Читать книгу Das Buch der Liebe - Marie Eugenie delle Grazie - Страница 4

2.

Оглавление

Vielleicht hatte er nicht umsonst diese schlaffen, lichtblonden Haare, die großen, schwimmenden Träumeraugen. Schon an dem Knaben war alles zart und scheu gewesen. Leise die Stimme, weit und versonnen der Blick, maßvoll und an sich gehalten jede Bewegung. Nicht einer der Jungen, die mit ihm zur Schule liefen, traute ihm eine wehrhafte Tat zu. Einige wetteten ganz insgeheim, daß der Konrad beim ersten Angriff davonlaufen werde. Da kam aber die Überraschung. Der schlanke Junge hielt nicht nur stand, er wußte die ephebenhafte Geschmeidigkeit seines Leibes im Kampfe sogar zu siegreicher Geltung zu bringen, daß die plumpe Roheit seiner Angreifer daneben einen unsäglich gemeinen und tristen Eindruck machte.


In jener Stunde hatte er sich die Achtung seiner Gefährten gewonnen und die Herzen von Annemaries Brüdern. Seit jenem Tage ging er bei ihnen aus und ein.


Als Konrad älter wurde, hatten seine Kameraden ihn lange im Verdacht, daß er heimlich Verse mache. Die Art, wie er den jungen Mädchen begegnete oder auch – auswich, vom Leben sprach und von der Liebe und oft schon vom Tode, brachte sie darauf. Aber er studierte bloß Philosophie. Ganz heimlich natürlich, denn sein Vater war Rechtsfreund und wünschte, daß sein Einziger heute oder morgen die reiche Klientel übernehme. Nur Annemaries Brüder wußten, wie tief der arme Junge unter dieser Aussicht litt. Aber der unbeugsamen Forderung des Vaters gesellte sich das heimliche Flehen einer leidenden Mutter – und was hätte Konrad nicht getan, ihr zuliebe?


Und doch war nun alles anders gekommen! Sein Rechtsstudium hatte er zwar vollendet und auch seinen Doktor gemacht. Aber Vater und Mutter waren ihm unterdes gestorben, und schon wußte man, daß er die Sorglosigkeit, die ein reiches Erbe ihm sicherte, nun ganz an das Studium der Philosophie wenden wolle.


So war ihm ein Traum wenigstens in Erfüllung gegangen. So bitter ihn das Leben auch dafür geprüft hatte.


»Jetzt wird er wohl ganz allein sein!«


Annemarie wußte selbst nicht, daß sie es vor sich hingesprochen. Nun erschrak sie über den Laut der eigenen Stimme und sah mit wachen Augen um sich.


Das Fenster ihrer Stube öffnete sich nach dem Garten, in dem ein mächtiger Akazienbaum im bräutlichen Glast seiner weißen Blüten stand. Wie blaues Silber leuchteten sie im Mond, und die ganze Luft zitterte von ihrem schwülen Atem, bis tief in Annemaries Stube hinein.


»Wie eine Braut steht der Baum da!« dachte Annemarie. »Nur daß ihm mit jedem Frühling dieselbe Schönheit zurückkommt und alle seine Blüten!«


Sie neigte das Haupt zurück, schloß die Augen. Auch ihr Kranz hatte solche weiße Blüten; die seidenen Bahnen ihres Brautkleides denselben bläulichen Silberglanz ...


»Morgen!«


Es war so nahe, und all ihr Sehnen bebte jener Stunde entgegen, deren bloßes Ahnen sie schon wie mit zärtlichen Armen umfing. Daß sie den Geliebten auch körperlich nahe empfand – den trinkenden Blick der Augen zu sehen meinte, mit dem er sich beim Küssen über sie beugte; den feinen Duft seiner Haare spürte, der da irgendwo in ihren eigenen Locken hängen geblieben war; den tiefen Glockenton seiner Stimme zu hören glaubte ... Wie in einer Vision die hohe Gestalt sah – den Mann!


Nein. So gut sie auch von dem Jugendgefährten dachte, so weh ihr auch noch im Erinnern tat, was er heimlich um sie erlitten haben mochte – mit keinem Atemzug ihrer Seele, keinem Tropfen ihres Blutes hätte sie jemals ihn erwählt neben dem anderen. Das wußte sie nun. Und so war es auch heute wohl nur die Liebe, die selbstvergessene, trunkene Vollliebe des Weibes, vor der sie heimlich und wie ahnend erzitterte, am letzten Tag ihrer Freiheit.


*


Sooft Annemarie später an ihren Hochzeitstag dachte, hatte sie dieselbe merkwürdige Vorstellung einer wie in silbernen Nebeln zerflatternden Zeit.


Er hatte so früh als möglich begonnen, dieser Tag. Wenigstens für sie. Zuerst war die Haarkünstlerin gekommen und hatte ihr die seidenen Flechten in tiefe Scheitel zurechtgelegt. Die Frau verstand ihre Sache. Sie hatte mit einem Blick über Annemaries Antlitz erkannt, welche Linie die madonnenhaft strengen Züge ihres Antlitzes am weichsten und bräutlichsten kleiden würde. Annemarie hatte sich anfangs gewehrt. Aber als die Gute mit dem Eifer der Sachkundigen den Myrtenkranz auf die noch hochgesteckten Flechten legte, erschrak Annemarie selbst über die herbe Hoheit ihrer Züge, das königlich Abweisende der ernsten, unverhüllten Stirne.


»Da hätte ja der Herr Gemahl gar keine Courage!« zwinkerte ihr die Alte im Spiegel zu. Selbst Frau Krüger mußte lächeln. Annemarie fühlte, wie sie errötete.


»Und wir haben so herrliches Material!« schwatzte die Kämmende weiter. »Wann kommt unsereinem heutzutage noch eine Dame unter, die einen solchen Eigenwuchs hat? Die Herren aber –« Sie lächelte. »Man muß doch zeigen, was man hat!«


Draußen hing ein schwüler Hochsommertag, auch wie in silbernen Nebeln. Und mit dem Frühatem der Nelken, die im Garten blühten, mischte sich in der Brautstube der schwelende Geruch der erwärmten Haareisen und wohlriechenden Essenzen, mit denen die goldbraunen Haarwellen Annemaries behandelt wurden.


Kein Windhauch regte draußen die Bäume. Selbst die Luft schien wie in einer einzigen Erwartung den Atem anzuhalten.


»Wer weiß, wie viele heute noch zum Altar schreiten, auf der ganzen Welt,« dachte Annemarie, »und doch ist es für jede der eine, einzige Tag.«


Auch er lag wie in einem weißen, silbernen Dämmer.


Und die Alte schwatzte weiter. Aber nur Frau Krüger hielt ihr stand; warf zuweilen wohl auch selbst ein Wort hin oder eine Frage, mit der müden und gleichsam überlegenen Neugierde der Frau, für die das Leben keine Geheimnisse mehr hat.


O ja, sie hatte schon Hunderte und Hunderte frisiert, die geschwätzige Alte, und manche der jungen Frauen auch noch nachher bedient, oder sonstwie im Auge behalten. Aber, natürlich ... der Tag kam wohl nie mehr im Leben!


»Und ich dachte immer, erst von ihm ab müßte es schöner werden und immer schöner,« bebte Annemaries Stimme in das Geschwätz der beiden Frauen hinein.


Frau Krüger schwieg. Die Alte verstummte und lächelte mit großen, nachsichtigen Augen in den Spiegel.


Was verhehlte man ihr?


Oder gehörten auch dieses Lächeln und dieses Verstummen zu dem weißen Dämmerglanz des Tages?


Die Braut versank wieder in sich. Und nur die Blüten des alten Akazienbaumes dufteten in ihr Träumen ...


Erst als die tiefgewellten Haare in zwei goldenen Bauschen über Schläfen und Ohren hingen, kam Annemarie wieder zu sich und starrte wie mit fremden Augen die geheimnisvoll lockende Schöne an, die ihr aus dem Spiegel entgegensah.


War das noch sie?


Sie griff sich an das Haupt, tastete wie nachfühlend das eigene Antlitz ab, den rosigen Brand der Wangen, die unter dem schweren Seidengespinst der goldbraunen Scheitel immer tiefer zu erglühen begannen.


Nun war sie ja –! Was hatte man aus ihr gemacht –?


»Wie eine Odaliske seh' ich aus,« fuhr es ihr durch den Sinn, wollte es sich auf die Lippen drängen. Aber etwas in ihr verstummte plötzlich.


Noch niemals hatte sie sich so schön gesehen. Was würde der Geliebte erst sagen!


Und sie hatte nichts gewußt von all diesen Reizen bis heute. Nur die madonnenstrenge Linie ihres Antlitzes immer gekannt und festgehalten.


Aber dieses Antlitz –


Ein Locken war es, ein sehnsüchtiges Erschauern, eine einzige Schwäche und ohnmächtige Ergebung.


Die Braut – das Weib.


Vergeblich jedes Besinnen über das, was sie noch gestern gewollt, noch gestern gewesen und all die Jahre vorher.


Wie in einem silbernen Nebel entschwand sie sich selbst.


*


War es wirklich schon so spät, daß die Mutter drängen mußte, als man ihr endlich die weiche, rieselnde Seide über den erschauernden Leib gleiten ließ? Den Kranz in das Gold der Haare drückte – den Schleier festnadelte – die weißen Handschuhe zurechtlegte?


Ihr schien, sie sehe und höre nicht mehr. Habe nur den einen Wunsch: immer, immer im festlichen Kleid dieser Stunde vor dem Geliebten zu stehen, in all den Schleiern, die um sie wogten, wie ein einziger silberner Nebel.


Als Frau Krüger endlich in den eigenen Staat schlüpfen konnte, pochten die Söhne schon ungeduldig an die Brautkammer. Der Bräutigam war schon da, und unten fuhren die ersten Gäste vor. Schwere seidene Roben rauschten durch den Garten. Diamanten und Saphire leuchteten im Sonnenglast. Der ganze Tantenstaat der Familie war entboten.


Wie ein kicherndes Taubennest fuhren zuletzt die Brautjungfern an. Alle gleich gekleidet, in das blasse, verbrauchende Rosa der ersten Apfelblüten.


Die Sonne mußte im Mittag stehen. Schon begannen draußen die Glocken zu läuten.


Da riß man vor der Braut die Türe auf, daß sie hinausschreite im schwülen Duft ihrer verhüllten Schönheit, mitten hinein in den silbernen Glanz dieses Tages.


Dann kamen die Tränen der Mutter. Die Umarmungen der Basen; das halb bewundernde, halb vom Neid erstickte Geflüster der Freundinnen. Aber Annemarie sah nur zwei Augen – und die leuchteten wie zwei Sonnen, gingen in einem einzigen Triumph über sie hin.


»Mein bist du, mein!«


Er machte sie selig, dieser Blick, und doch auch wieder leis' erschauern, daß ihr war, als müsse sie sich noch tiefer in ihre Schleier hüllen, die Lider senken, um nicht an dem Brand dieser Augen zu vergehen.


Und da geschah es, daß sie zum ersten Male wieder an Konrad denken mußte. Nie, nie hatte sie einen solchen Blick in seinen Augen wahrgenommen! Und er hatte sie doch auch geliebt – lang, inbrünstig, mit der ganzen Glut seines jungen Herzens.


Der Geliebte freilich war um vieles älter, der reife Mann. Die Werbezeit war vorüber. Wer weiß, wie Konrad sich im Besitz gehabt hätte?


Als es aber Zeit wurde aufzubrechen und der Bräutigam mit einem raschen Schritt auf sie zutrat und wieder mit diesem Blick, streckte sie fast abwehrend die Hände von sich.


»Sie fürchtet sich, daß du ihr etwas zerknüllst beim Berühren,« kicherte eine der altjüngferlichen Tanten.


Er lachte, und in seiner Stimme war ein ganz eigener Jubel, als er entgegnete:


» Aber! Ich werde sie doch nicht berühren


Über die Wangen der jungen Damen lief eine flüchtige Röte. Annemaries Brüder und Jugendgefährten lächelten sich verstohlen zu. Nur ihr jüngster Bruder biß sich in die Lippe, stand in finsterem Trotz da. Er hatte von Anfang an Annemaries Bräutigam nicht gemocht und sah nun fast gehässig zu ihm hinüber. Die Schwester war von Kindheit an seine Vertraute gewesen und, obwohl die Jüngste unter den Vieren, immer voll mütterlicher Güte für ihn. Konrad aber war noch heute sein bester Freund, mit dem er alles gemein hatte, selbst die Liebe zur Philosophie.


Nun war es auch mit seinem Traum zu Ende. Dem deutschen Jungentraum, fern vom Geräusch und Gezappel der Mutter, zwischen der Schwester und dem Freund seiner Schwärmerei für die Schönheit der Platonischen Dialoge zu leben.


Endlich reichten die Herren ihren Damen die Arme. Hinter den Türen grüßten und weinten die Dienstboten. Aus einem versperrten Gemach scholl das rasende Gekläff von Annemaries Lieblingshündchen, dem die treue Seele von dem stummen Scheideblick der jungen Herrin noch bang und schwer war.


Der Teppich, der über die Treppen und durch den Garten führte, war über und über mit weißen Akazienblüten bestreut. Sie hingen auch in den Stirnbändern und zwischen den Halftern der zwei tadellosen Schimmel, die sich unruhig im Geschirr herumwarfen und wie verstehend dem bräutlichen Zug entgegenwieherten.


*


Den Schmuck der Kirche hatte der erste Gärtner der Stadt besorgt. Es war im Auftrag des Bräutigams geschehen und sollte eine Überraschung für Annemarie sein.


Hundert und aber hundert weißer Rosen schmückten Altäre und Kandelaber. Mächtige Palmen- und Lorbeergruppen umschatteten den Eingang. Bis tief in die Straßen hinein standen die Leute. Der Ordner hatte Mühe, für den Brautzug Platz zu schaffen ... Draußen hing die Sonne noch immer wie zwischen silbernen Nebeln. Und als die Braut in ihrem schimmernden Staat in die Kirche schwebte, schien es fast, als wäre eine der weißen Sommerwolken da draußen hereingeglitten, um hier zwischen Weihrauchatem und Rosenduft weiterzuleuchten.


Es war immer dasselbe, was Annemarie um sich und hinter sich hörte: »Wie schön! Wie schön!«


Und dies alles war sie heute! Diese Blumen, dieser Glanz, dieses geheimnisvoll festliche Geriesel von Seide und Schleiern und Spitzen, der feierlich beleuchtete Altar, der sie erwartete – die Braut!


»Aber sieh doch, Annemarie, sieh!«


Die Mutter hatte es noch einmal versucht, sich im letzten Augenblick an sie heranzudrängen, um ihr wenigstens ein Wort des Beifalls für den Schmuck der Kirche zu entlocken. Sie war mit dem Bräutigam im Einverständnis gewesen, und nun schien ihr, als ob Annemarie weder sehe noch höre.


Aber Annemarie lächelte bloß. Wenn sie auch nicht um sich spähte, sie hatte doch alles gesehen, alles! Fühlte es mit einem Male bis ins Tiefste ihrer Seele hinein. Beglückt, erschüttert, halb ohnmächtig, noch einmal: die ganze zärtliche Liebe des Mannes, dem sie sich geben wollte, und der sie über einen einzigen Teppich von weißen Rosen bis hieher getragen.


Nie, nie wollte sie es ihm vergessen!


Als er ihr den Arm reichte, um sie an den Altar zu führen, griff sie fast zitternd nach seiner Hand und hielt sie eine selige Weile fest. Und Hand in Hand traten sie vor den Priester.


Der Greis, der dem Brautpaar im Schmuck seiner goldleuchtenden Stola entgegenlächelte, war einst Annemaries Lehrer gewesen, zugleich der Priester, vor dem sie allmonatlich einmal ihr Sündenbekenntnis abgelegt: die weißen Beichten einer reinen, zwischen sonniger Daseinsluft und glücklicher Unwissenheit hinblühenden Kindesseele. Die von der Kirche geforderte Brautbeichte aber hatte sie zu einem anderen getragen. Ihr selbst schien, als ob es zu viel wäre, was zwischen ihrem letzten Bekenntnis lag und den heißen Gewittern der Sinne, in die sie die Leidenschaft so plötzlich hineingewirbelt hatte. Es war eine ganz geheime, fast rätselhafte Scheu in ihr gewesen. Auch lag ein ganzes Jahr zwischen der letzten Beichte des Mädchens und jener der Braut. Und mit einer Art dumpfer Scham empfand sie, daß ihr unterdes zu viele Blüten von der Seele gestreift worden seien. All die weißen, leuchtenden Blüten, die nur im Paradies der Kindheit blühen können. Nicht zuletzt der Glaube, den ihr der Geliebte so langsam und sicher aus dem Herzen gelächelt hatte ...


Und doch wußte sie mit einem Male, daß es nicht das allein war, was sie von dem geistlichen Führer ihrer Kindheit und Jugend ferne gehalten. Vielmehr eine einzige Erinnerung, der sie sich in diesem Augenblick fast mit der Deutlichkeit einer Schuld bewußt wurde. Die Erinnerung an das liebliche Geheimnis, das sich in legendenhafter Schönheit zwischen ihr und jenem bleichen Christusbild angesponnen, und das ihre Seele ein ganzes Jahr lang wie in bräutlichen Schauern hingenommen hatte. Kein Mensch mußte darum von allen, die damals und heute um sie waren. Selbst dem Geliebten hatte sie davon geschwiegen. Aber da vor ihr, auf den Stufen des Altars stand der Einzige, dem sich Annemarie im Überschwang ihres Herzens einmal anvertraut. Der Einzige, der um das mystische Verlöbnis ihrer Seele wußte; von dem geheimnisvollen Ton, mit dem sie der Gekreuzigte immer wieder in seine Nähe gerufen. Von den paradiesischen Träumen, in denen er zu ihrer Seele gesprochen: »Willst du bei mir sein, will ich bei dir sein!« Und von dem Reich, das er ihr gezeigt mit den Worten: »Mein Garten ist groß. Engel betreten ihn. Sein Name ist Eden.«


Er hatte nie etwas dazu gesagt, der alte Priester. Nur immer gelächelt und geschwiegen. In seinen Augen aber war es jedesmal wie ein ehrfürchtiges Warten gewesen, wenn Annemarie damals mit dem Confiteor auf den Lippen vor ihm niedersank.


Das war nun alles vorüber. Und so selig sie auch war, so unausdenkbar es ihr auch erschien, jemals ohne den Geliebten glücklich werden zu können – sie fühlte doch, daß sie mit einem gebrochenen Gelöbnis auf den Lippen da stand und aus einem Lande zur Erde herabgestiegen war, in das sie nie zurückfinden würde. Und so mächtig war diese Empfindung, daß Annemarie die Hand des Geliebten plötzlich in einem jähen Schreck fahren ließ und in einem einzigen Brand unter ihrem Schleier errötete, ob der weißhaarige Priester da oben auch noch immer schwieg und lächelte.


»Er wird mich schon damals für überspannt gehalten haben, darum hat er nie etwas dazu gesagt!« dachte Annemarie wie in einer vorüberhuschenden Beruhigung. Dann atmete sie auf. Der feierliche Akt hatte begonnen. Und als ihr »Ja« in das kirchentiefe Schweigen hineinfiel, im Echo der grauen Wölbungen wieder zurückkam, seltsam und wie von einer anderen Stimme wiederholt, da erst fühlte sie, daß sie nun für immer zurückgefunden hatte, ob ein paradiesischer Traum sie auch einmal in die Lande der Engel geführt.


*


»Werde so glücklich, Annemarie, wie wir Menschen es nur immer werden können!« Sie kam gerade aus der Umarmung der letzten Brautjungfer, als Konrad mit diesen Worten ihre Hand ergriff, sie eine Weile festhielt und sich dann rasch abkehrte.


»Ich danke dir – o wie ich dir danke!« stammelte Annemarie zwischen ihren Schleiern hervor. Noch ganz verwirrt von all den Umarmungen der Ihren, von all der Rührung, die sich an ihrem Hals ausweinte – im Innersten gepackt von den Schauern eines neuen Lebens.


Gern hätte sie noch etwas hinzugefügt. Irgendein Wort, das seinen Verzicht lindem sollte, ihm eine trostreiche Mitgabe werden. Doch er war schon wieder zurückgetreten, und dort ging er hin, langsam, aber ungebeugt, ein ganzer Mann.


»Werde so glücklich Annemarie, wie wir Menschen es nur immer werden können ...«


Es war ein Wunsch, der alles herabflehte auf sie, alles ausschöpfte und ihr doch heimlich wehe tat. Wie ein ganz leises, ganz fernes Drohen in den trunkenen Überschwang ihrer Seele hineinklang.


»Werde so glücklich, wie wir Menschen es nur immer werden können –«


Doch war diese Angst nicht auch stets über ihr gestanden, seit sie ihr Glück gefunden und genommen?


Er hatte aus seiner noch gläubigen Seele gesprochen, was Annemarie als ein leiser Zweifel inmitten ihres Glückes schon früh beschlichen hatte. Ja, das blieb wohl ... Diese stumme, scheue, ehrfürchtige Angst vor dem Schicksal. Ob man seinen Glauben bewahrt oder seinen Gott verloren hatte.


Tief und wie gedemütigt senkte Annemarie das Haupt unter der weißen Krone ihres Glückes.


»Das also war er!« lächelte der junge Gatte, als er Annemarie in den Wagen hob.


»Wie hat er dir gefallen?« fragte sie leise zurück.


Die Menschen standen noch immer um das festliche Paar. Erst als der Schlag des Wagens zufiel und die feurigen Pferde anzogen, wich die Menge zurück, waren sie frei und für sich allein.


»Wie soll ich mich nur ausdrücken, um nicht heute deinen Unwillen zu erregen?« fragte Annemaries Gatte vorsichtig.


Sie lächelte. »Ist es möglich, daß du dich vor mir fürchtest?«


Er streifte mit einem seltsamen Blick ihre Schleier. Dann sah er mitten in den Glanz der Straßen hinein.


»Du hast eine allzu ängstliche Mutter gehabt, Annemarie. Bist von allem ferne gehalten worden. Nun mußt du lernen, Welt und Menschen mit eigenen Augen zu sehen. Die Wirklichkeit vom Traum unterscheiden, das Mögliche vom Unmöglichen. Das kann immer nur allmählich geschehen. Aber weil du mich schon fragst: Er scheint Stil zu haben, dein blonder Troubadour! Nur – in unser Jahrhundert paßt er nicht mehr hinein. Kennst du vielleicht zufällig seinen Lieblingsphilosophen?«


»Kant!« kam es zurück. Leise, wie wartend.


Er hatte ihre Hand ergriffen und auf seinen Schoß gelegt. Nun lächelte er:


»Den allenfalls kann er sich noch retten für – für seine Weltanschauung.«


»Und die großen Griechen,« fuhr Annemarie lauter fort. »Platon und Aristoteles.«


»Soweit sie ein großer Systematiker für seine Kirche zurechtgemacht hat,« lächelte der junge Gatte herablassend. »Sonst ... Ich glaub', er täte besser, Mönch zu werden. Mit solchen Vellëitäten.«


»Denken alle Naturforscher so wie du?« fragte Annemarie zaghaft.


»Gegenwärtig alle. Es liegt in der Methode. Aber –« Und er lächelte, während sein Blick plötzlich wie eine einzige Flamme an ihr niederging: »Welch ein törichtes Gespräch für eine solche Fahrt!«


Damit kehrte er sich ganz ihr zu, ihre Hand noch immer in der seinen.


Annemarie schwieg. Es waren noch zu viele Schauer in ihr ... das fromme Schweigen der Kirche. Der lächelnde Blick des Priesters, für den ihre Seele einmal ein offenes Buch gewesen war. Zuletzt das Wiedersehen mit Konrad – sein Glückwunsch, der sie an so Vieles zugleich erinnerte. War dies alles nur Traum? Dann würde es ihr wahrhaftig nicht leicht werden, sich so rasch in die Wirklichkeit zurückzufinden, die sie aus den Augen des jungen Gatten umwarb. So sehr sie ihn auch liebte. Wie es ihr jetzt ums Herz war, machten sie selbst die Blicke der Menschen erröten, die so angelegentlich nach ihrem weißen Staat sahen; so eigen dabei lächelten. Nun wußte doch jeder, der ihnen begegnete, daß sie heimfuhren! Und sie zog noch tiefer den Schleier herab ...


»Dazu noch dieses Mahl jetzt,« sprach ihr Gatte weiter. »Inmitten all dieser Tanten und Basen! Aber es war deiner Mutter nicht auszureden. In einem Hotel war' das alles rascher gegangen.«


»Da hätten uns so und so viele fremde Augen auch noch angesehen.«


»Stört dich das so?« fragte er. Es sollte wohl nur eine Neckerei sein. Aber der Blick, mit dem er sie dabei ansah, hatte – ja, sie mußte es sich gestehen – hatte fast etwas Entschleierndes. Als hätte die Zudringlichkeit der Straße, die ihr so lästig war, plötzlich ein Recht auf sie bekommen, das ihr wehtat und sie beleidigte.


»Es war so ein schöner Traum,« bebte es leise zwischen ihren Lippen hervor.


»Na ja,« warf er gleichsam vor sich hin. »Aber nun ist er Wirklichkeit geworden. Und das ist das Schönste an ihm.«


Damit sprang er ab, um ihr aus dem Wagen zu helfen.


Man hielt vor dem Haus, in dem Annemarie heute nur mehr ein Gast sein sollte, und in dem sie doch so lange Jahre ihre Heimat gehabt –


Fremd und fast erschrocken sah sie um sich ...


*


Frau Krüger hatte eine Magd, die fast zwanzig Jahre bei ihr diente. Ihrer Umsicht war es zu danken, daß trotz der Fahrigkeit der Hausfrau und dem oft ungefügen Eifer der Mietlinge doch alles aufs beste bestellt und geraten war bei dem festlichen Mahle.


Der alte Akazienbaum, der noch gestern selbst wie eine Braut im Glast des Vollmondes geleuchtet, hatte all seine Blüten für den Schmuck der Tafel hergegeben. Ihre Mitte krönten die mit zartem Grün und hochzeitlichen Bändern und Schleiern gezierten Lilien Konrads.


Frau Krüger hatte sich als letzte tief aufatmend und erschöpft an ihren Platz gesetzt. Der Weinkrampf, der sie in der Kirche überwältigt hatte, war einer fast peinlichen Stumpfheit gewichen. Es war ein Glück, daß rechts und links einige geschwätzige Basen zugleich auf sie einsprachen, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie selbst saß mit tief geneigtem Haupte da und murmelte ab und zu tonlos: »Es ist doch immer das gleiche!« Zuweilen fuhr sie auf und sah fast erschrocken zu der Braut hinüber. Aber Annemaries Blicke glitten an ihr vorbei und, wenn sie sie trafen, wie durch sie hindurch. Und dann nickte Frau Krüger jedesmal verstohlen vor sich hin:


»Ja, ja! Es kann einen wohl nachdenklich machen!«


Finster und blaß saß Annemaries jüngster Bruder am Ende der Tafel. Am ihn schwatzten die Brautjungfern mit ihren Kavalieren, kam die Jugend zu Recht mit Scherz und Lachen und dem heimlichen Geplänkel ihrer flüchtigen Siege. Doch Edwin schien niemanden zu sehen als den Bräutigam. Immer wieder hoben sich die blassen Lider, starrten die funkelnden Knabenaugen nach dem Mann, der ihm so wenig gefiel und ihm doch die Schwester entführen durfte für immer.


Seine Suppe blieb unausgelöffelt in dem goldumrandeten Teller. Um so eifriger griff er nach der Madeiraflasche, die der Diener ihm zur Seite stehen gelassen. Er, der sonst kaum ein Glas leichten Bieres trank und vertrug, stürzte den schweren Wein wie Wasser hinunter.


Einmal und förmlich wie emporgezogen von den zornigen Adleraugen des Knaben hatte der Bräutigam nach ihm geschaut. Da hatten ihre Blicke sich wie zwei Dolche gekreuzt.


»Dummer Junge!« lächelte der Gelehrte in sich hinein. Aber freilich, er war der Freund des Verschmähten und hatte während all der Zeit Gott weiß welche Vergleiche zwischen ihm und jenem angestellt. Am besten war es, einstweilen über ihn hinwegzuschauen, wie bisher.


Ein Gang folgte dem anderen. Die jungen Gatten, die wie ein Königspaar in der Mitte der Tafel saßen, bemühten sich bis zuletzt, so unbefangen wie möglich dreinzuschauen.


Annemarien fiel es merkwürdig leicht. Sie starrte noch immer wie in einen silbernen Nebel hinein. Zuweilen geschah es wohl auch, daß ein paar heimliche Tränen ganz plötzlich ihren Blick umdunkelten. Wenn sie in all die lieben Winkel hineinsah, in denen sie als Kind gespielt und gesessen, und durch die offenen Fenster hinaus in das grüne Geschaukel der Zweige. Wie ein Märchen schien ihr, was sie bis nun erlebt, und geradezu wunderbar, daß nun wirklich alles anders werden sollte für sie und jeder Tag vom Morgen bis zum Abend seine eigene Einteilung haben, wie es ihr gefiel. Das bald lärmende, bald larmoyante Wesen der Mutter war ihr zuweilen eine Qual gewesen. Wie eine Schmach für das ganze Geschlecht war es ihr erschienen, daß die Mutter, so lange von dem Vater bedrückt und entwürdigt, durch keine freie Tat, ja nicht einmal mit einem Gedanken oder Wunsch mehr zu ihrem eigenen Selbst zurückfand. So ganz hatte der Mann sie besessen, den sie einmal geliebt ...


Auch über Annemarie kam es wie ein leiser Schwindel, wenn sie bedachte, wie wehrlos die Liebe sie jetzt schon zuweilen gemacht. Aber lag nicht gerade in diesem Gefühl das höchste Glück? In diesem heimlichen Erbeben und Erschauern, wenn der Geliebte nur mit der Hand an ihr vorüberstrich, wie jetzt? Diesem Erglühen des ganzen Blutes, das ihr wie eine heiße Welle ins Antlitz stürzte, sooft er eines jener verhüllten Worte an sie richtete, die für alle andern ganz gleichgültig klingen und doch wie eine wonnige Geheimsprache zwischen zwei Liebenden hin und her gehen können?


Wenn sie aber an den ganz von weißen Spitzen und rosigen Brokatvorhängen verhüllten Raum dachte, in dem ihr Weibgeschick sich erfüllen sollte – an das schöne Heim, das sie im Dämmer des Abends erwarten würde, da weit draußen am Ende der großen Stadt, wo ferne Berge schon in die Fenster hereinsahen und der heiße Duft der Sommerblumen wie eine Wolke in allen Stuben hing – dann verstand sie sich selbst nicht ... wie sie da sitzen und mit feuchten Augen noch ihrer Kindheit nachsinnen mochte oder irgendeine Angst in ihrem Herzen hegen?


Bis sie sich zuletzt mit dem Gedanken tröstete, es sei all dies Bangen wahrscheinlich nichts als – die Ohnmacht, so viel Glück auf einmal zu ertragen.


Um sie aber saßen die anderen und lachten und schwatzten oder nickten ihr bedeutungsvoll zu. »Vergiß es nicht – es ist ein Schicksalstag, ein großer, feierlicher!« Daß es ihr doch immer wieder ganz eigen über die Seele rann; sie überkam wie ein großes, unnennbares Einsamsein. Wenn diese Vielen, die sie von Kindheit auf kannte, nur erst nicht mehr um sie sein würden und sie ganz allein dastehen mit einem Mann, der alle Rechte über sie hatte, den sie über alles liebte und doch um so viel weniger kannte als alle, die bis heute um sie gewesen ...


Und gerade da fiel ihr Blick auf den Bruder – den jüngsten Bruder, der so finster und so schweigsam am Ende der langen Tafel saß und die zornigen Blicke wie giftige Pfeile zwischen den gesenkten Lidern nach dem schickte, den sie liebte.


War es nur Eifersucht? Oder was haßte er sonst so an ihm?


Seit sie denken konnte, war dieser jüngste Bruder ihre Sorge gewesen. Dieses stille, blasse, immer versonnene Kind, in dem vielleicht ein Dichter träumte, vielleicht ein großer Forscher, jedenfalls ein anderer Mensch. Wie zu einer Schwester hatte sie oft mit ihm reden können. Denn sein Herz war voll Ehrfurcht für alles, was die Welt an Großem und Schönem hatte, dabei zärtlich und verträumt, wie die Seele eines Weibes. So war er langsam der blonde, hochaufgeschossene Junge geworden, dem nur bei den Büchern wohl war; bis er sich über Bibel und Geschichte allmählich in die großen Abstraktionen des Menschengeistes hineingefunden hatte – mit seltener Frühreife seitdem in einer Welt lebte, die mit den gemeinen Dingen des körperlichen Daseins so wenig wie möglich zu tun hatte.


So mußte er Konrads Freund und Vertrauter werden und zuletzt ganz in den Gedanken des älteren Gefährten aufgehen. Aber seine Liebe war der Schwester geblieben.


»Er ist doch nur ein Kind,« dachte Annemarie gerührt. »Das sich nicht vorstellen kann, wie etwas, das es immer so ganz als sein Eigen betrachtet, nun plötzlich einem anderen zugehören soll.«


Und doch war ihr mit einem Male, als beginne die Trauer des Bruders heimlich und in irgendeiner unerklärlichen Weise auch auf sie hinüberzuwirken, daß es einen ganzen Augenblick wie ein beklommenes Ahnen über ihrer Seele lag ...

Das Buch der Liebe

Подняться наверх