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DEWIL

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Die Feuchtigkeit begann, in meine Kleider zu kriechen, und ich war des Umherirrens müde. Der Rückweg war mir egal, ich würde einfach weitergehen, bis ich irgendwo auf eine U-Bahnstation oder einen Taxistand stieß. Noch ahnte ich nicht, dass ich das Geheimnis um Sherlock Holmes, Dorian Gray und Joe N.K. Harting bald lüften sollte…

Ich bog irgendwo ab.

Zwei gelbe Kugeln leuchteten durch die nebel- und regennasse Luft wie die Lichter eines U-Boots in der Tiefsee. Ein Hauseingang, von zwei Laternen eingerahmt. Das Erdgeschoss mit dunkelgrünem Holz verkleidet. Kein Licht in den Fenstern.

The Belgrave Square Inn sagten die dicken goldschimmernden Buchstaben über der Tür. Ein Drink würde mir jetzt guttun.

Ich stieß die Tür auf und eine lange schmale Treppe führte mich nach unten. Dann gab eine Schwingtür nach und ließ mich in ein gedrungenes Kellergewölbe ein. Die flachen, eng aneinandergesetzten Ziegel wölbten sich unter die Decke wie steinerne rote Raupen, die das Gemäuer auf ihren Rücken trugen. Auf der Innenseite der Tür erkannte ich das obligatorische Plakat Irish Writers mit den Konterfeis von Oscar Wilde, James Joyce und Samuel Beckett.

Ich nahm an der Bar platz und bestellte ein Stout.

Der Barkeeper war drahtig und groß, goldene Knöpfe zierten seine frisch gestärkten Manschetten. Er grüßte mich wortlos mit einer höflichen Kopfbewegung. Ich schien der einzige Gast zu sein.

Ich zündete mir eine Zigarette an, suchte nach einem Aschenbecher aber wurde zunächst nicht fündig. Erst nach einer Weile entdeckte ich einen ganzen Stapel auf der Arbeitsfläche hinter dem Tresen. Nachdem der Barmann verschwunden war, stand ich auf, beugte mich hinüber und griff nach einem der Aschenbecher - da entdeckte ich zwischen zwei silbergerahmten Getränkekarten ein Stück Papier. Es war in der Mitte einmal quer gefaltet und schien Notizen zu enthalten.

Ich war noch immer allein in dem Raum und konnte nicht widerstehen. Hastig zupfte ich das Papier hervor und entfaltete es mit nervösen Fingern. Tatsächlich! die Schrift gehörte zweifellos meinem unbekannten Freund:

Die Bar glänzt wie ein frisch poliertes Piano, dahinter türmt sich ein kristallener Berg aus schmalen, bauchigen, eckigen, runden, flachen, hohen, breiten, schweren, langen, massiven, zerbrechlichen Flaschen bis an die Decke. Hinter dem Tresen recken die Hebel der Zapfanlage ihre messingverzierten Köpfe in die Höhe wie ein Spalier schlaksiger Zinnsoldaten. In den Nischen und an den Säulen kauern rote und schwarze Sessel und Sofas aus fettem speckigem Leder, gespickt mit Rauten aus goldenen Nieten, die sie am überquellen hindern. Die Wände sind unverputzt. Nur der bemerkenswert echt aussehende, ungerahmte Druck eines William Turner Gemäldes an der Längsseite schmückt die sonst nackte Ziegelmauer. Das crémefarbene Parkett ist glatt wie ein Teich im Schein des Vollmonds, nur in der Mitte des Raums wird es von einem weichen persischen Teppich bedeckt, in den die Schuhe einsinken wie in tropisches Moos. Auf der Bar verströmt eine Reihe von Öllampen weiches gediegenes Licht, während in den Erkern mannshohe Kerzenleuchter den Raum mit zuckendem Schimmer erfüllen. Der schwere Geruch von Ruß und gesüßtem Tabak steigt mir in die Nase…

Auf den ersten Blick wirkt die Kulisse wie geradewegs aus einem Sherlock-Holmes-Abenteuer.

Doch gleichzeitig scheint ein mysteriöser Schleier über dem Raum zu liegen. Wie im Atelier von Basil Hallward, in dem Lord Henry zum ersten Mal das Bildnis des Dorian Gray erblickt. Der Schleier einer unheimlichen Schönheit, die zu vollkommen ist, um nicht verdächtig erscheinen zu müssen. Die uns den Hinweis darauf geben will, dass unter der Oberfläche eine andere, eine geheime Natur der Dinge existiert. Ist es bei Sherlock Holmes nicht ganz ähnlich? Hinter seiner vollkommenen Fassade, dem gesunden, austrainierten Körper, seinem messerscharfen Verstand und dem tugendhaften Charakter verbirgt sich die fast nie berücksichtigte, selbstzerstörerische Seele des legendären Detektivs. Nur an wenigen Stellen berichtet Conan Doyle von der Drogenabhängigkeit seines Protagonisten, der in Zeiten kriminalistischer Beschäftigungslosigkeit in tiefe Depressionen verfällt und sich mit Kokain- und Heroininfusionen betäubt. Tage-, manchmal wochenlang dämmert Holmes in einsamer Lethargie, benebelt von Drogen auf seinem Sofa vor sich hin, ohne seine berühmte Wohnung in der Baker Street zu verlassen, bis endlich ein neues Rätsel seinen brillanten Verstand herausfordert und er sich in Sekundenbruchteilen in einen vitalen und dynamischen Menschen zurückverwandelt. Welch ein faszinierendes Bild! Ein Mann, der sein Leben der Bekämpfung des Verbrechens gewidmet hat, besitzt absurderweise genau darin seine einzige Daseinsberechtigung. Wenn er sein Ziel erreicht und alle Schurken, Diebe und Mörder dieser Welt zur Strecke bringt, ertrinkt seine Seele in Langeweile und Depression. Und jedes Mal, wenn er einen Teil des Verbrechens vernichtet, löscht er damit einen Teil seiner eigenen Existenz aus. Mit der gleichen Geschwindigkeit, wie die Kriminalität verschwindet, verschwindet er selbst. Das ist wundervoll! Es ist der einzige Krimi, der sein eigenes Dasein hinterfragt. Das Dasein eines ganzen literarischen Genres…

Ich hatte also Recht! Nicht nur, dass ich mit meinen Überlegungen auf der richtigen Fährte war – mein geheimnisvoller Schriftstellerfreund musste hier gewesen sein. Genau hier, in eben dieser Bar, wo ich gerade saß.

Und um die fehlende Seite ergänzt verstand ich plötzlich seine Aufzeichnungen:

Erst sterben die Schurken.

Dann sterben die Helden.

Dann sterben alle Geschichten.

Was macht Sherlock?

Harting stellt die falsche Frage.

Es war ein Gedankenexperiment: Sherlock Holmes' Sieg über das Verbrechen wäre gleichbedeutend mit seiner Selbstzerstörung. Mit den Verbrechern verschwinden die Helden. Und alle Geschichten über sie.

Kein Held, Protagonist, kein Detektiv oder Polizist, ja: kein Schriftsteller! könnte sich das je wünschen. Weil sie alle ihrer Existenzgrundlage beraubt würden.

Und mein Freund hat sich die Frage gestellt, warum in tausend- und abertausendfacher Ausführung der immer gleichen Romane die immer gleiche Geschichte erzählt wird! Deren Anfang eine Leiche und deren Ende ein Mörder ist. Warum Joe N.K. Harting mit sowas Millionen verdient.

Warum geht niemand über diese profane Struktur hinaus? Und stellt die Frage, was Sherlock Holmes am jüngsten Tag anfängt. Womit er sein Leben füllt - die richtige Frage.

Worin besteht ein wirklicher Sinn, falls uns eines Tages die oberflächlichen Abenteuer des Räuber- und Gendarmspiels ausgehen sollten?

Vielleicht gibt es deswegen so viele Bücher: Vielleicht sind die unzähligen belanglosen Geschichten in Wahrheit ein Fundus, eine Notration wie Konserven im Keller, die unser kollektives Bewusstsein anlegt, um im Katastrophenfall eine Ersatzdroge zur Sinnstiftung vorrätig zu haben…

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich anfing, das Manuskript um meine eigenen Notizen zu ergänzen. Immer kleiner wurde meine Schrift und immer spärlicher die freien weißen Stellen.

Mein Kopf dröhnte und die schwere warme Luft verursachte mir Schwindel. Mit kräftigen Schlucken spülte ich einen zweiten Pint runter, atmete tief ein und zündete mir noch eine Zigarette an. Zufrieden über meine neugewonnenen Erkenntnisse nahm ich einen tiefen Zug und blies feierlich den Rauch in die Höhe.

Eine Zigarette ist der perfekte Genuss, sagte plötzlich eine Stimme direkt neben mir. Sie ist köstlich und lässt einen unbefriedigt – was kann man sich schöneres vorstellen?

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Ich fuhr zusammen.

Nur wenige Zentimeter von mir entfernt, auf dem benachbarten Barhocker, saß ein Mann. Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.

Doch seinem schelmischen Gesichtsausdruck zufolge amüsierte er sich gerade köstlich darüber, dass ich ihn erst jetzt bemerkte.

Kennen wir uns? war das einzige, was ich hervorbrachte.

Ich weiß nicht, antwortete er freundlich. Ist das wichtig?

Seine Erscheinung, die sich gerade vor mir manifestiert hatte, kann ich nur mit dem Ausdruck wunderlich beschreiben. Da war zunächst seine Kleidung: die hellgraue Tuchhose saß perfekt und wirkte wie maßgeschneidert, darüber trug er eine klassisch geschnittene champagnerfarbene Weste und einen ebenfalls hellgrauen, beklemmend eleganten Gehrock mit abgesetztem Samtkragen. Sein Hemd war weiß wie frisch gefallener Schnee, der antiquierte Stehkragen wurde von einer kunstvoll geschlungenen Seidenkrawatte zusammengehalten, auf deren Knoten eine Perle von respektabler Größe thronte. Aus den scharf gefalteten weißen Manschetten blitzten mit roten Steinen besetzte Goldknöpfe, seine Füße steckten in einem Paar auf Hochglanz polierter fuchsbrauner Pferdelederstiefel. Das ganze Ensemble wurde von einem schweren Tweedmantel gekrönt, den er über die Schultern geworfen trug. Dessen Abschluss bildete ein opulenter, geradezu melodramatischer Pelzkragen. Am rechten Mittelfinger trug er einen schweren Goldring, seine Hände waren verschränkt und hielten ein Paar Lederhandschuhe und einen Gehstock aus rötlich glänzendem Wurzelholz, dessen Abschluss ein goldener Pferdekopf bildete.

Sein Gesicht war lang und dennoch wuchtig, an den Schläfen scharfkantig und weich um die Kieferpartie. Es wurde von der starken, gerade nach unten fallenden Nase mit ihren ausladenden Flügeln dominiert. Die Haut war blass aber rein und gesund, seine Lippen weich, das Kinn rund und kräftig. Eingerahmt wurde dieses eigenwillige Gesicht, das männlich und weichlich zugleich erschien, von einer vollen, schwarzen Mähne aus glattem, kinnlangem Haar. Sein Blick war scharf und die dunkelbraun funkelnden Augen sprühten geradezu vor Charme und Spitzbübigkeit.

Hatte ich den geheimnisvollen Schriftsteller gefunden? Wie sollte ich ihn darauf ansprechen? Und falls er es war: was würde er davon halten, dass ich in seinen Unterlagen herumschnüffelte?

Ich beschloss instinktiv, mich erst einmal heranzutasten und mehr über ihn in Erfahrung zu bringen.

Wer hat das gesagt? fragte ich.

Verzeihung? Seine Stimme war weich und klar, ohne jeden Akzent oder Dialekt.

Das mit der Zigarette – wer hat das gesagt?

Mein junger Freund, ich muss Ihnen mein Kompliment aussprechen: Zweifellos sehen Sie die Welt mit anderen Augen! Oder hören sie mit anderen Ohren – ganz wie man es nimmt…

Sie meinten gerade, eine Zigarette ist der perfekte Genuss und so weiter… Wer hat das gesagt?

Obwohl Sie Sich ihre Frage ganz offensichtlich bereits selbst beantwortet haben, ist es mir ein Vergnügen, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass es sich beim Urheber ebenjener Bemerkung über das Rauchen selbstverständlich um niemand anderes als mich selbst handelt.

Das habe ich mitbekommen. Ich meinte, von wem dieser Ausspruch ursprünglich stammt.

Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.

Sie haben das in einem so … dozierenden Ton gesagt. Als wäre es ein bekanntes Zitat. Der Ausspruch einer berühmten Persönlichkeit. So wie Sein oder nicht sein.

Ich bin erleichtert, dass sich einige junge Leute noch der Ernsthaftigkeit des Themas Tabakgenuss bewusst zu sein scheinen. Darüber hinaus kann ich jedoch nur feststellen, dass die betreffende Bemerkung das unmittelbare Resultat meiner ganz eigenen Gedanken gewesen ist. Soeben in diesem Moment. Und machen Sie Sich nicht allzu viele Sorgen über meinen – wie nannten sie es? dozierenden Tonfall. Das wird mir häufiger nachgesagt. Es liegt lediglich daran, dass das meiste, was ich von mir gebe, von so fundamentaler Bedeutung ist.

Da bin ich aber sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, entgegnete ich mit vorsichtiger Ironie und stellte mich vor.

Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Mein Name ist Dewil.

Devil? wiederholte ich ungläubig, ohne mir ein leises Schmunzeln verkneifen zu können. Ist das nicht ein kleinwenig – theatralisch?

Oh, unbedingt. Infantil wäre ein weiterer nur allzu treffender Begriff. Zumindest wenn ich mir die Jugend dieses Jahrhunderts und ihre Bräuche genauer besehe. Lady Dumbleton würde es gewiss als ordinär bezeichnen. Aber das ist kein Wunder, sie bezeichnet so gut wie alles als ordinär.

Lady Dumbleton?

Ich bitte aufrichtig um Verzeihung für diese Ungenauigkeit. Natürlich ist Ihnen die Dame unbekannt. Lady Dumbleton gehört gewissermaßen zum ungeliebten Teil der Familie.

Gibt es in Ihrer Familie Streit?

Selbstverständlich. Aber das hat nichts mit Lady Dumbleton zu tun. Um ehrlich zu sein: ich kann so gut wie keines meiner Familienmitglieder ausstehen. Insofern gehören sie alle zum ungeliebten Teil.

Ich verstehe. Und Sie sagten, Ihr Name sei Devil?

Sie brauchen das gar nicht so pikiert zu intonieren, mein Lieber. Man kann schließlich nichts für seinen Namen. Darüber hinaus möchte ich sie der Vollständigkeit halber davon unterrichten, dass mein Name mit W geschrieben wird.

Dewil?

Ganz recht. Dewil.

Dann sind Sie also…

Aber bitte! Scheuen Sie Sich nicht, die hiesige Form der Anrede beizubehalten und mich zu duzen. Wenn sie erlauben, wahre ich meinerseits weiterhin die mir vertraute gesellschaftliche Etikette. Das gibt mir immer ein so sicheres Gefühl. Außerdem stehe ich Veränderungen seit jeher höchst skeptisch gegenüber. Besonders wenn sie mir nicht zu meinem unmittelbaren Vorteil gereichen.

Kennen Sie … kennst Du einen jungen Schriftsteller, der in dieser Bar hier verkehrt? fragte ich schließlich doch.

Noch einen? sagte er und zog die Augenbrauen hoch. Ich weiß nicht, vielleicht… Was wollen Sie denn von ihm?

Nun, ich habe gestern zufällig ein Manuskript gefunden, das er offenbar verloren hat. Und wollte es ihm zurückgeben.

Ach, das ist aber interessant!

Ich konnte mir nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen, sagte ich und zog die Seiten hervor. Ich glaube, ich kann seine Gedanken verstehen! Sie sind wirklich … faszinierend.

Sie erlauben?

Der Mann, der sich mir mit dem Namen Dewil vorgestellt hatte, saß neben mir auf dem Barhocker und las die gerade entstandenen Notizen. Obwohl ich es nicht näher erklären kann, habe ich den Verdacht, dass er die Papiere nur zum Schein studierte. Während er in Wahrheit schon längst über deren Inhalt bescheid wusste.

Mein lieber Freund, ich beglückwünsche Sie. Beziehungsweise: Ihren Freund! Er hat den richtigen Weg eingeschlagen.

Dann kennst Du ihn also?

Ich glaube schon.

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Meine Finger begannen zu zittern und mein Herzschlag verschnellerte sich. Offanbar stand ich kurz davor, das Geheimnis um den unbekannten Verfasser endlich zu lüften…

Und? fragte ich begierig. Wie ist sein Name?

Sein Name, ja richtig … das ist eine gute Frage! Ich fürchte, ich weiß nicht mehr so genau… Aber ich erinnere mich, dass er für unsere Unterhaltung nicht besonders wichtig war.

Und wie sah er aus?

Eigentlich sah er so aus wie Sie.

So wie ich?

Nunja, ein junger Mann um die dreißig. Schlank, mittelgroß. Nicht unansehnlich.

Und? Hatte er irgendwelche … besonderen Merkmale?

Sie meinen ein Holzbein? Oder einen Affen auf der Schulter? Nein.

Nein, ich meine, hatte er … dunkles Haar? Oder trug er … Jeans?

Jaja, dunkles Haar. Und, äh, Jeans.

Ich rang verzweifelt mit den Händen. Und worüber haben Sie Sich unterhalten? fragte ich schließlich kapitulierend.

Jetzt kommen wir der Sache schon näher! entgegnete Dewil beschwingt. Es ging um die Kunst.

Aha, Sie sind also auch so etwas wie ein Künstler?

Sogar genau so etwas! Streng genommen der einzig wahre und vollkommene Typus des Künstlers: Ich bin Schriftsteller.

…genau wie der junge Mann, nach dem ich auf der Suche bin, murmelte ich.

Ach, sind Sie das? Interessant! entgegnete Dewil.

Aber das sagte ich doch.

…bisher sagten Sie nur, dass Sie ihm sein Manuskript zurückgeben wollten. Nicht dass Sie nach ihm auf der Suche seien. Aber das macht nichts. Im Gegenteil: das ist gut!

Und … was schreiben Sie so? fragte ich in Ermangelung eines besseren Einfalls.

Ich schreibe überhauptnichts einfach so, junger Freund. Ich schreibe die Wahrheit.

Und was ist die Wahrheit?

Die Wahrheit ist Schönheit.

Das verstehe ich nicht.

Nun, das hat Ihr junger Freund anfangs auch gesagt…

Glauben Sie … ich meine: können Sie mir helfen … ihn zu finden?

Womöglich. Ich denke, das hängt von Ihnen ab.

Von mir?

Ganz recht, von Ihnen. Beziehungsweise von Ihrer Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen.

Und was ist die richtige Frage?

Jetzt enttäuschen Sie mich ein wenig, mein Lieber. Für das Erlanguen einer Erkenntnis ist kaum etwas so fundamental wie die autonome Erschließung der richtigen Fragestellung…

Na gut. Meine Frage ist ganz einfach: ich möchte wissen, wer dieser unbekannte Schriftsteller ist.

Ausgezeichnet! Dann fragen Sie mich danach!

Aber Sie sagten doch, Sie wüssten es nicht! Sie können Sich weder an sein Aussehen noch an seinen Namen erinnern…

Sind das Aussehen und ein Name für Sie ernstlich gleichbedeutend mit der Antwort auf die Frage, wer jemand ist…?

Ich hielt einen Moment inne und dachte nach.

Na schön, hob ich nach einer Weile an. Da wir mit Äußerlichkeiten offenbar nicht weiterkommen, möchte ich wissen, worüber Sie Sich unterhalten haben. Was hat der junge Mann gesagt? Hatte es mit seiner Arbeit zu tun?

Sehen Sie! entgegnete mein Gesprächspartner mit dem Namen Dewil beschwingt. Das ist eine Frage, auf die ich Ihnen eine Antwort geben kann…

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Dewil nickte dem Barmann zu und dieser servierte zwei blankpolierte Pintgläser mit rostfarbenem Ale, auf denen dünne weiße Schaumkronen schwebten. Dazu zwei zierliche Cognacschwenker aus blitzendem Kristall und eine eckige Glasflasche ohne Etikett, deren kurzer runder Hals von einem dicken, in einen mächtigen Holzknauf eingefassten Korken verschlossen wurde. Die samtige Tinktur leuchtete aus dem Inneren wie flüssiger Bernstein.

Während uns ein großer goldener Aschenbecher gereicht wurde, öffnete Dewil ein silbernes Etui voll würzig duftender Zigarillos und sortierte alle Utensilien feinsäuberlich auf dem Tresen wie ein Chirurg sein Operationsbesteck.

Also, es ging um einen Herrn namens … Sie erlauben? sagte Dewil und fingerte in dem Manuskript. Ah ja, hier steht es: Harting. Kennen Sie diesen Gentleman?

Soweit ich weiß, ist er ein erfolgreicher Gegenwartsautor, entgegnete ich. Von Kriminalromanen. Aber ich würde ihn nicht unbedingt als Schriftsteller bezeichnen…

Täusche ich mich, mein junger Freund, oder höre ich da so etwas wie Sarkasmus in Ihrer Stimme? Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich halte Sarkasmus für eine Art Universaltugend, die in nahezu jeder Lebenslage angebracht ist. Jedoch sollte er immer mit einer Leichtigkeit vorgetragen werden, die ihn nicht als den solchen erscheinen lässt – damit er uns nicht als Verbitterung ausgelegt werden kann.

Aber lassen Sie uns nicht allzu weit abschweifen: Wie ist Ihre Meinung zu diesem Harting?

Offengestanden kann ich seinen Geschichten nicht allzuviel abgewinnen, entgegnete ich: Diese Geschichten sind abgeschlossen von der Außenwelt. Wie ein geometrischer Körper, der nur eine Innenseite besitzt. Mit den Seiten eines solchen Buchs öffnet sich für kurze Zeit ein Kosmos, der sich jedoch selbst verzehrt wie ein Lindwurm, der seinen eigenen Schwanz vertilgt. Eine reduzierte Form von Realität, die nichts als die nackte Handlung konserviert. Es sind Geschichten nur um der Geschichten willen. Ein wahrer Schriftsteller dagegen ist ein Künstler. Er erzählt eine Geschichte nicht um ihrer selbst willen, sondern benutzt sie zur Einbettung seiner Ideen und Fragen. Wie einen Bilderrahmen für ein Gemälde, das aus Gedanken besteht. Geschichten bestehen aus Bildern, ihr Zweck ist das Fortlaufen einer Handlung, die mit dem ersten Buchstaben beginnt und sich im letzten erschöpft. Deswegen sind Geschichten endlich. Literatur besteht aus Gedanken. Und die Gedanken, aus denen sie geboren wird, erschaffen neue Gedanken. Das Buch öffnet sich und sein Inhalt strömt hinaus in die Welt. Die freigelassenen Gedanken verbinden sich mit anderen, die wieder neue Gedanken entstehen lassen, und so pflanzen sie sich in alle Ewigkeit fort. Deswegen ist die Literatur unendlich und unsterblich.

Das haben Sie schön gesagt! Wenn ich mich nicht irre, war Ihr Freund da ganz ähnlicher Ansicht… Und obwohl Ihr Temperament in dieser Hinsicht gänzlich nachvollziehbar erscheint, kann ich Ihnen nur zur Gelassenheit raten: Die Weltgeschichte hat bisher sehr treffsicher darüber entschieden, welche Teile der Literatur wir heute als Kunst bezeichnen und welche nicht. Aber wie sehen Sie das? Was ist Ihre Meinung zu unseren renommierten Gegenwartsautoren?

Ich bewundere ihren Stil und die Komplexität ihrer Gedanken, entgegnete ich. Aber müssen sie deswegen nurnoch von sich selbst reden? Es scheint mir, als wäre mittlerweile jeder zweite Roman aus ihrer Feder eine Metapher auf das Dasein als Schriftsteller. Die Gegenwartsliteratur dreht sich zunehmend um sich selbst. Und es besteht aus meiner Sicht die Gefahr, dass bald niemand mehr ihre Werke versteht, der nicht selbst Autor ist. Bis die Riege der großen Autoren sich neutralisiert hat, weil das Publikum nur noch aus Produzenten besteht. Als würden Filme ausschließlich von Schauspielern gesehen. Bis jeder einzelne von ihnen nur noch das Buch liest, das er selbst gerade geschrieben hat. Und wie Sherlock Holmes, der mit jedem Verbrecher einen Teil seiner eigenen Existenz auslöscht, nivelliert eine Zunft sich selbst.

Bravo! entgegnete Dewil. Genau darum ging es Ihrem Freund auch. Um die eine, die alles entscheidende – die richtige Frage: Was muss geschehen, damit dieser Sherlock Holmes sich nicht selbst abstrahiert?

Dazu gibt es hier eine weitere Notiz, sagte ich und deutete triumphierend wie ein großer Entdecker in die Unterlagen:

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Sherlock! Sherlock! ich höre nurnoch den Namen Sherlock, in meinem Gehirn dröhnt, hämmert, detoniert der Name Sherlock, pulsiert dort wie ein Quasar, in jeder Richtung sehe ich Sherlock, er sitzt in einem Winkel des Raums an einem Tischchen über Notizen gebeugt, während seine langen knorrigen Finger wie Spinnenbeine die Zeilen entlangtänzeln. Ich entdecke seine große hagere Gestalt bald an diese, bald an jene der raupenartigen Backsteinsäulen gelehnt, grübelnd, fragend, suchend nach der entscheidenden Spur, nach der Antwort auf die eine, alles entscheidende Frage. Bäuchlings liegt er auf den Tresen gekrümmt, streicht mit dem Finger die Unterkanten der Blenden und Schubladen entlang auf der Suche nach irgendwas, tastet mit der Lupe vor seinem gereizten Auge jeden Winkel, jede Fläche, jeden Schmutzrest und jedes Staubkorn ab, bis er in mich hineingekrochen ist und ich, besessen von der Idee um eine Antwort, über den Fußboden robbe, unter dem Teppich hindurch, die Wände und Decken entlang, jeden Gegenstand hochhebe, jede Flasche, jeden Kerzenleuchter, jedes Streichholzbriefchen, bis meine Finger vom Schmutz kleben und meine Zunge das staubige Holz des Parkettbodens und die verdaute, muffige Süße wein-, bier- und schnapsgetränkter Servietten schmeckt.

Sherlock hat Angst. Panik! Er spürt, wie ein einziger, völlig unvermittelt, unvorbereitet über ihn hereingebrochener, für unmöglich gehaltener, ungeheuerlicher Gedanke seine gesamte Existenz infrage stellt. Als hätte er in einem Wimpernschlag damit begonnen, die Uhr seines Lebens ticken zu hören, als hätte er plötzlich vernommen, wie ihm die Stunde schlägt…

Wie ein Entdecker, der auf einen neuen Kontinent stößt und begreift, dass seine ganze Welt, das, was er selbst und all seine Mitmenschen alle Generationen vor ihm für das Alles gehalten haben, nicht länger wahr ist, nie wahr gewesen ist, dass es relativ ist, viel kleiner und unbedeutender im Gegensatz zur wahrhaftigen Realität, zur wahren Beschaffenheit seines Kosmos, so wird ihm schlagartig bewusst, dass seine gesamte Existenz ein Treppenwitz ist. Eine Groteske. Ein Paradoxon! Denn er, Sherlock, ist abhängig, ist ein Sklave von Bedingungen, die er selbst nicht beeinflussen kann. Er definiert sein Leben über den Kampf gegen das Verbrechen. Über das Lösen von Rätseln – Rätsel, die Verbrecher ihm aufgeben. Doch mit jedem Schurken, den er zur Strecke bringt, radiert er einen Teil seiner eigenen Existenz aus. Und zu dem Zeitpunkt, an dem er das Verbrechen besiegt hat, besitzt er keine Daseinsberechtigung mehr. Denn das, was er bekämpft, ist in Wahrheit sein Lebenselixir. Und wenn er keine Rätsel und Geheimnisse mehr vorfindet, stürzt ihn die Tatenlosigkeit in Frust und Depression, bis die Figur Sherlock Holmes sich im Kokaindelirium aufgelöst hat. Er spielt eine tragische Rolle, in der er sich überflüssig macht, sobald er sein Ziel erreicht.

Sherlocks souveräne, unnahbare, überlegene Erscheinung hat sich in die eines bemitleidenswerten Clowns verwandelt. Sein Blick ist leer, sein von scharfen Falten durchzogenes Gesicht wirkt nicht länger mondän und charismatisch, sondern müde und alt. Sein Körper ist nicht mehr drahtig sondern kränklich und eingefallen, die Finger zittrig, Sherlock ist blass, kalter Schweiß ist ihm auf die Stirn getreten und das Herz rast ihm in der Brust, als wolle es seine Knochen durchbrechen und diese todgeweihte Hülle verlassen, damit sie langsam und friedlich ausbluten kann.

Sherlock sieht sich im Raum um. Die Kerzen scheinen matter, das Holz dumpfer und das Gemälde an der Wand künstlicher als zuvor. Und plötzlich denkt er an das Atelier Basil Hallwards. Lord Henry. Und Dorian Gray.

Und ihm wird klar, dass er den mysteriösen Schleier aus Schönheit vom Antlitz der Welt gerissen hat, um dahinter die wahre Natur der Dinge zu entblößen! Und er fragt sich: Kann das alles ein Zufall gewesen sein? Oder musste ich hierher kommen, um in dieser Nacht meinem Dämon zu begnen?

Und einer göttlichen Erleuchtung gleich weiß er, dass seine Existenz nur zu retten ist, wenn er einen Ausweg aus seinem absurden Dilemma, eine Antwort auf die eine diabolische Frage findet.

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Zwei Männer an einem Tisch. Sie sitzen. Einander gegenüber. Die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Finger verschränkt. Ihre Köpfe zwischen die Schultern gesunken, bis zu den Ohren. Wie zwei Geier. Zwischen ihnen nur eine Kerze, deren Schimmer auf ihren Gesichtern tanzt. Während die Dunkelheit ihre gekrümmten Körper verschlingt.

Der eine ist drahtig und groß, trägt schottisches Karo, wie ein Schnabel wächst seine Nase aus dem hageren Gesicht.

Der andere ist noch größer. Er sitzt aufgetürmt wie ein Berg, wie eine Welle aus schwarzem Wasser. Kurz davor, zu brechen und ihr Gegenüber unter sich zu begraben. Doch seine Bewegungen sind filigran, zärtlich beinahe. Ein Balletttänzer, gefangen im Körper eines Zyklopen. Weißes Hemd, weiße Haut. Sonst nur schwarz. Schwarzer Rock, schwarzes Haar, schwarze Augen. Penibel manikürte Hände.

Die beiden Männer sitzen einander gegenüber. Ihre Augen sind schmal, ihre Blicke funkeln. Wie langsam wachsende Blitze aus Eiskristall bohren sie sich ineinander…

Sagen Sie mir, mein lieber Holmes, beginnt Moriarty das Gespräch: Wie halten Sie es mit der einen, uralten, der Mutter aller Fragen? Dem ewigen Rätsel unseres menschlichen Daseins? Seine Stimme ist hell, dünn und schneidend.

Sie meinen die Frage nach dem Warum? Dem … Sinn des Lebens? antwortet Sherlock. Nun, ich betrachte mich als deduktiv arbeitenden Wissenschaftler. Und da in dieser Frage kein Beweis für die Überlegenheit irgendeiner Theorie existiert, muss ich konstatieren: Wir wissen es nicht. Sherlock ist nervös – doch er hat seinen Körper und seinen Verstand unter Kontrolle.

Exakt, antwortet Moriarty. Sein Ton ist dozierend. Gönnerisch. Obwohl sich Myriaden philosophischer, geistlicher und naturwissenschaftlicher Autoritäten die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch angeschickt haben, dieser ältesten aller Fragen eine Antwort abzuringen, enden all ihre mehr oder minder erwähnenswerten Versuche in der immer gleichen profanen Feststellung: Wir wissen es nicht.

Ich bin ganz Ihrer Meinung, entgegnet Sherlock. Seit Sokrates erschöpft sich unser Wissen in dieser Erkenntnis: Ich weiß, dass ich nichts weiß - diese sechs Worte sind der Anfang und das Ende des metatheoretisch Verbürgten. Die erste und bisher einzige philosophische Erkenntnis.

Aber jetzt wird es interessant mein Lieber, passen Sie auf! fährt Moriarty fort. Für unser Universum ergeben sich daraus genau zwei mögliche Morphologien. Erstens: Angenommen es handelt sich bei unserer Erde, unserem Sonnensystem, unserer Milchstraße mit ihren 100 Milliarden Sternen und unvorstellbar vielen Planeten, beim gesamten Universum mit seinen 100 Milliarden Galaxien, 100 Milliarden mal 100 Milliarden Sternen und unendlich vielen Planeten um ein Zufallsprodukt, um die schlichte und grundlose – wenngleich über alle Maßen kolossale – Ansammlung von Wasserstoff und Helium, ohne Plan und ohne Ziel, die sich über die Jahrmilliarden zu Sternensystemen, Planeten und letztlich zu uns selbst verdichtet hat, wie Milch zu Klumpen wird, wenn sie lange genug steht – dies angenommen ist es nur allzu logisch, dass wir den Grund oder Sinn unseres Daseins nicht kennen. Denn es gibt ihn nicht.

Mit Möglichkeit zwei verhält es sich dagegen ungleich komplizierter. Denn vorausgesetzt, es gibt diese eine Ursache für unser Dasein, die von den Akademikern Entität und von den meisten Menschen Gott genannt wird…

…dann bleibt sie absichtlich unsichtbar, ergänzt Sherlock unbeeindruckt. Die eine Macht, die das Menschengeschlecht geschaffen hat und die zehn Trilliarden Sterne, die uns am Nachthimmel leuchten, enthält uns die Erkenntnis ihrer selbst absichtlich vor.

So ist es! so ist es! Diese … Macht, Kraft oder Gottheit hat uns auf einem Gesteinsbrocken von exakt berechneter Größe und Entfernung zur Sonne eine Heimat gegeben, sie hat uns ein Magnetfeld, einen Magmakern und eine Atmosphäre geschenkt, uns mit Land und ausreichend Wasser versorgt. Sie hat uns mit der Zauberkraft der Evolution ausgerüstet, hat gesehen, wie aus chemischen Verbindungen organische wurden, wie Ratten ins Meer gingen und sich in Wale verwandelten, wie Affen von den Bäumen stiegen, Tiere jagten und Feuer machten. Sie hat uns gesehen, wie wir begannen, unsere Toten zu bestatten, Kriege zu führen, zu beten und unsere Kinder zu lieben.

Und sie hat gesehen wie wir fragten, fügt Sherlock hinzu. Wie mit unserem Verstand unser Wissensdurst ins Unermessliche wuchs. Wie Menschen sich auf die gefährlichsten Reisen begaben, um Wissen zu erlangen, und wie sie sich foltern ließen, um es zu verteidigen. Sie hat gesehen, wie mit jeder Antwort zwei neue Fragen entstanden. Wie unser vom Fortstreben besessener Geist sich in einer nach zwei Seiten gerichteten Unendlichkeit verlor, die in den abermilliarden Lichtjahre entfernten Weiten des Universums immer größer und in den Miniaturen der Elementarteilchen immer kleiner wird. Sie hat gesehen wie wir uns quälten. Wie wir schließlich scheiterten und verzweifelten. Da wir erkannten, dass es alles ist, was wir erhoffen können, irgendwann das Wie zu verstehen. Wenn die Wissenschaft den letzten Winkel der Dunkelheit um uns herum ausgeleuchtet hat. Während das Warum immer verborgen bleiben wird…

Jeden Tag, entgegnet Moriarty, wälzen wir ein neues Gedankenkonstrukt den Berg hinauf, von dem wir hoffen, dass es unser Dasein erklärt – und am Ende steht immer das gleiche Ergebnis: So könnte es sein. Oder anders. Wir wissen es nicht.

Und obwohl die Macht, die uns geschaffen hat, diese verzweifelten Bemühungen sieht, das klägliche, wimmernde Betteln in unseren Augen, verwehrt sie uns unseren sehnlichsten Wunsch und lässt uns zappeln wie Würmer am Haken. Allein. Ohne Antworten.

So weit, so unbeeindruckend, resümiert Sherlock. Bis hierher scheinen wir im Großen und Ganzen übereinzugehen…

Bis hierher! Aber gleich wird Ihnen der fundamentale Unterschied unserer Positionen bewusst werden… Denn unser beider Existenzen speisen sich aus zwei gänzlich gegensätzlichen Voraussetzungen. Ihre Existenz, mein lieber Holmes, gehorcht ganz und gar der Notwendigkeit. Sie ist abhängig von Bedingungen, die Sie selbst nicht beeinflussen können. Und trotz Ihrer unbestritten ganz und gar nicht gewöhnlichen Persönlichkeit, unterscheiden Sie Sich darin keinen Hauch von all Ihren völlig gewöhnlichen Mitmenschen.

Sie werden das sicher gleich näher ausführen…?

Aber natürlich! Alle menschlichen Handlungen sind Mittel, die einen zukünftigen Zweck verfolgen – der wiederum nur ein Mittel zu einem ferner in der Zukunft liegenden Zweck darstellt und so weiter. Wir werden geboren und aufgezogen, damit unsere Intelligenz sich entfalten kann. Wir besuchen die Schule, um später für das Gymnasium zugelassen zu werden, um daraufhin an der Universität studieren zu können. Und das tun wir, um später bestmögliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu besitzen. Wir treiben Sport, um uns körperlich fit zu halten, pflegen unser Aussehen, um für das andere Geschlecht attraktiv zu sein. Wir streben eine gutbezahlte Stellung an, um für das andere Geschlecht attraktiv zu bleiben und die Kosten für unser zukünftiges Leben bewältigen zu können. Dies tun wir, um eine Familie unterhalten zu können, und eine Familie gründen wir – so nüchtern es nunmal klingt – um durch Reproduktion den Fortbestand unserer Spezies zu sichern. Wir arbeiten, um Ersparnisse anzuhäufen, fahren in den Urlaub, um anschließend wieder effizienter arbeiten zu können, häufen Ersparnisse an, um für das Alter vorzusorgen. Wir sorgen für das Alter vor, um unsere materielle und medizinische Versorgung gesichert zu wissen. Um anschließend in Ruhe sterben zu können.

Bis wir im ratenfinanzierten Nussbaumsarg in die Grube auf dem Gemeindefriedhof fahren, die für die nächsten 30 Jahre im Voraus bezahlt ist, war unser Leben eine Aneinanderreihung von Notwendigkeiten. Und nachdem wir 80 Jahre lang geschuftet und gelitten haben, liegen wir endlich hier und sind niemandem etwas schuldig geblieben.

Unsere Existenzen sind nicht autonom, die freie Entscheidung, von der wir so gerne sprechen, gibt es in Wahrheit nicht. Alles, was wir tun, ist funktionieren und gehorchen – entweder dem göttlichen Willen oder schlicht unserer biologischen Determinierung. Wir unterscheiden uns von den Affen und Amöben dieser Welt durch die Anzahl unserer Gehirnzellen, nicht aber durch das Wesen unseres Verhaltens: Fortentwicklung, Fortpflanzung, Fortbestand. Weiter und weiter und weiter. Vollautomatisiert, genau wie jede andere Spezies. Und keiner weiß wozu.

Wir sind Marionetten - entweder der Sinnlosigkeit oder einer gigantischen göttlichen Groteske, deren Ziel wir nicht kennen.

Ich kann nicht umhin, Ihnen bezüglich unserer meisten Zeitgenossen rechtzugeben. Aber wie kommen Sie dazu, mir eine ebenso wenig selbstreflektierte Weltanschauung zu unterstellen?

Tja, mein Lieber, ich weiß: das hören Sie jetzt nicht gern! Trotzdem ist es die Wahrheit: Der Pfau trägt sein buntes Gefieder, um die Weibchen auf sich aufmerksam zu machen, nicht weil er die Farbenpracht liebt. Wir halten uns an Regeln, um unsere eigene Existenz zu schützen, nicht weil wir gute Menschen sind. Wir gehen in die Kirche, um getröstet zu werden, nicht weil wir einen Gott lieben, den wir nicht kennen. Wir führen unsere Leben für unsere Kinder und deren Kinder, für den Fortbestand unserer Gattung bis in die Ewigkeit, nicht für uns selbst.

Und Sie, mein lieber Holmes, Sie jagen Verbrecher. Um die Welt von der Geißel der Kriminalität zu befreien. Um Ordnung zu schaffen. Gerechtigkeit. Um die Integrität dieser Gesellschaft zu gewährleisten. Um den störungsfreien Ablauf des ewigen Prozesses der Steigerung von Wohlstand und Fortschritt zu garantieren, um den Fortbestand der Spezies Mensch zu sichern! Um, um, um, um, um, um, um!

In der Komplexität Ihres Handelns mögen Sie Sich von den meisten Ihrer Mitmenschen unterscheiden. In Ihrem Wesen aber tun Sie nichts anderes als jeder andere Organismus.

Sie hingegen begehen Verbrechen. Inwiefern sollte diese Tätigkeit irgendeiner anderen überlegen sein?

Das werde ich Ihnen sogleich erklären: Die einzige Möglichkeit, gegen unser von Zwängen determiniertes Dasein zu rebellieren, besteht in der Erschaffung von etwas, das keinem Zwang gehorcht. In der Vollkommenheit einer Kreation, die kein Ziel besitzt und keinem Zweck folgt. Deren Wert autonom ist. Denn das einzige, was der göttliche Plan – sollte ein solcher existieren - mit Sicherheit nicht vorgesehen hat, ist die Nivellierung des von ihm Geschaffenen.

Ich bin gespannt, womit Sie mir als nächstes kommen… entgegnet Sherlock.

Seien Sie das nur, mein lieber Freund! Es geht um ein abgeschlossenes Werk, das keine andere Ursache besitzt als unseren freien Willen zu seiner Erschaffung und kein anderes Ziel, als ziellos zu sein und der Notwendigkeit zu widersprechen. Denken Sie, Mister Holmes, an den Unterschied zwischen uns beiden…

Ich bin nicht sicher, worauf Sie hinauswollen…

All Ihr Tun, mein lieber Holmes, folgt der Notwendigkeit. Da Sie Sich von den Vorgaben anderer abhängig gemacht haben. Ich hingegen tue nichts für ein bestimmtes Ziel. Auch mir geht es weder um Ruhm noch um Reichtümer – und an Intellekt sind wir beide einander ebenbürtig. Doch in einem entscheidenden Punkt bin ich Ihnen weit überlegen: meine Tätigkeit ist originär kreativ! Ich erschaffe aus dem Nichts wie der Dichter ein Drama auf weißem Papier, während Sie auf eine Vorlage angewiesen sind wie der Schauspieler auf seinen Text.

Sherlock sitzt regungslos. Den Blick starr auf sein Gegenüber gerichtet.

Das perfekte Verbrechen, mein Lieber, besitzt zu Ihrem großen Bedauern immer den höheren kreativen Wert als seine perfekte Aufklärung! Denn es ist zuerst da! Es ist die Vorgabe, die Voraussetzung, die Ihr Handeln, ja Ihre gesamte jämmerliche Existenz erst legitimiert. Erlaubt! Ich bin Ihr Schöpfer, Mister Holmes! Während Sie zum ewigen Reagieren verdammt sind, ist meine Existenz autonom. Weshalb ich mich durch mein Handeln niemals selbst in Gefahr bringen kann. Während Sie mit jedem gelösten Fall Ihrer eigenen Auslöschung ein Stück näher kommen…

Sherlock sitzt noch immer regungslos. Sein Körper schweigt. Aber sein Gesicht überschlägt sich…

Und nun sagen Sie mir, mein lieber Freund, hebt Moriarty in bedeutungsschwerem Tonfall an: Was ist die Antwort auf die alles entscheidende Frage? Worin besteht die einzige Möglichkeit zur Rettung des Herrn Sherlock Holmes?

…nur durch das Gesamtwerk einer autonomen, zur Vollendung gebrachten Tat, murmelt Sherlock. Nur auf diesem Wege kann ich mich von meiner Abhängigkeit emanzipieren. Und er klingt wie ein Kind, das einen Text aufsagt, den es sich zuvor eingebläut hat: Eine Tat.

So ist es, mein Sohn! Denn wenn wir erschaffen, was keine Ursache als unseren eigenen Willen und kein Ziel als seine eigene Autonomie besitzt, wenn wir erschaffen, was keiner göttlichen Zielsetzung folgt, da es überhaupt keiner Zielsetzung folgt, dann entsteht durch unsere Hand das Einzige im Universum, dessen Urheber nicht unser Schöpfer ist. Und wir brauchen Gott nicht länger zu töten, da wir selbst zu Göttern werden. Und wir sind ebenbürtig und frei.

Wenn wir nur aus dem einen Grund handeln, fährt Sherlock fort: Weil wir es wollen. Einfach so. Dann sind wir gerettet, dann ist es…

…Kunst. Ganz recht, antwortet Moriarty.

- 6 -

Ich merkte, dass mein Kopf schwer und meine Gedanken müde geworden waren. Der scharfe Zigarrenrauch hing in dem Kellergewölbe wie warmer Dampf in einem Römischen Bad und ich spürte den Alkohol, wie er von innen an meinem Körper drehte. Die Kerzen in den Erkern brannten nicht mehr. Nurnoch ein Leuchter hinter uns und die Lampen auf dem Tresen waren in Betrieb.

Nachdem Dewil dem Barkeeper einige flinke Handzeichen gegeben hatte, jonglierte dieser zwei große Kristallzylinder auf den Tresen, die mit dicken unförmigen Eiswürfeln und einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren. Hier, trinken Sie das, mein Bester! das wird Ihnen guttun…

Langsam verflog der Schwindel aus meinem Körper, ich atmete tief und gleichmäßig, nahm einen weiteren Schluck und versuchte, mich auf Sherlock zu konzentrieren: Er hat begriffen, dass Moriarty ihm immer den entscheiden Schritt voraus sein wird, wenn er sich auf die bloße Bekämpfung des Verbrechens beschränkt, resümierte ich.

Sein einziger Ausweg besteht demzufolge in einer autonomen Handlung. Wie hat Moriarty es genannt? Ein abgeschlossenes Werk, das keine andere Ursache besitzt als unseren freien Willen zu seiner Erschaffung und kein anderes Ziel, als ziellos zu sein und der Notwendigkeit zu widersprechen. Er meint doch nicht ewta die Liebe? fragte ich vorsichtig.

Ich bitte Sie! Die Liebe ist ein Gefühl, das damit beginnt, sich selbst zu belügen, und damit endet, andere zu belügen. Aber lassen wir das – bevor ich mir Ihrerseits berechtigterweise Sarkasmus vorwerfen lassen muss… Glauben Sie das denn im Ernst?

Nicht wirklich… murmelte ich mit geständig.

Gottlob, hob Dewil an. Dann machen wir weiter: Denken Sie an Holmes' wahre Motivation! Was ist die wirkliche Triebfeder seines Handelns?

Dewil hatte sich schon wieder eine Zigarette angezündet, warf dramatisch den Kopf nach hinten und leerte sein Glas in einer schwungvollen Bewegung. Wie ein Dirigent inmitten des finalen Crescendo wirkte seine umherwirbelnde Gestalt.

Nun ja, setzte ich an. Der wahre Grund für Sherlocks Handeln, die Essenz seines Daseins besteht in Wahrheit vermutlich in…

Jaaa…?

In der Vollendung! Der Perfektion! Einem abgeschlossenen Werk. In der unvergleichlichen, meisterhaften Kombination. Einer Tat.

Sehr gut! Sie beginnen zu verstehen, mein Bester.

Die Verbrechensbekämpfung, Integrität der Gesellschaft undsoweiter – das sind doch in Wahrheit nur Nebenprodukte, fuhr ich fort. In Wirklichkeit geht es ihm um die Befriedigung seines Tatendrangs, die Verwirklichung seiner Schaffenskraft, das Ausleben seiner Kreativität! Vielleicht müsste er nur einen kleinen Schritt weitergehen, überlegte ich, und…

…und?

Ich sah Holmes und Watson durch die Straßen Londons streifen, die adlerhaften, wachsamen Züge des größten aller Detektive, sah seine Leidenschaft, das Leuchten in seinen klugen Augen, wenn sich ihm die Gelegenheit zur vollendeten Kombination eröffnet. Ich sah seinen angespannten Blick, das durch soviel Konzentration von Falten zerfurchte Gesicht, sah seinen Verstand die letzten Schlüsse ziehen, seinen drahtigen Körper losschnellen und ihn erbarmungslos zubeißen wie eine Kobra. Ich sah den winselnden Blick des Verbrechers, der erst versteht, wenn alles zu spät ist – wie ein Kaninchen, das die Zähne der Schlange in seinem Fleisch spürt, wie sie ihm das Gift in den Körper pumpen…

Und plötzlich wusste ich es. Mit triumphalem Gesichtsausdruck sah ich Dewil an. Und er lächelte milde zurück.

Alle Kunst ist völlig sinnlos, hob er feierlich an. So habe ich es bereits an anderer Stelle formuliert. Und das ist sie in der Tat – im für uns Menschen positivsten Sinne. Sie ist die einzige autonome Handlung, zu der wir in der Lage sind.

Sie unser einziger Ausweg. Unsere Form der Rebellion. Gegen die Absurdität oder gegen den göttlichen Zynismus – je nachdem welche der zwei möglichen Varianten des Universums wir bevorzugen.

Sie ist das einzige, was wir der Leere entgegenzustellen vermögen.

Jetzt verstehe ich den jungen Schriftsteller, sprudelte es aus mir heraus. Jetzt verstehe ich Sherlock. Plötzlich verstehe ich alles! Wahrscheinlich muss auch ich…

Sie müssen überhaupt nichts, mein Bester. Der wichtigste Wesenszug des Künstlers besteht darin, dass er nicht schafft, weil er muss. Ansonsten wäre auch er bloß ein Element in der gigantischen Kausalkette, nicht anders als das Essen oder die Fortpflanzung. Der wahre Künstler schafft nur aus dem einen Grund: weil er es wünscht.

Du meinst: wichtiger als das Kunstwerk selbst ist unser Entschluss zu seiner Erschaffung?

Zumindest genauso wichtig! Ein Künstler, dem seine Arbeit zufliegt, ist kein Künstler im eigentlichen Sinne. Stellen Sie Sich einen fünfjährigen Wunderkomponisten vor: er hat keinen der hier geschilderten Gedanken je nachvollzogen. Seine Arbeit ist keine Rebellion, er folgt einfach nur seiner Bestimmung. Und produziert Klaviersonaten wie die Henne Eier. Der wahre Künstler trifft selbst die Entscheidung über die Gründe für seine Arbeit. Sein Werk entwickelt sich nicht automatisch, er muss es der Leere abtrotzen. Es ist weit mehr als sein Beruf oder eine Passion. Es ist die Determinante seiner Existenz. Das Werkzeug, mit dem er sein Leben in ein von externen Zwängen emanzipiertes Dasein verwandelt.

…womit wir wieder bei Sherlock wären, entgegnete ich. Beziehungsweise bei Moriarty…

Voilà! Und da haben wir die Antwort auf Ihre Frage!

Dewil's Dance

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