsam, ganz langsam verliert sich der Schall in Regen, Nebel und Dunkelheit. Hoffentlich bleibt es still. Hoffentlich rührt sich nichts. Hoffentlich stört kein Laut von drinnen die Dunkelheit, keine Schritte auf der Treppe, kein Klicken des Schlosses, kein Knarzen der Tür, keine Frage: Wer ist da?

Hoffentlich.

Ich stehe vor dem Haus.

Die Fenster sind schwarz.

Die Stille ist vollkommen.

Kein Hund heult, kein Wind pfeift, sogar der Regen ist stumm. Geräuschlos fallen seine dünnen Tropfen in die Pfützen.

Ich höre die Glockenschläge.

Weit weg von hier, irgendwo am anderen Ende der Stadt, tanzen sie über die Dächer. Und irgendjemand hört sie dort. Hört ihr Echo leiser werden, bis sie auch ihn verlassen haben. Und Stille ihn umgibt.

- 11 -

Als ich aufblickte, sah ich deutlich die kleine gusseiserne Glocke neben der schwarzlackierten Eingangstür. Konnte das wahr sein?

Mein Herzschlag verschnellerte sich, ich hielt inne, schloss die Augen und lauschte mit bebendem Brustkorb den Schlägen der Glocke. Hier in der Stille. Verfolgte ihren Klang, der nicht mehr da war, über die Dächer hinweg.

Einmal, zweimal. Einmal, zweimal.

Ich trat zurück. Den Kopf im Nacken, den Blick auf die Fenster gerichtet.

Ein Licht ging an.

Matt und weich, wie von Kerzen oder einer Öllampe. Es flackerte, tanzte. Und wurde ruhig.

Stoffe bewegten sich. Eine Spiegelung. Eine Gestalt.

Einen Augenblick nahm ich das bodenlange, verschwenderisch verzierte Nachthemd wahr, bevor die Frau sich in einen Mantel hüllte. Sie stand da, den Kopf zur Seite geneigt, wie ein Schwanenhals wuchs ihre sanft geschwungene Gestalt über das Geländer des Balkons im ersten Stock empor. Makellose Jugend auf den schneeweißen Wangen, Geist und Erfahrung in den großen dunkelgrünen Augen. Stolz und Eigensinn im hochgesteckten blutroten Haar.

Obwohl ihre aristokratische Haltung kein Anzeichen von Ängstlichkeit besaß, war ihr die Situation unheimlich. Sie musterte mich mit angespanntem Blick.

Bist Du es? fragte sie nach einer Weile.

Bin ich wer? entgegnete ich verunsichert.

Sie schloss die Tür, löschte das Licht und war verschwunden. Ich starrte noch ein paar Sekunden auf das Fenster.

Stumpf und dunkel lag das Zimmer da, kein Schatten, keine Bewegung. Nur Stille.

Der Regen schwebte hinab. Noch immer kein Geräusch. Manchmal vergeht die Zeit schneller.

Ich saß vor einem Bildschirm und betrachtete mich selbst. Der Film lief in Zeitlupe. Die Bewegungen flossen zäh und gleichmäßig.

Ton aus.

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Hören Sie, sagt der alte Mann vor mir an dem verschraubten Metalltisch in dem weißhomogenisierten Raum. So langsam habe ich das Gefühl, Sie kennen den ominösen Verfasser dieses geheimnisvollen Manuskripts sehr viel besser, als Sie mir weismachen wollen…

Mittlerweile ja, wende ich mit gedämpfter Stimme ein.

Und unterbrechen Sie mich nicht! Es geht hier angeblich um einen Fund von 20 Kilo Kokain. 20 Kilogramm. Ko-ka-in! Wollen Sie demnächst geneigt sein, mir zu erklären, was diese romantische Eskapade damit zu tun hat.

…ich bin ja gerade dabei, entgegne ich widerspenstig.

Zuerst will ich wissen, woher Sie diese Tasche haben.

Ich habe sie gefunden.

Gefunden, soso. Und wo? Beim Staubwischen? Oder im Nachlass ihrer Großtante?

Eigentlich habe ich diese Tasche nicht gefunden, eigentlich hat er das getan…

Er…?

Ja, aber das ist eigentlich gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, warum er … beziehungsweise: ich … oder besser gesagt: wir! diese Tasche gefunden haben. Und warum ich damit ausgerechnet zu Ihnen gekommen bin.

Aha. Und warum ist das so wichtig?

Damit Sie ihn verstehen! Damit Sie die wahren Motive seines Handelns nachvollziehen können… Er ist kein schlechter Mensch, kein Verbrecher – ganz im Gegenteil! Und es geht ihm nicht um Geld oder irgendeinen billigen Nervenkitzel…

Worum geht es ihm dann?

Das kann ich Ihnen nicht sagen.

Der Alte legt die Stirn in Falten.

Ich kann es Ihnen nur erzählen…

Dewil's Dance

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