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Kapitel 2: Miss Marple auf vier Pfoten

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24. April

Als ich heute Morgen aufwachte, war mein erster Gedanke, dass ich eine Ermittlungs-Strategie brauche. Denn ein Kätzchen, das grade mal knapp ein Jahr alt ist, das hat natürlich nicht so viel Erfahrung damit, sein Frauchen aus dem Gefängnis zu retten und einen Mord aufzuklären.

Zumal es ja nicht ganz ungefährlich ist, einen Mord aufzuklären.

Man bekommt es da mit Bösewichten zu tun, die ganz unglaublich bösewichtig sind. Nehmen wir nur mal an, eine Verbrecherbande hätte diesen Frummelmann mit einem Giftcocktail gekillt. Wenn ich die in ihrem Giftcocktail-Versteck auftreibe, das lassen die sich ja auch nicht so einfach gefallen!

Am Schluss killen die mich auch noch und verkaufen mein Fell an einen Rheumadecken-Händler!

Ich brauche also erst mal Verstärkung.

Nämlich Percy und Merlin, Goldie, Maxi und die weise Purzel.


24. April, 13:45 Uhr

Endlich haben wir gefrühstückt.

Unsere Näpfe füllen sich ja nicht von alleine. Vermutlich darf Frauchen im Gefängnis nicht um Hilfe rufen, sonst hätte sie längst Hilfe für uns besorgt.

Aber es ist niemand gekommen, um uns zu füttern und zu streicheln.

Also haben wir uns als Ersatz gegenseitig das Fell geschleckt. Dann haben wir überlegt, wie wir an etwas zu essen kommen. Mäuse gibt es hier in der Gegend nicht mehr. Und selbst wenn es welche gäbe – wer verspeist heute noch Mäuse. Wir sind schließlich Lieblings-Katzen, und wir sind Leckerlis gewöhnt.

Merlin kam auf die rettende Idee: Wir gehen alle durch die Katzenklappe raus und rüber zur Frau Schuster-Schmid. Die hat ihr Haus neben dem unseren und gibt auch dem Felix von schräg gegenüber immer mal etwas Feines. Da hat sie bestimmt auch für uns etwas zu essen.

Wir marschierten also einer nach dem anderen durch die Katzenklappe ins Freie.

Ein Vogel zwitscherte oben im Holunderbaum. Ich überlegte, ob ich ihn zu meinem Frühstück ernennen sollte, aber irgendwie mag ich Vögel. Sie singen so schön – wenn so ein Star auf dem Baum oder in der Dachrinne sitzt und schmettert, da geht mir das Herz auf und ich werde ganz poetisch.

Einen Künstler, der einen ganz poetisch macht, kann man nicht frühstücken, oder wie sehen Sie das?

Wir suchten also eine Lücke im Zaun und gingen rüber zu Frau Schuster-Schmid. Sie saß mit ihrer Zeitung und mit ihrer erwachsenen Tochter auf der Terrasse. Frau Schuster-Schmid trug dicke Lockenwickler. Ihre Tochter trug ein dick eingemummeltes Baby auf dem Arm.

Wir stellten uns nebeneinander auf und schauten Frau Schuster-Schmid, ihre Tochter und das Baby ganz herzerweichend an. Das fiel uns auch nicht schwer. Wer seit gestern Mittag nichts in den Bauch bekommen hat, der guckt automatisch herzerweichend.

Die Tochter von Frau Schuster-Schmid fing sofort an zu kreischen.

„Diese Katzen! Wer weiß, was für Flöhe und Parasiten sie mit sich herumschleppen! Weg mit euch, ihr Getier, weg von meinem Baby!“

Und Frau Schuster-Schmid selber holte aus der Küche einen Besen und jagte uns damit aus dem Garten! Dabei veranstaltete sie ein Riesen-Geschrei. Ich verstand nicht alles, weil sie ihre Zähne nicht im Mund, sondern auf dem Kaffeetisch hatte, aber ich hörte Wortfetzen wie: „Gesindel, elendiges!“ „Sääächhhs Katzzzäään!“ „Bleibt bloß wech von unserm Baby!“.

Das Baby fand Frau Schuster-Schmids Verhalten wohl auch nicht so nett, jedenfalls begann es ganz fürchterlich zu brüllen. Der Vogel-Künstler auf dem Holunder hörte auf zu singen und flog empört davon.

Wir purzelten durch das Loch im Zaun zurück in unseren eigenen Garten.

Das hätte ich jetzt nicht von ihr gedacht. Sie ist zwar nie besonders freundlich. Vermutlich hat sie Gicht und Rückenschmerzen, so schaut sie jedenfalls immer drein. Aber dass sie eine hungrige Familie einfach rauswirft, auf die Idee wäre ich nicht gekommen.

Nach dem ersten Schreck hielten wir unter dem Holunderbaum eine Besprechung ab.

„Das funktioniert so nicht“, sagte Kater Percy. Er ist immer etwas langsamer als sein Bruder, aber viel besonnener. „Wir müssen uns aufteilen. Es gibt vermutlich keinen einzigen hier im Viertel, der Lust darauf hat, sechs Katzen durchzufüttern. Aber wir finden bestimmt sechs Leute, die einem süßen, kleinen Kätzchen, das sie zärtlich anmaunzt, Futter hinstellen.“

Wir sahen sofort, dass er Recht hat (Percy hat fast immer Recht). Deshalb vereinbarten wir, uns um 14 Uhr wieder zu treffen. Zur Besprechung unserer Ermittlungs-Strategie, auf Frauchens Bett, wo immer noch die Pullis, Kleider, Röcke und Hosen durcheinander liegen.


25. April

Gestern, bei unserer ersten Ermittler-Besprechung, flogen zunächst mal die Fetzen.

Bevor ich kam, war ja Goldie die Chefin hier im Haus, und die lässt sich von einer kleinen naseweisen Katze natürlich nicht das Wasser abgraben. Auch dann nicht, wenn die kleine naseweise Katze beinah eine Kombination aus Sherlock Holmes und James Bond und außerdem auch noch eine zukünftige Bestsellerautorin ist. Naja – wär‘ ich gern, ich bemüh‘ mich.

„Das mit deinen Ermittlungen, das ist einfach Quatsch“, miaute sie. „Wenn in der Flasche wirklich das Gift war, mit dem er ermordet wurde, dann kannst du ihr eh nicht helfen. Und wir können es auch nicht. Dann braucht sie einen guten Anwalt. Das ist sicher. Wir haben momentan ein ganz anderes Problem, und das heißt Leckerlis.“

Merlin, der seit seinem ersten Tag in unserem Haus in Goldie verliebt ist, stimmte ihr sofort zu. „Goldie hat Recht. Ich habe schon wieder Hunger. Was sollen wir auch ausrichten können? Sechs Katzen als Detektive! Am Ende vergiftet uns der Mörder und gibt uns Leckerlis mit Giftcocktail. Ihr dürft nicht vergessen: Wenn Frauchen es nicht war, dann läuft der immer noch frei herum.“

„Eben deshalb“, sagte ich. Ich hatte irgendwo mal aufgeschnappt, dass Bilder viel stärker wirken als jede Argumentation. Nun gut, dann eben so. „Wollt Ihr unser Frauchen wirklich im Stich lassen? Wenn Ihr Euch das vorstellt – wir leben hier allein in diesem Haus. Kein Frauchen, das uns durchknuddelt. Und keine Leckerlis. Nicht mal Dosenfutter. Wenn wir ins Wohnzimmer gehen: Kein Frauchen, das auf der Couch lümmelt und einen auf ihrem Bauch liegen lässt. Wenn wir ins Büro rüber gehen: Kein Frauchen. Geburtstag ohne Frauchen, Weihnachten ohne Frauchen. Könnt Ihr Euch Weihnachten ohne Frauchen vorstellen? Sie ist nicht da und kommt nicht mehr zurück. Weil sie ihr Leben hinter Gittern verbringen muss. Unschuldig verurteilt. Denn wir, also wir wissen doch, dass sie unschuldig ist! Im Gefängnis ausgeliefert an brutale Mitgefangene und allein in einer winzigen Zelle. Nur mit Bett, Klo, Tisch und einem leeren Bücherregal. Wollt Ihr das wirklich?“

Meine Rede ergriff sie so sehr, dass ihnen der logische Fehler in meiner Argumentation überhaupt nicht auffiel. Sie wurden alle ganz nachdenklich und schlichen weg.

Das half mir jetzt auch nicht weiter, denn ein Ermittler-Meeting, an dem keiner teilnimmt als man selbst, ist kein Ermittler-Meeting. Ist ja wohl klar.

Während ich mich noch ärgerte, kam Maxi zurück.

„Ich bin zwar schon fast 18“, seufzte sie, „und die Gelenke tun mir weh. Aber ich bin gerne mit dabei, als lebenserfahrene Beraterin.“

„Ich ebenfalls“, bot Purzel an.

Percy schlenderte um die Ecke und schnupperte am Gummibaum. Verlegen trat er von der linken auf die rechte Pfote. „Also – ich wäre dann auch dabei“, murmelte er. „Ich lass‘ doch unser Frauchen nicht im Stich!“

Merlin sprang vom obersten Bücherregal, riss dabei einen Gedichtband von Paul Celan, Casanovas Bericht aus den Bleikammern in Venedig sowie E.T.A. Hoffmanns „Kater Murr“ mit herunter und kam direkt vor meinen Vorderpfoten zum Stehen. „Ihr braucht einen unerschrockenen Kämpfer, hier bin ich!“, sprach er.

Drüben im Bad wurde im Katzenklo gescharrt, dann preschte Goldie an. „Ich übernehme die Kommandozentrale und ernenne dieses Schlafzimmer hier zu unserer Ermittlungs-Basis. Du zeigst mir, wie man mit diesem Dingsda, diesem Tablet-Computer recherchiert und weist mich ins Projektmanagement-Tool ein, okay?“

Das musste ihr ziemlich schwer gefallen sein.

Ich maunzte deshalb sehr freundlich und nickte.

Wir konnten durchstarten.


25. April, abends

Nachdem ich Goldie die wichtigsten Funktionen der Software gezeigt hatte, damit sie den Tablet-Computer und den Laptop im Griff hatte, machte ich mich auf zum Tatort.

Nach der Trennung vom Frauchen war Franz Frummelmann in die Jakob-Obser-Straße 48 gezogen, ins Penthouse eines zwölfstöckigen Hochhauses. 11. und 12. Etage. Mit Wendeltreppe. Hatte das Frauchen erzählt. Dort lebte er mit seiner zweiten Frau Gundula. Das heißt, da hatte er gelebt, bevor ihm das mit dem Giftcocktail passiert war.

Ich schnappte mir unser iPhone.

Vor einem halben Jahr hatte Frauchen ein neues iPhone gekauft, und das alte lag herum. Da kam sie auf die Idee, ein fotografisches Projekt zu realisieren (Sie sehen: Ich beherrsche sogar Fremdwörter!). Das nannte sie „Katzenwelt“. Das Neue am Projekt war, dass es sich eben NICHT um Fotos handelte, die Menschen von Katzen machen, sondern um Fotos aus dem Leben einer Katze. Sie friemelte eine Befestigung ans iPhone, so dass man es einfach ins Flohhalsband einklicken kann und installierte eine Kamera-App, die man so einstellen kann, dass alle drei Minuten ein Foto aufgenommen wird. Das Ergebnis waren also Bilder aus der Katzenperspektive. Bilder im Gras, Bilder vom Baum aus aufgenommen, Bilder von den anderen Katzen im Haus, Bilder vom Kater Felix von schräg gegenüber, verwackelte Bilder, knallscharfe Bilder, schräge Bilder und richtig schöne Bilder.

Die interessantesten davon druckte sie in DIN A3 aus und zeigte sie in einer Ausstellung in ihrem Lieblingscafé.

Seitdem haben wir Katzen ein eigenes iPhone, das wir am Flohhalsband befestigen können.

Irgendwann entdeckte ich diese coole App von Fritz-Kasper Schulze. Da eröffneten sich ganz neue Welten! Die App installierten wir gleich auch noch auf Frauchens Tablet-Computer (an dem wir eigentlich nichts zu suchen haben). Auf Frauchens Laptop (an dem wir gleich überhaupt gar nichts zu suchen haben) richteten wir das entsprechende Computer-Programm von Fritz-Kasper Schulze ein.

Schon bald fand ich heraus, dass es Programme und Apps gibt, die Einträge synchronisieren. Das, was ich auf dem iPhone eingebe, kann ich dann auch auf dem Laptop und dem Tablet aufrufen. Frauchen hat auf ihren Geräten ein Programm, das heißt Evernote. Damit kann man so etwas machen. Sie nutzt es kaum, und deshalb ist ihr bis heute nicht aufgefallen, dass wir uns da einen eigenen Zugang eingerichtet haben.

WIR nutzen es sehr intensiv.

Im Routenplaner des iPhones tippte ich jetzt „Überlingen, Jakob-Obser-Straße 48“ ein, dann hängte ich es mir um den Hals. Da dieser digitale Wegweiser nur für Autos ausgelegt ist, wurde es etwas abenteuerlich, als Pfotengänger da hin zu kommen, bei der Überquerung der Bundesstraße hätte mich beinahe einer platt gefahren, aber ich schaffte es. Ich bin ja genial, jung, dynamisch, und keine Herausforderung ist mir zu groß. Nicht mal der Autoverkehr in den Osterferien am Bodensee.

Ich stand also vor dem Haus und verrenkte mir mein Genick beim Hochschauen. Aber das zwölfstöckige Hochhaus nahm überhaupt kein Ende, es wuchs in den Himmel, ich konnte kein Penthouse ganz oben entdecken. Da habt Ihr Menschen es halt auch leichter als wir – was sehr weit weg ist, sehen wir sowieso nur unscharf. Dafür sind wir topp darin, etwas wahrzunehmen, das sich bewegt. Sogar dann, wenn es ziemlich weit weg ist. Das Hochhaus bewegte sich aber nicht.

Zu allem Unglück war auch noch die Eingangstür geschlossen.

Aber: Coco – du bist eine Ermittlerin, du recherchierst in einem Mordfall! Naja, also genaugenommen: Eine Privatdetektivin. Ermittler sind ja eigentlich nur die Offiziellen. Ich bin inoffiziell. Wie Miss Marple, nur jünger und schöner. Aber genauso klug.

Da kann ich doch nicht bei der ersten kleinen Schwierigkeit aufgeben!

Ich streckte mich also, machte eine Yoga-Übung, die Katzenbuckel heißt, oder so ähnlich (wegen der Gelassenheit und der Erleuchtung) und wartete auf meine Chance.

Die kam auch bald, und zwar auf Stöckelschuhen. Zuerst hörte und sah ich ja nur die Schuhe. Sie waren knallgelb und sehr schön. Ich schaute an den Schuhen hoch. Die Frau hatte Beine, wow! Das musste ich auch als Katzen-Frau zugeben. Merlin, der ein Mann ist, wenn auch ein kastrierter, wäre an ihr hochgesprungen vor Begeisterung. Da bin ich ganz sicher. Ich strich ihr um diese tollen Beine herum und setzte mein harmlosestes Katzenkinder-Gesicht auf.

Die Frau bückte sich zu mir herunter. „Oh, du süßer kleiner Liebling“, schnurrte sie. „Wem gehörst du denn? Möchtest du zu deinem Frauchen?“

Ich folgte ihr ins Haus und in den Aufzug. Das wäre schon mal geschafft. Das Penthouse ist im obersten Stockwerk, ist klar. Die Dame mit den Wahnsinns-Beinen stieg aber schon im 7. Stock aus und ich mit ihr, weil ich doch die Aufzugtür selber nicht aufbekomme. Kein Problem für eine gut durchtrainierte Katze! Die restlichen Treppen sauste ich hoch. Im 11. Stock war Schluss mit Treppen, und ich musste mich erst mal orientieren. Das Glück unterstützt den Tüchtigen, sagen die Menschen. Das war vermutlich der Grund dafür, dass ich die Tür mit dem Frummelmann-Messingschild ziemlich schnell entdeckte. Einfach den Flur hinunter, und da war sie schon, die Eingangstür zur Frummelmannschen Wohnung.

Doch gleich wurde mein scharfer Verstand auf die nächste Probe gestellt: Wie sollte ich in die Wohnung kommen? Auch dafür fand sich eine Lösung, und zwar schneller als ich gedacht hatte. Eine ältere Frau schlurfte über den Flur und klingelte an der Tür der Nachbarwohnung. Eine andere ältere Frau öffnete.

„Die Kopperfelds haben schon wieder die Handwerker!“, schimpfte die erste sehr laut. Und die zweite sagte noch lauter: „Manchmal bin ich froh, dass ich nicht mehr so gut höre! Ich sag’s Ihnen – die Kinder von diesen Kopperfelds! So eine ungezogene Bande habe ich …“

In dem Moment schlüpfte ich sachte, ganz sachte, unbemerkt, zwischen den Beinen der Frau durch, lief geradeaus ins Wohnzimmer, glücklicherweise stand die Balkontür offen, ich rannte hinaus und hangelte mich von dort unter Lebensgefahr über ein Klettergerüst, an dem Efeu rankte, auf die Penthouse-Terrasse des Mordopfers. Ein Fenster war gekippt, ich landete auf einem Klodeckel.

Ich war drin.

Während polizeiliche Ermittler einfach nur zum Handy greifen und ganz cool „Ich brauch‘ dann mal die Spurensuche“ sagen, muss ich alles selber machen. Und zwar unter erschwerten Bedingungen. Denn die Spurensuche war ja schon da und hat wahrscheinlich die meisten Spuren eingetütet und mitgenommen.

Aber: Es geht um das Leben und das Glück meines Frauchens!

Und irgendetwas findet man immer, sagt die weise Purzel. Ich hoffe, sie hat Recht.

Also los!

Ich sprang vom Toilettendeckel, wobei das iPhone an meinem Halsband ein bisschen schlackerte, dann inspizierte ich das Bad. Es war absolut sauber. Kein Härchen irgendwo, kein Kalkfleck auf einer Fliese.

Bei meinem Frauchen stehen bunte Fläschchen mit schillernden Flüssigkeiten auf dem Badewannenrand. Hier: nichts. Bei meinem Frauchen hängt an einem Haken ein Geschenkband, an das sie Kämmchen zum Haare-Hochstecken geklemmt hat. Hier: nichts. Bei meinem Frauchen gibt’s bunte, ungebügelte Handtücher. Hier: je ein weißes Handtuch auf einem silbernen Halter rechts und links vom weißen Waschbecken. Auf einem silbernen Halter über der Badewanne nochmals zwei weiße Handtücher. Kein Fleckchen drauf, keine Lippenstift- oder Makeup-Spur. Nichts. Strahlend-weiß, wie aus der Waschmittelwerbung.

Nachdem ich im Bad nichts Verdächtiges bemerkt hatte, wollte ich dessen nähere Umgebung erkunden. Vom Bad aus kam ich direkt in ein großes Schlafzimmer mit einer riesigen Fensterfront.

Das Schlafzimmer war ebenfalls in Weiß gehalten. Weißer Schrank mit raumhohem Spiegel. Weißes Bett, weißer Bettbezug, weißer Kissenbezug, weiße Tagesdecke. Nur zwei kleine Kissen in Hellviolett boten einen zarten Farbkontrast. Auf dem weißen Teppichboden gab’s keinen einzigen Fleck, und er roch durchdringend nach Teppichbodenshampoo. Auf dem weißen Schreibtisch gegenüber dem Bett lag absolut gar nichts. Auf dem Schreibtisch meines Frauchens gibt es ein Sammelsurium von Stiften, Kerzen, Büchern und Arbeitsmaterialien, und natürlich stehen da auch Drucker, Telefon, Monitor, Tastatur und dieses Gerät, das die Menschen fälschlicherweise Maus nennen. Hier: Gar nichts.

Ich schlenderte hinaus in den Flur. Also, ich war schon ein bisschen frustriert. Wie soll man da Spurensuche betreiben, wenn absolut überhaupt gar nichts herumliegt?

Von dem kleinen Flur ging eine kurvige Treppe hinunter in einen anderen Raum, ein Stockwerk tiefer. Wie Sie wissen, sind kurvige Treppen meine Spezialität. Sie werden sich auch bestimmt nicht wundern, wenn ich Ihnen erzähle, dass der Boden in dem Raum, in den ich jetzt hinuntersauste, weiß gefliest war und dass der Tisch aus geraden weißen Beinen und einer durchsichtigen Glasplatte bestand. Um ihn herum standen drei Stühle. Ein vierter lag umgeworfen am Boden.

Ein breiter Durchgang verband das Esszimmer mit dem Wohnzimmer. Ich glaube, das liegt direkt neben dem Wohnzimmer der älteren Frau, von wo ich aufgebrochen bin, aber vielleicht täuscht mich auch mein Orientierungssinn.

Vor der weißen Couch war ein großer Kotzfleck, der schlecht roch. Weiße, blaue und schwarze Kissen lagen auf dem gefliesten Boden, ebenfalls mit Kotze befleckt. Der Couchtisch (ganz in Weiß) war umgeworfen, ebenso die weißbeschirmte Stehlampe. Die Schubladen der weißen Kommode waren aufgerissen und ganz offensichtlich durchwühlt worden. Stifte, Scheren und Kleber lagen kreuz und quer in einer Schublade, die Papiere in einer anderen waren durcheinander geschmissen. Auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer, der ebenfalls weiß war, lagen unordentlich Kabel. Vermutlich hatte die Spurensicherung den Laptop, zu dem sie wohl gehörten, mitgenommen. Auf den weißen Teppich und die Couch waren schwarze Striche aufgemalt.

Nur die abstrakten Gemälde an der Wand – geometrische Figuren in Schwarz und Blau auf weißem Hintergrund, das Ganze in schwarzen Rahmen – die hingen exakt und gerade, wie sie vermutlich hingen, als Franz F. noch lebte.

Ich inspizierte den Platz unter der Couch, die schief im Raum stand. Alles von der Spurensicherung abgeräumt. Wenn da überhaupt etwas gelegen hatte.

Ich löste mein iPhone vom Halsband und machte ein paar Aufnahmen vom Tatort.

Apropos iPhone: Wo war eigentlich das Handy des Ermordeten? Ein Festnetztelefon gab es in der ganzen Wohnung nicht, es musste also irgendwo ein Handy geben. Ich suchte es überall, konnte es aber nicht finden. Schließlich ging mir ein Licht auf: Natürlich, das hatte die Polizei ganz sicher auch mitgenommen. Im „Tatort“ tun sie das auch immer, sie müssen ja rekonstruieren, mit wem das Opfer als letztes telefoniert hat.

Ich stromerte durch den Raum, schnüffelte an Couch, Fliesen und Teppich, aber ich konnte nichts Interessantes mehr finden. So wanderte ich weiter in die Küche. Inzwischen hatte ich ordentlich Hunger bekommen. Vielleicht gab es da eine Kleinigkeit für mich – denn auch eine Miss Marple des 21. Jahrhunderts braucht ab und zu etwas zu essen.

Die Küche war natürlich weiß und aufgeräumt. Nur das Edelstahl-Becken hatte Wasserflecken. Nein, das stimmte so nicht. Ich schnupperte. Es war Wasser, und da war ein ganz leichter Geruch, ein bisschen süßlich, ein bisschen nasekitzelnd und ziemlich interessant.

Die Küchenschränke waren alle geschlossen. Nichts, aber auch gar nichts Essbares stand herum. Mein Magen knurrte.

Ich wollte hier raus. Da das Küchenfenster geschlossen war, musste ich also erst mal zurück an den Tatort. Es grauste mir wegen der Kotze, aber da war nichts zu machen.

Im Wohnzimmer waren die Fenster und die Balkontür ebenfalls zu. Auch das Fenster im Esszimmer war geschlossen, und das im Gäste-WC auch. Der Flur hatte überhaupt kein Fenster. Mist!

Ich hechtete die Treppe hoch ins Schlafzimmer und von dort aus ins Bad zurück. Das Badezimmerfenster war noch immer gekippt. Aber von innen schaffte ich es nicht durchzukommen.

Ich versuchte es, zunehmend verzweifelt, aber ich fand keinen Halt. Von außen war es gar nicht so schwierig gewesen: Aufs schräge Fenster springen, zielsicher so, dass ich mich mit den Vordertatzen am oberen Rahmen festhalten konnte, mich ganz lang und dünn machen und mich dann vorsichtig durch den Spalt auf die andere Seite hinunterlassen. Von innen gab es dagegen keine Möglichkeit hinauszukommen. Ich streckte mich und versuchte, mich durch den Spalt zu quetschen. Dabei wäre ich beinahe noch hängengeblieben. Glücklicherweise konnte ich mich befreien, indem ich mit den Hinterbeinen strampelte. Es war nichts zu machen.

Ich musste nachdenken.

Ich humpelte zurück ins Schlafzimmer, legte mich auf die hellvioletten Kissen, diese Insel in all dem Weiß – und schlief ein.

Wach wurde ich, weil ich Schritte auf der Treppe hörte. Ich dehnte mich ganz eilig und versuchte, vom Bett zu hüpfen und mich zu verstecken. Man sagt ja immer, dass es den Mörder an den Ort seiner Tat zurückzieht. Meine Hinterbeine machten nicht mit. Ich konnte nur humpeln – ja, und da war die Frau schon im Zimmer.


26. April, morgens

Gestern konnte ich nicht mehr zu Ende schreiben: Es war zu viel für mich gewesen, ich war einfach nur noch müde. Deshalb erzähle ich heute weiter.

Ich saß also auf dem weißen Bett, ich kniff die Augen fest zu, ich pullerte vor lauter Angst auf die weiße Tagesdecke und die hellvioletten Kissen, als die Frau hereinkam. Schließlich machte ich die Augen wieder auf – und sah in ein sehr sanftes Gesicht, das zu einer ein bisschen verwirrt wirkenden Dame gehörte. Sie war schlank und trug einen weiten Rock mit lauter rosa Rosen auf weißem Grund, dazu eine rosa Bluse. Um Augen und Mund hatte sie erste Falten. Ihre Haare waren mittellang und braun, das Gesicht sehr fein und hell, die Lippen waren nur ganz dezent mit Lipgloss geschminkt.

Sie schaute mich verwundert an und fragte dann, ganz leis und zart: „Ach, du kleines Kätzchen, wo kommst du denn her? Oh, so süß bist du? Ja wo kommst du denn her? Musst keine Angst haben, du! Ach, so ein zartes kleines Tierchen! Mein Moritz, der sah fast so aus wie du, aber jetzt ist er im Katzenhimmel, weißt du. Ich glaub, da hat er’s gut. Magst du was zu fressen, mein Kleiner?“

Es war also eine sehr nette Frau, ich konnte mich entspannen. Ein bisschen komisch fand ich, dass sie das iPhone an meinem Halsband nicht irritierte, aber Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen. Sie wollte eben nur ein kleines, süßes, harmloses und verirrtes Kätzchen sehen. Glaube ich.

Ich folgte ihr über den weißen Flur die weiße Treppe hinunter in das weiße Esszimmer, wo sie fast automatisch den Stuhl aufhob und ihn akkurat im gleichen Abstand zu den anderen hinstellte. Von dort kamen wir in einen weiteren weißen Flur – glücklicherweise vermieden wir das Wohnzimmer – und von dem aus in die Küche. Die Frau holte aus einem hohen Schrank eine Dose heraus. Sie machte sie auf und löffelte den Inhalt auf einen weißen Porzellanteller. Es war Fisch, da musste man mich nicht lange bitten. Oh, wie das duftete! Oh, wie gut es tat, wieder etwas Feines zwischen die Zähne zu bekommen! Es dauerte nur kurze Zeit, da sah der Teller wieder so reinlich aus als käme er frisch aus der Spülmaschine.

„So, mein Kleiner, jetzt kommst du mit zu mir“, lockte mich die nette Frau und streichelte mich. „Ich dürfte hier ja gar nicht rein, die Wohnung ist noch nicht freigegeben, weißt Du. Ich lebe jetzt vorübergehend im Hotel. Das ist nicht sehr angenehm. So unpersönlich ist das, weißt du, mein Kleiner. Aber zusammen machen wir’s uns da ganz fein gemütlich, ich bin ja so froh, dass ich dich gefunden habe! Ich bin ja so allein, jetzt wo der Franzi von mir gegangen ist – wahrscheinlich hat der Franzi dich geschickt, der Franzi kriegt nämlich alles geregelt.“

Ich war auch froh, dass sie mich gefunden hatte. Ich fand sie sehr, sehr nett. Sie war auch fast so hübsch wie mein Frauchen. Aber ich konnte nicht mit zu ihr, selbst dann nicht, wenn sie mir täglich Fisch servierte.

Ich habe einen Job.

Ich bin Teil eines Teams.

Mein Frauchen sitzt im Gefängnis, und wir haben eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt.

Da muss man auch mal verzichten können, selbst dann, wenn einem Fisch und Gemütlichkeit in Aussicht gestellt werden.

Ich humpelte an ihr vorbei aus der Wohnung. Sie lief noch schnell ins Wohnzimmer und kam kurz darauf mit einer blauen Mappe zurück. Zusammen warteten wir am Aufzug. Ich strich ihr dankbar um die Beine, das gefiel ihr offenbar. Ich folgte ihr hinaus ins Freie.

„Man muss auch mal verzichten können, selbst dann, wenn Fisch und Gemütlichkeit locken“, dachte ich seufzend. Ich entschied mich nicht für das weiche Kissen, ich entschied mich für die harte Herausforderung. Eine harte Herausforderung – das ist mein Leben zurzeit wirklich. Denn wenn das Frauchen im Gefängnis sitzt, dann bleibt der Teller leer. Man muss selber auf die Suche nach etwas Gutem gehen. Auch ist das Leben mit Goldie nicht immer die reine Wonne.

Ich gab der netten Frau, als sie mich hochhob, mit leisem Bedauern noch einmal Köpfchen, leckte ihr zärtlich über die Wange, dann sprang ich auf den Boden, schlüpfte durch die Hecke und war weg. Sie rief noch eine Weile nach mir. Es tat mir sehr leid, dass sie jetzt allein in ihr Hotelzimmer zurückkehren musste. Aber ich habe ein Frauchen, das mich liebt und das mich jetzt ganz besonders braucht. Ich habe keinen gefüllten Napf, nein, weil mein Frauchen im Gefängnis schmachtet. Aber ich habe ein Ziel.

Ich nahm das iPhone vom Halsband, rief den Routenplaner auf und gab „Heimatort“ ein. Es waren mehr als zwei Kilometer bis dorthin, aber wie gut klang das: Heimatort!


26. April, 4 Uhr nachmittags

Sie haben mich alle fünf ordentlich ausgeschimpft. Dabei waren sie alle nur besorgt um mich, sogar Goldie.

„Wie kannst du dich nur am Tatort von einer Frau, die du nicht kennst, füttern lassen!“, sagte sie. „Es war ganz sicher die neue Frau vom Ex. Was ist denn, wenn sie die Mörderin ist? Was ist denn, wenn in dem Fisch, den du gegessen hast, ein Giftcocktail war?“

Nachdem sie das das dritte Mal gesagt hatte, überlegte ich selber, ob ich nicht Vergiftungs-Symptome spürte. Aber ich spürte nur meine verspannte Hüfte, und die Hinterpfoten taten immer noch fürchterlich weh.

Bis zum Mittag kam ständig eine von den Katzen ins Schlafzimmer, wo ich mich in den Kleiderhaufen eingekringelt hatte und fragte, ob ich noch am Leben sei. Jedes Mal schreckte ich hoch, weil ich gerade eingenickt war. Irgendwann fauchte ich sie alle ordentlich an, da merkten sie, dass ich mich schon wieder auf dem Weg der Besserung befand.

Das Ermittler-Meeting am frühen Nachmittag dauerte überhaupt nicht lange. Wir waren uns nämlich sofort einig: So klappt das nicht. Als Katze kann man mit den meisten Menschen nicht kommunizieren. Man bekommt nicht mal eine Tür selber auf, wenn man nicht grade Percy ist. Der ist der einzige von uns, der Türen öffnen kann.

Wir benötigen Unterstützung.

Ich suchte die E-Mail-Adresse heraus, und Goldie mailte an Fritz-Kasper Schulze, um nachzufragen, ob er auch eine App programmiert hat, die NUR Kätzisch in Menschisch übersetzen kann, ohne Weiterverarbeitung in Computersteuerung oder Texteingabe. Ganz einfach eigentlich: Katze miaut ins Mikro, iPhone übersetzt es in Menschisch und gibt das über den eingebauten Lautsprecher aus. Eine Übersetzung Menschisch-Kätzisch ist nicht nötig, schrieb sie, denn Katzen verstehen die Menschen sowieso.

Es dauerte nicht lange, da hatten wir seine Antwortmail. „Ich kann Katzen nicht ab, und was sie sagen, interessiert mich nicht“, schrieb Fritz-Kasper Schulze. „Deshalb gibt es auch keine Übersetzungs-App. Es wird auch keine geben, da könnt ihr warten, bis ihr schwarz werdet. Oder rot-gescheckt. Ihr könnt mich mal, Euer FreeKAY Schulze.“

Naja.

Es gibt Menschen, bei denen wäre es von Vorteil, wenn Katzen ihre Sprache NICHT verstehen könnten.


26. April, 18:30 Uhr

„Wenn Du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, sagte meine Mama, als ich ganz klein war. „Merk dir das, mein Schätzchen, das gebe ich dir mit auf den Weg ins Leben, wenn ich schon nicht verhindern kann, dass sie dich mir wegnehmen.“

Das Lichtlein, das da daherkam, war groß, schlank, trug rostbraune Jeans und einen schwarzen Pullover. Ich schloss ihn ab dem ersten Augenblick ins Herz.

Er klingelte kurz nach der vernichtenden Mail des katzenhassenden Programmierers an unserer Tür. Percy hüpfte auf die Türklinke, die Tür sprang auf. Da stand der Mann und lächelte uns an. Seine Haare waren dunkel und lockig, die Stirn hoch, die Hände waren feingliedrig. Am besten gefielen mir seine Augen. Denn die waren grün. Grün wie die Augen von Kater Felix.

„Wer seid ihr denn?“, fragte er. Und zwar auf Kätzisch!

Also es gibt ganz, ganz wenige Menschen, die Kätzisch verstehen und es gibt noch viel weniger, die es auch sprechen können. Das ist sozusagen ein Qualitätssiegel. Menschen mit bösen Gedanken können unsere Sprache einfach nicht lernen, selbst dann nicht, wenn sie sich sehr anstrengen.

Dieser Mensch konnte Kätzisch!

Er war gekommen, weil er eine Galerie besitzt und eine Ausstellung mit Fotos von Frauchen machen möchte. Er sagte, er würde gerne auf sie warten, auch wenn es später würde. Denn ihre Foto-Composings hätten ihn sehr beeindruckt.

„Vielleicht musst du da Wochen warten, oder Monate“, sagte ich traurig. Goldie, die immer das letzte Wort haben muss, ergänzte: „Oder ein ganzes Leben lang…“.

Wir erzählten dem Mann, was passiert war. Wir erzählten ihm auch, dass wir als Team von Privatdetektiven den Fall aufklären wollen, aber dass wir es ohne Hilfe nicht schaffen.

Da sagte er sofort: „Ich helfe Euch. Wir werden den Mörder finden. Oder die Mörderin.“

Wir waren nicht auf die Übersetzungs-App von Fritz-Kasper FreeKAY Schulze angewiesen. Hier stand ein Mensch vor uns, der Kätzisch konnte und uns helfen wollte!

Dann hockte er sich zu uns auf den Boden, griff in seine Tasche, und da waren Katzenkekse drin!

Jetzt sind wir ein Team aus sieben Detektiven: Sechs Katzen und ein Mensch, der Kätzisch kann und Leckerlis in der Hosentasche hat. Punkt 1 in meiner Traummann-Liste kann ich als erledigt abhaken.

Sechs Katzen und ein Todesfall

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