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Andante in modo fatale

Die Töne fügten sich zu Bögen und Streben, mindestens so kunstvoll wie diejenigen der mächtigen, alten Kirche. Hatte Ariel Gelderlo den meisten Stücken mit geschlossenen Augen gelauscht, so folgte er mit Augen und Ohren jedem Ton dieser unverhofften Zugabe in die gotischen Gewölbe von Maria Magdalenen, in die das Licht der glänzenden, vielflammigen Kronleuchter nicht mehr ganz reichte. Er klammerte sich geradezu an die Töne – viel zu rasch verschwanden sie, den Nachhall wie einen Feenschleier hinter sich herziehend und ebenso plötzlich und geheimnisvoll in nichts aufgelöst, nur die weiß getünchten Backsteine zurücklassend. Mit genießerischem Lächeln, die Hände auf den Griff des Regenschirms gestützt, blieb Gelderlo ruhig zwischen all den Menschen sitzen, die laut applaudierend aufsprangen und dem Organisten Jakob van Heeren einen Triumph bereiteten, wie die Valckenburger Nachrichten sicher schreiben würden. Ariel Gelderlo hatte Meinhard Vorbracht einige Reihen weiter gesehen: Der massige Kulturredakteur schien sich die dargebotenen alten Meister gierig einzuverleiben – die Zugabe war da nur ein Leckerbissen mehr.

Nun, ein Leckerbissen gewiss – und was für einer! Doch was genau hatten sie da eigentlich eben gehört? Am Ende eines Konzerts, das ohnehin aus wiederentdeckten Werken bestand, die jahrhundertelang zwischen den Seiten alter Folianten geschlummert hatten?

Ariel Gelderlo hatte sich immer noch nicht von seinem Platz gerührt, als die anderen Zuhörer an ihm vorbei zum Ausgang strebten, einzeln, paarweise oder in kleinen Gruppen, schweigend, murmelnd, Bekannte grüßend oder das Gehörte diskutierend. Dabei stach Vorbrachts laut dröhnendes Organ besonders aufdringlich hervor. Gelderlo hatte Vorbracht schon nicht leiden können, als es dem Schicksal eingefallen war, sie in dieselbe Schulklasse zu stecken. Außerdem war er der festen Meinung, Schweigen sei die einzig angemessene Antwort auf einen Musikvortrag, und ging daher am liebsten allein in Konzerte.

Ob und wie sehr ihm eine Darbietung gefallen hatte, konnte man daran erkennen, wie lange er nach dem Konzert noch auf seinem Platz sitzen blieb und den verklungenen Tönen nachlauschte. So saß er auch jetzt, in den langen, klassisch eleganten Mantel gehüllt, konzentriert zurückgelehnt. Die wieder geschlossenen Augen verbargen seine höchst gespannte Aufmerksamkeit. In der gleichen Haltung sahen ihn seine Untergebenen und Mitarbeiter oft auch noch nach Dienstschluss in seinem Büro sitzen. Nun hatte das Wort Dienstschluss für einen Kriminalbeamten sicher eine untergeordnete Bedeutung, und als Leiter der Valckenburger Kriminalpolizei hatte er das Vorrecht, in seinem Büro sitzen zu bleiben, nachdem er alle anderen nach Hause geschickt hatte. Es waren die Stunden, in denen er sich noch einmal in Erinnerung rief, was er gesehen und gehört hatte – vielmehr, was er übersehen und überhört hatte: das kleine Detail, das die unerschütterliche Aussage eines Verdächtigen endlich als Lügengespinst entlarvte und einen verfahrenen Fall plötzlich klar nachvollziehbar erscheinen ließ. Ob am Ende die Lüge oder die Gerechtigkeit siegte, entschied sich meist an einem solchen Detail: dem falschen Tonfall oder dem unpassenden Wort in einer Aussage. Ariel war jedoch davon überzeugt, dass sich jeder Straftäter im Grunde seines Herzens eigentlich danach sehnte, dass man ihm auf die Spur kam. In der Regel machte sich dieser Wunsch in einer noch so unscheinbaren Kleinigkeit Luft. Nun galt es, sich im Nachhinein in das Muster des Verbrechens einzufühlen.

In der Kirche waren nur noch wenige Stimmen zu hören. Ariel Gelderlo hing der eben gehörten Musik nach, vor allem den eigentümlich schwermütigen, südlich warmen Klängen der seltsamen Zugabe, auf die er nicht vorbereitet gewesen war. Ungewohnte, reiche Farben nach den nüchterneren Werken deutscher und niederländischer Komponisten, die viel besser in den kühlen strengen Backsteindom passten. Ein Wiegenlied im Zwölf-Achtel-Takt einer Siciliana, gesungen in einem kleinen Boot auf einem unruhigen Ozean unter der Einsamkeit des schwarzen Nachthimmels, während eine einzelne Möwe daneben auf dem Wind dahinsegelte. Musik, die sein Herz so direkt erreichte wie Traubenzucker das Blut und jeglichen Widerstand dahinschmelzen ließ.

Solche mit unerschöpflichem Atem sich verströmenden Melodien hatte im barocken Europa nur einer zu Papier gebracht: Antonio Vivaldi. Immer wieder tauchten verschollene Werke auch dieses Komponisten in alten Bibliotheken auf. Hatte van Heeren diese Siciliana ebenfalls in den alten Folianten entdeckt? Seit Jahren nervte der rührige Organist die Fachwelt mit der fixen Idee, Vivaldi sei kurz vor seinem Tod noch in die Niederlande und nach Valckenburg gereist. Hierfür gab es durchaus schwache Indizien. Hatte er nun den Beweis gefunden?

Ariel Gelderlo beschloss, van Heeren in den nächsten Tagen einmal aufzusuchen und nach diesem Stück zu fragen. Aber nicht mehr heute Abend. Ein anderthalbstündiges Konzert ohne Pause mit einer ganzen Reihe sehr anspruchsvoller Kompositionen und dieser krönenden Zugabe – danach wollte van Heeren nicht mit neugierigen Fragen behelligt werden und blieb daher grundsätzlich oben auf der Empore, wo er sich jeden Besucher verbat.

Ariel öffnete seine Augen und blickte überrascht in ein anderes Paar: groß, braun und neugierig auf ihn gerichtet. Dazu gehörte ein hübsches Gesicht mit einem beinahe lockend draufgängerischen Zug um den Mund, umrahmt von gut frisierten, kastanienbraunen Haaren. Gelderlo verschlug es einen Moment den Atem. Die Frau, die er auf Ende zwanzig schätzte, trug einen eleganten roten Wintermantel, den sie leicht fröstelnd um ihre Schultern gezogen hatte, und kniehohe Stiefel, auf deren hohen Absätzen sie sich anmutig bewegte. Sie wirkte etwas ziellos, während sie an ihm vorbeiging, schien sich dann aber zu entschließen und wandte endlich den Blick von ihm ab. Das zunächst noch zögernde Klappern ihrer Schritte nahm einen stetigen Rhythmus an, dem der Widerhall des hohen leeren Raumes den Charakter von Kastagnetten verlieh, deren Tanz zunehmend im Echo aufging.

Der Kriminalhauptkommissar kannte die meisten, die um diese Jahreszeit in Valckenburg ein Kirchenkonzert besuchten, doch diese Frau hatte er nie zuvor gesehen. Er stand auf, sah sie am Ausgang dem Küster knapp zunicken und dann hinausgehen. Die Fremde war außer ihm die letzte Besucherin gewesen und hatte sich für ihn ebenso überraschend an die winterliche Nordseeküste verirrt wie die Zugabe.

Er warf einen letzten Blick zum prächtigen barocken Orgelprospekt empor. Am Spieltisch der herrlichen Orgel mit ihren sechsundvierzig Registern sortierte van Heeren offenbar noch seine Noten, bevor er das Licht löschen und nach unten kommen würde. Ariel wandte sich endlich zum Ausgang.

Solange sie die Augen geschlossen hielt, konnte sie sich einbilden, sie wäre in der Heidelberger Heiliggeistkirche, neben sich ihre Freundin Katharina. Eine große Woge Heimweh schlug über ihr zusammen, als die geheimnisvolle Musik verklang – eine Gondel, die im Dunkel unter einer Brücke verschwand.

Sie öffnete die Augen und stimmte zurückhaltend in den erneut aufbrausenden Applaus ein. Nun gut: Valckenburg. Nicht Heidelberg, nicht Venedig. Und die Konzertbesucherin neben ihr hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Katharina. Die Mittsiebzigerin trug eine überdimensionierte rote Stoffblume im hennaroten Haar und seufzte theatralisch: »Einmalig, diese Klangfarben! Darin war Händel wirklich Meister, finden Sie nicht auch?«

Merle Feierabend erwiderte freundlich lächelnd auf Italienisch: »Wer Vivaldi nicht von Händel unterscheiden kann, der hält am Ende Lasagne für Fish and Chips!«

Zufrieden beobachtete sie die Wirkung ihrer Worte auf die exaltierte Dame. Diese wandte sich pikiert ab und murmelte: »Nicht einmal hier ist man vor diesen Türken sicher!«

Nachdem Merle Feierabend ihre Nachbarin losgeworden war, blieb sie noch eine Weile auf ihrem Platz sitzen. Sie hatte sich für diesen absehbar trübsinnigen ersten Advent einen anderen Ausklang gewünscht. Als sie ihre Handschuhe aus der Manteltasche nahm, fiel die Nachricht heraus, die sie vorhin unwillig zerknüllt und weggesteckt hatte: »Liebe Merle! So bezaubernd wie Du ist in meiner Doppelkopfrunde keiner! Aber ein Ruf von Béatrice Gelderlo ist wie der Ruf der Queen! Das Opfer fällt mir jedoch leichter, wenn ich daran denke, wie Du mir morgen beim Abendessen im Casino in leuchtenden Farben von dem Konzert erzählen wirst. Ich wünsche Dir trotzdem viel Freude! Dein René«.

Die Kassiererin hatte ihr den Zettel zusammen mit der bereits bezahlten und für sie hinterlegten Eintrittskarte ausgehändigt. René Maarten de Vries hatte Merle überhaupt erst auf dieses Konzert aufmerksam gemacht, zugleich jedoch bedauernd klargestellt, dass er sein monatliches Kartenspiel unter keinen Umständen dafür ausfallen lassen könne. Merle war bisher nicht mit der Tatsache konfrontiert worden, dass es in de Vries’ Leben einen unverrückbaren Jour fixe gab, an dem sie nicht teilnehmen konnte – und sie hatte bis zuletzt gehofft, er werde es sich doch anders überlegen. Sie hatte ihn kurz nach ihrem Umzug im Sommer kennengelernt. Ihr Kollege und Lebensgefährte Lars van Huizen, dem sie von Heidelberg in seine Heimatstadt Geertshaven gefolgt war, musste trotz Urlaubs an einer dringenden Fallbesprechung im Polizeipräsidium teilnehmen, und Merle strich gelangweilt durch den Jachthafen. Der Besitzer eines besonders eleganten Bootes, das sie geistesabwesend betrachtete, folgte ihrem Blick amüsiert und lud sie zu einem Hafenrundgang ein.

In den folgenden Monaten ergab sich häufiger die Gelegenheit, gemeinsam etwas zu unternehmen. De Vries war achtzehn Jahre älter als sie. Beide fanden einander charmant und unterhaltsam und genossen die entspannte Zeit miteinander. Von Lars sah Merle nicht mehr viel. Während sie in Heidelberg sogar im gleichen Büro gearbeitet hatten, war er mit seiner Rückkehr nach Geertshaven zum Leiter des hiesigen Dezernats Wirtschaftskriminalität aufgestiegen und Merle wieder als Kriminalhauptkommissarin im Dezernat Kapitalverbrechen tätig. In seiner neuen Eigenschaft hatte Lars alle Hände voll zu tun. Die jüngsten Enthüllungen hatten die wahre Identität der Betreiber etlicher Briefkastenfirmen publik gemacht. Hier fand sich internationale Prominenz aus Wirtschaft, Politik, Sport und Kultur neben dem organisierten Verbrechen wieder. Und inzwischen legten die Ermittlungen nahe, dass selbst Mitglieder der Valckenburger Regierung mit hohen Summen bestochen worden waren.

Merle hingegen befasste sich anders als an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz bis jetzt vor allem mit langweiligen Routineaufgaben. Teilweise betrafen diese das Geertshavener Casino, das vor Merles Zeit erfolglos überfallen worden war. Zwei Täter hatte man damals fassen können, nach weiteren suchte man nicht mehr ernsthaft. Merle kannte die Akte des Falls längst auswendig, hatte ihr Wissen jedoch bisher nicht anwenden können. Die beiden verurteilten Täter hatten inzwischen ihre Haftstrafe verbüßt. Der eine hatte umgehend das Land verlassen, der andere war bislang nicht weiter auffällig geworden, was Merle zuweilen bedauerte.

Heimweh bedrückte sie und sie fragte sich, was sie eigentlich in diesem an den Rand der Weltgeschichte gespülten Nordsee-Monaco wollte.

Leise seufzend stand sie auf, knöpfte ihren Mantel zu und streifte die Handschuhe über. Bis auf einen Mann einige Reihen hinter ihr hatten alle Konzertbesucher die ehrwürdige Kirche bereits verlassen, die in all ihrer kühlen Pracht und Erhabenheit Merle nichts Bergendes bot. Da­ran vermochte auch der große Adventskranz nichts zu ändern. Fröstelnd zog sie den Mantel fester um ihre Schultern und setzte sich in Bewegung.

Der Mann, der immer noch unbeweglich auf seinem Platz saß, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Er hielt die Augen geschlossen und sie betrachtete ihn unverhohlen. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Sein leicht geöffneter Mantel musste sehr teuer gewesen sein, ebenso wie der offensichtlich von einem exzellenten Schneider gefertigte elegante Zweireiher. Die etwas aus der Zeit gefallenen Kleidungsstücke, zusammen mit einem schwarzen Stockschirm, verliehen ihrem Träger das Aussehen eines englischen Land­edelmannes. Er war groß und kräftig gebaut, aber schlank. Sein Gesicht unter den sorgfältig gekämmten Haaren hatte markante Züge und um den Mund ein angedeutetes Lächeln. Die geschlossenen Augen verliehen ihm etwas Konzentriertes und Entspanntes zugleich. Vielleicht der Musikkritiker der Valckenburger Nachrichten?

Inzwischen war sie dicht bei ihm angekommen und er öffnete die Augen: graugrün, mit einem Blick, der gewohnt war, sein Gegenüber festzuhalten. Sie verwarf den Musikkritiker. Nur langsam ließ sie seinen Blick los und entschied sich endlich, die ungastlich gewordene Kirche zu verlassen und heimzugehen.

Draußen war der Nebel inzwischen noch dichter. Die Laternen hatten den Kampf gegen ihn längst aufgegeben. Feuchte, aufgedunsene Gespenster drückten sich zwischen den alten Häusern herum. Einsam stand ihr rotes PeugeotCabrio auf dem verlassenen Kirchplatz. Sie drückte auf den Schlüssel und der 208 CC blinkte befreit, als wollte er sagen: »Los, schnell weg hier!«

Das Auto schien auszusprechen, was sie sich die ganzen letzten Monate nicht eingestanden hatte: Der Umzug war eine Fehlentscheidung gewesen. Lars genoss das Heimspiel mit neuen beruflichen Herausforderungen. Die einzige Herausforderung der vor Kurzem 30 Jahre alt gewordenen Merle dagegen war bisher Evelyne de Jong, Lars’ junge blonde Assistentin mit den Barbie-Maßen, von Merle meist wegwerfend »deine Plinkerpuppe« genannt. Da war die Bekanntschaft mit de Vries gerade zur rechten Zeit gekommen.

Enttäuscht stieg sie in ihren Wagen. Auf sie wartete jetzt eine leere Wohnung. Lars war auf einer Dienstreise in Amsterdam, begleitet von Evelyne de Jong. Eigene Freunde hatte Merle bisher in Geertshaven keine gewonnen und von Lars’ Familie war sie freundlich empfangen, aber nicht wirklich aufgenommen worden.

Sie erreichte die große Kreuzung mit den Schildern für den Fernverkehr. Links ging es nach Groningen und Leeuwarden, rechts nach Emden und Bremen. Einen Moment zögerte sie. In Emden käme sie auf die Autobahn nach Süden. Doch dann wären es immer noch fast sechshundert Kilometer …

Als die Ampel auf Grün sprang, trat Merle Feierabend energisch aufs Gaspedal. Der Peugeot machte einen erschrockenen Satz geradeaus und blieb dann mitten auf der Kreuzung stehen. Hinter ihr ertönte verärgertes Hupen. Hektisch startete sie den Wagen erneut und folgte seufzend der einmal eingeschlagenen Straße nach Geertshaven. Diese würde sie nun etwa zehn Kilometer schnurgerade durch dichten Nebel führen. Die anstrengende Fahrt nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, was ihr nicht unwillkommen war.

Ariel Gelderlo schlug den Mantelkragen hoch und ging mit raschen, großen Schritten in den feuchten Dezemberabend hinein. Die Luft war voll winziger Tröpfchen, klammer Nebel verschlang fast das letzte Licht der Laternen, die standhaft auf ihren Posten ausharrten. Er war der einzige Fußgänger auf der kopfsteingepflasterten Marktstraße mit ihren hohen Treppengiebeln. Die Schaufenster hatten nicht mehr die Kraft, seine dunkle Silhouette zu spiegeln; das Geräusch seiner Schritte wurde vom Nebel verschluckt, als hätte es nie existiert. Doch in seinem Kopf kehrte plötzlich das Motiv der Siciliana wieder, so deutlich, als hätte er es gerade erst gehört, und leise summend suchte er es festzuhalten. Wieder und wieder entglitt es ihm in den Nebel und kehrte doch beharrlich wie das schwache Licht der Laternen und des über die Straßen gespannten Adventsschmucks zurück.

Summend blieb er kurz vor einem alten Patrizierhaus mit reich verziertem niederländischem Giebel stehen: seinem Elternhaus, in dessen musealer Hülle seine Mutter nur noch wenige Räume wirklich bewohnte. Sie hielt an alten Gepflogenheiten fest und hatte an diesem Abend wieder ihre monatliche Doppelkopfrunde zu Besuch. Sein vor zwei Jahren verstorbener Vater war Diplomat sowie eine ganze Weile Minister gewesen. Der Name Gelderlo tauchte mit unübersehbarer Beständigkeit in der Geschichte des winzigen Landes auf. Der Kommissar nahm summend seine einsame Wanderung wieder auf. Vor ihm war die Silhouette des großherzoglichen Schlosses im Nebel zu erahnen. Vergangenheit, von der es in Valckenburg mehr gab, als die nur noch knapp dreißigtausend Bewohner der Stadt gebrauchen konnten. Das Geld wurde längst im inzwischen mehr als doppelt so großen Geertshaven verdient, dessen Stern in dem Maße aufgestiegen war wie derjenige der Hauptstadt verblich. Die einstige Meeresbucht, an der die alte Handelsstadt lag und in die hinein das Wasserschloss gebaut war, konnte nur noch von kleineren Schiffen und Jachten befahren werden. Im ehemals breiten Zugang zum Meer wurde eine schmale Fahrrinne für diese Boote freigehalten und gelegentlich neu ausgebaggert. Die richtigen Schiffe gingen heute in Geertshaven vor Anker. Mochte die Regierung vorerst noch in Valckenburg sitzen, der Polizeipräsident und mit ihm der entscheidende Teil der Polizei hatten schon seit Jahren ihren Sitz in Geertshaven. Ariel Gelderlo leitete mit Hingabe eine in Valckenburg verbliebene Abteilung, die für die alte Stadt und das Hinterland zuständig war. Hier hatte sein Name noch Klang und Gewicht, die Veränderungen hielten sich im Rahmen – und wenn man ihn für besondere Aufgaben einmal nach Geertshaven rief, hatte er mit seinem himmelblauen Volvo 164, einem sorgfältig gepflegten Erbstück seines Vaters, einen regelrechten Auftritt.

Er blieb an dem kleinen Sportboothafen stehen, der neben den großen runden Ecktürmen des Schlosses im Herzen der Stadt lag, wo einmal die großen Segelschiffe angelegt hatten, und horchte auf das leise schwappende Wasser, das er im Nebel nicht sehen konnte.

Die traditionsreiche Solidität, für die das Schloss stand, war dem Land abhandengekommen. Valckenburg wurde in ausländischen Zeitungen inzwischen in einem Atemzug mit Panama und Malta erwähnt. Kapitalanleger, die man aus aller Welt mit unschlagbaren Konditionen gelockt hatte, sahen sich an den Pranger gestellt und ihre bislang diskret gewahrten Finanzgeheimnisse ans unbarmherzige Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Vom Premierminister bis zur Kioskverkäuferin waren die Menschen unruhig geworden. »Wohin steuert Valckenburg?« Die heutige Schlagzeile des Utkiek verlieh der allgemeinen Stimmung Ausdruck. Gelderlo war in dieser Woche mit einem Fall von Selbsttötung konfrontiert worden: Der Tod eines Staatssekretärs im Finanzministerium warf mehr Fragen auf, als beantwortet werden konnten. Der Minister selbst konnte sich als Ursache des tragischen Geschehens nur private Probleme vorstellen. Die Arbeit im Ministerium war natürlich über jeden Zweifel erhaben.

In dieser Situation hatte ein besonders naseweiser Kommentator der Valckenburger Nachrichten sogar einen Beitritt zur EU nicht ausgeschlossen und zwischen den Zeilen angedeutet, dass schlimmstenfalls auch das Ersuchen um Aufnahme in die Bundesrepublik Deutschland denkbar wäre. Der visionär begabte Journalist würde vermutlich zukünftig mit der Berichterstattung über Kindergartenflohmärkte und Feuerwehrfeste vorliebnehmen müssen.

Ganz Valckenburg schien nur auf die märchenhafte Geschichte um den wiedergefundenen Brautring der Gräfin Anne Sophie gewartet zu haben. Das hübsche Schmuckstück beflügelte jetzt die Fantasie aller, die sich vergeblich nach Glanz und Glück sehnten und stattdessen eine schlechte Nachricht nach der anderen verdauen mussten. War der Ring wieder aufgetaucht, so vielleicht doch irgendwann einmal auch das Armband, die Ohrringe, das Diadem und vor allem das zauberhafte Diamantencollier? Das Schloss zählte so viele Besucher wie seit Jahrzehnten nicht.

Den Kommissar interessierte all diese Aufregung nur am Rande. Wie es um das einstmals durchaus ansehnliche Vermögen der Gelderlos inzwischen bestellt war, wusste er nicht, weil seine Mutter hartnäckig jede Information da­rüber verweigerte. Ariel hatte nur den alten Familiensitz in der Marktstraße vor Augen, für dessen Renovierung und Instandhaltung seit Jahren nur noch das Notwendigste aufgebracht wurde. Er selbst lebte in einer recht großen, nicht ganz so alten Mietwohnung in einer weniger repräsentativen Straße am Rand der Altstadt.

Er hatte den Polizisten nicht bemerkt, der neben ihn getreten war und sich jetzt an die Mütze tippte. »Ach, Sie sind’s, Chef. Hab Sie nicht gleich erkannt bei dem Nebel.«

»Alles ruhig, Wolters?« Er wandte nur den Kopf ein wenig zur Seite. Karl Wolters war einer der dienstältesten Beamten des Streifendienstes, der noch im dichtesten Nebel einen einsamen Spaziergänger sehen und ansprechen würde, der spätabends am Valckenburger Hafen stand und ins Nichts schaute.

»Zwei Betrunkene haben hinter der Kirche ein bisschen Randale gemacht. Jansen und ich haben sie getrennt und nach Hause geschickt.«

»Hinter der Kirche? Von da komme ich eben. Ich habe gar nichts bemerkt. Muss gewesen sein, als ich noch drin war.«

»Kommen Sie vom Konzert? War es schön?«

»Ja. Ein ungewöhnliches Stück hat van Heeren zum Schluss gespielt … – Na gut. Sie haben ja recht, Wolters. Wer nicht gerade Streife gehen muss, hat eigentlich um die Zeit nichts mehr hier verloren. Ich werd mich dann auch mal auf den Heimweg machen. Eine ruhige Nacht!«

Die Siciliana. Süß und warm, aus dunklen Tönen in eine unbestimmte Ferne singend, setzte sie sich immer wieder und immer mehr in seinem Kopf fest. Erneut summend schritt er fester aus, umfasste in seiner rechten Manteltasche den Schlüsselbund und spielte mit ihm, bevor er ihn aus der Tasche zog, als er in seine Straße einbog.

Eine Katze kreuzte seinen Weg und rieb sich kurz an seinem Hosenbein. Er bückte sich und strich ihr einmal übers Fell, dann trennten sie sich. Die Häuser standen willkürlich aneinandergelehnt, als wären sie von der Welt vergessen worden; nur in zwei Fenstern brannte Licht. In der Reihe der parkenden Autos stand auch sein Volvo, jetzt nur ein weiterer halb verschwundener Gegenstand im undeutlichen, durchbrochenen Lichtkegel der nächsten Laterne.

Ariel klimperte kurz mit seinen Schlüsseln, ertastete den richtigen und schloss auf. Erst als er die Tür seiner Wohnung im ersten Stock hinter sich zugedrückt hatte und das Schweigen des Flurs und der anderen Räume dahinter wahrnahm, fiel ihm die Katze wieder ein. Eine Katze, die ihn in dieser leeren Wohnung empfing, wäre nicht die verkehrteste Anschaffung – sofern sie nicht unterwegs sein würde, wenn er kam, und sich an fremder Leute Hosenbeine schmiegte.

Er warf den Schlüsselbund auf das Schränkchen im Flur und hängte den Mantel ebenso achtlos an einen Garderobenhaken: Dort hing er nun wie ein vor Erschöpfung im Stehen eingeschlafenes Gespenst, während sein Besitzer schon in die Küche weitergegangen war und den Kühlschrank inspizierte. Dabei summte er das Motiv der Siciliana vor sich hin. Morgen würde er seine Geige in die Hand nehmen, die aus Rücksicht auf die musikempfindlichen Nachbarn ihren Platz in seinem Büro gefunden hatte, und probieren, das Stück aus dem Gedächtnis nachzuspielen. Ob seine Finger dieser Herausforderung noch gewachsen waren?

Siciliana

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