Читать книгу Dr. Daniel Staffel 9 – Arztroman - Marie-Francoise - Страница 7
ОглавлениеDer Mann mit der schwarzen Strumpfmaske, die lediglich Mund und Augen erkennen ließ, beugte sich über sie. Sie schloß die Augen, doch sie konnte ihn riechen. Es war ein ekelhafter, beißender Geruch, der ihr in die Nase stieg. Sie fühlte seine kräftigen, harten Hände, die ihre Handgelenke umklammerten, und sie wußte, was er in den nächsten Augenblicken mit ihr tun würde. Sie wußte es, obgleich sie nichts hören konnte. Sie fühlte sein Gewicht auf ihr, und der ekelerregende Geruch, der von ihm ausging, verstärkte sich noch, als sein maskierter Kopf ihrem Gesicht immer näher kam. Seine feuchten, heißen Lippen berührten ihre Wange. Sie wollte schreien, öffnete ihren Mund und wußte doch, daß es völlig zwecklos war. Niemand würde ihre Schreie hören. Niemand…
Schweißgebadet fuhr Nikola Forster hoch. Das Nachthemd klebte an ihrem Körper, und ihr langes, dunkles Haar hing in feuchten Strähnen um ihre Schultern. Sie zitterte in der Erinnerung an den schrecklichen Traum, den sie gerade wieder gehabt hatte… Es war ein Traum, der sie Nacht für Nacht verfolgte.
Langsam verließ sie ihr Bett, tapste barfuß durch die Wohnung und überzeugte sich davon, daß jedes Fenster zu und die Tür zum Hausflur verriegelt war. Um sie her herrschte Totenstille, doch das war für sie ein ganz natürlicher Zustand. Nikola war von Geburt an taubstumm und hatte in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren gelernt, damit zu leben.
Jetzt stand sie im Bad und der Spiegel gab das Bild einer zarten Schönheit mit sanft geschwungenen Lippen und großen dunklen Augen zurück. Mit noch immer zitternden Händen wusch Nikola ihr Gesicht, kühlte die heißen Wangen mit kaltem Wasser und fühlte sich danach doch nicht besser. Der ekelhafte Geruch des Mannes, den sie im Traum so plastisch gespürt hatte, schien sie immer noch zu umgeben. Seit jenem schrecklichen Tag hatte sie sogar das Gefühl, als wäre er allgegenwärtig. Nicht einmal in Kais Nähe verschwand er.
Mit ihren nassen Händen fuhr sich Nikola durch das verschwitzte Haar. Sie wünschte, Kai wäre jetzt hier. In seiner Gegenwart war alles erträglicher, wenn sie auch seine Umarmungen seit jenem grauenhaften Erlebnis nicht mehr ertragen konnte.
Nikola zog ihr Nachthemd aus und hängte es zum Trocknen über den kleinen Kleiderständer, den sie neben dem Fenster aufgestellt hatte, dann holte sie aus dem Schrank einen Pyjama. Er war aus Frottee und eigentlich für sehr kalte Winternächte gedacht, doch nach diesen schrecklichen Träumen fror Nikola immer ganz entsetzlich. Auch jetzt empfand sie den Pyjama als angenehm kuschelig.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und legte sich wieder ins Bett, doch sie behielt die Augen offen. Obwohl es erst drei Uhr morgens war, wollte sie nicht wieder einschlafen. Sie hatte Angst, der Traum könnte zurückkehren.
Mit beiden Händen tastete sie über ihren Bauch. Der dumpfe Schmerz war wieder da. Seit jenem schrecklichen Tag kam er immer wieder. Kai wußte nichts davon. Er hatte keine Ahnung von ihren Alpträumen… ihrer entsetzlichen Angst. Sie hatte es ihm einfach nicht sagen können.
Tränen brannten in Nikolas Augen. Wie schön war doch alles gewesen! Doch nun… jede Stunde ihres Lebens war geprägt von scheußlichen Erinnerungen und entsetzlicher Angst… einer Angst, die sie vermutlich nie wieder loswerden würde.
*
Kai Horstmann sah seiner Verlobten sofort an, daß sie wieder eine schreckliche Nacht hinter sich hatte. Mit einer Schauspielkunst, die ihn andernorts zweifellos berühmt gemacht hätte, zauberte er einen Ausdruck von Besorgnis auf sein Gesicht, dabei war ihm Nikola selbst herzlich gleichgültig. Nicht jedoch das, was hinter ihr stand: Ein gutgehendes Hotel, das sie nach dem Tod ihres ohnehin seit Jahren kränkelnden Vaters erben würde, und etliche Grundstücke, deren Verkauf Kai ein sorgenfreies Leben sichern würde. Dafür nahm er eine taubstumme Frau gern in Kauf.
»Du siehst blaß aus«, signalisierte er ihr nun in Zeichensprache, die er vor zwei Jahren ihretwegen gelernt hatte.
»Ich weiß«, gab sie zurück. »Ich habe schlecht geschlafen.« Sie zögerte kurz, entschloß sich dann aber zumindest zu einem Teil der Wahrheit. »Ich habe seit einiger Zeit arge Unterleibsschmerzen.«
»Wir werden noch heute zum Arzt gehen«, beschloß Kai. Er sah, wie Nikola schon den Kopf schütteln wollte und mit den Händen zu einer Erwiderung ansetzte, doch mit einer energischen Handbewegung wischte er ihren Einwand beiseite.
»Du mußt zum Arzt«, bedeutete er ihr. »Mit derlei Dingen ist nicht zu spaßen.«
Nikola blickte in sein Gesicht und war gerührt von der Besorgnis, die sie darin entdecken konnte.
Sie nickte ergeben und sagte durch ihre Hände: »Na schön, wenn du meinst.«
Mit einer fürsorglichen Geste begleitete Kai seine Verlobte zum Auto und hielt ihr zuvorkommend die Tür auf, bis sie eingestiegen war, dann setzte er sich hinter das Steuer und fuhr los. Die gedämpfte Schlagermusik, die aus dem Autoradio klang, wurde zur vollen Stunde ausgeblendet, dann erzählte der Nachrichtensprecher von geplanten Maßnahmen im Bundeshaushalt und von einer neuerlichen brutalen Vergewaltigung, bei der das Opfer schwer verletzt überlebt hatte. Kai schaltete das Radio aus und warf Nikola einen kurzen Blick zu, doch sie sah unverwandt durch die Windschutzscheibe in den trüben, naßkalten Tag hinaus.
Kai mußte nicht lange nach der Frauenarztpraxis suchen. Obwohl Nikola erst vor kurzem die Hektik der Stadt mit der Ruhe des idyllisch gelegenen Steinhausen vertauscht hatte und Kai nach wie vor in München lebte, hatte er sich hier in diesem Vorgebirgsort schon über die gängigen Einrichtungen informiert, und so lenkte er seinen Wagen nun langsam die steile Auffahrt hinauf, die zur Praxis von Dr. Daniel führte. Auf dem großen Patientenparkplatz hielt er an, war Nikola wiederum beim Aussteigen behilflich und begleitete sie zu der schweren, eichenen Eingangstür.
Dr. Robert Daniel, Arzt für Gynäkologie, stand auf einem großen Messingschild, darunter: Dr. Manon Daniel, Ärztin für Allgemeinmedizin. Auch die Sprechzeiten waren verzeichnet, und genau darauf wies Nikola nun.
»Ich bin nicht angemeldet«, gab sie zu bedenken, doch Kai zuckte ungerührt die Schultern.
»Na und?« bedeuteten seine Hände. »Du hast Schmerzen, somit bist du ein Notfall.« Er lächelte sie an, während seine Hände fortfuhren: »Laß mich nur machen.«
Er drückte auf den Klingelknopf neben dem Schildchen ›Praxis‹, und mit einem dezenten Summen sprang die Tür auf. Nikola und Kai gelangten in ein modern eingerichtetes Vorzimmer. Die junge Empfangsdame Gabi Meindl lächelte ihnen unverbindlich entgegen.
»Guten Tag, mein Name ist Horstmann«, stellte sich Kai vor, dann wies er auf seine Begleiterin. »Meine Verlobte hat starke Unterleibsschmerzen. Da es sich also um einen Notfall handelt, gehe ich davon aus, daß sie gleich drankommt.«
Gabi ärgerte sich über das anmaßende Verhalten des jungen Mannes, ließ es sich aber zumindest vorerst noch nicht anmerken. demonstrativ wandte sie sich der jungen Frau zu.
»Wie ist Ihr Name?« wollte sie wissen.
»Meine Verlobte kann Ihre Frage zwar sehr gut von den Lippen ablesen, aber zu einer Antwort wird sie leider nicht fähig sein«, mischte sich Kai ein. »Sie ist nämlich seit ihrer Geburt taubstumm.«
Gabi war sichtlich betroffen.
»Das tut mir leid«, murmelte sie und vergaß über ihrer Erschütterung sogar ihren Ärger auf den jungen Mann. »Sagen Sie mit bitte den Namen Ihrer Verlobten. Ich werde sie dann bei Dr. Daniel anmelden.« Sie zögerte kurz. »Ein bißchen werden Sie sich aber noch gedulden müssen, da vor Ihnen noch zwei Damen sind, die einen Termin haben.«
»Es ist ein Notfall«, betonte Kai erneut. »Meine Verlobte hat Schmerzen, deshalb verlange ich…«
»Gibt es irgendwelche Probleme?«
Gabi atmete unwillkürlich auf, als in diesem Moment die Stimme ihres Chefs erklang. Kai drehte sich um und musterte den großen, athletisch wirkenden Mann Anfang Fünfzig, der jetzt auf ihn zukam. Dichtes, blondes Haar umrahmte ein markantes, äußerst attraktives Gesicht, in dem die gütigen blauen Augen dominierten.
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Kai auf Dr. Daniels Frage. »Ihre Empfangsdame weigert sich, meine Verlobte sofort bei Ihnen anzumelden, obwohl ich ihr nun schon zweimal in aller Deutlichkeit gesagt habe, daß meine Verlobte starke Schmerzen hat.«
Dr. Daniel sah von Kai zu Nikola und wieder zurück. »Betrachten Sie sich immer als Sprachrohr Ihrer Verlobten?«
»Das muß ich wohl«, entgegnete Kai sehr von oben herab. »Meine Verlobte ist taubstumm.«
»Entschuldigen Sie, das wußte ich nicht«, entgegnete Dr. Daniel, und auch er war von dem Schicksal der hübschen jungen Frau merklich betroffen. »Trotzdem würde ich gern mit Ihrer Verlobten persönlich sprechen. Auf schriftlicher Basis wird das ja wohl möglich sein, oder?«
Man konnte Kai ansehen, wie wütend er war.
»Hören Sie zu«, begann er aggressiv. »Wenn ich sage, daß meine Verlobte starke Schmerzen hat, dann stimmt das auch!«
»Natürlich glaube ich Ihnen das«, erwiderte Dr. Daniel ruhig, dann wandte er sich Nikola zu. »Können Sie von meinen Lippen ablesen, was ich sage?«
Die junge Frau nickte.
»Sehr schön«, meinte Dr. Daniel und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Robert Daniel.«
Automatisch wollte Nikola ihm in ihrer Zeichensprache antworten, doch dann fiel ihr ein, daß es ganz unwahrscheinlich war, daß Dr. Daniel sie verstehen würde, und lächelte ihn entschuldigend an. Gabi reichte ihr gleich Block und Stift.
Ich heiße Nikola Forster, schrieb sie. Es tut mir leid, daß ich ohne Termin komme, aber ich habe seit einiger Zeit immer wieder Unterleibsschmerzen, und letzte Nacht waren sie besonders schlimm. Sie zögerte kurz, dann schrieb sie dazu: Es macht mir auch nichts aus, wenn ich noch warten muß.
Dr. Daniel nahm den Block entgegen und las das Geschriebene, dabei spürte er, wie Kai, der ihm über die Schulter geblickt hatte, vor Wut kochte.
»Sie werden bestimmt nicht lange warten müssen«, versprach Dr. Daniel. »Vor Ihnen sind nur zwei Patientinnen. In spätestens einer halben Stunde werde ich für Sie Zeit haben.«
Dankbar lächelte Nikola ihn an.
»Meine Empfangsdame wird in der Zwischenzeit schon die Formalitäten erledigen«, fuhr Dr. Daniel fort. »Sie sind ja zum ersten Mal bei mir.«
Mit einer fast schüchternen Geste forderte Nikola den Block zurück und schrieb: Bis vor zwei Wochen habe ich in München gelebt, aber hier in Steinhausen gefällt es mir sehr viel besser.
Dr. Daniel las, dann lächelte er. »Da haben Sie recht. Steinhausen ist ein idyllisches Fleckchen Erde, und ich bin sicher, daß Sie sich hier auch weiterhin wohl fühlen werden.«
Er nickte Kai knapp zu, dann kehrte er in sein Sprechzimmer zurück. Der junge Mann wollte zumindest vor seiner Verlobten nicht zeigen, wie wütend er darüber war, daß sie ihm dermaßen in den Rücken gefallen war – ohne es zu wissen, natürlich.
»Du hättest nicht so ehrlich sein dürfen«, bedeuteten ihr seine Hände, und sein Blick signalisierte Mitleid und Besorgnis. »Wenn du mir die Verhandlungen überlassen hättest, hätte
man dich jetzt nicht warten lassen.«
»Tut mir leid, Kai, aber ich
will mich nicht vordrängeln«, gab Nikola zurück, dann nahm sie von Gabi ein Formular entgegen und füllte es gewissenhaft aus.
»Sie dürfen noch im Wartezimmer Platz nehmen«, meinte Gabi danach. »Die Sprechstundenhilfe wird Sie holen, sobald Dr. Daniel frei ist.«
Es dauerte wirklich nicht lange, bis Nikola ins Sprechzimmer gerufen wurde. Wie selbstverständlich folgte ihr Kai, was Dr. Daniel überhaupt nicht gefiel. Der arrogante, ziemlich anmaßende junge Mann war ihm rechtschaffen unsympathisch, und Dr. Daniel hatte das untrügliche Gefühl, als würde er das der Untersuchung vorangehende Gespräch nur behindern.
»Seit wann haben Sie diese Unterleibsschmerzen?« wollte Dr. Daniel wissen und reichte Nikola Block und Stift, doch Kai wehrte sofort ab.
»Das brauchen wir nicht«, behauptete er. »Ich kann Ihnen übersetzen, was Nikola in Zeichensprache sagt.« Er informierte seine Verlobte, und Dr. Daniel merkte ihr an, daß ihr diese Art der Kommunikation auch nicht so gut gefiel.
»Viele Frauen sprechen über derartige Erkrankungen nicht gern in Anwesenheit des Mannes, den sie lieben«, wandte Dr. Daniel ein.
»Das ist doch Unsinn«, entgegnete Kai. »Nikola und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nikola hat diese Beschwerden seit einigen Tagen.«
Dr. Daniel machte sich eine Notiz auf der neu angelegten Karteikarte.
»Wie äußern sich diese Beschwerden?« wollte er dann wissen.
Nikola zögerte einen Moment, bevor sie in Handzeichen antwortete.
»Sie hat ziehende Schmerzen und Ausfluß«, übersetzte Kai für Dr. Daniel.
Der Arzt machte sich eine weitere Notiz, dann stand er auf.
»Kommen Sie, Fräulein Forster«, bat er mit einem freundlichen Lächeln. »Gehen wir ins Nebenzimmer, damit ich Sie untersuchen kann.«
Nikola erhob sich, und auch Kai stand auf.
»Ich glaube, die Untersuchung kann Ihre Verlobte auch ohne Ihren Beistand hinter sich bringen«, wandte Dr. Daniel ein.
»Diese Entscheidung überlassen Sie wohl besser uns«, entgegnete Kai scharf. »Meine Verlobte hat nichts dagegen, wenn ich dabei bin.«
Dr. Daniel sah Nikola an, doch diese hielt den Blick gesenkt.
»Also schön«, meinte der Arzt und ging dem jungen Paar voran ins Untersuchungszimmer. Erst hier suchte er erneut Nikolas Blick. »Bitte, machen Sie sich frei, und nehmen Sie auf dem Stuhl Platz. Ich vermute, daß Ihnen gynäkologische Untersuchungen bekannt sind.«
Die junge Frau nickte, doch als sie hinter den dezent gemusterten Wandschirm treten wollte, hielt Dr. Daniel sie noch einmal zurück.
»In diesem speziellen Fall werde ich Ihnen besser vorher sagen, was ich tun muß«, meinte er. »Wenn Sie auf dem Stuhl liegen, können Sie mich nicht oder zumindest nicht so gut sehen, so daß Sie vielleicht nicht verstehen, was ich sage.« Er schwieg kurz. »Ich werde als erstes einen Abstrich nehmen. Das kennen Sie sicher von den jährlichen Krebsvorsorgeuntersuchungen, die Ihr Gynäkologe ebenfalls vorgenommen haben wird.«
Wieder nickte Nikola und sah Dr. Daniel aufmerksam an, als er fortfuhr zu sprechen.
Anschließend werde ich Gebärmutter und Eierstöcke abtasten. Letzteres wird vielleicht ein wenig unangenehm, möglicherweise sogar schmerzhaft sein, wenn eine Eierstockentzündung für Ihre Unterleibsbeschwerden verantwortlich ist.« Er lächelte sie beruhigend an. »Aber Sie können sicher sein, daß ich dabei sehr vorsichtig sein werde.«
Nikola lächelte ebenfalls, doch Dr. Daniel hatte das Gefühl, als wäre ihr Lächeln ein wenig gezwungen. Er hatte allerdings keine Gelegenheit mehr, das näher zu ergründen, denn nun trat Nikola hinter den Wandschirm und machte sich frei, dann kletterte sie auf den gynäkologischen Stuhl.
Kai stand in der geöffneten Zwischentür, so daß seine Verlobte ihn aufgrund ihrer halbliegenden Stellung zwar nicht sehen konnte, er selbst aber die Möglichkeit hatte, ihren Körper samt der Beine, die nun in speziellen Bügeln lagen, sehr eingehend zu betrachten. Dr. Daniel war von diesem Verhalten mehr als erstaunt, fast sogar abgestoßen. Er hatte des öfteren Männer hier drinnen. Meistens waren es werdende Väter, die die Herztöne des Ungeborenen hören oder es auf Ultraschall sehen wollten. Doch bisher waren alle Männer am Kopfende des gynäkologischen Stuhls geblieben, hatten vielleicht die Hand ihrer Frau gehalten, aber noch nie hatte Dr. Daniel einen Mann erlebt, der seine Partnerin in dieser Situation mit derart eindeutigen Blicken gemustert hatte.
»Wenn Sie sich bitte hier hinten hinstellen wollen«, forderte Dr. Daniel ihn mit unüberhörbarer Bestimmtheit auf und wies dabei an das Kopfende des Stuhls.
Nur sehr ärgerlich kam Kai diesem Befehl nach.
»Ich bin medizinisch sehr interessiert«, behauptetet er ziemlich unglaubwürdig, »deshalb hätte ich gern gesehen, was Sie da tun.«
»Ich denke, Ihre Anwesenheit hier sollte eher dem Zweck dienen, daß Sie Ihrer Verlobten eine seelische Stütze sind«, entgegnete Dr. Daniel. »Diese Lage ist für Frauen nicht sehr angenehm, und wenn man dann noch nicht einmal hören kann, was um einen herum vorgeht, stelle ich mir das zusätzlich als sehr belastend vor.«
»Ja, vermutlich haben Sie recht«, stimmte Kai zu, dann trat er aus dem Schatten der Zwischentür zu Nikola und griff mit einem zärtlichen Lächeln nach ihrer Hand.
Dr. Daniel rückte nun mit seinem fahrbaren Stuhl näher und richtete die Lampe so, daß er
gut sehen konnte. Was er entdeckte, erschreckte ihn zutiefst. Unwillkürlich stand er auf und warf Nikola einen langen Blick zu. Er konnte in ihren Augen lesen.
»Ist etwas?« fragte Kai sofort.
»Nein, nein, alles in Ordnung«, entgegnete Dr. Daniel rasch. Er sah Nikola wieder an. »Ich habe vorhin nur vergessen zu sagen, daß Sie sich nach Möglichkeit entspannen sollten.«
Die junge Frau nickte und warf Dr. Daniel gleichzeitig einen dankbaren Blick zu.
Der Arzt setzte sich wieder, betrachtete die erheblichen Verletzungen im Intimbereich seiner Patientin und nahm dann sehr vorsichtig den Abstrich. Nikola zuckte zusammen, und Dr. Daniel fühlte sich zum ersten Mal in einer solchen Situation etwas hilflos, weil er keine Möglichkeit hatte, die junge Frau mit Worten zu beruhigen… ihr noch einmal zu versichern, daß er vorsichtig sein würde.
Dr. Daniel stand auf und tat so, als würde er Gebärmutter und Eierstöcke abtasten. Er bemerkte Nikolas erstaunten Blick und lächelte ihr beruhigend zu.
»Sie können sich wieder ankleiden«, meinte er.
Dieser Aufforderung kam Nikola nur zu gern nach.
»Was fehlt meiner Verlobten denn nun?« wollte Kai wissen, während er zusah, wie Dr. Daniel den Abstrich unter dem Mikroskop betrachtete.
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, antwortete er und richtete sich auf. »Die Abstrichuntersuchung war negativ, das heißt, daß keine Pilzinfektion für die Unterleibsbeschwerden verantwortlich sein kann. Für eine
endgültige Diagnosestellung sind weitere Untersuchungen nötig, die ich aber nicht hier
in der Praxis durchführen
kann.«
Unwillig runzelte Kai die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Das heißt, daß ich Ihre Verlobte in die Waldsee-Klinik überweisen werde, deren Direktor ich im übrigen bin«, entgegnete Dr. Daniel.
»Das ist doch nur Geldschneiderei!« ereiferte sich Kai. »Sie wollen an Nikola lediglich verdienen und…«
»Das reicht!« fiel Dr. Daniel ihm scharf ins Wort. »Solche infamen Unterstellungen muß ich mir von Ihnen nicht gefallen lassen! Was ich tue, geschieht einzig und allein zum Wohl meiner Patienten.« Er ließ diese Worte einen Moment lang auf Kai wirken, dann fuhr er ruhiger fort: »Ich vermute bei Ihrer Verlobten eine Chlamydien-Infektion. Um diese sicher zu diagnostizieren, ist eine sogenannte Pelviskopie nötig – eine Untersuchung des tiefen Beckens. Im Rahmen dieser Untersuchung kann ich Abstriche von den Eileitern nehmen, und da Sie medizinisch ja sehr interessiert sind, werden Sie sich unschwer vorstellen können, daß eine derartige Untersuchung nur in Vollnarkose durchgeführt werden kann.«
Kai atmete tief durch. »Also schön.« Er sah Dr. Daniel an. »Wie stellen Sie sich das genau vor? Ich meine… ich bin berufstätig…«
»Ich glaube nicht, daß Fräulein Forster auf Ihre ständige Begleitung angewiesen sein wird«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Im übrigen ist sie in der Waldsee-Klinik in den besten Händen.«
Man konnte Kai ansehen, daß ihm diese Wendung der Dinge überhaupt nicht paßte. Offensichtlich widerstrebte es ihm, Nikola auch nur eine Sekunde mit dem Arzt allein zu lassen, und Dr. Daniel konnte sich eigentlich keinen Grund dafür denken – es sei denn, Kai wäre für die Verletzungen, die er bei Nikola gerade entdeckt hatte, selbst verantwortlich, doch diesen Gedanken schob Dr. Daniel einstweilen von sich. Es war für ihn kaum vorstellbar, daß ein Mann der Frau, die er liebte, so etwas antun könnte.
*
Ivo Kersten saß in dem kleinen, neu eröffneten Bistro an der Theke und trank seinen mittlerweile achten Cognak. Er mochte eigentlich keinen Alkohol, von einem Bier zum Essen einmal abgesehen, doch heute wollte er sich sinnlos betrinken – auch wenn ihn jeder Schluck größte Überwindung kostete. Wieder verzog er angewidert das Gesicht, während er das Cognakglas abstellte.
»Wenn es dir nicht schmeckt, solltest du etwas anderes trinken«, riet ihm plötzlich eine bekannte Stimme.
Ivo wandte den Kopf, doch der ungewohnte Alkoholgenuß führte dazu, daß ihm durch diese Bewegung schwindlig wurde. Er mußte sich festhalten, um nicht vom Barhocker zu kippen.
»Sándor«, murmelte Ivo erstaunt, als er sah, daß sein bester Freund ganz unverhofft neben ihn getreten war. Er schloß für einen Moment die Augen in der Hoffnung, das Schwindelgefühl würde dann vergehen. »Was tust du denn hier?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte Sándor Balog, dann zog er sich einen Barhocker heran und setzte sich ebenfalls. »Das heißt – man sieht dir ja an, was du hier tust. Du willst dich betrinken… besser gesagt, du hast es schon geschafft.«
Ivo nahm wieder einen Schluck und verzog erneut das Gesicht. Wie zum Trotz hob er das Glas gleich noch einmal, doch jetzt legte ihm Sándor eine Hand auf den Arm.
»Laß es, Ivo«, riet er ihm. »Du bist doch sowieso schon blau.«
»Bin ich nicht«, widersprach Ivo heftig. »Laß mich bloß in Ruhe!«
Sándor nahm die Hand weg und winkte dem jungen Besitzer des Bistro, der hier an der Theke selbst bediente. Er verlangte die Rechnung für Ivo, dann bezahlte er, nahm seinen Freund kurzerhand mit festem Griff am Arm und zog ihn aus dem Lokal.
Ivo schwankte gefährlich, was sich in der frischen Luft auch noch verstärkte.
»Was soll das, Sándor?« maulte er. »Wo bringst du mich überhaupt hin?«
»Nach Hause ins Bett«, antwortete Sándor bestimmt und verfrachtete seinen Freund kurzerhand ins Auto, dann setzte er sich ans Steuer.
»Nach Hause.« Ivos Worte kamen voller Bitterkeit. »Wie lange werde ich denn noch ein Zuhause haben?«
Sándor warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. »War das der Grund für dein privates Gelage?«
»Geht dich nichts an«, grummelte Ivo unwirsch.
Sándor hielt den Wagen am Straßenrand an, dann wandte er sich seinem Freund zu. »Anstatt dich zu betrinken, wäre es besser gewesen, du wärst zu mir gekommen und hättest dir den Kummer von der Seele geredet.«
Ivo schwieg. Er sah Sándor nicht eimal an. Mit einem tiefen Seufzer ließ der junge Mann den Motor wieder an und fuhr los. Er würde Ivo mit zu sich nach Hause nehmen, auch wenn seine Wohnung nur klein war.
Ivo erkannte natürlich sofort, wohin sein Freund ihn gebracht hatte.
»Was soll ich denn hier?« fragte er unwillig und blieb bockig vor der Haustür stehen.
»Hör zu, du Dickkopf«, entgegnete Sándor streng. »Du wirst jetzt mit in meine Wohnung kommen, dich ins Bett legen und deinen Rausch ausschlafen. Morgen, wenn du wieder nüchtern bist, werde wir uns ausführlich unterhalten.« Er ließ Ivo gar keine Zeit für eine Erwiderung, sondern nahm ihn mit festem Griff am Arm und zog ihn die Treppe hinauf.
Zehn Minuten später lag Ivo dann tatsächlich im Bett und Sándor atmete erleichtert auf. Das war ja wirklich ein hartes Stück Arbeit gewesen.
»Da sieht man mal wieder, was Alkohol aus einem Menschen machen kann«, murmelte er. So störrisch, wie er sich heute gegeben hatte, war Ivo doch normalerweise gar nicht.
Er seufzte noch einmal tief auf, dann streckte er sich auf dem Sofa aus und war kurz darauf eingeschlafen. Gegen drei Uhr morgens wachte er jedoch auf, ohne zu wissen, was ihn geweckt haben könnte. Gerade wollte er sich auf die andere Seite drehen, als ihm die offene Schlafzimmertür auffiel. Rasch richtete er sich auf, erhob sich und warf einen Blick in den Raum. Das Bett war leer, und Ivos Kleidung, die er über den Stuhl gehängt hatte, war weg.
»Das ist doch…«, knurrte Sándor wütend. Er warf einen Blick auf die Uhr. In vier Stunden würde sein Dienst in der Waldsee-Klinik beginnen… eine ziemlich harte Arbeit, für die er eigentlich hätte ausgeschlafen sein sollen. Andererseits konnte er seinen Freund in diesem desolaten Zustand nicht einfach sich selbst überlassen.
Sándor zog sich in Windeseile an, verließ die Wohnung und stieg in sein Auto. Wo sollte er nun anfangen zu suchen? Das Bistro, wo er Ivo heute nur durch Zufall getroffen hatte, war um diese Zeit längst geschlossen. Sándor fuhr also zuerst zu dem Haus, in dem Ivo seine kleine Wohnung hatte, doch hier war alles dunkel. Möglicherweise war sein Freund einfach heimgefahren und lag nun friedlich in seinem Bett, doch daran glaubte Sándor nicht. Ivo hatte am vergangenen Abend eine Menge Kummer ertränken wollen, und Sándor hatte ihn davon abgehalten. Die Vermutung, daß er das Versäumte nachholen wollte, lag also ziemlich nahe.
Sándor fuhr schließlich doch zu dem neuen Bistro und hatte dort auch tatsächlich Glück. Mit einer Flasche in der Hand lehnte Ivo an der Hausmauer. Neben ihm am Boden lag ein Fahrrad, das Sándor als sein eigenes erkannte.
»Sag mal, bist du vielleicht noch zu retten?« fragte er, als er aus dem Auto stieg und auf Ivo zuging.
Mühsam rappelte sich der junge Mann auf.
»Laß mich in Ruhe!« verlangte er mit verwaschener Stimme, ergriff die Lenkstange des Rades und wollte es hochziehen, was aufgrund des ungewohnten Alkoholgenusses gar nicht so einfach war.
»Ivo, mach keinen Blödsinn«, erklärte Sándor energisch. »Du kannst in diesem Zustand nicht Rad fahren.« Er wollte seinen Freund festhalten, doch Ivo war schneller, als er gedacht hatte. Er schwang sich auf das Rad und bog hinter dem Bistro in den schmalen Feldweg, wo Sándor ihm mit dem Auto nicht folgen konnte. Dabei schlingerte das Rad so gefährlich, daß Sándor jeden Augenblick mit einem schweren Sturz seines Freundes rechnete.
»Meine Güte, was ist denn nur in ihn gefahren?« schimpfte Sándor vor sich hin und war schon drauf und dran, nach Hause zu fahren. Ivo hatte ja offensichtlich kein Interesse daran, daß ihm geholfen wurde. Vielleicht wäre es also wirklich besser, ihn sich selbst zu überlassen, doch das widerstrebte Sándor.
Er kehrte zu seinem Auto zurück und fuhr zu der Stelle, wo der Feldweg wieder auf die Straße führte. Hier stieg er aus und ging schon ein Stück den Feldweg entlang. Nahezu im
gleichen Augenblick hörte er das Gepolter, das offensichtlich von einem schweren Sturz herrührte.
»Ivo!« rief er, doch nur schmerzliches Stöhnen antwortete ihm.
Es dauerte nicht lange, bis Sándor seinen verunglückten Freund gefunden hatte.
»So«, meinte er. »War es das nun wert?«
»Hau doch ab«, knurrte Ivo. »Wenn du nur dumm daherredest, dann brauche ich dich nicht.«
»Verprügeln sollte man dich«, entgegnete Sándor ärgerlich, dann griff er nach Ivos Arm, legte ihn sich über die Schulter und hielt sein Handgelenk fest, während er mit der anderen Hand unter Ivos Achsel griff und den Mann auf diese Weise hochzog.
Ivo stöhnte schmerzhaft, als er seinen rechten Fuß belasten wollte. Er war heilfroh, als sie zusammen Sándors Auto erreichten und er auf dem Beifahrersitz Platz nehmen konnte. Sándor schaltete die Innenbeleuchtung ein und betrachtete in diesem schwachen Schein die Verletzungen, die sich Ivo zugezogen hatte. Es waren überwiegend Schürfwunden, nur die Verletzung am rechten Bein sah schlimmer aus.
Sándor holte seinen Verbandskasten aus dem Kofferraum. Es war ein beinahe antiquarisches Modell, das statt eines normalen Wunddesinfektionsmittels nur Jod enthielt. Sándor zögerte. Konnte er Ivo das antun? Das Jod würde in der offenen Wunde wie Feuer brennen.
»Ich bringe dich in die Klinik«, beschloß Sándor und wollte sich aufrichten.
»Wozu in die Klinik?« beschloß Sándor und wollte sich aufrichten.
»Wozu in die Klinik?« begehrte Ivo auf. »Ich bin vom Rad gefallen – na und? Daran werde ich doch nicht sterben!«
»Hör zu, du sturer Kerl!« fuhr Sándor ihn an. »Du hast da am Bein eine tiefe Wunde, die versorgt werden muß…«
»Wenn du ein halbwegs brauchbarer Krankenpfleger bist, dann wirst du das auch hinkriegen«, fiel Ivo ihm ins Wort. Wieder konnte Sándor nicht begreifen, was zu dieser schrecklichen Veränderung geführt haben konnte. Ivo war doch sonst nicht so unausstehlich!
Laß dich nicht provozieren, dachte Sándor. Ivo ist betrunken. Er weiß nicht, was er sagt… zumindest meint er es nicht so.
Doch da fuhr Ivo schon im gleichen provokanten Ton fort: »Aber wahrscheinlich bist du in dieser Klinik nichts weiter als ein kleiner Handlanger, der nur Betten spazierenfahren darf.«
»Na schön«, entgegnete Sándor grimmig. »Ich hätte es dir gerne erspart, aber du willst es ja nicht anders.« Er nahm das Jod zur Hand und pinselte die Wunde aus.
Ivo stöhnte auf und krallte sich mit beiden Händen in den Polstern des Autositzes fest. Währenddessen drückte Sándor die Wundränder zusammen und legte einen festen Verband an.
»Au!« entfuhr es Ivo, dann sah er seinen Freund anklagend an. »Sándor, sei nicht so grob!«
Ein wütender Blick aus Sándors dunklen Augen traf ihn. »Glaubst du vielleicht, daß du nach all dem Blödsinn, den du dir geleistet hast, und nach deinen nicht gerade freundlichen Worten von vorhin auch noch besondere Rücksichtnahme verdienst?« Er stand auf, dann fügte er barsch hinzu: »Und in die Klinik mußt du trotzdem, weil die Wunde genäht werden muß.«
Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.
»Sándor«, meldete sich Ivo nach einer Weile kleinlaut zu Wort. »Es tut mir leid… ich meine, das mit dem halbwegs brauchbaren Krankenpfleger… und… und…«
Sándor nickte nur. Im Moment war er nicht nur auf Ivo wütend, sondern auf sich selbst, weil er sich trotz aller guten Vorsätze doch hatte provozieren lassen. Der diensthabende Arzt würde ihn für das, was er da getan hatte, nicht gerade loben.
Sándor hielt vor der Waldsee-Klinik an und half Ivo beim Aussteigen. Bereits in der Eingangshalle kam ihnen die Nachtschwester Irmgard Heider entgegen.
»Wer hat heute Nachtdienst?« wollte der junge Krankenpfleger wissen.
»Dr. Parker«, antwortete sie. »Soviel ich weiß, ist er gerade im Untersuchungszimmer der Chirurgie.«
Dorthin brachte Sándor nun auch seinen Freund. Dr. Jeffrey Parker, der hier in der Klinik eigentlich als Anästhesist arbeitete, grinste ihn an.
»Na, Sándor, haben Sie Sehnsucht nach der Arbeit?« wollte er wissen. »Sie können gern hierbleiben und mir helfen. Heute ist hier sowieso die Hölle los.«
»Mein Freund ist vom Rad gestürzt«, erklärte Sándor, ohne auf die Worte des Anästhesisten einzugehen. Normalerweise mochte er Dr. Parker sehr gern, aber im Moment hatte er nicht nur Angst vor der Reaktion des Arztes, wenn dieser erst mal sah, wie er Ivos Bein versorgt hatte, sondern er war auch über Ivos Verhalten gekränkt und darüber hinaus schrecklich müde. Immerhin hatte er gestern einen ziemlich anstrengenden Dienst gehabt.
»Na, dann wollen wir uns mal ansehen, was genau passiert ist«, meinte Dr. Parker.
»Er hat sich hauptsächlich Schürfwunden zugezogen«, entgegnete Sándor. »Nur die Verletzung am Bein muß wohl genäht werden.« Er schwieg kurz. »Ich habe schon mal Erste Hilfe geleistet.«
Vorsichtig nahm Parker den Verband ab, dann sah er Sándor ernst an.
»Erste Hilfe nennen Sie das?« Er schüttelte den Kopf. »Mein lieber Sándor, ich würde das eher als Körperverletzung bezeichnen. Los, gehen Sie hinaus, und warten Sie dort auf mich.«
Der junge Krankenpfleger gehorchte mit gesenktem Kopf. Er wußte ja selbst, daß das, was er getan hatte, nicht richtig gewesen war.
»So, und nun zu Ihnen«, meinte Dr. Parker und sah Ivo an. »Sind Sie vielleicht in einen Cognaksee gefallen?«
Ivo errötete tief. »Ich… ich vertrage keinen Alkohol.«
»Was nicht unbedingt eine Antwort auf meine Frage ist«, stellte Dr. Parker trocken fest. »Ich werde Ihr Bein nur vereisen, weil mir das Risiko zu groß ist, Ihnen zu der Alkoholkonzentration in Ihrem Blut auch noch ein Lokalanästhetikum zu verabreichen. Möglicherweise spüren Sie es ein bißchen, wenn ich die Wunde nähe.«
»Das halte ich schon aus«, versicherte Ivo tapfer. Sein Kopf war noch immer vom Alkohol benebelt, trotzdem machte er sich nun Gedanken um seinen Freund. »Wird Sándor Schwierigkeiten bekommen?«
Dr. Parker nickte. »Ja. Er darf eine solche Wunde nicht einfach mit Jod auspinseln. Im übrigen war der Verband falsch angelegt. So etwas sollte einem Krankenpfleger nicht passieren.«
»Sándor wollte das nicht tun«, entgegnete Ivo im plötzlichen Bemühen, seinem Freund zu helfen. »Ich war… so aggressiv und… ungerecht. Ich habe ihn richtig provoziert. Vermutlich war er einfach wütend auf mich… und das zu Recht.« Er senkte den Kopf. »Bitte, vergessen Sie das Ganze… bestrafen Sie Sándor nicht.«
»Mal sehen«, wich Dr. Parker aus, dann kümmerte er sich erst mal um die Wunde. Anschließend ließ er Ivo von der Nachtschwester auf die Station bringen.
»Warum muß ich hierbleiben?« wollte Ivo wissen.
»Weil ich Sie unter Kontrolle haben will, bis Sie wieder nüchtern sind«, entgegnete Dr. Parker, dann machte er sich auf die Suche nach Sándor. Der junge Krankenpfleger saß wie ein Häufchen Elend auf einer der weißen Plastikbänke in der Eingangshalle.
»Was Sie sich da geleistet haben, war ein starkes Stück«, begann Dr. Parker ohne Umschweife. »Wie ich vorhin schon sagte – mit Erster Hilfe hatte das, was Sie getan haben, wenig zu tun, und so eine Schlamperei bin ich von Ihnen eigentlich nicht gewohnt. Sie sind sonst nämlich ein überaus guter Krankenpfleger, also kann ich davon ausgehen, daß Sie genau wissen, welche Fehler Sie gemacht haben.«
Sándor nickte, dann gestand er leise: »Ich war wütend auf Ivo. Er war so… streitsüchtig, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht von ihm provozieren zu lassen…« Er zögerte einen Moment, dann begann er von vorn. »Ivo hat offensichtlich Probleme, und als ich ihn gestern abend in angetrunkenem Zustand getroffen habe, habe ich ihn mit zu mir genommen. Mitten in der Nacht ist er heimlich abgehauen, und als ich ihn endlich fand, fuhr er mir mit dem Rad davon. Nach seinem Sturz wollte ich ihn gleich hierherbringen, aber…« Er schwieg mit gesenktem Kopf. »Das alles ist wohl keine Entschuldigung.«
Dr. Parker setzte sich neben ihn. »Ihr Freund hat schon ein gutes Wort für Sie eingelegt, trotzdem kommen Sie mir nicht ganz ungestraft davon. Sie werden außerhalb Ihrer Dienstzeit einen Erste-Hilfe-Kursus absolvieren, sich die Teilnahme schriftlich bestätigen lassen und mir diese Bestätigung vorlegen.«
Der junge Krankenpfleger begriff. Dr. Parker würde über die Sache kein weiteres Wort verlieren.
»Danke«, murmelte Sándor.
Der Anästhesist stand auf. »Fahren Sie jetzt nach Hause. In zwei Stunden fängt Ihr Dienst an. Vielleicht können Sie sich zuvor noch ein bißchen aufs Ohr hauen.«
Auch Sándor erhob sich. »Und Ivo?«
»Der bleibt vorerst hier.« Dr. Parker lächelte. »Machen Sie sich keine Gedanken, ich passe schon auf, daß er nicht wieder entwischt.« Er schwieg kurz. »Sie werden morgen sicher Gelegenheit haben, mit ihm über seine Probleme zu sprechen… wobei er dann vermutlich noch eines mehr haben wird – einen mordsmäßigen Kater nämlich.«
»Den mit Sicherheit«, meinte Sándor, verabschiedete sich von Dr. Parker und fuhr nach Hause.
*
Kai Horstmann hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, seine Verlobte an diesem Morgen persönlich in die Waldsee-Klinik zu bringen. Am liebsten wäre er auch bei der geplanten Untersuchung dabeigewesen, doch nach dem gestrigen Tag, den er sich ganz überraschend freigenommen hatte, wollte ihm sein Chef nur noch zubilligen, daß er eine Stunde später ins Büro kommen könnte.
»Ich hoffe, du wirst auch ohne meine Hilfe zurechtkommen«, bedeutete Kai seiner Verlobten mit den Händen. »Laß dir von den Ärzten und Schwestern hier nur nichts gefallen. Und sieh zu, daß die mit den Untersuchungen nicht zu lange herumtrödeln. Die sollen sich an dir keine goldene Nase verdienen.«
»Dr. Daniel ist sehr nett«, gab Nikola zurück. »Er wird hier sicher nichts Unnötiges machen.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Ich vertraue ihm.«
Das gefiel Kai ganz und gar nicht, doch er hütete sich, eine diesbezügliche Bemerkung zu machen.
»Ich komme heute abend zu dir«, signalisierte er.
Nikola nickte, dann küßte sie ihn zum Abschied. Als er gegangen war, packte sie ihr kleines Köfferchen aus, zog ein Nachthemd an und legte sich in das frisch bezogene Bett. Sie fühlte sich unsicher in dieser fremden Umgebung und sehnte fast den netten Arzt herbei, den sie gestern kennengelernt hatte. Dr. Daniel machte einen so zuverlässigen Eindruck.
Nikola sah, wie sich die Tür öffnete. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, daß es Dr. Daniel war, der jetzt zu ihr hereinkam.
»Guten Morgen, Fräulein Forster«, konnte sie von seinen Lippen ablesen. »Wie fühlen Sie sich?«
Nikola holte den Block hervor, den man ihr samt Stift bereitgelegt hatte und schrieb: Die Klinik ist sehr angenehm. Man hat gar nicht das Gefühl, in einem Krankenhaus zu sein.
Dr. Daniel las, dann lächelte er. »Ich freue mich, wenn es Ihnen bei uns gefällt.« Spontan setzte er sich auf die Bettkante, reichte Nikola den Block wieder und wurde plötzlich ernst. »Sie wissen, daß ich bei der gestrigen Untersuchung einige ganz schlimme Verletzungen entdeckt habe. Deshalb habe ich die körperliche Untersuchung, die nötig gewesen wäre, nicht wirklich durchgeführt, sondern nur so getan, weil Ihr Verlobter anwesend war, der von dieser Geschichte offenbar gar nichts weiß.« Er schwieg kurz. »Möchten Sie mir erzählen, wie es zu diesen Verletzungen kam?«
Heftig schüttelte Nikola den Kopf. Ihre Hand zitterte als sie nun schrieb: Verzeihen Sie, aber ich kann noch nicht darüber sprechen.
Dr. Daniel nickte. »Das respektiere ich natürlich.« Er nahm Nikolas Hände und hielt sie fest. »Wenn Sie soweit sind, dann geben Sie mir bitte Bescheid. Ich werde mir für Sie Zeit nehmen – gleichgültig, wann immer es sein wird.«
In Nikolas Augen stand Dankbarkeit.
Ganz sanft drückte Dr. Daniel ihre Hände, dann sah er die junge Frau aufmerksam an. »Wie sieht es heute mit Ihren Unterleibsbeschwerden aus?«
Die Schmerzen sind noch immer da, schrieb Nikola, zögerte kurz und setzte hinzu: Vielleicht hängt es auch mit diesen Verletzungen zusammen.
Dr. Daniel las, dann nickte er. »Das ist gut möglich.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Wir werden die Ursache dafür schon finden, Fräulein Forster. Für heute mittag habe ich eine Untersuchung angesetzt, die man als Pelviskopie bezeichnet.« Er sah die Angst in Nikolas Augen und streichelte beruhigend ihre Hand. »Keine Sorge, Sie werden davon nichts spüren. Die Untersuchung wird in Vollnarkose durchgeführt. Sie werden ein bißchen schlafen, und wenn Sie aufwachen, ist schon alles vorbei.«
Nikola atmete merklich auf und machte dann eine Handbewegung, die Dr. Daniel unschwer deuten konnte.
»Sie müssen sich nicht bedanken«, meinte er. »Rücksichtnahme ist für mich ganz selbstverständlich – und zwar in jedem Fall.«
Nikola nahm den Block wieder zur Hand, lächelte Dr. Daniel an und schrieb: Ich bin sehr froh, daß ich hiersein kann.
*
Als Dr. Daniel nach dem für ihn äußerst ungewohnten Gespräch wieder auf den Flur trat, kam ihm die Stationsschwester der Gynäkologie, Carola Stenzl, entgegen.
»Die arme Frau«, urteilte sie mit einem teilnahmsvollen Blick zu der Tür, hinter der sie Nikola Forster wußte. »Es muß schrecklich sein, wenn man nicht hören und sprechen kann.«
»Ja«, stimmte Dr. Daniel zu. »Ich stelle mir das ebenfalls sehr schlimm vor. »Er schwieg kurz. »Es ist auch äußerst schwierig, ihr in diesem Fall ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, dabei hätte gerade sie es jetzt bitter nötig.«
»Ihr Freund ist ein recht unangenehmer Zeitgenosse«, meinte Carola, die glaubte, daß sich Dr. Daniels letzte Worte auf Kai bezogen hatten, doch der Arzt schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, ob man das so pauschal beurteilen kann«, entgegnete er. »Ich gebe zu, daß mir Herr Horstmann nicht übermäßig sympathisch ist, aber vielleicht versucht er einfach nur, seine Verlobte zu schützen.«
Carola nickte nachdenklich. »Von dieser Seite habe ich es eigentlich noch nicht betrachtet, aber Sie können natürlich recht haben. Wahrscheinlich ist er nur besorgt um sie.«
»Ich bin sicher, daß ich das in diesem Falle auch wäre«, meinte Dr. Daniel, dann blickte er auf die Uhr. »Ich muß jetzt in die Praxis. Während meiner Mittagspause soll die Pelviskopie bei Fräulein Forster gemacht werden. Sie darf also wegen der anstehenden Narkose nichts mehr zu essen bekommen. Informieren Sie bitte auch Frau Dr. Metzler, daß Sie sich so gegen ein Uhr für die Anästhesie bereithalten möchte. Ich hätte sie selbst informiert, aber ich muß mich nun wirklich beeilen.«
»Keine Sorge, Herr Doktor, ich werde es ihr ausrichten«, versprach Carola, und Dr. Daniel wußte, daß er sich auf die junge Krankenschwester verlassen konnte.
In der Praxis warteten dann auch tatsächlich schon etliche Patientinnen auf ihn. Die Sprechstunde zog sich entsprechend in die Länge, so daß Dr. Daniel nur mit Mühe und Not um ein Uhr zur Stelle sein konnte.
In der Zwischenzeit hatte man Nikola bereits in den kleinen Operationssaal der Gynäkologie gebracht und die Anästhesistin Dr. Erika Metzler leitete soeben die Narkose ein.
»Das klappt ja alles wie am Schnürchen«, stellte Dr. Daniel zufrieden fest. »Vielleicht komme ich dann vor Beginn der Nachmittagsstunde sogar noch dazu, einen Happen zu essen.«
Er beugte sich über Nikola und sah, daß ihre Lider schon zu flattern begannen.
»Sie müssen überhaupt keine Angst haben, Fräulein Forster«, meinte er, obwohl er nicht sicher war, ob Nikola in diesem Zustand noch von seinen Lippen würde ablesen können. »In ein paar Minuten ist alles vorbei.«
Keine Reaktion von Nikola deutete darauf hin, ob sie verstanden hatte oder nicht. Die Augen fielen ihr zu. Dr. Daniel tauschte mit Erika Metzler einen kurzen Blick.
»Also, fangen wir an«, meinte er. Er nahm zuerst die körperliche Untersuchung vor, die er Nikola wegen der sicher noch schmerzhaften Verletzungen in seiner Praxis nicht hatte zumuten wollen, doch hier ergab sich kein krankhafter Befund, was die Pelviskopie tatsächlich erforderlich machte.
Dr. Daniel griff nach dem Skalpell und setzte den kurzen Schnitt, der nötig war, um die Untersuchung durchzuführen. Es dauerte tatsächlich nur wenige Augenblicke, bis er den Abstrich von den Eileitern genommen hatte.
»Bringen Sie das bitte ins Labor«, wies er die OP-Schwester der Gynäkologie, Monika Merten, an. »Vielleicht kann Dr. Scheibler es heute noch auswerten.«
Schwester Monika nickte und beeilte sich, Dr. Daniels Anordnung nachzukommen. Währenddessen legte dieser schon die kurze Naht, dann trat er vom OP-Tisch zurück und warf einen Blick auf die große Uhr, die über dem Eingang zum Operationstisch hing.
»Erika, bringen Sie die Patientin bitte in den Aufwachraum«, sagte er. »Ich werde in der Kantine noch eine Kleinigkeit essen und dann selbst nach Fräulein Forster sehen.«
»In Ordnung, Robert«, stimmte Erika zu. Sie lächelte. »Lassen Sie sich mit dem Essen ruhig etwas Zeit. Ich werde mich in der Zwischenzeit schon um die junge Frau kümmern.«
Dieses Angebot hätte sich die Anästhesistin sparen können, denn natürlich nahm sich Dr. Daniel fast gar keine Zeit. Obwohl er wußte, wie ungesund es
war, aß er äußerst hastig und machte sich danach unverzüglich auf den Weg zum Aufwachraum, wo Nikola auch gerade zu sich kam.
Dr. Daniel beugte sich über sie und lächelte in ihre müden Augen.
»Haben Sie Schmerzen, Fräulein Forster?« fragte er und sprach dabei besonders langsam, damit Nikola keine Probleme hatte, unter den Nachwirkungen der Narkose von seinen Lippen abzulesen.
Schwach schüttelte sie den Kopf.
»Das ist schön«, meinte Dr. Daniel und streichelte väterlich über ihr dunkles Haar. »Die Müdigkeit wird jetzt auch bald vergehen. Es war nur eine ganz leichte Narkose, die Sie bekommen haben.«
Nikola nickte, dann bedeutete sie Dr. Daniel, daß sie etwas aufschreiben wolle. Er reichte ihr Block und Stift. Nikolas Hand zitterte ein wenig, trotzdem war ihre Schrift gut lesbar.
»Habe ich eine sehr schlimme Krankheit?« wollte sie wissen.
»Es ist bestimmt nichts, was man mit Medikamenten nicht behandeln könnte«, antwortete Dr. Daniel. »Unser Chefarzt wird den Abstrich, den ich vorhin genommen habe, noch heute untersuchen. Ich denke, daß wir spätestens morgen früh das Ergebnis besprechen können.« Er zögerte. »Vom medizinischen Standpunkt her bestünde eigentlich keine Notwendigkeit für Sie, über Nacht in der Klinik zu bleiben. Wenn Sie also in ein paar Stunden nach Hause möchten, hätte ich nichts dagegen einzuwenden.«
Nikola schüttelte den Kopf, griff wieder nach Stift und Block und schrieb. Ich möchte hierbleiben. Sie zögerte und setzte dann mit sichtlicher Beklommenheit hinzu: Es sei denn, Sie brauchen das Bett anderweitig.
»Nein, Fräulein Forster«, versicherte Dr. Daniel sofort. »So waren meine Worte von vorhin nicht gemeint, ganz im Gegenteil. Ich bin sogar froh, wenn Sie noch ein paar Tage bleiben, weil ich auch Ihre Verletzungen gern im Auge behalten würde. Das Angebot, nach Hause zu gehen, habe ich Ihnen nur gemacht, weil ich weiß, daß sich die meisten Menschen nicht darum reißen, im Krankenhaus zu bleiben.«
Nikola lächelte ein wenig, dann tastete sie nach Dr. Daniels Hand und drückte sie ein wenig. Der Arzt verstand. Nikola fühlte sich hier sicher und geborgen – und sie hatte Vertrauen zu ihm. Das waren die besten Voraussetzungen, um ihr helfen zu können.
*
Ivo Kersten erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen. Das durch die großen Fenster hereinfallende Licht tat ihm in den Augen weh, und sein Magen fühlte sich an, als hätte irgend jemand damit Fußball gespielt. Stöhnend wollte sich Ivo auf die andere Seite drehen, doch dabei begann sein ganzer Körper erst recht zu schmerzen.
Er blinzelte mühsam und versuchte zu ergründen, wo er war. Das Zimmer war fremd, und das fahrbare Nachttischchen neben seinem Bett sah nach Klinik aus.
»Na endlich«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der Tür her.
Ivos Hände fuhren an seinen schmerzenden Kopf.
»Nicht so laut«, flehte er, dann blinzelte er wieder und erkannte seinen besten Freund. »Sándor. Wie kommst du denn hierher?«
»Zufällig arbeite ich hier«, antwortete der junge Krankenpfleger, dann setzte er sich auf die Bettkante. »Du schaust ganz entsetzlich aus, wenn ich dir das in aller Deutlichkeit sagen darf.«
Ivo nickte vorsichtig. »Genauso fühle ich mich auch.« Er versuchte sich zu erinnern, was am Abend zuvor geschehen war. »Ich war in dem neuen Bistro und habe dort Cognak getrunken.«
»Ja, und das nicht zu knapp«, entgegnete Sándor, dann reichte er Ivo ein Glas in die Hand. »Hier, trink das aus. Das ist gut gegen deinen Kater.«
»Was ist das?« fragte Ivo argwöhnisch.
»Ein altes Hausmittel meiner ungarischen Großmutter«, antwortete Sándor. »Damit hat sie meinem Vater seine Jugendsünden ein bißchen erträglicher gemacht, und auch mir selbst hat es schon gute Dienste geleistet.« Er sah zu, wie Ivo vorsichtig an der Flüssigkeit schnupperte. »Du sollst nicht nur dran riechen, sondern austrinken. Das Zeug schmeckt zwar grauenhaft, aber es hilft.«
Ivo nahm einen kleinen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. »Was ist das? Gift?«
Sándor mußte lachen. »Das wäre natürlich auch ein Mittel gegen die Nachwehen des Alkohols. Aber keine Angst, mein Junge, ich will dich nicht vergiften, sondern dir helfen. Und nun stell dich nicht so an. Austrinken, hab ich gesagt.«
Mit Todesverachtung leerte Ivo das Glas. »Also, viele Jugendsünden hat dein Vater bestimmt nicht begangen.«
»Täusch dich nur nicht. Wenn man meiner Großmutter glauben darf, dann hat er so mit zwanzig, einundzwanzig manche ganze Nacht durchzecht. Erst als er hier in Steinhausen meine Mutter kennenlernte und sie mit nach Ungarn nahm, wurde er angeblich ruhiger.«
»Wenn seine Mutter ihm danach jedesmal dieses Zeug eingeflößt hat, glaube ich das gern«, urteilte Ivo. Vorsichtig faßte er an seinen Kopf. »Aber es scheint tatsächlich zu helfen. Das Dröhnen läßt schon ein bißchen nach. Nur mein Magen fühlt sich noch etwas flau an.« Mit möglichst wenigen Kopfbewegungen blickte er sich im Zimmer ein wenig um. »Warum bin ich eigentlich hier? Hatte ich etwa eine Alkoholvergiftung?«
»Das nun nicht gerade, aber du bist vom Rad gestürzt«, antwortete Sándor.
»Meine Güte, ich habe wirklich einen totalen Filmriß«, gestand Ivo. »Habe ich… irgend etwas angestellt?«
»Wie man’s nimmt«, entgegnete Sándor, dann erzählte er, was in der vergangenen Nacht vorgefallen war. Er ließ nichts aus – nicht einmal seine Erste-Hilfe-Leistung, die eher eine grobe Mißhandlung gewesen war.
»Parker hat mich zu einem
Erste-Hilfe-Kurs verdonnert«, schloß er, dann zuckte er die Schultern. »Dafür wird mein Ausrutscher wenigstens unter uns bleiben.« Ein wenig beschämt senkte er den Kopf. »Es tut mir leid, daß ich so grob zu dir
war.«
Gelassen winkte Ivo ab. Ich weiß nichts mehr davon, also vergiß es. Außerdem war ich ja zumindest mitschuldig an deiner Entgleisung. Ich war in dieser Nacht wohl nicht gerade umgänglich.«
»So könnte man es ausdrücken«, meinte Sándor, dann suchte er den Blick seines Freundes. »Nun aber raus damit, Ivo. Was war der Grund für dein Verhalten?«
»Ich habe Kopfschmerzen«, wich der junge Mann aus. »Laß mich noch ein bißchen schlafen.«
Doch Sándor schüttelte den Kopf. »Du hast bereits fünfzehn Stunden geschlafen. Das ist in meinen Augen mehr als genug. Im übrigen kommen deine Kopfschmerzen nur von dem ungewohnten Alkoholgenuß, und da hilft dir der Schlaf auch nichts. Komm schon, Ivo, ich bin dein bester Freund – dachte ich wenigstens immer. Wenn du mit mir nicht sprechen kannst, mit wem dann?«
Ivo seufzte. »Ja, du bist mein bester Freund, aber…« Resigniert winkte er ab. »Ach, was soll’s? Anne hat mich sitzenlassen, ich bin seit gestern arbeitslos, und daraufhin wurde mir natürlich auch noch die Firmenwohung gekündigt. Reicht das nicht aus, um sich zu betrinken?«
»Voll und ganz«, stimmte Sándor zu, dann schüttelte er betroffen den Kopf. »Meine Güte, da hat’s dich ja wirklich erwischt.«
»Die Kündigung wäre eigentlich nur halb so schlimm«, gestand Ivo niedergeschlagen. »Ich bin nicht wählerisch, was die Arbeit betrifft. Irgendwo werde ich schon wieder unterkommen, aber das mit Anne… das hat mich echt getroffen. Vor einer Woche haben wir noch über einen gemeinsamen Urlaub gesprochen, und gestern kam sie plötzlich an und sagte, sie würde mich nicht mehr lieben – einfach so… ohne Streit, ohne daß ein anderer Mann im Spiel wäre. Ich war wie vor den Kopf gestoßen.«
Sándor senkte den Kopf. Gerade jetzt wollte er Ivo nicht sagen, daß er die Beziehung zwischen ihm und Anna schon immer mit gemischten Gefühlen betrachtet hatte. Ivo war treu wie Gold, Anne dagegen – sie war für eine dauerhafte Beziehung einfach nicht geschaffen. Irgendwie hatte Sándor mit einem so abrupten Ende gerechnet, und auch die Art, wie Anne Schluß gemacht hatte, paßte genau in das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte.
»In diesem Urlaub… da wollte ich sie fragen, ob sie meine Frau werden will«, meldete sich Ivo leise zu Wort.
Seine traurige Stimme schnitt Sándor ins Herz und unwillkürlich fragte er sich, weshalb so anständige Burschen wie Ivo meistens an solche Biester wie Anne gerieten. Dabei wurde Sándor wieder einmal bewußt, welch ein Glück er selbst mit seiner Eva-Maria hatte.
»Hör zu, Ivo, fürs erste ziehst du zu mir«, schlug Sándor spontan vor. »Meine Wohnung ist zwar nur klein, aber wir werden schon miteinander zurechtkommen.«
»Und Eva-Maria wird uns etwas husten«, prophezeite Ivo.
»Wird sie nicht«, widersprach Sándor bestimmt. »Sie mag dich, also wird sie auch nichts dagegen haben, wenn ich dir helfe. Im übrigen kann ich ja auch zu ihr gehen, wenn ich mit ihr ungestört sein will.« Freundschaftlich legte er eine Hand auf Ivos Schulter. »Mach dir darüber mal keine Gedanken. Wichtig ist vorerst nur, daß du eine sichere Bleibe hast, und als nächstes werden wir uns um einen Job für dich kümmern.«
»Zu einem solchen Freund kann man sich eigentlich nur beglückwünschen«, murmelte Ivo gerührt.
*
»Warum wollen Sie meine Verlobte über Nacht in der Klinik behalten?«
Unwillig blickte Dr. Daniel bei dieser nicht gerade höflich vorgebrachten Frage von den Krankenberichten auf, in denen er gerade gelesen hatte. Mit zornigem Gesicht stand Kai Horstmann vor ihm. Dr. Daniel fragte sich unwillkürlich, ob Kais ungezogenes Verhalten wirklich noch mit der Sorge um seine taubstumme Verlobte entschuldigt werden konnte.
»Ich dachte, Sie wollen hier nur eine Untersuchung durchführen«, setzte Kai schroff hinzu. »Soweit ich weiß, wurde die aber bereits gemacht. Warum also halten Sie Nikola dann immer noch hier fest? Wollen Sie die Rechnung, die Sie der Krankenkasse schicken werden, in die Höhe treiben?«
»Jetzt reicht’s aber.« Dr. Daniels Worte kamen mit Nachdruck. »Derartige Unterstellungen muß ich mir von Ihnen nicht gefallen lassen.« Er stand auf. »Ich habe Ihrer Verlobten gesagt, daß ein weiterer Klinikaufenthalt nicht nötig ist, aber sie wollte hierbleiben, bis das Ergebnis der Untersuchung vorliegt, und darüber bin ich persönlich auch sehr froh. Sobald wir hier die Ursache für Fräulein Forsters Unterleibsbeschwerden herausgefunden haben, wird eine Behandlung nötig sein, und die führe ich lieber stationär als ambulant durch.«
»Weil das mehr Geld für Sie bringt«, ergänzte Kai bissig, dann stemmte er seine Hände in die Hüften. »Ich halte es für äußerst fragwürdig, daß Nikola freiwillig in der Klinik bleiben will. Wer reißt sich denn schon darum, das gemütliche Zuhause mit der Hektik eines Krankenhausalltags zu vertauschen?«
»Fragen Sie Ihre Verlobte doch selbst, wenn Sie mir nicht glauben wollen«, entgegnete Dr. Daniel, der mittlerweile wirklich Mühe hatte, ruhig zu bleiben. Die Anschuldigungen dieses Mannes waren in seinen Augen hochgradig unverschämt. »Im übrigen lassen Sie sich gesagt sein, daß man in der Waldsee-Klinik in erster Linie an die Patienten denkt
und erst in zweiter Linie ans Geld.«
Man konnte dem jungen Mann ansehen, daß er Dr. Daniel kein Wort glaubte. Kai war selbst viel zu materialistisch eingestellt, um sich vorstellen zu können, daß für irgend jemanden Geld nicht an erster Stelle stehen könnte.
Jetzt bedachte er Dr. Daniel mit einem abschätzenden Blick, dann drehte er sich um und verließ das Büro grußlos.
»Meine Güte«, knurrte Dr. Daniel. »Bei der Erziehung dieses Burschen ist aber einiges vergessen worden.«
Er verließ sein Büro ebenfalls und suchte Nikolas Zimmer auf. Die Tür stand offen, so daß Dr. Daniel von dem jungen Paar unbemerkt eintreten konnte. Er sah, wie Kai auf der Bettkante saß und zärtlich über Nikolas dunkles Haar strich, während sie in für Dr. Daniel unverständlichen Handzeichen mit ihm sprach.
Lautlos zog sich der Arzt wieder zurück. Der Gedanke, daß Kai wirklich nur besorgt um seine Verlobte war, lag für ihn nun doch wieder nahe. Man mußte an seinem Verhalten wohl einfach gewisse Abstriche machen. Es war für ihn sicher nicht ganz einfach, mit einer taubstummen Frau zusammenzusein.
Währenddessen versuchte Kai, seine Verlobte zur Heimkehr zu bewegen, ohne seine tatsächlichen Beweggründe allzu deutlich zu verraten.
»Es ist doch Unsinn, wenn du hierbleibst, bis die Diagnose vorliegt«, bedeutete er Nikola mit den Händen. »Zu Hause hast du es viel gemütlicher.«
Aber die junge Frau schüttelte den Kopf. Kai wußte ja nichts von ihren Ängsten und Alpträumen, und obwohl Nikola ihn sehr liebte… oder vielleicht sogar gerade deshalb, brachte sie es einfach nicht über sich, ihm von den schlimmen Minuten ihres Lebens zu erzählen. Irgendwie fürchtete sie, Kai könnte sich vor ihr ebenso ekeln, wie sie es selbst seitdem tat. Seit jenem schrecklichen Tag empfand sie ihren Körper als beschmutzt… entehrt, und der Gedanke, Kai könnte dasselbe empfinden… er könnte sich deswegen von ihr abwenden…
»Ich fühle mich wohl hier«, signalisierte sie ihm und war froh dabei, nicht lügen zu müssen. Sie fühlte sich in der Klinik wirklich wohl, darüber hinaus aber auch sicher. Sie hoffte, daß diese Sicherheit sogar soweit gehen würde, daß die Alpträume heute fernblieben. Eine ruhige, ungestörte Nacht… etwas Schöneres konnte sich Nikola im Moment kaum vorstellen.
Kai seufzte abgrundtief, was Nikola allerdings nicht hören konnte.
»Also schön«, gab er endlich nach. »Wenn du glaubst, hier in der Klinik gut aufgehoben zu sein, dann bleibst du diese Nacht eben hier. Morgen nach Büroschluß hole ich dich ab, einverstanden?«
Die junge Frau nickte, dann schmiegte sie sich einige Augenblicke lang an Kai. Er legte seine Hände auf ihren Rücken und streichelte sie sanft, doch plötzlich wurde Nikola steif in seinen Armen. Die Wärme, die von ihm ausging, erinnerte sie plötzlich wieder an jenen Tag… seine Umarmung weckte diese unangenehme Erinnerung, und gleichzeitig glaubte sie, diesen ekelerregenden Geruch zu spüren. Würde sie denn nie wieder irgendeine Berührung ertragen können, ohne an die schlimmsten Minuten ihres Lebens zurückdenken zu müssen?
Einen Moment lang beherrschte sie sich noch, dann löste sie sich von Kai, weil sie es einfach nicht länger aushielt. Sie hatte das dringende Bedürfnis zu schreien und wußte doch, daß sie es niemals können würde.
Aufmerksam sah Kai sie an. »Ist alles in Ordnung?«
Nikola nickte, dann zwang sie ihre bebenden Hände zum Sprechen: »Es sind nur die Unterleibsschmerzen.«
Kais Stirn zog sich in bedrohliche Falten. »Hoffentlich tut dieser Dr. Daniel bald etwas dagegen.«
»Bestimmt«, versicherte Nikola rasch, dann ließ sie sich in die Kissen zurücksinken.
»Ich bin müde«, signalisierten ihre Hände.
Augenblicklich beugte sich Kai über sie, küßte sie sanft und streichelte über ihr dunkles Haar.
»Schlaf schön, mein Liebling«, konnte sie von seinen Lippen ablesen und lächelte ein wenig. Kai beherrschte die Zeichensprache inzwischen perfekt, aber manchmal verzichtete er darauf – meistens dann, wenn er ihr etwas besonders Zärtliches sagen wollte.
Er küßte sie zum Abschied, dann ging er. Lange danach blickte Nikola immer noch zu der geschlossenen Tür. Ganz plötzlich hatte sie Angst, Kai könnte vielleicht nicht mehr zu ihr zurückkehren. Abrupt richtete sie sich auf, stieg aus dem Bett und schlüpfte in Morgenmantel und Pantoffeln, dann trat sie auf den Flur. Wie gehetzt lief sie zur Treppe und stand wenig später schwer atmend in der Eingangshalle.
Das Glashäuschen mit der Aufschrift Information, wo tagsüber die Sekretärin Martha Bergmeier saß, war jetzt leer. In der Waldsee-Klinik herrschte abendliche Stille. Langsam ging Nikola zu der doppelflügeligen Eingangstür und blickte in die Dunkelheit. Das naßkalte Wetter, das zur Zeit herrschte, beendete den Tag merklich früher, so daß es bereits jetzt, kurz vor sieben Uhr abends, schon ziemlich finster war.
Als Nikola plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter fühlte, fuhr sie erschrocken herum und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes.
»Ich habe Sie schon einmal gerufen«, konnte sie von seinen Lippen ablesen. »Haben Sie mich denn nicht gehört?«
Nikola schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, daß sie taubstumm war, obgleich sie nicht annahm, daß der junge Mann ihre Zeichensprache verstehen würde. Um so erstaunter war sie, als er ihr auf eben diese Weise antwortete.
»Tut mir leid, das wußte ich nicht. Ich hoffe, ich habe Sie durch meine plötzliche Berührung nicht zu sehr erschreckt.«
Nikola lächelte.
»Ein bißchen schon«, gab sie zurück, dann wollte sie wissen: »Wie kommt es, daß Sie die Zeichensprache so gut beherrschen?«
Auch der junge Mann lächelte nun, während seine Hände Worte formten: »Ich habe eine Weile an einer Gehörlosenschule gearbeitet.« Er sah die Bewunderung in Nikolas Blick und hob abwehrend beide Hände. »Nicht, was Sie jetzt denken. Ich war dort nur als Pfleger angestellt, aber dabei bekommt man zwangsläufig einiges mit. Im übrigen hat mich die Zeichensprache nicht nur interessiert – ich wollte mich mit den Menschen, die ich Tag für Tag versorge, auch unterhalten können.«
Nikola fand den jungen Mann auf Anhieb sehr sympathisch und konnte sich gut vorstellen, wie beliebt er an jener Gehörlosenschule gewesen sein mußte.
»Arbeiten Sie nun hier als Krankenpfleger?« wollte sie von ihm wissen.
Der junge Mann schüttelte den Kopf, hielt aber mitten in der Bewegung inne und dachte eine Weile nach, dann glitt ein glückliches Strahlen über sein Gesicht.
»Da haben Sie mich jetzt auf eine Idee gebracht«, signalisierte er ihr. »Wissen Sie, ich bin arbeitslos, und eigentlich bin ich nur als Patient hier, aber vielleicht…« Er ließ die Hände für einen Moment sinken, dann lächelte er Nikola an. »Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«
Nikola zögerte. Seit sie Kai kannte, war sie nie mehr mit einem anderen Mann zusammen gewesen – nicht einmal in so harmloser Weise wie jetzt. Kai konnte rasend eifersüchtig sein. Andererseits… die lockere Unterhaltung mit diesem jungen Mann tat ihr so gut. Er schaffte es, sie ihre Ängste vergessen zu lassen.
»Ich würde gern einen Kaffee mit Ihnen trinken«, stimmte Nikola zu, dann lächelte sie beinahe spitzbübisch. »Allerdings sollten Sie sich in diesem Fall mit Ihrem Namen vorstellen, denn mit fremden Männern trinke ich überhaupt nichts.«
Nikola sah, daß er lachte.
»Ich heiße Ivo Kersten«, bedeutete er ihr. »Darf ich jetzt auch Ihren Namen erfahren?«
»Nikola Forster.« Sie legte den Kopf ein wenig schräg und betrachtete ihn eingehend. »Kersten ist ein deutscher Name, Ivo nicht. Was sind Sie denn nun?«
Der junge Mann lachte erneut. »Deutscher – durch und durch. Im übrigen muß ich Sie korrigieren. Der Name Ivo stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet soviel wie Eibe.«
Wieder betrachtete Nikola ihn, dann nickte sie. »Dieser Name paßt gut zu Ihnen. Sie sind anscheinend stark wie ein Baum.« Dabei ging ihr unwillkürlich durch den Kopf, wie glücklich seine Freundin sein mußte, einen solchen Mann an ihrer Seite zu haben. Auch das war neu für Nikola. Derartige Gedanken hatte sie noch nie gestreift, seit sie mit Kai zusammen war schon gar nicht.
Sie liebte Kai und konnte sich ohne ihn nicht mehr vorstellen, doch jetzt, während dieses unbeschwerten Zusammenseins mit Ivo, merkte Nikola, was ihr in der Beziehung mit Kai fehlte: Heiterkeit, Lachen… sicher, sie konnte es nicht hören, aber wenn Ivo lachte, dann blitzten seine Augen… sein ganzes Gesicht war Fröhlichkeit, und erst jetzt erkannte Nikola, wie ernst Kai immer war. Sie konnte sich gar nicht erinnern, ihn in den drei Jahren, seit sie sich kannten, jemals lachen gesehen zu haben, und Nikola wurde schmerzlich bewußt, wie sehr sie gerade das in all den Jahren vermißt hatte.
*
Dr. Daniel erschrak, als er abends noch einmal nach Nikola sehen wollte und ihr Zimmer verwaist vorfand. Im ersten Moment dachte er, Kai hätte seine Verlobte nun doch überredet, die Klinik zu verlassen. Obwohl sich Dr. Daniel heute persönlich hier aufgehalten hatte, wäre es durchaus möglich, daß der Chefarzt die Entlassungspapiere unterschrieben hatte. Allerdings wäre in diesem Fall das Bett bereits frisch bezogen, außerdem entdeckte Dr. Daniel in dem angrenzenden kleinen Bad Nikolas Toilettenartikel.
»Die junge Dame hat eine Eroberung gemacht«, erklang hinter Dr. Daniel plötzlich die Stimme von Nachtschwester Irmgard Heider.
Erstaunt wandte sich der Arzt um. »Wie bitte?«
Irmgard nickte lächelnd. »Sie haben schon richtig gehört, Herr Doktor. Fräulein Forster sitzt mit Herrn Kersten in der Cafeteria.«
»Kersten«, wiederholte Dr. Daniel nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.«
»Ein Patient aus der Chirurgie«, klärte Schwester Irmgard ihn auf. »Er ist seit letzter Nacht stationär hier und wird voraussichtlich morgen entlassen.« In wenigen Worten erzählte sie, wie der Krankenpfleger Sándor den jungen Mann in die Klinik gebracht hatte. »Der Chefarzt will sich morgen bei der Visite die Beinverletzung noch einmal anschauen, und wenn alles in Ordnung ist, kann Herr Forster wieder nach Hause gehen.« Irmgard lächelte noch immer. »Allerdings habe ich den Eindruck, das er das gar nicht mehr will. Wissen Sie, ich habe zufällig gesehen, wie sich Herr Kersten und Fräulein Forster in der Eingangshalle begegnet sind. Zuerst schien die junge Frau sehr deprimiert gewesen zu sein. Aus diesem Grund wollte ich sie ja schon ansprechen, aber Herr Kersten ist mir zuvorgekommen, und inzwischen denke ich, es war besser so. Er scheint die Zeichensprache perfekt zu beherrschen. Jedenfalls sitzen die beiden jetzt in der Cafeteria und unterhalten sich sehr angeregt.«
Dr. Daniel war nicht ganz sicher, was er von dieser Geschichte halten sollte. In den wenigen Gesprächen mit Nikola hatte er eher den Eindruck gewonnen, als wäre sie ein wenig scheu… vielleicht hervorgerufen durch das Verhalten von Kai Horstmann, der seine Verlobte so sehr abschirmte, daß er sie nach Möglichkeit nicht einmal mit einem Arzt allein sprechen lassen wollte.
Spontan machte er sich auf den Weg zur Cafeteria, blieb aber an der Tür stehen. Zu dieser inzwischen doch recht späten Stunde waren Nikola und Ivo die einzigen Besucher, so daß Dr. Daniel keine Probleme hatte, sie ein wenig zu beobachten, ohne dabei selbst gesehen zu werden. Er konnte erkennen, daß Irmgard völlig recht hatte. Die beiden unterhielten sich tatsächlich sehr angeregt und es schien ein ziemlich fröhliches Gespräch zu sein. Dr. Daniel konnte die Handzeichen zwar nicht verstehen, doch Ivo lachte einige Male und auch Nikola machte einen ungewöhnlich gelösten Eindruck.
Leise zog sich Dr. Daniel wieder zurück. In diesen wenigen Minuten hatte er ein völlig anderes Gesicht von Nikola entdeckt, und er mußte gestehen, daß ihm dieses eigentlich sehr viel besser gefiel. Dr. Daniel zögerte einen Moment. Gerade jetzt hätte er sich sehr gern mit Nikola unterhalten, doch andererseits wollte er ihr Beisammensein mit dem jungen Mann nicht stören.
»Guten Abend, Herr Doktor«, wurde er in diesem Moment ganz unverhofft angesprochen und drehte sich um.
»Sándor.« Dr. Daniel war sichtlich überrascht, den jungen Krankenpfleger, den er bereits seit vielen Jahren kannte, zu dieser späten Stunde hier noch anzutreffen. »Dein Dienst ist doch schon längst zu Ende.«
Sándor nickte. »Ich bin eigentlich auch nur auf der Suche nach meinem Freund.«
»Ivo Kersten«, vermutete Dr. Daniel, dann lächelte er. »Mein lieber Sándor, da könntest du im Moment doch nur stören. Dein Freund unterhält sich gerade sehr angeregt mit einer Patientin von mir.«
Sándor versuchte nicht, seine Überraschung zu verbergen. »Das ging aber schnell.«
»Was ging schnell?« hakte Dr. Daniel nach.
»Na ja… Ivo hat gerade ziemlichen Liebeskummer«, entgegnete Sándor. »Seine Freundin hat mit ihm Schluß gemacht. Es ist nicht so, daß sie auch nur eine Träne wert wäre, aber Ivo hat sie nun mal geliebt, und er ist nicht der Typ, der so was leicht wegsteckt.«
»Du kennst ihn sehr gut, nicht wahr?« stellte Dr. Daniel fest.
Sándor nickte. »Sie wissen ja, daß meine Mutter und ich nach dem Tod meines Vaters Ungarn verließen und hierher kamen. Damals war ich fünf, und obwohl ich fließend deutsch sprach, hatte ich es als halber Ungar nicht ganz leicht. Ivo erging es ganz ähnlich. Er kam zwar nicht aus dem Ausland, aber direkt vom Heim, zu fremden Menschen, die laut Gesetz nun seine Eltern waren.«
In diesem Moment erinnerte sich Dr. Daniel. »Ach, dieser Kersten ist das.« Er nickte. »Das war wirklich ein armer Junge. Er wurde von den anderen Kindern oftmals recht gehänselt, weil er keine leiblichen Eltern hatte.«
»In den ersten Jahren steckten Ivo und ich praktisch ständig zusammen«, fuhr Sándor fort. »Doch dann zogen seine Adoptiveltern mit ihm nach München, und wir verloren uns aus den Augen. Erst vor ein paar Jahren trafen wir uns zufällig wieder, und es stellte sich bald heraus, daß die alte Vertrautheit zwischen uns immer noch da war, obwohl wir uns lange nicht gesehen hatten. Ivo arbeitete damals als Krankenpfleger an einer Gehörlosenschule.«
Nun wurde Dr. Daniel natürlich einiges klar. »Deshalb beherrscht er auch die Zeichensprache so gut.«
»Zeichensprache?« fragte Sándor verständnislos.
»Meine Patientin ist taubstumm«, klärte Dr. Daniel ihn auf.
»Ach ja, da habe ich schon was mitgekriegt«, fiel es Sándor nun ein. »Die Schwestern haben sich über sie unterhalten… besser gesagt, über ihren Verlobten. Der hat wohl nicht gerade die Herzlichkeit für sich gepachtet.«
Dr. Daniel mußte schmunzeln. »So könnte man es ausdrücken.« Er wurde wieder ernst. »Allerdings denke ich, daß er um seine Verlobte einfach besorgt ist.«
»Und für Ivo bedeutet das schon wieder eine Enttäuschung«, fürchtete Sándor. »Oder weiß er bereits, daß die junge Frau, mit der er sich anscheinend so gut versteht, gebunden ist?«
»Keine Ahnung«, meinte Dr. Daniel. »Möglicherweise hat Fräulein Forster es ihm ja gesagt. Im übrigen muß ein anregendes Gespräch zwischen einem Mann und einer Frau nicht gleich die große Liebe bedeuten. Man kann sich ja auch so recht gut verstehen.«
Da mußte Sándor dem Arzt recht geben, trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht los, wie gut es gerade in der jetzigen Situation für Ivo wäre, einer wahren, ehrlichen Liebe zu begegnen.
*
Nikola legte sich an diesem Abend mit einem sehr guten Gefühl ins Bett. Seit jenem schrecklichen Tag hatte sie sich nicht mehr so frei und gelöst gefühlt wie heute, und sie wußte, daß das zum Teil… sogar zum größten Teil an Ivos Gesellschaft lag. Es war so befreiend gewesen, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte noch einige Male gelacht, und die Erinnerung an dieses lachende Gesicht begleitete Nikola in den Schlaf.
Um so schockierender kam dann in dieser Nacht der altbekannte Traum über sie. Verzweifelt schlug Nikola um sich. Sie fühlte, wie sie festgehalten wurde, und wollte schreien, doch es ging nicht. Entsetzt riß sie die Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht der Nachtschwester.
»Beruhigen Sie sich doch, Fräulein Forster«, konnte Nikola von ihren Lippen ablesen. »Sie haben nur geträumt. Es ist alles in Ordnung.«
Noch immer starr vor Schreck lag Nikola in ihrem Bett, dann begann sie verzweifelt zu schluchzen. Sie war so sicher gewesen, in dieser Nacht ruhig schlafen zu können, doch nun war der Traum wieder gekommen. Er verfolgte sie, und wahrscheinlich würde er sie ihr ganzes restliche Leben lang verfolgen.
Teilnahmsvoll betrachtete Schwester Irmgard die weinende junge Frau. Im ersten Moment hatte sie daran gedacht, Nikola ein Beruhigungsmittel zu geben, doch sie verwarf diesen Gedanken wieder. Der jungen Frau würde nicht damit gedient sein, wenn man ihre Ängste, die sie zweifellos hatte, medikamentös unterdrückte.
Sehr sanft berührte Irmgard Nikolas Hand und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit auf sich.
»Soll ich Dr. Daniel holen?« fragte sie.
Nikola zögerte, dann schüttelte sie den Kopf und griff nach Block und Stift. Ihre Hand zitterte, als sie schrieb: Es ist mitten in der Nacht, da können Sie Dr. Daniel unmöglich hierherscheuchen.
Irmgard mußte lächeln.
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, meinte sie. »Dr. Daniel wird nicht ärgerlich sein, wenn ich ihn jetzt aus den Federn hole. Er würde vermutlich eher schimpfen, wenn ich es nicht täte.« Beruhigend streichelte sie Nikolas Hand. »Haben Sie keine Angst. Es war nur ein Traum. Hier in der Klinik kann Ihnen nichts passieren.«
Die junge Frau nickte, dann griff sie wieder nach dem Stift. Lassen Sie mir bitte trotzdem das Licht an, und schließen Sie die Tür nicht hinter sich.
Irmgard las, dann drückte sie Nikolas Hand. »Ich werde alles so machen, wie Sie es möchten. Sobald ich mit Dr. Daniel telefoniert habe, komme ich wieder zurück und bleibe bei Ihnen, bis er hier ist.«
Dankbar lächelte Nikola sie an. Alle hier in der Klinik waren so rührend besorgt um sie. Als sie in ihren Gedanken so weit gekommen war, wurde sie fast von schlechtem Gewissen ergriffen. Kai war doch auch immer besorgt um sie! Vielleicht hätte sie seinem Rat folgen und besser nach Hause gehen sollen. Andererseits bereitete ihr der Gedanke, daß sie in diesem Fall mit ihrem neuerlichen Alptraum wieder ganz allein gewesen wäre, ganz besonderes Unbehagen. Der Traum war diesmal fast noch plastischer gewesen als sonst.
Nikola hatte keine Gelegenheit mehr, ihren Gedanken nachzuhängen, denn nun kam Schwester Irmgard schon zurück, und wenig später betrat auch Dr. Daniel das Zimmer. Man merkte ihm nicht an, daß er mitten aus dem Schlaf gerissen worden war. Mit deutlicher Besorgnis sah er Nikola an.
»Was ist passiert?« konnte sie von seinen Lippen ablesen.
Nikola nahm ihren Block zur Hand. »Ich hatte einen schrecklichen Alptraum.« Sie sah Dr. Daniel an, dann schrieb sie dazu: Schwester Irmgard hätte Sie nicht wecken sollen. Es war ja nur ein Traum.
Dr. Daniel las, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Nikola, ich glaube, es war nicht nur ein Traum.« Dabei benützte er absichtlich ihren Vornamen, um ihre Distanz zwischen Arzt und Patientin ein wenig zu überbrücken. »Ich habe das Gefühl, als wäre dieser Traum Ausdruck für etwas, was Ihr Kopf noch nicht verarbeitet hat.«
Heftig schüttelte Nikola den Kopf, doch als Dr. Daniel ihre Hände festhielt, sah sie ihn wieder an.
»Nikola, Ihre Verletzungen haben mir in den vergangenen beiden Tagen sehr zu denken gegeben«, konnte sie von seinen Lippen ablesen. »Und nun noch dieser Alptraum. Ich weiß zwar nicht, was Sie geträumt haben, aber ich kann es mir vorstellen. Bitte, Nikola, haben Sie doch Vertrauen zu mir.«
Die junge Frau vergrub das Gesicht in den Händen und begann haltlos zu weinen. Spontan nahm Dr. Daniel sie in den Arm, doch er versuchte gar nicht, sie zu trösten, sondern ließ sie sich einfach ausweinen.
Nikola war ihm dankbar dafür. Es tat so gut, weinen zu können, und zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Erlebnis empfand sie die Berührung eines Menschen nicht als unangenehm – ganz im Gegenteil. In Dr. Daniels Armen fühlte sie sich sicher und geborgen.
Erst nach langer Zeit löste sie sich von ihm und sah ihn bedauernd an, dann griff sie nach Block und Stift.
Es tut mir leid, daß ich mich so gehenließ, entschuldigte sie sich.
»Ich bin froh, daß Sie es getan haben«, erwiderte Dr. Daniel. »Weinen erleichtert.« Er legte seine Hand auf die ihre. »Können Sie mir denn noch immer nicht sagen, woher Ihre Verletzungen stammen und was der Auslöser für Ihren Alptraum war… besser gesagt… ich nehme an, Sie hatten schon öfter derartige Träume, nicht wahr?«
Nikola atmete tief durch, dann nickte sie.
Sie kommen jede Nacht, schrieb sie. Seit jenem Tag… Der Stift fiel aus ihrer zitternden Hand.
Dr. Daniel hob ihn auf. Er zögerte, ehe er aussprach, was längst nicht mehr nur eine Vermutung war.
»Sie wurden vergewaltigt.«
Die junge Frau nickte, während wieder Tränen über ihre Wangen liefen.
»Und Sie haben niemandem etwas davon gesagt – nicht einmal Ihrem Verlobten«, fuhr Dr. Daniel fort.
Wieder nickte Nikola. Sie versuchte zu schreiben, doch ihre bebenden Hände wollten ihr nicht gehorchen.
»Ganz ruhig, mein Kind«, besänftigte Dr. Daniel sie. »Wir haben Zeit – notfalls die ganze Nacht.«
Dankbar sah Nikola ihn an. Sie wartete, bis das Zittern nachließ, dann versuchte sie es noch einmal.
Ich war einkaufen, schrieb sie. Es geschah am hellichten Tag. Mitten in München. In einer kleinen Sackgasse zwischen zwei Mietblocks.
Erschüttert las Dr. Daniel ihre Worte. Eine Vergewaltigung mitten in München, und niemand hatte Nikola helfen können, weil niemand ihre Schreie hatte hören können. Es waren stumme Schreie gewesen… Schreie, die es nur in ihrem Kopf gegeben hatte…
*
Der Morgen dämmerte bereits, als Nikola endlich wieder einschlief. Dr. Daniel saß an ihrem Bett und hielt noch ihre Hand. Er war zutiefst erschüttert von dem, was er in der vergangenen Nacht erfahren hatte.
Was waren das nur für Menschen, die so etwas taten? Sein Blick ruhte auf Nikolas Gesicht, das jetzt gelöst und entspannt wirkte, doch er wußte, daß es in ihrem Innern völlig anders aussah, und es würde vermutlich noch lange dauern, bis sich das änderte – falls es überhaupt möglich war. Konnte eine Frau so etwas jemals ganz vergessen? Die Angst, die Demütigung, den Schmerz? Das Gefühl, einfach nur benutzt worden zu sein?
Langsam stand Dr. Daniel auf, dann verließ er leise den Raum. Im Schwesternzimmer fand gerade die Dienstübergabe statt.
»Carola«, sprach Dr. Daniel die junge Stationsschwester an. »Fräulein Forster war fast die ganze Nacht wach. Ich möchte, daß sie nicht gestört wird, bis sie ausgeschlafen hat. Den Chefarzt werde ich gleich persönlich informieren, daß die Patientin von der täglichen Visite ausgenommen werden soll.«
»In Ordnung, Herr Doktor«, nahm Schwester Carola die Anweisung entgegen. »Ich werde gleich ein Schild an der Tür anbringen, damit wirklich niemand hineingeht und die junge Frau womöglich aufweckt.«
Dr. Daniel bedankte sich, dann machte er sich auf den Weg zur Chirurgie, wo der Chefarzt Dr. Gerrit Scheibler gerade seinen Dienst antrat.
»Robert, was tun Sie um diese Zeit schon hier?« fragte er erstaunt.
Mit einem tiefen Seufzer fuhr sich Dr. Daniel durch das dichte blonde Haar.
»Ich war die halbe Nacht hier«, erzählte er. »Nikola Forster hatte einen schrecklichen Alptraum, der von einem schrecklichen Erlebnis herrührte.« Er schwieg kurz. »Deshalb bin ich jetzt auch bei Ihnen. Ich möchte Sie bitten, Fräulein Forster heute von der täglichen Visite auszunehmen. Sie muß ihren versäumten Schlaf nachholen.«
Dr. Scheibler nickte verständnisvoll, dann holte er eine Akte hervor. »Die wollte ich Ihnen ohnehin gleich heute früh vorlegen.«
»Das Ergebnis der Abstrichuntersuchung?« erkundigte sich Dr. Daniel, als er auf der Akte Nikolas Namen las.
Dr. Scheibler nickte. »Ihre Vermutung war völlig richtig. Es handelte sich tatsächlich um eine Chlamydieninfektion.«
Dr. Daniel betrachtete das Untersuchungsergebnis und dachte unwillkürlich daran, daß er darüber auch mit Kai Horstmann sprechen mußte – allerdings
erst, wenn er Nikola zuvor noch einige Fragen gestellt haben würde.
»Danke, daß Sie das so schnell erledigt haben, Gerrit«, meinte Dr. Daniel.
»Das ist doch selbstverständlich.« Der Chefarzt musterte ihn besorgt. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Robert?«
Dr. Daniel seufzte noch einmal. »Ja, Gerrit, ich bin nur ziemlich müde. Die Nacht war anstrengend – weniger im körperlicher als vielmehr in psychischer Hinsicht.«
»Sie sind eigentlich zu sensibel für diesen Beruf«, entfuhr es Dr. Scheibler.
»Fangen Sie jetzt auch noch damit an?« erwiderte Dr. Daniel unwillig. »Das durfte ich mir von meinem Freund schon einige Male anhören.«
»Meine Worte waren nicht negativ gemeint«, verwahrte sich Dr. Scheibler. »Gerade Ihre Sensibilität ist es doch, die einen großen Teil Ihrer Beliebtheit ausmacht, aber… Sie sind dadurch eben auch… anfälliger… verletzlicher.« Er seufzte. »Es ist schwierig, das richtig auszudrücken.«
Dr. Daniel lächelte. »Ich verstehe schon, Gerrit, und vermutlich haben Sie sogar recht. Der Fall von Fräulein Forster geht mir tatsächlich gehörig an die Nieren, wie man so sagt.« Er schaute auf die Uhr. »Ich muß zusehen, daß ich in die Praxis komme. Heute mittag werde ich das Untersuchungsergebnis mit Fräulein Forster besprechen.«
Dr. Scheibler sah ihm nach, wie er die Klinik verließ.
»Irgendwann klappt er mal zusammen«, murmelte er, dann ging auch er an seine Arbeit.
*
Ivo Kersten hatte nicht die Geduld zu warten, bis der Chefarzt mit seinem Team zur Visite kam. Kaum hatte er gefrühstückt, da machte er sich auch schon auf den Weg zum Büro des Chefarztes, atmete tief durch und klopfte dann beherzt an.
»Ja, bitte«, erklang von drinnen Dr. Scheiblers tiefe Stimme.
Ivo trat ein. »Guten Tag, Herr Chefarzt.«
Dr. Scheibler sah ihn erstaunt an. Es kam äußerst selten vor, daß Patienten ihn mit diesem Titel ansprachen. Innerhalb der Klinik taten das eigentlich nur die Schwestern und Krankenpfleger.
»Guten Morgen, Herr Kersten«, erwiderte Dr. Scheibler, und nun war es an Ivo, erstaunt zu sein.
»Sie kennen meinen Namen?«
Mit einer einladenden Geste bot ihm der Chefarzt Platz an.
»Üblicherweise merke ich mir nur die Namen meiner Patienten«, meinte er lächelnd. »Vor allem, wenn die Station – wie auch jetzt gerade – nicht voll belegt ist, behalte ich den Überblick.« Er schwieg kurz. »Nun, was führt Sie zu mir? Sind Sie mit der Behandlung nicht zufrieden?«
»Damit hat es überhaupt nichts zu tun«, beeilte sich Ivo zu versichern. »Ich fühle mich hier in der Klinik sogar sehr gut versorgt, aber das nur nebenbei. Es geht um…« Er stockte kurz und atmete tief durch, dann entschloß er sich, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Könnten Sie noch einen Krankenpfleger brauchen?«
Dr. Scheibler schmunzelte. »Bewerben Sie sich immer so direkt?«
Ivo errötete. »Nein, eigentlich nicht. Dieser Gedanke kam mir nur ganz plötzlich – gestern abend, als ich mich mit einer jungen Frau unterhalten habe, die hier ebenfalls Patientin ist.« Er verschränkte die Finger ineinander. »Ich habe nun natürlich auch gar keine Unterlagen dabei, aber Sándor kennt mich, und… ich könnte auch gleich anfangen.«
Der Chefarzt mußte lachen. »Sie fallen ja wirklich mit der Tür ins Haus, Herr Kersten. Nun mal langsam. Erstens kann ich über eine Einstellung nicht allein entscheiden. Da hat unser Direktor auch noch ein Wörtchen mitzureden, und gewöhnlich ziehe ich auch unsere Oberärztin vorher zu Rate. Zweitens würden wir uns aufgrund Ihrer Zeugnisse gern ein Bild von Ihnen machen. Ihre Noten und Beurteilungen sind zwar nicht allein ausschlaggebend, aber ein bißchen informiert möchten wir natürlich schon sein.« Er lächelte. »Allerdings will ich ganz offen sein: Wir könnten tatsächlich noch einen guten Krankenpfleger brauchen.«
Rasch erhob sich Ivvo. »Ich werde gleich nach Hause fahren und meine Zeugnisse holen.«
»Moment, Herr Kersten«, bremste Dr. Scheibler jetzt seinen Übereifer. »Noch sind Sie Patient dieser Klinik. Ob und wann Sie nach Hause gehen, entscheide also noch immer ich.«
»Ja, natürlich«, entgegnete Ivo kleinlaut, dann ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken. »Sie müssen ja einen völlig falschen Eindruck von mir bekommen. Normalerweise bin ich nicht so kopflos und ungeduldig, aber… wissen Sie, ich bin vor kurzem arbeitslos geworden und muß deshalb auch aus der Wohnung, die ich hier in Steinhausen bekommen habe. Der Gedanke, so schnell wieder Arbeit zu bekommen, wäre einfach wunderbar für mich.«
Dr. Scheibler mußte lächeln. Der Eifer des jungen Mannes gefiel ihm, und seine Freundschaft mit dem zuverlässigen Sándor besagte ja auch einiges über Ivos Charakter.
»Kommen Sie, Herr Kersten«, meinte Dr. Scheibler und stand auf. »Gehen wir mal in den Untersuchungsraum, dann sehe ich mir Ihr Bein an. Etwas anderes hätte ich heute während der Visite ja auch nicht getan, und wo Sie schon mal hier sind, können wird das auch gleich erledigen.«
Ivo verstand. In seinem Gesicht ging die Sonne auf. »Danke, Herr Chefarzt. Ich meine… daß Sie das so zwischendurch machen, nur damit ich gleich nach Hause kann.«
Er folgte Dr. Scheibler nach nebenan.
»Ziehen Sie bitte die Schlafanzughose aus, und legen Sie sich auf die Untersuchungsliege«, bat Dr. Scheibler, dann trat er zu dem jungen Mann und betrachtete die Wunde, die Dr. Parker genäht hatte. »Das sieht tatsächlich schon sehr gut aus. Haben Sie noch Schmerzen?« Warnend hob er den Zeigefinger. »Ich will eine ehrliche Antwort.«
»Beim Gehen tut’s noch ein bißchen weh«, antwortete Ivo wahrheitsgemäß.
Dr. Scheibler dachte eine Weile nach, dann nickte er. »Also schön, Sie können heute nach Hause gehen. Ich richte Ihre Entlassungspapiere her, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie bis auf weiteres zweimal wöchentlich hierherkommen und die Wunde anschauen lassen.«
»Ganz bestimmt«, versicherte Ivo, dann stand er auf und zog sich wieder an. »Kann ich gleich gehen?«
Dr. Scheibler mußte lächeln. »Nein. Ich habe doch gesagt, daß ich die Entlassungspapiere noch herrichten muß. Ein bißchen Geduld werden Sie ja wohl noch haben.« Er betrachtete den sympathischen jungen Mann. »Wo haben Sie denn bisher gearbeitet?«
»In dem kleinen Detektivbüro in der Kreisstadt«, antwortete Ivo.
Dr. Scheibler versuchte gar nicht erst, sein Erstaunen zu verbergen. »In einem Detektivbüro?«
Ivo nickte. »Es war zum Teil recht interessant, obwohl die Stellung für mich eigentlich nur deshalb einen so großen Reiz hatte, weil ich dadurch gleichzeitig eine Wohnung bekam. Unserem Chef gehört hier in Steinhausen nämlich ein kleiner Appartementblock, den er an seine Mitarbeiter vermietet.« Er senkte den Kopf. »Ich war damals arbeitslos und hatte zudem auch noch ziemlichen Ärger mit meinen Adoptiveltern, daher kam mir dieser Job natürlich sehr gelegen.«
»Ihre Offenheit mir gegenüber freut mich sehr«, gab Dr. Scheibler zu. »So genau wollte ich es aber gar nicht wissen. Ich war vielmehr über Ihre Tätigkeit an sich erstaunt. Wenn Sie in einem Detektivbüro gearbeitet haben – wie kommen Sie dann darauf, sich hier als Krankenpfleger zu bewerben? Diese beiden Tätigkeitsbereiche sind ja nicht unbedingt miteinander verwandt.«
Ivo lachte. Es war ein offenes, ehrliches Lachen. »Wissen Sie, ich habe in meinem Leben schon vieles ausprobiert. Als ich aus der Schule kam, zwangen mich meine Eltern in ein Büro, aber das war nichts für mich. Ich kann nicht acht Stunden täglich an einem Computer sitzen. Nach meiner Lehre machte ich mich also auf die Suche nach einem Job, der mir gefiel, und landete in einer Gehörlosenschule… na ja, es war nicht nur eine Schule, sondern eine ziemlich große Einrichtung mit integrierter Klinik. Da arbeitete ich ein paar Jahre als Krankenpfleger, doch dann wurde die Klinik unrentabel, und ich stand plötzlich auf der Straße. In den beiden Jahren danach war ich kurzzeitig in einem Altenheim, sprang im Kindergarten der Kreisstadt als Koch ein und war sogar ein paar Monate lang auf dem Bau als Maurergehilfe.« Sehr ernst sah er Dr. Scheibler an. »Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Es ist nicht so, daß ich es nirgends lange aushalten würde. Mir wurde auch nie gekündigt, weil man mit meiner Arbeitsleistung nicht zufrieden gewesen wäre. Es waren einfach immer widrige Umstände, die dazu geführt haben.« Er fuhr sich durch das dichte, dunkelblonde Haar. »Meinen Eltern hat mein Lebenswandel natürlich nicht gepaßt, und als ich meine Maurerstellung verloren hatte, wollten sie mich auf Biegen und Brechen in die EDV-Abteilung einer großen Firma bringen. Zum gleichen Zeitpunkt las ich die Annonce des Detektivbüros und bewarb mich dort. Ich wurde eingestellt, bekam das kleine Appartement in Steinhausen und überwarf mich endgültig mit meinen Eltern. Ich versuchte noch ein paarmal mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wollte sie davon überzeugen, daß ich weiß, was das Richtige für mich ist, aber…« Er schwieg mit gesenktem Kopf, dann blickte er Dr. Scheibler wieder an.
»Hier in Steinhausen traf ich Sándor wieder, mit dem ich viele Jahre zuvor gemeinsam in der Schule war. Schon damals gingen wir durch dick und dünn, und diese Freundschaft lebte wieder auf. Dann lernte ich Anne kennen. Mein Leben war rundherum in Ordnung – bis jetzt. Anne hat mich sitzenlassen, mein Chef hat mir gekündigt, weil die Aufträge in letzter Zeit abnahmen und ich eben der Letzte war, der eingestellt worden war. Mit der Kündigung habe ich auch meine Wohnung verloren… besser gesagt, bis in sechs Wochen muß ich halt ausgezogen sein. Aus Kummer darüber habe ich mich dann sinnlos betrunken.« Er zeigte ein schiefes Grinsen. »Viel war dazu nicht nötig, weil ich praktisch nie Alkohol trinke. Wie auch immer, Sándor hat mich jedenfalls aufgesammelt, was in meinem Zustand auch nicht ganz einfach war, und hierher gebracht.« Er zuckte die Schultern. »Nun wissen Sie alles.«
»Ja, das kann man wohl sagen«, meinte Dr. Scheibler und legte eine Hand auf Ivos Arm. »Ich richte jetzt Ihre Entlassungspapiere her, dann gehen Sie nach Hause und suchen Ihre Unterlagen heraus – auch wenn das vermutlich nur noch eine Formsache sein wird. Für heute nachmittag bestelle ich Dr. Daniel und Frau Dr. Walther in mein Büro, und dann setzen wir uns in aller Ruhe zusammen.« Er lächelte Ivo an. »Ich glaube, Sie werden bald wieder eine Stellung haben.«
*
Als Nikola Forster um die Mittagszeit erwachte, saß Dr. Daniel an ihrem Bett. Noch etwas benommen von der durchwachten Nacht und dem langen Vormittagsschlaf richtete sich Nikola auf und griff nach ihrem Block.
Haben Sie die ganze Zeit über an meinem Bett gesessen? wollte sie wissen.
Dr. Daniel las, dann schüttelte er lächelnd den Kopf. »Nein, Nikola, ich war zwischendurch mal eben in der Praxis.« Er wurde ernst. »Ich bin hier, um das Untersuchungsergebnis mit Ihnen zu besprechen.«
Nikola erschrak ein wenig. Der Stift flog über das Papier. Ist es etwas Schlimmes?
»Die Krankheit an sich läßt sich gut mit Antibiotika behandeln«, antwortete Dr. Daniel. »Es handelt sich um eine sogenannte Chlamydien-Infektion, die ausschließlich durch Geschlechtsverkehr übertragen wird.«
Nikola verstand.
Der Mann, der mich vergewaltigt hat, schrieb sie, und Dr. Daniel bemerkte, daß ihr jedes Wort schwergefallen war.
»Das ist anzunehmen«, meinte Dr. Daniel, zögerte kurz und fuhr dann fort: »Was ich jetzt frage, muß Ihnen sehr indiskret vorkommen, aber ich muß es wissen – aus rein medizinischen Gründen. Hatten Sie und Ihr Verlobter seit der Vergewaltigung intimen Verkehr?« Er schwieg kurz. »Dabei könnte er sich nämlich ebenfalls angesteckt haben und müßte dann auch behandelt werden.«
Nikola griff nach Block und Stift und begann zu schreiben: Wir waren seit jenem Tag nicht mehr intim. Ich habe Ausreden benützt, weil ich es nicht ertragen hätte, von einem Mann berührt zu werden – nicht einmal von Kai. Ich liebe ihn, aber auch wenn er mich bloß in die Arme nimmt, muß ich an jene schrecklichen Minuten denken, und dann glaube ich, diesen ekelhaften Geruch zu spüren. Diese Mischung aus Schweiß, Alkohol und etwas, was ich nicht deuten konnte. Erschöpft ließ sie den Stift sinken und reichte Dr. Daniel den Block. Dabei sagte ihr Blick noch viel mehr, als sie zuvor aufgeschrieben hatte. Er sprach von tiefer Verzweiflung, Angst und dem Gefühl, daß sich ihr Leben nie wieder ändern würde.«
»Ich kann mir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie genau Ihnen zumute ist«, erwiderte Dr. Daniel ernst. »Vermutlich ist es auch kein Trost für Sie zu wissen, daß es anderen Frauen, die dasselbe durchmachen mußten wie Sie, ähnlich geht. Auch sie können oft die Nähe des eigenen Mannes nicht mehr ertragen, obwohl sie zuvor ein erfülltes und harmonisches Leben hatten – in jeder Beziehung.« Er schwieg eine Weile. »Was hat Ihr Verlobter zu Ihren Ausflüchten gesagt? Wurde er nicht irgendwann mißtrauisch? Hat er keine Fragen gestellt?«
Nikola nahm den Block von Dr. Daniel wieder entgegen und schrieb: Kai und ich können nicht täglich zusammensein. Er kommt zwar so oft wie möglich nach Steinhausen, aber gerade in den vergangenen beiden Wochen hatte er oft Überstunden zu machen. Darüber hinaus habe ich behauptet, ich hätte meine Tage. Das hat er mir geglaubt.
Dr. Daniel las, was sie geschrieben hatte, hielt den Kopf aber länger gesenkt, als es nötig gewesen wäre. Zwei Wochen waren seit der Vergewaltigung vergangen, und in der ganzen Zeit sollte Kai Horstmann nicht bemerkt haben, wie seine Verlobte allen Zärtlichkeiten ausgewichen war? Unwillkürlich drängte sich dem Arzt der Verdacht auf, daß der junge Mann Nikola vielleicht gar nicht so sehr liebte, wie sie es glaubte.
In der vergangenen Nacht hatte Dr. Daniel zwangsläufig auch von den Vermögensverhältnissen seiner Patientin erfahren, und schon da hatte ihn der Gedanke gestreift, daß Kai vielleicht mehr in ihr Geld als in Nikola selbst verliebt sein könnte.
Doch genau wie heute nacht schob Dr. Daniel auch jetzt wieder diesen Gedanken beiseite und ärgerte sich fast ein wenig über seine Voreingenommenheit. So etwas sah ihm normalerweise gar nicht ähnlich, aber dieser Kai Horstmann war ihm wirklich extrem unsympathisch. Nur deshalb war er, Dr. Daniel, vermutlich auf einen solch haarsträubenden Gedanken gekommen.
»Ich nehme an, Ihr Verlobter wird Sie heute abholen, wenn er aus dem Büro kommt«, vermutete Dr. Daniel.
Beinahe erschrocken sah Nikola ihn an, dann griff sie hastig nach dem Block.
Kann ich nicht noch hierbleiben? wollte sie wissen. Die Gespräche mit Ihnen tun mir so gut und… Sie ließ den Stift einen Moment lang sinken, dann schrieb sie langsam weiter. Hier fühle ich mich sicher.
Dr. Daniel nickte. »Natürlich würde ich Sie gern hierbehalten aber ich fürchte, dagegen wird Ihr Verlobter vehement Einspruch erheben. Ich könnte zwar sagen, daß die Antibiotika-Behandlung Ihren weiteren Klinikaufenthalt nötig machen würde, aber ich fürchte, es wird ihm ein leichtes sein herauszubekommen, daß diese Behandlung auch ambulant durchgeführt werden kann.« Er sah die Angst auf Nikolas Gesicht und tätschelte väterlich ihre Hand. »Keine Sorge, Nikola, wir werden das schon irgendwie hinkriegen.« Er zögerte. »Wenn Sie Ihrem Verlobten sagen würden, was passiert ist, dann wäre das Ganze natürlich einfacher, denn dann könnten wir die wahren Gründe für Ihren Wunsch nach einem weiteren Klinikaufenthalt nennen.«
Heftig schüttelte Nikola den Kopf.
Kai darf davon nie etwas erfahren, schrieb sie. Er könnte sich danach vor meinem Körper nur noch ekeln. Ich selbst empfinde doch schon Abscheu, wenn ich mich im Spiegel betrachte, und für Kai müßte es ja noch viel schlimmer sein. Der Gedanke, daß ein anderer mich berührt hat, mich… Der Stift fiel ihr aus der Hand, als sie schluchzend die Hände vor ihr Gesicht schlug.
Tröstend nahm Dr. Daniel die junge Frau in die Arme. Er konnte sehr gut verstehen, was in ihr vorging. Schon in der vergangenen Nacht hatte sie ihm aufgeschrieben, daß sie praktisch ständig das Bedürfnis hätte sich zu waschen oder zu duschen, und gleichzeitig das Gefühl, doch nie wieder sauber zu werden. Ein ähnliches Empfinden gab es auch bei anderen Vergewaltigungsopfern, die er kannte. Die Abscheu vor dem eigenen Körper war da oft sehr ausgeprägt, ebenso wie die Angst, der Partner könnte ähnlich empfinden.
Nikola wurde in Dr. Daniels Armen allmählich wieder ruhiger. Er suchte ihren Blick, um sicherzugehen, daß sie seine Worte von den Lippen ablesen konnte.
»Ich werde Sie hier in der Klinik behalten – gleichgültig, wie sehr ihr Verlobter mir zusetzen mag«, meinte er. »Ob und wann Sie ihm die Wahrheit sagen, bleibt ganz allein Ihnen überlassen.« Er schwieg kurz. »Allerdings will ich ehrlich sein: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen wirklich helfen kann. In Ihrer Situation sollten Sie sich in psychiatrische Behandlung begeben. Im Kreiskrankenhaus gibt es da einen sehr guten Arzt – Dr. Berg.«
Doch Nikola schüttelte entschieden den Kopf.
Ich habe nur zu Ihnen Vertrauen, schrieb sie. Wenn Sie mir nicht helfen können, dann kann es wohl niemand.
*
Wie Dr. Scheibler schon angedeutet hatte, gab es mit der Einstellung von Ivo Kersten keine Probleme. Dr. Daniel und die Oberärztin Dr. Lisa Walther waren von dem sympathischen jungen Mann auf Anhieb angetan.
»Offiziell habe ich noch Resturlaub«, meinte Ivo eifrig. »Den hat mein Chef mir bewilligt, damit ich die Wohnung vor meinem Auszug renovieren kann, aber viel zu renovieren gibt es da nicht. Schließlich habe ich in der Wohnung ja nicht wie ein Vandale gehaust. Ich könnte also am Montag schon anfangen.«
»Langsam, Ivo«, bremste Dr. Scheibler seinen Enthusiasmus. »Erst mal werden Sie abwarten, bis Ihre Verletzung verheilt ist. Gerade als Krankenpfleger sind Sie praktisch den ganzen Tag auf den Beinen, und es wäre sicher nur eine Frage der Zeit, bis Sie mit Ihrer Wunde Probleme bekämen. Also, genießen Sie Ihren
Resturlaub, und treten Sie die Stellung hier am nächsten Ersten an.«
Ivo strahlte über das ganze Gesicht. »Mensch, ich habe wirklich Glück.« Er stand auf. »Brauchen Sie mich jetzt noch, oder darf ich jemanden besuchen?«
»Gehen Sie nur«, meinte Dr. Scheibler.
Höflich verabschiedete sich Ivo, bedankte sich nochmals für die Stellung, die er bekommen hatte und verließ schließlich das Chefarztbüro. Die drei Ärzte sahen ihm nach, dann ergriff Dr. Daniel das Wort.
»Ein sympathischer Junge«, urteilte er. »Ich glaube, da haben wir möglicherweise einen Glücksgriff getan.«
Dr. Scheibler und Lisa Walther nickten zustimmend.
Währenddessen war Ivo schon auf dem Weg zur Gynäkologie, dann blieb er vor Nikolas Zimmertür stehen, atmete tief durch und klopfte an. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß sie das gar nicht hören konnte.
Ivo öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinein, doch zu seiner großen Erleichterung war Nikola allein. Sie lächelte, als sie ihn sah.
»Hallo, Ivo«, begrüßte sie ihn. »Schön, daß Sie mich besuchen.«
Spontan setzte er sich an ihr Bett und antwortete ebenfalls in Handzeichen: »Das hatte ich Ihnen doch versprochen. Außerdem muß ich mich bei Ihnen bedanken. Immerhin haben Sie mich auf die Idee gebracht, mich hier als Krankenpfleger zu bewerben, und gerade habe ich die Stellung bekommen.«
Man konnte Nikola ansehen, daß sie sich aufrichtig mit Ivo freute.
»Das ist ja wunderbar«, bedeutete sie ihm. »Wann treten Sie Ihre neue Stellung an?«
»Am kommenden Ersten«, antwortete Ivo, zögerte ein wenig und signalisierte schließlich: »Werden Sie dann noch hier sein?«
Nikola wurde ernst. Sie schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Vermutlich will mich mein Verlobter sogar heute schon abholen, aber ich möchte noch hierbleiben. Die Gespräche mit Dr. Daniel tun mir sehr gut. Ich fühle mich in dieser Klinik ausgesprochen wohl.«
Die Erwähnung ihres Verlobten traf Ivo wieder mitten ins Herz. Schon gestern, als sie zusammen in der Cafeteria gewesen waren, hatte ihn die Tatsache, daß Nikola verlobt war, tief getroffen.
»Ich wurde heute vormittag entlassen«, bedeutete Ivo ihr. »Aber solange Sie hier sind, würde ich gern wiederkommen, um Sie zu besuchen.«
Nikola senkte einen Augenblick den Kopf, dann sah sie Ivo wieder an.
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee.« Man konnte ihr anmerken, wie schwer es ihr fiel, diese Worte zu formen. »Sie wissen, daß ich verlobt bin.«
»Ich will Sie aber wiedersehen«, entgegnete Ivo. »Niki, bitte…«
Niki. Die junge Frau saß da und sah vor ihrem geistigen Auge noch immer die Handbewegungen, mit denen Ivo dieses eine zärtliche Wort geformt hatte. Noch nie zuvor hatte irgend jemand Niki zu ihr gesagt.
Genau in diesem Moment ging die Tür auf. Erschrocken fuhr Ivo herum und sah sich einem großen, schlanken Mann mit dunklem Haar und eisblauen Augen gegenüber. Ivo wußte sofort, wer das sein mußte.
»Was ist hier los?« fragte der Mann, und seine Stimme klang extrem hart.
Ivo erhob sich.
»Ich heiße Ivo Kersten«, stellte er sich vor. »Nikola und ich sind uns gestern zufällig begegnet und…«
»Nikola?« widerholte der Mann beinahe drohend. »Für Sie ist meine Verlobte immer noch Fräulein Forster, haben Sie mich verstanden?« Er trat neben Nikola und legte mit einer besitzergreifenden Geste einen Arm um ihre Schultern.
»Kai, beruhige dich«, bat Nikola ihn mit Handzeichen. »Es ist alles ganz harmlos. Herr Kersten hat mich nur besucht, um mir zu sagen, daß er hier eine Stellung als Krankenpfleger bekommen hat.«
»Das dürfte für dich ziemlich uninteressant sein«, entgegnete Kai. »Immerhin werde ich dich jetzt mit nach Hause nehmen, und die Wahrscheinlichkeit, daß du diesem Herrn in seiner Eigenschaft als Krankenpfleger noch einmal begegnest, ist äußerst gering.«
Nikola schluckte. Offensichtlich wußte Kai noch nicht, daß sie hierbleiben wollte.
»Die Behandlung meiner Krankheit wird stationär durchgeführt«, signalisierte sie.
Kais Stirn zog sich in unwillige Falten. »Ist das denn nötig? Ich meine, so toll ist es für dich in dieser Klinik ja nun auch wieder nicht. Eine ambulante Behandlung wäre doch viel sinnvoller, dann könntest du wenigstens zu Hause sein – in deiner gewohnten Umgebung.«
Bevor Nikola zu einer Antwort kam, wandte sich Kai mit wütendem Gesichtsausdruck an Ivo, der noch immer im Raum stand.
»Wollen Sie nicht endlich gehen?« herrschte er ihn an. Dabei kam ihm zugute, daß Nikola seinen unfreundlichen Ton nicht hören und in diesem Moment auch sein Gesicht nicht sehen konnte. »Falls Sie es noch nicht begriffen haben – meine Verlobte und ich wollen ungestört sein.«
Ivo preßte die Lippen zusammen. Der Kerl war ihm auf Anhieb unsympathisch! Allerdings besagte das eigentlich nicht viel. Im Moment wäre ihm wohl jeder Mann an Nikolas Seite unsympathisch gewesen. Gestern hatte Ivo es noch nicht wahrhaben wollen, doch jetzt gestand er sich ein, daß er sich auf den ersten Blick in Nikola verliebt hatte. Seit der Begegnung mit ihr hatte er kein einziges Mal mehr an Anne gedacht.
Ivo hätte Kai gern etwas Unhöfliches an den Kopf geworfen, doch die Tatsache, daß Nikola sein Gesicht sehen konnte und in der Lage war, von den Lippen abzulesen, hielt ihn davon ab. Demonstrativ wandte er sich der jungen Frau zu und reichte ihr mit besonderer Herzlichkeit die Hand.
»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.«
Nikola lächelte. »Die Freude war ganz auf meiner Seite, Herr Kersten.«
Kai bebte vor Zorn, und kaum war er mit Nikola allein, da wandte er sich ihr wieder zu.
»Ich will nicht, daß du diesen Mann noch einmal siehst«, bedeutete er ihr.
Nikola schüttelte den Kopf. »Du mußt wirklich nicht eifersüchtig sein, Kai. Ich habe mich doch nur mit ihm unterhalten.«
»Von deiner Seite mag es ja durchaus harmlos sein«, entgegnete Kai und zauberte dabei einen besorgten Ausdruck auf sein Gesicht. »Du weißt ja auch, daß ich dir grenzenlos vertraue, aber du bist unerfahren, was Männer betrifft. Dieser Kerl hat es faustdick hinter den Ohren, das habe ich ihm auf den ersten Blick angesehen. Vermutlich hat er irgendwie herausbekommen, wie reich du bist, und nun versucht er, dich und dein Geld…«
Nikola hielt seine Hände fest, so daß er den angefangenen Satz nicht mehr beenden konnte. Wieder schüttelte sie den Kopf und lächelte dabei.
»Ich liebe dich, Kai«, bedeutete sie ihm dann. »Ivo Kersten ist mir sympathisch, aber ich liebe nur dich.«
Kai war wieder beruhigt, doch sein Vorsatz, Nikola schnellstens aus dieser Klinik herauszuholen, hatte sich durch diese Begegnung nur noch verstärkt. Seine Verlobte kam hier mit zu vielen Menschen zusammen… zu vielen Männern. Wären sie schon verheiratet, dann wäre das nicht ganz so tragisch gewesen, denn dann würde ihm der Forster-Reichtum schon gehören, aber so…
Sicher, Nikola liebte ihn, und er konnte gut genug den glücklichen Verliebten heucheln, so daß sie nicht mißtrauisch wurde. Trotzdem sollte er allmählich zusehen, daß ihr Verlöbnis demnächst im Hafen der Ehe endete. Erst dann würde er an ihr Vermögen herankommen. Er könnte seinen elenden Job an den Nagel hängen und an einem Testament arbeiten, in dem er und Nikola sich gegenseitig als Alleinerben einsetzen würden. Danach könnte Nikola dann einen bedauerlichen Unfall haben…
Der Plan war wirklich perfekt. So perfekt, daß Kai lächeln mußte, was Nikola auf sich bezog und ihm zärtlich über die Wange streichelte. Sanft zog Kai sie in seine Arme. Sein Lächeln wurde dabei fast dämonisch. Er fühlte, wie sich Nikola allmählich versteifte und sich dann von ihm löste. Sie lächelte noch, doch ihre Augen blickten sehr ernst.
»Du bist müde«, vermutete Kai. »Ruh dich ein bißchen aus. Ich werde inzwischen mit Dr. Daniel sprechen, ob man die Behandlung nicht auch ambulant durchführen kann.«
»Ich fühle mich hier in der Klinik sehr wohl«, entgegnete Nikola, doch Kai winkte ab.
»Zu Hause hast du es viel bequemer«, behauptete er, dann stand er auf und verließ das Zimmer, bevor Nikola zu einer erneuten Erwiderung ansetzen konnte.
Traurig blieb die junge Frau zurück. Sie verstand einfach nicht, weshalb sie sich in Kais Armen überhaupt nicht mehr entspannen konnte… warum sie gerade in diesen zärtlichen Momenten an jene schrecklichen Minuten denken mußte, die ihr ganzes Leben so jäh zerstört hatten.
*
Als Kai Horstmann ohne anzuklopfen in Dr. Daniels Büro trat, wußte der Arzt schon, was ihn erwarten würde. Nun ja, im Grunde hatte er es vorher gewußt und sich bereits auf Kais Besuch eingestellt.
»Warum wollen Sie meine Verlobte hierbehalten?« fragte Kai rundheraus und verzichtete auch diesmal auf eine Begrüßung.
»Guten Tag, Herr Horstmann«, grüßte Dr. Daniel demonstrativ, doch Kai nahm diese versteckte Kritik an seinem Verhalten überhaupt nicht zur Kenntnis, was den Arzt allerdings auch nicht mehr sonderlich erstaunte. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, entgegnete Kai ärgerlich.
»Und Sie verfügen nicht einmal über die primitivsten Anstandsformen«, konterte Dr. Daniel. Er hatte es langsam satt, das ungehobelte Verhalten des Mannes hinzunehmen. »Man betritt einen Raum nicht, ohne vorher anzuklopfen, und man grüßt, bevor man sein Anliegen vorbringt.« Er ließ diese Worte auf Kai wirken, dann setzte er hinzu: »Nun zu Ihrer Frage. Fräulein Forster und ich haben übereinstimmend beschlossen, die nötige Behandlung stationär hier in der Klinik durchzuführen. Sie fühlt sich wohl in dieser Umgebung, und ich kann auf diese Weise kontrollieren, wie die Behandlung anschlägt, ohne daß Ihre Verlobte für die nötigen Untersuchungen ständig zu mir in die Praxis kommen muß. Auf diese Weise ist jedem geholfen.«
»Vor allem Ihrem Geldbeutel«, entgegnete Kai herausfordernd, doch auch damit konnte er Dr. Daniel nicht aus der Fassung bringen.
»Ich habe Ihnen schon mal gesagt, daß für mich das Wohl meiner Patienten weit vor irgendwelchen finanziellen Aspekten rangiert«, entgegnete Dr. Daniel mit schier unerschütterlicher Ruhe.
Kai überging die Bemerkung des Arztes.
»Wie würde es aussehen, wenn meine Verlobte auf eigenen Wunsch die Klinik verlassen möchte?« wollte er wissen.
Dr. Daniel lächelte ein wenig. »Sie scheinen zu vergessen, daß Fräulein Forster auf eigenen Wunsch hier ist. Ich habe sie zu keinem Zeitpunkt gezwungen zu bleiben. Das wäre in diesem Fall auch absolut unnötig.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Nikola freiwillig im Krankenhaus bleiben will. Vermutlich haben Sie Ihr eingeredet, es wäre gefährlich für sie, die Klinik zu verlassen. Meine Verlobte ist taubstumm, da würde es Ihnen leichtfallen…«
»Sie ist taubstumm, aber deswegen nicht dumm«, fiel Dr. Daniel ihm energisch ins Wort. »Hören Sie, Herr Horstmann, ich weiß nicht, wie deutlich ich es Ihnen noch sagen muß: Ihre Verlobte will bis zum Abschluß der Behandlung hierbleiben. Ist das denn wirklich so schwer zu verstehen?« Er schwieg kurz. »Im übrigen finde ich das Verhalten von Fräulein Forster auch sehr vernünftig. Sie muß gegen ihre Infektion Antibiotika bekommen. Dabei haben sehr viele Menschen unter unangenehmen Nebenwirkungen zu leiden. Wenn sich Ihre Verlobte nicht wohlfühlen würde – sie wäre ja nicht einmal in der Lage zu telefonieren. Hier in der Klinik braucht sie im Zweifelsfall nur auf den Knopf zu drücken, der die Stationsschwester alarmiert, und schon kann ihr geholfen werden.«
Kai kochte vor Wut, weil er gegen dieses Argument nichts ausrichten konnte.
»Das ist doch alles nur üble Panikmache!« hielt er Dr. Daniel vor. »Ich habe auch schon Antibiotika nehmen müssen und hatte unter ein bißchen Übelkeit und Durchfall zu leiden, na und? Das habe ich auch ohne Krankenhausaufenthalt überlebt.« Sein Gesichtsausdruck wurde abweisend. »Gleichgültig, was Sie sagen – ich werde meine Verlobte schon davon überzeugen, daß sie zu Hause mindestens ebensogut aufgehoben sein wird wie hier.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ Dr. Daniels Büro genauso wie er gekommen war – grußlos. Seufzend sah der Arzt ihm nach. Es war ihm unverständlich, wie sich die sanfte Nikola in einen solchen Mann hatte verlieben können, aber vermutlich benahm sich Kai Horstmann ihr gegenüber nicht so rüpelhaft.
Währenddessen versuchte Kai noch einmal, seine Verlobte davon zu überzeugen, daß es besser für sie wäre, mit ihm nach Hause zu fahren, doch ihr gegenüber konnte er sein wahres Gesicht ja nicht zeigen, sondern mußte den Besorgten spielen.
»Wenn du dir wirklich Sorgen um mich machst, dann solltest du froh sein, wenn ich hierbleiben will«, hielt Nikola ihm entgegen. »Zu Hause bin ich doch ganz allein. Das Medikament kann Nebenwirkungen haben. Wenn irgend etwas passiert – wer soll sich dann um mich kümmern?«
Etwas Ähnliches hatte ja auch Dr. Daniel gesagt, was in Kai einen plötzlichen Verdacht weckte.
»So schlimme Nebenwirkungen haben Antibiotika nun auch wieder nicht«, wandte er ein. »Hat dir das Dr. Daniel vielleicht eingeredet?« Er wartete Nikolas Erwiderung gar nicht ab, sondern fuhr fort: »Merkst du denn nicht, daß dieser Kerl nur an dir verdienen will? Sei klug, und komm mit mir nach Hause.«
Doch die junge Frau ließ sich nicht überreden. »Ich möchte hierbleiben, Kai. Ich fühle mich in dieser Klinik gut versorgt. Hier ist es angenehmer für mich als allein zu Hause zu sein.« Sanft berührte sie seine Wange, ehe sie fortfuhr: »Schau mal, du bist doch den ganzen Tag im Büro, und oftmals hast du nicht einmal abends Zeit, um noch nach Steinhausen zu kommen.«
Kai betrachtete sie durchdringend. »Liegt es etwa an diesem Kerl, den ich heute bei dir getroffen habe? Willst du seinetwegen in der Klinik bleiben?«
Nikola schüttelte den Kopf. »Du bist völlig grundlos eifersüchtig, Kai. Mit diesem jungen Mann hat das überhaupt nichts zu tun. Bitte, glaube mir doch, ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich in der Klinik bleibe.«
Kai gab auf. Er spürte, daß er sich um Nikolas Vertrauen und womöglich auch um ihre Liebe bringen würde, wenn er weiter darauf beharrte, sie mit nach Hause zu nehmen.
»Also schön«, bedeutete er ihr. »Wenn du meinst, daß du hier gut aufgehoben bist, dann bleibst du eben noch.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde dich jeden Tag besuchen, das verspreche ich dir.«
Nikola lächelte glücklich und umarmte ihn einen Moment.
»Ich liebe dich, Kai«, sagte sie mit Hilfe ihrer Hände, schmiegte sich danach noch einmal kurz an ihn und wünschte, sie könnte wieder so rückhaltlos glücklich sein wie vor diesem schrecklichen Erlebnis.
*
Ivo Kersten hatte nicht von ungefähr drei Jahre in einem Detektivbüro gearbeitet. Zuerst waren es nur Wut und Eifersucht auf Nikolas Verlobten gewesen, die seine Nachforschungen inspiriert hatten, doch dann war er da auf etwas gestoßen, was ihn gezwungen hatte, weiterzumachen… die ganze Wahrheit herauszubekommen. Völlig fassungslos saß er jetzt vor seinen Unterlagen und konnte kaum glauben, welche Ungeheuerlichkeit sich ihm da offenbarte.
Nach einigem Zögern vertraute er sich Sándor an, und dieser riet ihm, Dr. Daniel zu sagen, was er herausgefunden hatte. Gleich am folgenden Morgen suchte Ivo den Arzt auf.
»Herr Doktor, darf ich Sie kurz stören?« fragte er beinahe schüchtern.
Dr. Daniel warf einen kurzen Blick auf die Uhr, dann nickte er lächelnd. »Natürlich, Ivo. Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit, ehe ich in die Praxis muß. Wenn Ihnen diese Zeit reicht…«
Ivo nickte. »Ja, ich denke schon.« Nervös drehte er die mitgebrachten Papiere in den Händen und fühlte sich plötzlich bei der ganzen Angelegenheit nicht mehr recht wohl. Wenn Dr. Daniel ihm nun nicht glauben würde?
»Also, Ivo, worum geht’s?« hakte der Arzt nach, weil Ivo ganz offensichtlich nicht wußte, wie er beginnen sollte.
»Um Nikola«, platzte Ivo heraus. »Fräulein Forster«, korrigierte er sich sofort. »Besser gesagt, um ihren Verlobten.« Er senkte den Kopf. »Ich will ganz offen sein, Herr Doktor. Ich habe mich auf den ersten Blick in Nikola verliebt, und eigentlich war es nur die Eifersucht auf diesen arroganten Kerl, die mich zu meinen Untersuchungen getrieben hat, aber dann…« Er legte die gesammelten Unterlagen auf den Tisch. »Kai Horstmann ist mit zwei Jahren gestorben.«
Verständnislos starrte Dr. Daniel ihn an. »Wie bitte?«
Ivo blätterte kurz in seinen Unterlagen. »Hier ist die Geburtsurkunde und hier die Sterbeurkunde. Die Horstmanns hatten nur ein Kind – Kai. Er kam schwerbehindert zur Welt und starb im Alter von zwei Jahren.«
»Das ist doch völlig unmöglich«, entgegnete Dr. Daniel entschieden. »Ivo, glauben Sie nicht, daß Ihnen da die Eifersucht einen schlimmen Streich gespielt hat?«
Ernsthaft schüttelte Ivo den Kopf. Er zeigte Dr. Daniel nun die Kopien der Einstellungsunterlagen von Kai Horstmann. »Hier sind das Geburtsdatum und der Geburtsort, außerdem die Namen der Eltern. Beides stimmt mit der Geburtsurkunde, die ich entdeckt habe, überein. Kai Horstmann ist mit zwei Jahren gestorben und zwanzig Jahre später wiederauferstanden – als erwachsener Mann. Dazwischen war nichts. Nikolas Verlobter hat nach diesen Unterlagen keine Schule besucht und keine Berufsausbildung gemacht. Diese Zeugnisse hier sind allesamt gefälscht. Einen Kai Horstmann gab es weder an dieser Schule noch in dieser Klasse, und auch der Lehrbetrieb, von dem er eine Beurteilung hat, hat niemals einen Kai Horstmann ausgebildet.«
Fassungslos blickte Dr. Daniel von den Unterlagen zu Ivo und dann wieder zurück. »Woher haben Sie das alles?«
Ivo lächelte ein wenig. »Tut mir leid, Herr Doktor, aber das ist mein Geheimnis. Allerdings kann ich Ihnen versichern, daß das alles echt ist. Ich habe in den vergangenen drei Jahren mein Handwerk gelernt. Ich habe öfter Personen auf diese Weise überprüft, allerdings… auf so etwas bin ich dabei noch nie gestoßen.« Er betrachtete die Ergebnisse seiner Recherchen. »Es gibt dafür eigentlich nur zwei Erklärungen: Entweder hat der Mann, der sich jetzt Kai Horstmann nennt, eine neue Identität bekommen oder er hat sie sich selbst beschafft. Möglicherweise war er in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt und hat sich diesen neuen Namen samt aller dazugehörgen Unterlagen durch eine Aussage vor Gericht erkauft. Möglicherweise ist er aber auch ein Verbrecher, der sich auf diese Weise geschickt der Strafverfolgung entziehen will.«
»Wobei ich weder das eine noch das andere als beruhigend empfinde«, wandte Dr. Daniel nachdenklich ein.
Ivo nickte eifrig. »Ich habe da ein paar Beziehungen… wenn ich ein Foto von ihm hätte, könnte man es durch den Computer des Bundeskriminalamtes laufen lassen. Allerdings… wenn er so gewieft ist, wie ich vermute, dann hat er nicht nur seinen Namen, sondern auch sein Gesicht verändert. Das muß nicht einmal unbedingt in Deutschland passiert sein – dafür stand ihm praktisch die ganze Welt offen.«
»Was bedeutet, daß wir höchstens durch Glück herausfinden werden, wer er wirklich ist«, vermutete Dr. Daniel.
Nachdenklich betrachtete Ivo seine Unterlagen. »Zu dem Zeitpunkt, wo er als Kai Horstmann aufgetaucht ist, mußte er seine wahre Identität ja sterben lassen.«
»Ivo, das ist Irrsinn«, entgegnete Dr. Daniel. »Sie können nicht alle Todesfälle dieses Zeitraums in ganz Deutschland überprüfen. Vor allen Dingen hätte dieser fingierte Todesfall praktisch überall stattfinden können. Stellen Sie sich vor, er fährt unter seinem wirklichen Namen in Urlaub – Spanien, Italien, Karibik, Hawaii… Dann kommt er dort unter irgendwelchen Umständen scheinbar zu Tode und kehrt eine Woche später als Kai Horstmann nach Deutschland zurück.«
Ivo nickte niedergeschlagen. Natürlich hatte Dr. Daniel recht. Es war aussichtslos, den wirklichen Namen von Kai Horstmann herauszubekommen, solange er keinen Anhaltspunkt dafür hatte.
»Da habe ich nun drei Jahre lang in einem Detektivbüro gearbeitet, und jetzt stehe ich trotzdem auf verlorenem Posten«, murmelte Ivo.
»Auf verlorenem Posten?« wiederholte Dr. Daniel, dann schüttelte er den Kopf. »Mein lieber Ivo, Sie haben da eine ganze Menge herausbekommen, und mit der wahren Identität dieses Mannes hätte wohl auch ein erfahrener Detektiv als Sie so seine Probleme.«
»Möglich«, murmelte Ivo, dann stand er entschlossen auf. »Ich werde meine Beziehungen trotzdem mal ein bißchen spielen lassen, oder einfach so herumschnuppern. Vielleicht finde ich ja etwas heraus.«
Er wußte auch schon ziemlich genau, wo er zuerst nachsehen würde – in den Tageszeitungen, die vor fünf Jahren erschienen waren… kurz vor dem ersten Auftauchen von Kai Horstmann. Doch jede Spur, die Ivo verfolgte, verlief im Sande. Schließlich ging er daran, Kai rund um die Uhr zu observieren, machte dabei per Teleobjektiv auch einige sehr gute Fotos und gab eines davon seinem Freund bei der Polizei, der ihm noch einen Gefallen schuldete.
Zu guter Letzt besuchte er dann Nikola im Krankenhaus – einen Tag bevor sie entlassen werden sollte. Ihr ganzes Gesicht strahlte, als Ivo so unverhofft ihr Zimmer betrat.
»Ivo, wie schön, daß Sie doch noch kommen«, bedeutete sie ihm. »Ich dachte schon, Kai hätte Sie endgültig vertrieben. Er ist schrecklich eifersüchtig, wissen Sie.«
Ivo streichelte sie mit Blicken. »Wer wäre das an seiner Stelle nicht?« Er zögerte kurz, bevor er mit seinen Händen die Frage formte, die ihm im Herzen brannte: »Seit wann kennen Sie ihn?«
»Seit drei Jahren«, antwortete Nikola.
Ivo wollte seine Enttäuschung nicht zeigen. Er hatte gehofft, durch Nikola vielleicht etwas über Kais wahre Identität herauszubekommen, aber damit war nun nicht mehr zu rechnen. Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, Nikola zu sagen, was er über ihren Verlobten herausgefunden hatte, doch letztlich ließ er es bleiben. Falls Kai diese neue Identität auf legale Weise bekommen hatte, was ja nicht ausgeschlossen war, könnte ihn das, was Ivo herausgefunden hatte, womöglich gefährden. Nun war es ja nicht so, daß ihm an Kai besonders viel gelegen hätte – ganz im Gegenteil, aber Nikola, die diesen Mann ja liebte, würde eben auch darunter leiden, und das wollte Ivo auf keinen Fall.
»Sie werden morgen entlassen, nicht wahr?« erkundigte sich Ivo.
Nikola nickte.
»Darf ich Sie wiedersehen?« setzte Ivo nach einigem Zögern hinzu.
Nikola senkte den Blick, dann schüttelte sie nur den Kopf. Sehr sanft legte Ivo eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie auf diese Weise, ihn anzusehen.
»Niki.«
Diesmal sprach er es aus – zärtlich, voller Liebe, und obwohl Nikola es nicht hören konnte, sah sie doch seinen Gesichtsausdruck, spürte die Gefühle, die er ihr mit diesem einen Wort entgegenbrachte. Wieder schüttelte sie den Kopf, dann umschloß sie sein Gesicht mit beiden Händen, während in ihren Augen stand, was sie dachte: Es darf nicht sein.
»Du empfindest mehr für mich als nur Sympathie«, behauptete Ivo kühn.
»Ich bin verlobt«, erwiderte sie, dann ließ sie kraftlos die Hände sinken, weil sie fühlte, wie schwach ihr Gegenargument im Grunde war. Sie hätte auf seine Bemerkung ganz anders reagieren müssen… hätte ihm klarmachen müssen, daß sie ihn zwar mochte, aber Kai liebte. Das Problem war nur… sie war sich da plötzlich gar nicht mehr so sicher. In den vergangenen Tagen hatte sie Ivos Lachen so sehr vermißt und – nicht nur sein Lachen. Er war wie eine Sonne in ihr Leben getreten – hell, klar und leuchtend. Er hatte ihr Fröhlichkeit gezeigt, aber auch tiefe Gefühle. In den wenigen Stunden, die sie mit ihm zusammengewesen war, hatte sie die Erfahrung eines völlig neuen Lebens gemacht.
Ivo spürte, was in ihr vorging. Er konnte ihre Empfindungen so sicher einschätzen, als lägen ihre Gedanken wie ein offenes Buch vor ihm. Spontan setzte er sich auf ihr Bett und schloß sie zärtlich in die Arme. Nikola ließ es nicht nur geschehen, sie hatte diese Umarmung ersehnt – vom ersten Augenblick an, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Nun genoß sie seine Wärme, seine Nähe, den herben Duft seiner Haut, den sie trotz des Flanellhemdes spürte. In seinen Armen fühlte sie sich zum ersten Mal seit langem wieder sicher und geborgen. Zufrieden schloß sie die Augen und gab sich ganz dem hin, was sie empfand. Sie spürte, daß er ihr etwas sagen wollte, öffnete die Augen und hob ihren Kopf so weit, daß sie von seinen Lippen ablesen konnte.
»Niki, ich liebe dich.«
Sie schmiegte ihr Gesicht wieder an seine Brust. Eine deutlichere Antwort hätte sie nicht geben können, doch obwohl sie wußte, daß ihr Gefühl richtig und gut war, wurde sie von einem schlechten Gewissen erfaßt. Sehr zögernd löste sie sich von Ivo, blickte in sein Gesicht und wußte, daß sie mit ihm darüber nicht sprechen konnte. Er würde nicht objektiv sein, weil er sie liebte.
»Ich muß zu Dr. Daniel«, signalisierte sie ihm.
Ivo nickte. »Ich bringe dich zu ihm.« Er erkannte die Abwehr auf ihrem Gesicht und lächelte sie beruhigend an. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, wie ein Wachhund neben dir zu sitzen. Ich bringe dich nur zu seinem Büro.«
Mit den Fingern berührte Nikola seine Lippen, als wolle sie sein Lächeln festhalten. Das hätte sie auch am liebsten getan. Sie liebte sein Lächeln. Es wärmte ihr Herz und machte sie von innen heraus so leicht und frei, daß sie das Gefühl hatte, auf einer Wolke zu schweben.
Mit sanfter, unaufdringlicher Zärtlichkeit begleitete Ivo sie zum Büro des Klinikdirektors, doch es stand leer.
»Dr. Daniel ist noch in der Praxis«, erklärte Oberschwester Lena Kaufmann.
»Fräulein Forster möchte dringend mit ihm sprechen«, entgegnete Ivo.
»Ich werde es ihm ausrichten«, versicherte die Oberschwester. »Er wird zu ihr kommen, sobald er im Haus ist.«
*
Als Dr. Daniel an diesem Abend in die Klinik kam, erfuhr er tatsächlich sofort, daß Nikola ihn sprechen wollte und eilte mit einer unbestimmten Angst im Herzen zu ihr. Seit er wußte, daß Kai Horstmann eine vermutlich recht dunkle Vergangenheit hatte, war seine Sorge um Nikola noch gestiegen.
»Ist etwas passiert?« fragte er in banger Erwartung, als er ihr Zimmer betreten hatte und den ernsten Gesichtsausdruck der jungen Frau sah.
Sie nickte, griff nach ihrem Block und schrieb: Ich habe mich in Ivo Kersten verliebt. Sie strich die Worte durch und verbesserte: Ich liebe Ivo.
Dr. Daniel verstand, was sie damit ausdrücken wollte. Eine Verliebtheit konnte vorübergehend sein, doch das, was sie fühlte, war offensichtlich dauerhaft gemeint.
Ich komme mir niederträchtig vor, fuhr sie fort zu schreiben. Noch gestern habe ich zu Kai gesagt, ich würde ihn lieben, dabei hatte ich in Wahrheit bereits Sehnsucht nach Ivo. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber… Sie ließ den Stift sinken.
»Ich verstehe Ihren Zwiespalt gut«, meinte Dr. Daniel. »Eine Verlobung ist ein Schritt, den man nur geht, wenn man sich seiner Liebe wirklich sicher ist. Allerdings – einen Irrtum der Gefühle kann es immer geben. Bestimmt waren Sie sicher, daß es nichts geben würde, was zwischen Sie und Kai treten könnte, und nun ist es doch passiert. Ebenso kann Ihnen niemand garantieren, daß Ivo der Richtige ist.«
Ein sanftes Lächeln huschte über Nikolas Gesicht. Wieder griff sie nach Block und Stift. Er ist so fröhlich. Wenn er bei mir ist, dann fühle ich mich frei. Sie zögerte einen Moment, ehe sie weiterschrieb: Heute hat er mich umarmt. Es war ein wundervolles Gefühl.
Dr. Daniel las die Worte und mußte unwillkürlich an das denken, was Nikola ihm in den vergangenen beiden Wochen immer wieder mitgeteilt hatte. Sie hatte Kais Umarmungen nicht ertragen können, weil sie dabei immer an die Vergewaltigung hatte denken müssen.
»Weckte die Nähe eines Mannes denn keine unangenehmen Erinnerungen mehr in Ihnen?« fragte Dr. Daniel und wählte seine Worte dabei besonders bedächtig. Er wollte nicht die Unterscheidung zwischen Kai und Ivo machen, sondern ganz allgemein Nikolas Verhältnis zu Männern ergründen.
Allerdings begriff die junge Frau auch so den tieferen Sinn dieser Frage. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie den Arzt an.
Was bedeutet es, wenn ich Kais Nähe nicht ertragen kann, mich bei Ivo aber sicher und geborgen fühle? wollte sie wissen.
Dr. Daniel las das Geschriebene, dann zuckte er die Schultern. »Ich weiß es nicht, Nikola. Vielleicht ist es einfach eine Reaktion, weil Sie mit Kai zum Zeitpunkt ihrer Vergewaltigung verlobt waren.« Allerdings erschien ihm das eigentlich nicht besonders glaubhaft. Ein anderer Gedanke hatte ihn gestreift, und er war um vieles plausibler, wenn Dr. Daniel ihn auch noch nicht wahrhaben wollte.
Was soll ich jetzt tun? schrieb Nikola und zeigte Dr. Daniel ihren Block.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen darauf eine Antwort geben«, meinte er. Er schwieg einen Moment. »Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß Sie sich zu Ihren Gefühlen bekennen müssen. Sie dürfen nicht aus Rücksicht oder Mitleid bei einem Mann bleiben, den Sie nicht mehr lieben. Kai würde es im umgekehrten Fall sicher auch nicht tun. Eine solche Trennung ist immer schmerzlich – meistens sogar für beide, weil Erinnerungen an glückliche Tage wach werden.« Wieder schwieg er kurz. »Allerdings sollten Sie Kai in diesem Fall vielleicht nicht zusätzlich verletzen, indem Sie ihm jetzt noch die Wahrheit sagen… besonders nicht die Wahrheit über Ihre Empfindungen in seiner Nähe. Die Tatsache, daß Sie sich in einen anderen Mann verliebt haben, wiegt für ihn sicher schwer genug.«
Die junge Frau nickte, nahm den Block wieder an sich und schrieb: Gleich heute, wenn er mich besucht, werde ich ihm die Wahrheit gestehen – die Wahrheit über meine Liebe zu Ivo.
»Tun Sie es erst, wenn ich auch hier bin«, riet Dr. Daniel ihr und folgte dabei einer plötzlichen Eingebung. »Niemand weiß, wie Herr Horstmann auf diese Eröffnung reagieren wird, deshalb wäre ich gern dabei in Ihrer Nähe.«
In Ordnung, Herr Doktor, schrieb Nikola auf den Block.
*
Der Verdacht, der Dr. Daniel während des Gesprächs mit Nikola erfaßt hatte, ließ ihn nicht mehr los, obwohl er sich selbst immer wieder sagte, daß es Irrsinn sei, an so etwas auch nur zu denken. Trotzdem wartete er in der Eingangshalle auf Kai.
Der junge Mann war nicht sonderlich erfreut, als er sah, wie der Arzt auf ihn zukam.
»Wollen Sie mir sagen, daß Sie Nikola morgen wieder nicht entlassen werden?« fragte er in gewohnt unhöflichem Ton.
»Nein, Herr Horstmann, darum geht es nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Fräulein Forster wird morgen entlassen, allerdings sollten wir doch sichergehen, ob Sie sich bei ihr nicht vielleicht angesteckt haben. Ich weiß nicht, wieviel Sie über Chlamydien-Infektionen wissen…« Er ließ den Satz bedeutungsvoll offen.
»Überhaupt nichts«, entgegnete Kai sehr von oben herab, ohne zu ahnen, daß das genau
die Antwort war, die sich Dr. Daniel erhofft hatte. »Schließlich bin ich nicht der Arzt, sondern Sie.«
»Wie gesagt, Ihre Verlobte litt an einer Chlamydien-Infektion, die durch jeglicher Art von intimem Kontakt, also auch schon durch Küsse übertragen wird«, behauptete Dr. Daniel und verzieh sich dabei die kleine Notlüge. Er mußte jetzt einfach wissen, ob Kai infiziert war oder nicht.
»Und das fällt Ihnen heute erst ein?« hielt Kai ihm unwillig vor.
»Ja, Herr Horstmann, das tut mir leid«, entschuldigte sich Dr. Daniel. »In letzter Zeit hatte ich sowohl in der Praxis als auch in der Klinik sehr viel um die Ohren.«
»Na schön, und wer nimmt diese Untersuchung vor?« erkundigte sich Kai in einem Ton, als würde er Dr. Daniel mit seinem Einverständnis einen persönlichen Gefallen tun.
»Dr. Scheibler, der Chefarzt dieser Klinik«, antwortete Dr. Daniel und begleitete Kai in die Chirurgie hinüber, wo sie von Dr. Scheibler schon erwartet wurden.
Dr. Daniel wartete, bis der Chefarzt fertig war und Kai Horstmann sich auf den Weg zur Gynäkologie gemacht hatte.
»Wann haben Sie das Ergebnis, Gerrit?« wollte er dann wissen.
Dr. Scheibler grinste. »Sie haben’s aber eilig, Robert.«
»Ich will ehrlich sein – in diesem Fall hätte ich das Ergebnis am liebsten gestern schon gehabt«, räumte Dr. Daniel ein.
»Ich bin gut im Labor, aber so gut nun auch wieder nicht«, meinte Dr. Scheibler schmunzelnd, dann wurde er ernst. »Ich werde mich beeilen, Robert.«
»Danke, Gerrit, dafür haben Sie bei mir etwas gut.«
Dr. Daniel nickte ihm verabschiedend zu, dann machte er sich auf den Weg zur Gynäkologie, um Nikola bei ihrem Gespräch mit Kai als seelische Stütze zu dienen, aber auch, um im Notfall eingreifen zu können, obwohl er im Grunde sicher war, daß das gar nicht nötig sein würde.
Unwillig blickte Kai zurück, als Dr. Daniel den Raum betrat.
»Was wollen Sie denn nun schon wieder?« herrschte er den Arzt an, doch bevor Dr. Daniel antworten konnte, legte Nikola eine Hand auf Kais Arm und lenkte so seine Aufmerksamkeit auf sich.
»Ich muß mit dir sprechen, Kai«, bedeutete sie ihm. »Es geht um unsere Verlobung.« Ganz kurz ließ sie die Hände sinken, dann fuhr sie fort: »Es tut mir leid, aber ich habe mich in einen anderen Mann verliebt.«
Kais Gesicht verfinsterte sich. »In diesen Ivo, habe ich recht?«
Die junge Frau nickte.
»Es tut mir leid«, beteuerte sie noch einmal. »Ich wollte das nicht. Ich habe mich dagegen gewehrt, aber meine Liebe zu ihm war stärker.«
Kai stand auf, warf Dr. Daniel einen kurzen Blick zu und stellte sich dann so, daß der Arzt seine Hände nicht sehen konnte, obwohl er ohnehin wußte, daß Dr. Daniel die Zeichensprache ohnehin nicht verstehen würde.
»Das wird dir noch leid tun«, prophezeite er Nikola. »Ich lasse mich nicht so einfach abservieren.«
»Kai.« Ihre Hände formten seinen Namen, doch er sah es gar nicht mehr, weil er sich umdrehte und das Zimmer verließ, ohne Dr. Daniel oder Nikola noch eines Blickes zu würdigen.
»Hat er Ihnen gedroht?« wollte Dr. Daniel wissen, weil ihm Nikolas verstörter Gesichtsausdruck natürlich nicht entgangen war.
Mit bebenden Händen griff sie nach Block und Stift und schrieb auf, was Kais Hände ihr bedeutet hatten. Dr. Daniel las, dann lächelte er Nikola beruhigend an.
»Das war sicher nur der Schock«, meinte er. »Schließlich kam die Lösung des Verlöbnisses für ihn ja wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Vermutlich mußte er so reagieren, um mit dieser Enttäuschung fertigzuwerden.«
Ja, vielleicht, schrieb Nikola, dann bat sie Dr. Daniel: Lassen Sie mich bitte ein bißchen allein.
»Natürlich«, stimmte der Arzt sofort zu. »Wenn Sie etwas brauchen, dann klingeln Sie einfach.«
Er verließ den Raum und traf draußen auf Dr. Scheibler.
»Suchen Sie mich?« wollte Dr. Daniel wissen.
»Auch, aber nicht nur«, entgegnete der Chefarzt. »Wissen Sie, wo Herr Horstmann ist? Er sollte sich dringend behandeln lassen.«
Unwillkürlich hielt Dr. Daniel den Atem an. »Er hat also tatsächlich eine Chlamydien-Infektion?«
»Ja, vermutlich hat er sich bei seiner Verlobten angesteckt.«
Doch Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nikola Forster ist seit gut zwei Wochen hier in der Klinik, und auch während der vierzehn Tage zuvor hatte sie und ihr Verlobter keinen intimen Kontakt mehr. Zu Herrn Horstmann habe ich über die Ansteckung zwar etwas anderes gesagt, aber wir beide wissen genau, daß man sich nur über Geschlechtsverkehr anstecken kann.«
Dr. Scheibler nickte. »Und warum haben Sie ihm etwas anderes gesagt?«
Dr. Daniel kam nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten, denn in diesem Moment wurde er ans Telefon gerufen.
»Ich habe ihn!« klang Ivos Stimme an Dr. Daniels Ohr, kaum daß er seinen Namen genannt hatte.
»Wen haben Sie?« wollte der Arzt wissen.
»Kai Horstmann«, antwortete Ivo. »Oder besser gesagt, Philipp Tephal, und zumindest dieser ist bei der Polizei wohlbekannt. Zwei Jugendstrafen wegen Kaufhausdiebstahls und sexueller Nötigung, mit zweiundzwanzig wurde er wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung verurteilt, doch er konnte aus dem Gefängnis flüchten und starb noch am gleichen Tag bei einem schweren Autounfall. Der Wagen war gestohlen, die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, doch anhand einiger unversehrt gebliebener Kleidungsstücke und seiner Papiere, die sich in der Innentasche des Jacketts befanden, wurde der Tote als Philipp Tephal identifiziert.« Ivo schwieg kurz. »Wollen Sie wissen, wann der Mann starb?«
»Ich kann es mir denken«, entgegnete Dr. Daniel. »Einen Tag bevor Kai Horstmann zum ersten Mal auftauchte.« Er dachte einen Moment über die Geschichte nach, die Ivo ihm gerade erzählt hatte. »Wissen Sie dann auch, wer die Leiche in dem verunglückten Wagen war?«
»Nicht mit letzter Sicherheit, aber ich vermute, es war der Besitzer des Autos. Der ist nämlich seit jenem Tag spurlos verschwunden. Das wird jetzt die Obduktion klären.«
»Glauben Sie, daß die noch gemacht werden wird?«
»Mit Sicherheit«, bekräftigte Ivo. »Aufgrund der Beweise, die ich vorlegen kann, muß sie sogar gemacht werden.«
»Keine schöne Aufgabe für die Gerichtsmedizin«, meinte Dr. Daniel. »Aber Ihnen gebührt auf jeden Fall ein großes Kompliment, Ivo. Wie haben Sie das alles nur so schnell herausbekommen?«
»Ich sagte doch, ich hätte Beziehungen«, entgegnete Ivo, und Dr. Daniel hörte sogar am Telefon, daß er lächelte. »Ein bißchen Glück war natürlich auch dabei.«
»Dann werden wir die Sache mal ins Rollen bringen«, beschloß Dr. Daniel. »Treffen wir uns bei der Steinhausener Polizei.«
»Sehr gut, also dann bis gleich.« Dr. Daniel legte auf und drehte sich um. »Gerrit, sorgen Sie bitte dafür, daß Nikola Forster rund um die Uhr überwacht wird. Ihr Verlobter ist hochgradig kriminell.«
Entsetzt starrte Dr. Scheibler ihn an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Robert!«
»Doch, das ist sogar mein voller Ernst.« Dr. Daniel blickte auf die Uhr. »Ich werde jetzt zur Steinhausener Polizei fahren, und dann wird Kai Horstmann hoffentlich bald dort sein, wo er hingehört – im Gefängnis.«
Dr. Daniel ahnte nicht, daß sein Gespräch mit Dr. Scheibler belauscht worden war, und während sich der Arzt auf den Weg zur Polizei machte, ersann der Mann mit der schwarzen Strumpfmaske bereits einen teuflischen Plan…
*
Nikola hatte sich nach dem Gespräch mit Kai nur ein wenig ausruhen wollen, doch dann war sie eingeschlafen. Auf diese Weise entging ihr, wie die Fensterscheibe zertrümmert wurde und jemand in ihr Zimmer einstieg. Sie erwachte erst von dem durchdringenden Geruch, den sie wohl nie mehr im Leben vergessen würde. Im schwachen Schein des durch die Fenster hereinfallenden Mondlichts sah sie eine Gestalt, die sich auf sie zubewegte. Nikola fuhr hoch und wollte das Licht einschalten, doch die Gestalt war schneller. Nikola fühlte die harten Hände an ihren Handgelenken und wehrte sich verzweifelt, aber der Mann war stärker als
sie. Sein Gesicht, das wieder von dieser schrecklichen Strumpfmaske verdeckt war, näherte sich dem ihren. Nikola öffnete den Mund zum Schrei und wußte doch gleichzeitig, daß man ihre Schreie auch heute nicht hören würde.
Sie spürte sein Gewicht auf sich und sah im Mondlicht, wie sich sein Mund bewegte, doch im Moment war sie nicht fähig, die Worte von seinen Lippen abzulesen. Hätte sie es geschafft, wäre sie vermutlich nur noch schockierter gewesen.
»Zuerst will ich noch einmal mein Vergnügen mit dir haben, danach werde ich dich töten. Wenn ich dein Geld nicht haben kann, dann soll es auch kein anderer bekommen. Der Forsterreichtum wird mit dir und deinem Vater sterben.«
Die fast animalischen Ausdünstungen des Mannes raubten Nikola den Atem. Sie bemerkte, wie ihr schwarz vor Augen wurde, und war für die Ohnmacht beinahe dankbar. Auf diese Weise würde sie nicht mehr mitbekommen müssen, wie sie ein zweites Mal geschändet wurde.
Doch ihr Peiniger wollte sie nicht bewußtlos. Er wollte, daß sie wach war, wenn er sich an ihr verging. Mit harter Hand schlug er Nikola ins Gesicht – so lange, bis sie die Augen wieder aufschlug. Im selben Moment flammte Licht auf…
*
Es war bereits dunkel, als Ivo das Ortsschild von Steinhausen passierte, und plötzlich wurde die Sehnsucht in ihm immer stärker. Er wußte, daß er unverzüglich zur Polizei fahren sollte. Kai Horstmann mußte hinter Gitter – und das so schnell wie möglich. Doch als Ivo den Wegweiser zur Waldsee-Klinik sah, konnte er einfach nicht anders. Er bog von der Hauptstraße ab und fuhr die schmale Zufahrtsstraße entlang. Dabei konnte er sich die unerträgliche Spannung, der er unterlag, kaum erklären.
Er ließ seinen Wagen vor dem doppelflügeligen Eingang stehen, weil er nicht die Nerven hatte, jetzt noch bis zum Parkplatz zu fahren, dann rannte er wie gehetzt in die Klinik hinein.
»Ivo.« Dr. Scheibler war sichtlich überrascht. »Ich dachte, Sie sollten sich mit Dr. Daniel bei der Polizei treffen.«
»Ich muß zu Niki«, stieß Ivo hastig hervor, dann lief er in die Gynäkologie hinüber und die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm.
Vor Nikolas Zimmertür stand Sándor. Offenbar paßte er auf, daß kein Unbefugter ihr Zimmer betreten konnte, doch seltsamerweise schaffte Ivo es nicht, darüber erleichtert zu sein. Sein Instinkt, ausgelöst durch die tiefe Liebe, verriet ihm, daß Nikola in größter Gefahr schwebte.
Er stürzte in den Raum und schaltete das Licht ein. Im gleichen Moment sah er das eingeschlagene Fenster und einen schwarzgekleideten Mann mit Strumpfmaske, der halb auf Nikola lag und halb kniete. Und Ivo sah die vor Angst weit aufgerissenen Augen der Frau, die er liebte.
Mit einem Wutschrei wollte er sich auf den maskierten Mann stürzen, doch in dessen Hand blitzte plötzlich ein Messer auf.
»Bleib stehen!« befahl er Ivo und setzte das Messer an Nikolas Hals. »Sonst schneide ich ihr die Kehle durch.«
Ivo gehorchte zwar, doch sein ganzer Körper war angespannt wie eine Stahlfeder – jederzeit bereit zum Sprung.
»Laß sie in Ruhe, du Mistkerl!« zischte er. »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann werde ich dich umbringen.«
Der Maskierte lachte. »Das möchte ich sehen.« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Aber die Tatsache, daß du hier bist, gibt dem Ganzen einen besonderen Reiz. Los, schließ die Tür ab – und zwar von innen.«
Ivo zögerte. Als der Mann mit dem Messer Nikolas Haut anritzte, gehorchte er. Der Maskierte wartete, bis Ivo abgeschlossen hatte, dann bedeutete er ihm, auf die andere Seite des Bettes zu gehen, damit er ihn mühelos im Auge behalten konnte.
»Denk daran – eine falsche Bewegung, und sie ist tot«, drohte er, bevor er ein süffisantes Lächeln auf seine Lippen zauberte. »Nun kannst du zusehen, wie ich mich mit ihr amüsiere. Es wird deine letzte Erinnerung sein, bevor du stirbst.« Betont langsam stieg er von dem Bett, zog Nikola mit sich und legte seinen Unterarm vor ihre Kehle. »Hör zu, mein Freund, wenn du auch nur blinzelst, dann drücke ich ihr die Luft ab und breche ihr gleichzeitig das Genick.« Mit Nikola wie einem lebendigen Schild vor sich näherte er sich Ivo. »Streck deine Arme aus, Handflächen nach oben.« Ivo sah nur die Angst in Nikolas Augen, daher tat er, was der Maskierte von ihm verlangte. Mit zwei raschen Schnitten öffnete der Mann ihm die Pulsadern.
»So, mein Freund, während du jetzt langsam verblutest, kannst du zusehen, was ich mit deiner Liebsten noch alles anstelle, bevor ich sie töten werde.«
Ivo fühlte den brennenden Schmerz an seinen Handgelenken, doch das war nicht halb so schlimm wie die Qual, die er auf Nikolas Gesicht sah. Entsetzt starrte sie auf das Blut, das von Ivos Handgelenken auf den Boden tropfte.
Der Mann zwang sie wieder auf das Bett, sein Messer lag an Nikolas Kehle, während er sich die Hose öffnete.
»Dafür wirst du büßen«, flüsterte Ivo voller Haß. »Ich schwöre dir, daß du dafür büßen wirst.«
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung am Fenster wahr, hütete sich aber davor hinzusehen und damit den Verbrecher zu warnen.
»Ich bin schon einmal davongekommen, und es wird mir auch diesmal wieder gelingen«, entgegnete der Mann, dann riß er sich die Maske vom Kopf.
Entsetzt starrte Nikola in Kais Gesicht.
»Du sollst sehen, mit wem du die letzten Minuten deines Lebens verbringst«, erklärte er gehässig, dann beugte er sich über die junge Frau und preßte seine Lippen auf ihren Mund.
Mit zwei Schritten war Ivo bei ihm und riß ihn zurück. Wegen des großen Blutverlustes führte diese rasche Bewegung zu einem heftigen Schwindelanfall. Ivo sah das Messer in Kais Hand aufblitzen und schloß bereits mit seinem Leben ab, doch in diesem Moment fühlte er die Wucht eines Schlages, der ihn selbst zu Boden warf und Kai gegen die Wand donnerte.
Ivo kroch beiseite, bemerkte eine Bewegung neben sich und spürte gleich darauf Nikolas zitternde Arme, die sich um ihn legten. Erst in diesem Moment begriff Ivo, daß er und Nikola mit Kai nicht länger allein waren. Die Bewegung, die er vorhin an dem eingeschlagenen Fenster wahrgenommen hatte, stammte von einem Mann, der offenbar ein Meister asiatischer Kampfkunst war. Kai hatte gegen ihn trotz seines Messers nicht die geringste Chance.
Mit einem gekonnten Hebelgriff zog der Karatekämpfer Kais rechte Hand nach unten, so daß er sein eigenes Messer nun zwischen den Beinen hatte.
»Eine falsche Bewegung, und du kannst dein weiteres Dasein als Eunuch fristen«, drohte er, und Kai verhielt sich angesichts der drohenden Gefahr nun wirklich absolut ruhig.
»Kann einer von euch die Tür aufschließen?« wandte sich der unverhoffte Retter an Ivo und Nikola.
Die junge Frau rappelte sich mühsam auf und stürzte zur Tür. Mit zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel herum und im gleichen Moment kamen nicht nur Dr. Daniel und Dr. Scheibler herein, sondern auch vier Polizeibeamte, die Kai nun festnahmen.
»Gute Arbeit, Jeff«, meinte Dr. Daniel, während er Nikola fürsorglich zu ihrem Bett begleitete.
Dr. Jeff Parker, der hier in der Klinik eigentlich als Anästhesist angestellt war, grinste. »Wenn du mich mal wieder brauchst, mußt du mich nur rufen.«
»Ihre Beziehungen sind aber auch nicht die schlechtesten, Herr Doktor«, meldete sich Ivo zu Wort, um den sich Dr. Scheibler sofort gekümmert hatte. »Wer hat in einer Situation, wo es wirklich darauf ankommt, schon einen erstklassigen Karatekämpfer zur Hand?«
Dr. Daniel lächelte. »Er wird in Kürze auch noch mein Schwiegersohn, aber normalerweise arbeitet er hier nur als Arzt.«
Ivo nickte, dann bekam er von einer Sekunde zur anderen plötzlich heftigen Schüttelfrost – ausgelöst durch den Blutverlust und die enorme Nervenbelastung. Auch Nikola saß mit noch immer vor Entsetzen geweiteten Augen auf dem Bett und schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Für sie, die keine beruhigenden Worte hören konnte, mußte das alles noch tausendmal schlimmer sein.
Dr. Scheibler und Dr. Parker, in dem nach seiner grandiosen Kampfeinlage auch wieder der Arzt erwachte, hoben den am ganzen Körper bebenden Ivo auf die von der Nachtschwester bereitgestellte fahrbare Trage und brachten ihn in ein freies Zimmer. Hier bekam Ivo ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt, dann wurden die vorher notdürftig versorgten aufgeschnittenen Pulsadern verarztet.
Währenddessen hatte sich Dr. Daniel zu Nikola auf das Bett gesetzt und ergriff nun tröstend ihre Hände. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, in dem noch immer Entsetzen und Verwirrung standen, dann löste sie die rechte Hand aus Dr. Daniels Griff und schrieb mit zitternden Fingern.
Warum hat er mir das nur angetan?
»Ich weiß es nicht, Nikola«, entgegnete Dr. Daniel. »Er war schon immer kriminell. Vielleicht war es einfach der Reiz, einem Menschen weh zu tun, dessen Schreie niemand hören kann.«
Er hat mich niemals geliebt.
Dr. Daniel las, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Das einzige, was er liebte, war das Geld, das er durch die Heirat mit Ihnen bekommen hätte.« Er schwieg kurz. »Wäre Ivo nicht so eifersüchtig auf ihn gewesen, wären wir vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, daß Kai dieser brutale Vergewaltiger gewesen ist. Im Grunde brachten mich erst Ivos Nachforschungsergebnisse auf diesen Gedanken.« Wieder machte er eine Pause. »Ich war fast sicher, daß Kai Horstmann nach der Lösung des Verlöbnisses an Rache denken würde, deshalb ordnete ich an, daß Ihr Zimmer rund um die Uhr überwacht wird. Dabei muß ich gestehen, daß ich auf den Gedanken, er könnte hier im ersten Stockwerk durchs Fenster einsteigen, gar nicht kam.« Für einen Moment senkte er den Kopf, dann sah er Nikola wieder an, damit sie von seinen Lippen ablesen konnte.
»Ivo und ich wollten uns heute abend bei der Steinhausener Polizei treffen, um gemeinsam mit dem von ihm gesammelten Material Anzeige gegen Kai zu erstatten, doch als Ivo nicht erschien, hatte ich plötzlich so ein ungutes Gefühl, das mich nicht getrogen hat. Ich hatte die Eingangshalle noch nicht richtig betreten, als mir Sándor schon in heller Aufregung entgegenkam. Als er mir erzählte, in welcher Situation Sie und Ivo steckten, wußte ich sofort, daß nur ein Mensch fähig sein würde, Kai zu überwältigen – Dr. Parker. Nach allem, was ich aus Ivos Unterlagen über Kai Horstmann wußte, konnte ich davon ausgehen, daß er sich nach möglichst allen Seiten absichern und Ivo keine Chance lassen würde…«
In diesem Moment legte Nikola ihm eine Hand auf die Lippen, dann schrieb sie: Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. An dem, was geschehen ist, trifft Sie keine Schuld – im Gegenteil. Sie haben uns die Rettung geschickt. Ihnen verdanken wir, daß wir noch am Leben sind.
Dr. Daniel wollte widersprechen, weil er die ganze Sache nicht so sehen konnte, doch Nikola schüttelte abwehrend den Kopf, dann forderte sie ihren Block zurück.
Ich möchte zu Ivo.
Dr. Daniel half ihr aufzustehen, doch nach den schrecklichen Erlebnissen wollten Nikolas Beine noch nicht so recht gehorchen. Dr. Daniel mußte sie stützen, und mit seiner Hilfe bewältigte sie den Weg zu Ivos Zimmer.
»Er hat ein starkes Beruhigungsmittel bekommen«, erklärte Dr. Daniel. Er spürte, daß Nikola etwas sagen wollte, ihren Block jedoch im anderen Zimmer vergessen hatte. Allerdings konnte er sich schon denken, was sie wollte. »Natürlich können Sie bei ihm bleiben, bis er wach wird. Ich lasse Ihnen ein Bett hereinstellen, damit Sie sich ausruhen können, wenn Ihnen das Sitzen zu anstrengend werden sollte.«
Dankbar sah Nikola ihn an, dann drückte sie voller Innigkeit seine Hand, ehe sie sich Ivo zuwandte und sanft über sein dichtes Haar streichelte. Obwohl er unter der Wirkung des Beruhigungsmittels eigentlich nicht hätte wach werden können, schien es, als hätte er Nikolas Berührung gespürt, denn plötzlich öffnete er die Augen und sah in das lächelnde Gesicht der Frau, die er liebte. Es war für ihn wie ein Blick in den Himmel.
»Niki«, flüsterte er und brachte dabei sogar dieses Lächeln zustande, das Nikola so sehr liebte. Mit den Fingerspitzen berührte sie seine Lippen… wollte dieses Lächeln festhalten, und es gelang ihr auch, denn es blieb auf Ivos Gesicht, als er schon wieder eingeschlafen war.
Und obwohl er es jetzt nicht sehen konnte, formten Nikolas Hände die Worte, die direkt aus ihrem Herzen kamen: Ich liebe dich…