Читать книгу Sequenzen der Wörtlichkeit - Marie Döling - Страница 10
ОглавлениеEinhundert Jahre
Jahre.
Einhundert Jahre.
Einhundert Jahre für einen einzigen Tag.
Ich blicke mir in die Augen, als könnte ich mich nicht an mich erinnern. Höre mir zu, als würde ich meine eigene Stimme nicht erkennen; als würde mich jede Erinnerung täuschen.
Wer ist dieses Spiegelbild, das mir entgegenblickt und mir vor Augen hält – mir so fremde Augen – nicht mehr der zu sein, der ich doch eigentlich sein sollte. Habe ich mich in deinen Wünschen so verloren, dass ich mich selbst nicht mehr finden kann?
Vielleicht ist es so, wenn man liebt. Dass man ein Stück von sich opfern muss. Dass man so lange liebt, bis nur Leere bleibt.
Denn nun stehe ich hier und blicke in ein mir so fremdes Spiegelbild – mein Spiegelbild – als mir klar wird, dass ich mich irgendwo zwischen deiner Liebe, deinen Zweifeln und deinen Ansprüchen verloren habe.
Wie soll ich denn ich sein, nachdem ich dich geliebt habe? Nichts ist in mir, bis auf den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen. Dich zu lieben, hat mich zu einem Desaster werden lassen.
Die Erinnerungen fügen sich zu einem Bild zusammen, welches mich – mich selbst – vermissen lässt.
Würdest du mich fragen, wer ich sein will, gäbe ich dir einhundert Jahre meines Lebens für einen Tag meines früheren Selbst.
Einhundert Jahre für einen einzigen Tag.
Einen einzigen Tag.
Nur einen Tag.
Ich habe jetzt begriffen, dass jede Geschichte mit uns selbst endet.
Ob wir dieses Selbst sein wollen oder nicht.