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Die Fotografin

von Marianne Sophia Wise

Eines späten Märzabends. Es hatte den ganzen Tag über geregnet und graue, matschige Schneereste trieben über den Gehsteig. Sie wohnte in einer Eigentumswohnung einer Wohnanlage in Vesterbro, einem Stadtteil Kopenhagens. Gerade war sie dabei, den Schlüssel ins Schloss der Haustür zu stecken, als sie eine Gestalt bemerkte, die auf der Stufe direkt vor ihr saß. Es war ein Mann, beinahe unsichtbar in seinem schwarzen Mantel und einem Schal, der sein Gesicht verdeckte. Er sah zu ihr auf, der Schal rutschte nach unten und ein bleiches Gesicht mit einer kleinen, blutenden Wunde auf der Stirn kam zum Vorschein.

„Darf ich kurz vorbei?“, fragte sie. Ihre Blicke trafen sich, aggressionslos, er saß einfach nur da, bleich und blutig. Sie musste wohl gestarrt haben, denn er murmelte etwas von ein paar besoffenen Typen, die ihn ins Gebüsch gestoßen hatten. Er senkte seinen Blick, rückte an den äußersten Rand der Treppe und schlang die Arme um seinen Körper.

Sie schloss auf und trat ein. Das Geräusch der zufallenden Tür ließ sie innehalten. Es war ein langer und anstrengender Tag im Büro gewesen und eigentlich hätte sie erschöpft sein sollen, doch der Anblick des Mannes auf der Treppe draußen füllte sie mit Energie. Dieses Gesicht. Sie musste es haben. Es könnte die Perle der Ausstellung werden, die Hauptattraktion. Sie drehte sich um und linste durch die Fensterscheibe der Eingangstür. Er saß noch immer da. Ein Gefühl der Anspannung überkam sie. Sie machte auf. „Möchtest du etwas zu essen und eine Tasse Kaffee?“

Ein Ausdruck der Verwunderung lief über sein Gesicht, dann nickte er, kam auf die Beine und folgte ihr mit steifen Gliedern die Treppen hinauf.

Als er über die Schwelle der großen Dachgeschoßwohnung trat, gab er ein kurzes Pfeifen von sich. Sie lächelte ein wenig – diese Reaktion war sie gewohnt, wenn Gäste ihre Wohnung zum ersten Mal sahen.

Der Mann blieb bei der Wohnungstür stehen, sah sich um. Sie schaltete eine Wandlampe ein, weißes Licht fiel auf ihn nieder und machte seine dick eingehüllten Umrisse deutlicher und voluminöser. Seine Hände lugten aus den Mantelärmeln. Groß und fremd. Seine Kleidung war schäbig. Und stand er nicht sogar etwas unsicher auf den Beinen? War er krank? Oder drogenabhängig?! Erst jetzt überkam sie ein Gefühl der Angst. Sie war nahe daran zu bereuen, dass sie ihn nach oben gebeten hatte.

„Ich bin clean“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er kämpfte mit seinen Ärmeln, schob sie nach oben und streckte ihr seine Arme entgegen. Sie waren weiß und mager und ohne jegliche Spur von Einstichstellen. „Ich bin einfach nur obdachlos.“ Seine Stimme war schrill und doch zugleich sanftmütig.

„Clean“, wiederholte sie für sich selbst und bat ihn mit geöffneter Hand, beim Tisch im Küchenbereich Platz zu nehmen. Als er sich setzte, bemerkte sie seinen Geruch, den süßsauren Gestank von anhaftendem Dreck. Unbehagen stieg in ihr hoch. Sie konzentrierte sich darauf, eine Tasse zu finden und die Espressomaschine anzuwerfen, belegte schnell einige Brote mit Schinken, Käse und Tomaten und schob sie in den Ofen. Sie warf einen Blick auf den Mann. Er hing förmlich über dem Küchensessel. Unter seiner Nase glänzte etwas Feuchtes. Mit Bewegungen, die aussahen, als würde sie sich selbst beruhigen wollen, holte sie die Kamera aus ihrer Tasche und ging ans andere Ende ihrer Wohnung, wo sie ein Atelier eingerichtet hatte. Sie holte einen Sessel, kramte einige Lampenstative hervor, befestigte einen Schirm an einem dieser Stative, schaltete die Glühbirne an und richtete sie aus, sodass die richtige Schattenwirkung im Spiel mit der weißen Wand entstand. Es sollte ein markantes Bild werden. Das bleiche Gesicht mit seiner Wunde, das an der Stirn klebende Haar, der magere Hals. Die Backenknochen würden Schatten werfen und die eingefallenen Wangen hervorheben. Die Augen würden grau und fern und doch so deutlich sein, im Ausdruck ihres ausgebrannten Leidens.

Gerade war sie dabei die Kamera ins Stativ zu schieben, als sie eine merkwürdige Stille durch den Raum surren spürte und irgendetwas ihre Aufmerksamkeit auf den Küchentisch richtete. Der Obdachlose hatte sich ihr zugewandt und folgte ihr nun mit den Augen. Das Licht aus dem Atelier warf seinen Schatten hoch an die Wand hinter ihm.

„Bist du Fotografin?“, fragte er?

„Ja.“

„Und du willst jetzt fotografieren?“ Nun war seine Stimme kräftiger und hatte etwas von ihrer Sanftmütigkeit verloren.

„Ja.“

„Und was?“

Sie bemerkte die Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen und konnte plötzlich die Worte nicht mehr finden. Das war sie nicht gewohnt. Sie hatte nie Probleme damit gehabt Leute zu fotografieren und sie zu fragen, ob sie das dürfe; hatte es immer als ihr gutes Recht empfunden. War es nicht der Wunsch aller Menschen, gesehen zu werden – sich selbst zu sehen?

„Hast du mich deshalb zu dir hinauf gebeten?“

Sie bohrte die Nägel in ihre Kamera. Der Mann war ihr zuvorgekommen. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, hatte geglaubt, er sei zu hungrig und verfallen, um etwas anderes als Essen und Trinken wahrzunehmen. Sie hatte sich vorgestellt, er würde nur dasitzen und dösen, während sie das Atelier vorbereitete und dann hätte sie ihn gefragt und er hätte ja gesagt.

„Ich will nicht fotografiert werden“, sagte der Mann.

Sie steckte die Kamera doch nicht ins Stativ. Vorübergehend. Sie würde ihr Bild schon noch bekommen. Langsamen Schrittes ging sie zurück, legte die Kamera auf den Tisch, setzte sich und traf den grauen Blick des Obdachlosen.

„Denk doch mal darüber nach!“, sagte sie. „Ich bezahle dich. Das ist eine Arbeit. Models bekommen ja auch Geld. Es soll ein Bild werden, das ich ausstellen möchte … wenn das in Ordnung für dich ist“, fügte sie hinzu, ohne zu wissen, was sie tun würde, wenn er nein sagen würde.

„Wie viel?“

„Wie wäre es mit 500 Kronen für eine Viertelstunde? Ich habe zwar gerade kein Bargeld da, aber wir können gemeinsam zu einem Bankautomaten gehen und etwas abheben. Danach.“

Die Espressomaschine verstummte. Sie stand auf, nahm die volle Tasse und stellte sie vor den Mann, der seinen Blick nun starr auf den Ofen gerichtet hielt, wo die Brote dicht aneinandergereiht unter dem roten Licht des Grills brutzelten. Sie holte eine Tafel dunkle Schokolade, legte einige Stücke in eine Schale neben dem Becher und schielte zu ihm hinüber, während er den warmen Kaffee schlürfte, offenbar um sich nicht zu verbrennen. Gebückt saß er in seinem Mantel auf dem Stuhl. Seinen Schal hatte er abgenommen und auf den Tisch gelegt. Sein Haar war braun und strähnig, die Augenbrauen hell und leicht gebogen. Wie alt er wohl war? Um die 40? Er war wohl einmal ein junger Mann gewesen, der davon geträumt hatte die Welt und deren Frauen zu erobern. Sie stellte sich seinen Körper unter all dem Gewand vor.

Als sie den Teller mit den warmen Sandwichs vor ihn stellte, war die Schokolade weg. Sie legte den Rest der Tafel in die Schale und schob unauffällig den Serviettenhalter vom Tisch – sie wollte nicht riskieren, dass er sich das Gesicht damit säuberte. Das Blut der kleinen Wunde auf der Stirn saß perfekt.

Mit einem Glas Wasser setzte sie sich an den Tisch. Kaffee trank sie so spät abends nie und sie hatte auch keine Lust, mit ihm zu essen. Außerdem hatte sie keinen Hunger. Viel zu nervös war sie. Der Obdachlose schnappte sich ein Sandwich und pustete. Seine Nägel waren lang und bohrten sich in das Brötchen.

Schweigen. Er aß, sie nippte am Wasserglas und konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht wenden. Sie musste es einfach haben. Das hatte sie sich nun in den Kopf gesetzt. Sie war diejenige, die nicht clean war. Niemals würde sie ihr Narkotikum absetzen: Die Jagd nach dem perfekten Bild. Hatte sie einst die Spur aufgenommen, überfiel sie der Begierde, und suchte sie mit ihrem lechzenden, brodelnden Flüstern heim, das sich Tag und Nacht wie tausend mikroskopisch kleine Glasscherben in ihre Brust bohrten und kratzten. Dieser fast unmerkliche, aber konstante Schmerz verdrängte alles, das ihr etwas bedeutete. Freunde, Familie, die tägliche Arbeit im Büro. Es gab dann nur noch das Bild in ihr. Das Flüstern der Begierde hörte nicht auf, bevor sie den Rausch überstanden hatte und war erst der Fall, wenn sie das Bild in der Kiste hatte.

„Was sagst du zu 500 Kronen?“ Sie legte die Hände auf den Tisch – bereit, sich die Kamera zu schnappen. Ihre Finger zitterten. Es schauderte sie. Nur ein paar Bilder. Nur ein paar Bilder. Sie starrte auf seinen Mund, der kaute und kaute. Traf seinen Blick. Abwesender Ausdruck – vertieft in die Nahrungsaufnahme. Als er sich durch die Sandwichs genagt und sie mit Kaffee hinuntergespült hatte, sah er sie erneut an, diesmal war der Blick ein anderer. Urteilend und selbstsicher sah er in sie hinein.

„Für Geld lasse ich mich nicht fotografieren“, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Ich halte nichts von Fotomodels. Models sehen merkwürdig aus. Künstlich.“

Wie krieg’ ich ihn nur dazu ja zu sagen?! Sein Blick fiel auf die neue Ausgabe des KunstmagaZins, das auf dem Tisch lag.

„Sieh mal“, sagte sie und nahm es auf. Das Cover zeigte ein junges Mädchen mit einem blauen Kopftuch, das den Rücken entlang an ihr herabhing, und einer gelblich braunen Jacke mit weißem Kragen. Mit gedrehtem Kopf blickte sie über ihre Schulter, dem Betrachter mit sanftem Gesichtsausdruck entgegen. Von ihrem linken Ohr hing ein Perlenohrring.

„Dieses Mädchen war ein Model.“

„Für wen?“

„Für einen holländischen Maler, der Vermeer hieß. Findest du, dass sie künstlich oder merkwürdig aussieht?“

„Nee.“ Langsam legte der Obdachlose den Kopf von einer Seite zur anderen. „Sie ähnelt meiner Schwester. Ein hübsches Mädchen“, sagte er. „Ich bin das nicht. Also hübsch. Aber schau mal was ich da habe.“ Er drehte seinen Kopf zur Seite und brachte unter dem verfilzten Haar sein rechtes Ohrläppchen zum Vorschein. Ein Ohrring mit einer weißen Perle, genau so weiß und zart, wie die des Perlenmädchens, baumelte von seinem Ohr.

„Das ist der Ohrring ihres rechten Ohres“, sagte er unter einem verlegenen Lächeln. „Ich habe ihn mir geborgt.“

Sie nickte und lächelte, ohne ihm zuzuhören.

„So ein Bild möchte ich gerne von dir schießen“, sagte sie. „Dein Gesicht und den oberen Teil des Oberkörpers.“

Das Gesicht des Mannes verschloss sich. „Ich will nicht fotografiert werden“, sagte er und hüllte den Mantelkragen um seinen Hals. „Ich werde dann mal wieder aufbrechen.“

Er will gehen?!

„Zigarette?“, rief sie beinahe schon ohne zu wissen, ob sie eine im Haus hatte. Notfalls könnte sie zum Automaten runter laufen.

„Ich rauche nicht.“ Er stand auf.

„Mehr Essen? Mehr Schokolade?“

„Ich bin satt.“ Sein Blick fiel auf die Tür.

„Aber … Du zitterst ja. Frierst du?“

„… Ja.“

„Ein Glas Cognac vielleicht – um dich aufzuwärmen?“, hauchte sie aus ihrem Mund, was sie jedoch sofort bereute. Er war bestimmt Alkoholiker.

Seine Augen begannen zu leuchten. „Gerne“, sagte er und folgte ihr zu einem Barschrank. Sie nahm zwei Gläser und eine Flasche Cognac heraus, befüllte eines der beiden Gläser und reichte es ihm. Dann schenkte sie sich selbst ein und trank. Ein Gläschen würde die Konzentration schon nicht beeinträchtigen. Der Obdachlose trank das Glas in einem Zug aus und stellte es bestimmt auf den Schrank. Sie wollte die Flasche gerade wieder abstellen, als er sie ihr aus der Hand riss und die beiden Gläser erneut befüllte. Nervös folgte sie seinen Bewegungen. Jetzt ist es soweit. Jetzt habe ich ihn in meiner Hand! Er reichte ihr ihr Glas.

„Nein, danke!“

„Doch, trink.“

Sie warf einen misstrauischen Blick auf das Glas. Die Hand, die es hielt, war ruhig. Zögernd nahm sie es, setzte es an ihre Lippen und trank es aus. Mit dem Alkohol zog sich ein leichtes Schwindelgefühl durch ihren Körper. Auch der Mann leerte sein Glas, steckte den Stöpsel auf die Flasche, wandte sich ihr zu und sah ihr direkt in die Augen. Es war ihr, als würde er wachsen und er schien auf eine Art und Weise deutlicher zu werden. Zu deutlich.

„Ich möchte fotografiert werden“, sagte er, „aber nicht für 500 Kronen. Ich möchte stattdessen ein warmes Bad nehmen.“ Sein Blick schweifte über die hell erleuchteten Lampen im Atelier, ließ ihn dort einige Zeit verweilen und schwenkte ihn schließlich wieder zurück auf sie.

„Aber zuerst …“ Seine Augen verdunkelten sich und nahmen einen rötlichen Schimmer an.

„Ja? Was denn? Was willst du?“

„Dich. Jetzt.“

Ein Stechen zuckte durch ihren Körper. Sie schluckte ein paarmal, trippelte von Bein zu Bein, schluckte noch einmal und sagte schließlich: „Das Bad nimmst du nach dem Foto, sind wir uns einig?“

Verwundern machte sich in seinem Gesicht breit, verblasste dann jedoch wieder. Er nickte.

„Dann haben wir einen Deal“, sagte sie und presste ihre Lippen zusammen, sodass ihre Stimme nicht nachbebte.

Plötzlich sah der Mann verlegen, ja, gar unsicher aus, als wisse er nicht genau, was er nun mit ihr anstellen sollte. Sie standen sich genau gegenüber, wie zwei Holzfiguren, bis sie auf ihn zuging. Punkt eins des Deals. Nun konnte er sie nehmen, wenn er mochte.

Er zog seinen Mantel aus, ließ ihn fallen und ging auf sie zu. Ein Fluchtreflex ließ ihre Beine erbeben, den sie zu vertreiben versuchte, indem sie sein Gesicht betrachtete und sich vorstellte, wie außergewöhnlich schön das Bild werden würde. Das perfekte Bild. Ohne jeden Zweifel.

Er umfasste ihren Arm und zog sie an sich.

„Du bist schön“, sagte er und hob sie hoch. Sie blickte ihm direkt in die Augen, die ihr rötlich entgegen leuchteten und mitten in dem Rot saßen die Pupillen wie zwei klitzekleine Sterne.

Er umarmte sie. So fest, dass sie kaum atmen konnte. Er berührte sie wie ein Mensch, der nie zuvor einen anderen Menschen berührt hatte, oder wie einer, der vergessen hat, wie man so etwas macht. Seine Bewegungen waren unkoordiniert, grob und zögerlich. Anstatt sie zu berühren, betatschte er sie, anstatt sie zu liebkosen, drückte er, grapschte. Lass ihn machen, wiederholte sie immer wieder für sich selbst. Wie haben einen Deal.

Ab und zu hielt er inne und sah sie prüfend an, öffnete den Mund, als würde er etwas sagen wollen, sagte dann aber nichts. So ging das noch eine ganze Weile, mit seinem Suchen und Fühlen aber langsam veränderten sich seine Berührungen, wurden ruhiger und sanfter. Er legte seine Hände um ihren Kopf und sie sah ihm in die Augen, dorthin, wo die beiden Sterne saßen. Er befühlte ihr Gesicht, erst mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand, die über ihre Stirn, über ihre Wangenknochen, ihren Mund, weiter über ihren Hals, um ihren Nacken glitten und schleichend überfiel sie ein Gefühl der Erregung. Seine Hände und Finger waren lang, groß und besonders weich hinter ihrer rauen Oberfläche. Nun bewegten sie sich nach oben, fuhren durch ihr Haar, zogen leicht und befühlten es.

Er senkte den Kopf, legte sein Ohr an ihre Brust und lauschte ihrem Herzen. Eine Mischung aus belegten Broten, Kaffee, Cognac und Dreck stieg ihr ins Nasenloch.

Er fiel auf seine Knie, griff um ihren Unterleib, legte sein Ohr an ihren Bauch und lächelte. Mein Herz schlägt auch dort unten, dachte sie und wünschte sich nichts anderes, als genauso hier stehen zu bleiben. Er langte nicht nach den üblichen erogenen Zonen, er bahnte seine eigenen Wege, berührte sie mit seinen großen Händen am ganzen Körper. Die Bewegungen waren stockend, nicht fließend und doch vorsichtig auf ihre eigene Art. Nachdenkliche Liebkosungen. Er ging auf Entdeckungsreise entlang ihrem menschlichen Aussehen, lernte sie kennen, mit Haut und Haar und Gewand.

Er nahm sie in seine Arme, hob sie auf und trug sie in den Landschaften ihrer Wohnung umher, aufrecht, mit zähen, langen, stolzen Schritten.

Nun stellte er sie wieder auf den Boden und zog seine Kleider aus – all seine obdachlosen Schichten – bis er im zerlumpten Hemd und lose hängenden Hosen dastand. Dann schob er ihren Rock hoch und zog ihr den Schlüpfer aus. Jetzt war ihr Unterleib nackt.

„Bleib stehen“, sagte er mit heiserer Stimme, während er an seinem Hosenschlitz fummelte. Die Spitze seines Schwanzes tauchte auf und zeigte geradlinig in ihre Richtung. Und schon war er ganz zu sehen, steif und geschwollen. Einen Augenblick lang blickte er nach unten und sah ihn mit dankbarem Blick an, dann umfasste er ihr Gesäß mit festem Griff und zog sie an sich. Umschlossen von seiner muffigen Umarmung, die Nase gepresst an sein Hemd, sein stehender Penis an ihrem nackten Unterbauch, lauschte sie nun seinem pulsierenden Atem. Er stöhnte, gab einige schnappende Seufzer von sich, drückte sie an sich, wiegte sie und glättete ihr Haar.

Er nahm einen Stuhl, griff nach ihren Händen und platzierte sie auf der Lehne.

„Beug’ dich nach vorn“, sagte er und drückte ihren Kopf leicht nach unten. Sie beugte sich vor, legte ihre Stirn auf die Hände und betrachtete den dicht gewebten, persischen Teppich, der ihr dunkel, tief und rot wie das Begehren in seinen Augen entgegen leuchtete.

Er legte seine Hände an ihre Hüften und presste sich an sie. Wärme drang von seinem Körper an den ihren. Seine Nägel bohrten sich in ihre Haut. Er glitt in sie hinein, widerstandslos, wie sie bemerkte. Ein Stöhnen entfleuchte ihren Lippen. Sie wollte heulen.

Die Hosen des Mannes bahnten sich an seinen Beinen entlang nach unten und legten sich, am Boden angekommen, um seine Füße, sein Hemd scheuerte im Takt mit seinen Stößen an ihren Arschbacken – harte und sanfte, lange und kurze Stöße – ein unvorhersehbares Crescendo eines wahnwitzigen Trommelwirbels. Ihr Wille war außer Gefecht gesetzt, das hier war Neuland. Ein Schaudern, ein brodelndes Beben überkam sie – das hier war ein außergewöhnliches Land, ihr Körper ließ sich hypnotisieren, öffnete sich und in einem langen, genüsslichen Augenblick gab sie nach.

Der Mann gab ein genüssliches Brummen von sich und tauchte ein letztes Mal in sie ein, zog sich dann heraus und verstummte.

Ein dumpfer Aufprall war plötzlich zu hören.

Sie drehte sich um und fand ihn zusammengesunken hinter sich liegen. Sie fiel auf ihre Knie. Er lag da wie tot, bis ein leichter Seufzer zu hören war, sich seine Augen einen Spaltbreit öffneten und sich ein Grinsen in seinem Gesicht breitmachte. Sie lachte. Ihre Augen verschmolzen mit den seinen. Zwischen ihren Beinen flammte ein Feuer, das in ihren ganzen Körper ausstrahlte.

Doch nun meldete sich die Begierde zurück und holte sie wieder ins Jetzt.

„Vergiss nicht das Bild!“, lechzte die Begierde. Augenblicklich stellten ihre Augen auf die kleine Wunde auf der Stirn des Mannes scharf, die nun verschmiert war. Das Bild war zerstört! Sie ballte ihre Fäuste, doch im selben Augenblick passierte etwas Unerklärliches: Erleichterung machte sich in ihr breit. Die Hände öffneten sich wieder. Ich bin frei. Ich kann dieses Bild nicht mehr schießen. Dieser Zustand hielt jedoch nur ein paar Sekunden an und da war die Begierde auch schon wieder da und bohrte sich in die Leere. „Das Blut ist immer noch da“, flüsterte sie. „Lass ihn sich noch ein wenig ausruhen aber gib nicht auf!“

Was dann geschah, perlte ab wie Tautropfen auf Glas. Sie kam auf die Beine und legte mit mechanischen, effizienten Bewegungen eine Decke über den Obdachlosen und schob ein Kissen unter seinen Kopf. Sie nahm seinen feuchten Mantel und warf ihn in den Trockner.

Sie ging ins Badezimmer, wusch sich und streifte sich eine gemütliche Hose und ein T-shirt über. Eine Weile lang stand sie so da und schaute hinaus in den sternlosen Himmel durch das weite Loftfenster. Dann blickte sie zur Badewanne. Der Mann wollte ein Bad nehmen und das sollte er auch bekommen. Aber zuerst wollte sie ihr Bild haben. Sie stöpselte den Abfluss zu, drehte den Hahn auf und goss einen Schuss zart nach Zitrusfrucht duftendes Öl über das Wasser. Sie kramte aus dem Stapel Handtücher ein großes, weißes hervor und legte es über die Kante der Wanne, drehte das Wasser runter, sodass nur noch ein dünner, warmer Strahl aus der Leitung lief, und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie hatte vor, die Bilder zu schießen, während sich die Badewanne füllte.

Was sagte die Uhr? Fast zwei. Mit ihrer Kamera ging sie nun ins Atelier, befestigte diese im Stativ und begutachtete das Set. Sie ging zu dem Mann, berührte ihn an der Schulter und rüttelte ihn sanft. Keine Reaktion. Sie rüttelte ihn einige Male, jedes Mal ein wenig fester.

„Wach auf!“, sagte sie nun forsch in sein Ohr und stellte fest, dass sie seinen Namen nicht kannte. „Jetzt ist mein Foto dran!“

Unbeweglich lag er da. Nur seine Brust hob und senkte sich langsam. Sie rief erneut. Keine Reaktion. Nun schüttelte sie ihn, schob ihre Arme unter seine Schultern, um ihn aufzusetzen, hievte ihn an den Armen hoch, wollte ihm kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, änderte jedoch ihre Meinung – das würde ja das Blut abwaschen.

„Wach auf!“, rief sie von Neuem. „Es wird Zeit für das Foto!“

Schweigen.

Sie starrte auf seine geschlossenen Augen und es überkam sie eine Lust ihn zu treten. Dann bemerkte sie, dass er zitterte, breitete noch eine Decke über ihn und löschte das Licht im Atelier. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wo sie sich mitsamt Gewand ins Bett legte. Die Begierde jedoch protestierte und zog und zerrte an ihren Organen.

„Warte ein wenig!“, murmelte sie und zog sich die Decke über. Nur eine kleine Pause. Nicht schlafen. Nur ausruhen. Die Müdigkeit übermannte die Begierde und ließ ihre Augen zufallen.

Irgendetwas weckte sie.

Mitten im Raum stand eine hohe, elfenbeinfarbene Gestalt. Es war der Obdachlose, nackt, mit einem Steifen. Neongetränktes Licht schien durch das Fenster und verlieh seinem Körper einen selbstleuchtenden Schimmer. Noch schlaftrunken sah sie ihn auf das Bett zukommen und an die Bettkante stellen. Er duftete nach Zitrone. Aber was war das? Auf seinem Bauch und seinem Schoß glitzerten Wassertropfen. Der Anblick machte sie hellwach.

Er hat verdammt nochmal ein Bad genommen! Vor dem Foto!

Sie ignorierte seine Erektion und setzte sich auf.

„Was willst du?!“

„Dich“, sagte der Mann mit leuchtenden Augen.

Sie öffnete den Mund, um den Mann fertigzumachen, doch dann hörte sie wieder die Stimme der Gier.

„Nur mit der Ruhe“, flüsterte sie ihr ins Ohr. „Vergiss nicht das Bild!“

Sie blickte ins Gesicht des Mannes und stellte sich vor, wie schön das Bild werde, spürte jedoch im selben Augenblick seine festen, warmen Hände an ihrer Schulter und sank ins Bett zurück.

Er stellte ein Knie aufs Bett, beugte sich nach vorn und ließ seinen Schwanz über ihr Gesicht gleiten. Er fühlte sich an, wie ein mächtiges, zahmes Tier, liebkoste ihre Wangen, streichelte ihre Ohrläppchen und klopfte nun an ihre Lippen, die sich öffneten. Ein elektrischer Stoß raste von ihrem Unterleib hinauf in die Zungenspitze, die das Zusammentreffen mit dem herzförmigen Kopf des Schwanzes besiegelte. Ihr Mund füllte sich mit samtweichem Pochen.

Plötzlich zog sich der Mann aus ihr, stellte sich neben das Bett, griff nach der Bettdecke und entriss sie ihr mit seinen großen Händen, vorsichtig jedoch, als handle es ich dabei um ein Lebewesen.

„Zieh dich aus“, flüsterte er.

Ohne weiter darüber nachzudenken gehorchte sie. Jedes Teil, das sie auszog, nahm der Mann in seinen Hände, drehte und wendete es, befühlte es und inhalierte den Geruch: Die Bluse, die feuchte Hose, den BH und schlussendlich den Slip und legte alles sorgfältig aufs Bett woraufhin er sich mit seinem Ständer, der den gesamten Raum füllte, ins Bett stieg und sich zwischen ihre nackten Schenkel setzte. Irgendetwas, tief in ihrem Wesen, stürzte zusammen. Ein Funke Wahnwitz, in dem sich ihr Körper beschwerte und sie sich vollkommen seinen Händen hingab, deren behutsamen Wanderung hin zu ihrer Muschi folgte, wo sie mit Behutsamkeit ihre Schamlippen teilten, tasteten und auf wohltuende Art und Weise an ihnen zogen um sie auf seinen Mund vorzubereiteten. Er beugte sich und leckte sie langsam. Wieder und wieder glitten Lippe und Zunge über das weiche Fleisch, als würde ein Boot über Wasser gleiten.

„Ein Schmuckstück“, wisperte er. „Dein Schmuckstück.“

Sie schloss ihre Augen und gab sich seinen Fingern hin, die in sie eindrangen und ihr Inneres mit langen, weichen, rhythmischen Bewegungen erforschten. Sie schnappte nach Luft, ihr Hals glühte und von weit her ertönte ein heiseres Brüllen. Tränen liefen ihr langsam über die Wangen, ihren Hals entlang über die Brust und den Bauch – viele Tränen. Nein, es waren keine Tränen. Es war das Sperma des Mannes, das sich auf ihrem Körper verbreitete.

Es wurde still. Der Obdachlose legte seine Hände um ihren Kopf, dann erfüllte seine Stimme den dunklen Raum. Er sprach zu ihr. Aufgelöst, liebevoll, lange.

Dann schwieg er. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper. In der Dunkelheit schwebte ihr Lächeln. Mit lautlosen Schritten verschwand er durch die Tür im Wohnzimmer.

Sie blickte in den Himmel der Stadt, wo die Sterne sich zusammengerottet hatten, wunderte sich aber nicht. Sie befühlte ihr Geschlechtsteil.

Weit weg in der Nacht waren sich beschleunigende Motoren zu hören.

Mit Schwung setzte sie sich auf. Sie hatte geträumt! Wie lange hatte sie geschlafen? Der Wasserhahn! Sie sprang aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Die Wanne war leer. Dann schlich sie ins Wohnzimmer und beugte sich über den Obdachlosen. Das Blut auf der Stirn war jetzt verschwunden. Er lag nun ganz unter der Decke und schlief mit friedlichem Ausdruck im Gesicht.

Mit einem Mal fiel ihr der Traum wieder ein und berührte seinen Mund mit ihren Fingerspitzen. Ihr Gesicht wurde heiß. Sie trat einen Schritt zurück, weg von ihm.

„Wir haben einen Deal“, sagte sie laut zu dem schlafenden Mann. „Ich werde diese Bilder bekommen. Morgen werden wir sie machen. Mit oder ohne Blut!“

Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür weckte sie. Schlaftrunken taumelte sie ins Wohnzimmer, wo sie die Decken fein säuberlich zusammenlegt auf dem Sofa vorfand. Sie hastete zum Wäschetrockner und riss die Tür auf. Kein Mantel. Sie knallte die Tür wieder zu und stürmte zur Wohnungstür, öffnete sie schwungvoll und spähte ins Treppenhaus.

„Verdammte Scheiße!“, brüllte sie. „Wir hatten einen Deal!!“

Es zog und zwickte und stach in ihr, sie wankte zurück in die Wohnung und hockte sich mit um den Bauch gewickelten Armen, dem Rücken zur Wand, nieder. Dann kam sie wieder auf die Beine, zog sich eine Jacke und ein Paar Stiefel über und sprintete ins Atelier, um ihre Kamera zu holen. Es sollte etwas passieren. Sie wollte raus aus dem Haus – weg von ihrer Ohnmacht, ihrem Zorn.

Doch dann stoppte sie abrupt. Das Licht summte nur so. Die Lampen waren an. Mit einem Mal verlangsamte sich alles, sie konnte fühlen, wie sich ihre Augenbrauen anhoben und sich ihre Pupillen vergrößerten. Der Stuhl, den sie in die Mitte gestellt hatte, war weg. Auf dem Boden lag das KunstmagaZin mit dem Bild vom Mädchen mit dem Perlenohrring und die Lampen und der Regenschirm standen an anderen Stellen, als da, wo sie sie hingestellt hatte, leuchteten in andere Richtungen, als die, auf die sie sie eingestellt hatte.

Auch die Kamera war eingeschaltet. Als sie sie ausschalten wollte, sah sie, dass neue Bilder gemacht worden waren. Sie nahm die Kamera aus dem Stativ, fiel langsam auf die Knie, drückte an dem Gerät und japste. Der Mann hatte drei Bilder von sich selbst aufgenommen.

Das erste zeigte ihn nackt – seine Vorderseite. Er stand mit einer um seine Erektion geformten Hand da und sah sie mit Augen an, die wieder ergraut waren, aber nicht weniger lüstern aussahen.

Auf dem zweiten Bild war er auch nackt, diesmal aber mit schlaffem Penis. Er hatte offensichtlich versucht, das Licht so stark wie möglich aufzudrehen – und das war ihm auch gelungen. Sein elfenbeinweißer Körper strahlte im Licht und wurde ein Teil davon. Es war beinahe so, als wäre er nicht da.

Auf dem dritten war er vollständig angezogen. Er hatte exakt dieselbe Einstellung verwendet, die sie sich vorgestellt hatte. Das Gesicht, die Schulterpartie mit dem zerlumpten Mantel, doch das Bild zeigte einen anderen Mann, als den, den sie hätte zeigen wollen. Sie konnte sehen, dass er aufrecht dagestanden haben musste, gerade und selbstbewusst, mit zur Seite gedrehtem Kopf, wie das Mädchen mit dem Perlenohrring, nur von der anderen Seite und mit über die Schulter geschwungenem Haar, sodass sie der Ohrring in seinem rechten Ohr anleuchtete. Seine Lippen waren leicht geöffnet.

Sie warf einen Blick auf das Aufnahmedatum. Der Obdachlose hatte über eine Stunde für die drei Bilder gebraucht.

Lange saß sie noch da und betrachtete die Aufnahmen. Sie hatte ihn um ein Gesicht gebeten. Er hatte ihr einen ganzen Menschen gegeben.

Er hatte sie besiegt, er war der Aussteller. Das sollte er wissen.

Als sie auf die Beine kam, bemerkte sie, dass da kein Flüstern mehr in ihren Ohren war, keine Scherben, kein Ziehen, kein Zerren, kein Zwicken. Die Begierde war verschwunden.

360 Grad - heisse Erzählungen

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