Читать книгу Tu, was ich denke! - Marie Gilfert - Страница 7

Kapitel 3

Оглавление

Tote Brüder - Donnerstag, 20. Dezember, 10 Uhr in Mänzelhausen

Evi war gerade bei Erika, als sie Beckergsell kommen sah. Er parkte den Wagen am Straßenrand direkt vor Lottchens Haus.

»Hier, Erika«, sagte sie und reichte der Bäckerin einen Schein. »Den Rest können Sie behalten. Als Belohnung dafür, dass der Streuselkuchen heute mal frisch zu sein scheint.«

Evi beeilte sich, den Laden zu verlassen. Beckergsell war schon ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen. Hinter ihm her trotteten Studz und Schlupp, beide aschfahl und schlotternd vor Kälte. Mit hochgezogenen Schultern und die Hände tief in ihren Hosentaschen vergraben, schienen sie mit einem Kater zu kämpfen, der sich gewaschen hatte.

»Sie wollen zu Lottchen Kääsig, stimmt’s?«, flötete Evi den Kommissaren entgegen. »Sie wohnt dort.« Sie wies auf das zweigeschossige Fachwerkhaus, das ähnlich zerfallen wirkte wie das alte Forsthaus, in dem Beatrice bis zu ihrem Tod vor einem Jahr gewohnt hatte.

Sie sah, wie Beckergsell zusammenzuckte, als er gewahrte, wer sich näherte.

»Haben Sie schon auf uns gewartet?«, fuhr er sie an. »Es wird wohl kein Zufall sein, dass Sie gerade jetzt hier umherstolzieren.«

Er blickte auf ihre Füße mit den extrahohen Pumps. Evi ignorierte die Bemerkung, nahm sich aber vor, später noch einmal darauf zurückzukommen.

»Also gut«, sagte Beckergsell und meinte damit seine beiden Kollegen. »Sie gehen rüber und befragen diese Schmontz. Ich werde mich mit der Kääsig befassen.«

Studz und Schlupp nickten und schlurften hinüber zur Bäckerei. Sie waren fast da, als Studz stehenblieb und sich vornüber beugte. Gleich darauf spritzte eine braunbeige Soße auf das trockene Straßenpflaster.

»Weiß man schon, wer der Tote ist?«, fragte Evi.

»Da Sie es sowieso herausfinden werden, kann ich es Ihnen ja auch gleich sagen«, antwortete Beckergsell. »Der Kerl hieß Holger Bölker.«

«Bölker?«

»Genau. So wie Ihr alter Club-Bölker.«

»Wollen Sie damit sagen, dass der Tote mit Lothar verwandt war?«

»Nein, will ich nicht, Frau Bandeisen. Und Sie wollen es auch nicht, haben wir uns verstanden?«

»Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar. Aber was hat Sie darauf gebracht, wenn ich fragen darf?«

»Ein Ausweis. So, und das war’s. Keine Fragen mehr.«

»Ganz wie Sie meinen, Herr Hauptkommissar.«

»Herr Hauptkommissar«, wiederholte er. »Aus Ihrem Mund klingt das immer wie Depp.«

Evi schüttelte ihren Kopf. »Sie scheinen an mangelndem Selbstvertrauen zu leiden, Herr Hauptkommissar. Und nicht nur das. Mir kommt es so vor, als seien Sie auch nicht mehr Herr Ihrer Willenskraft und das schon zum dritten Mal hintereinander.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Soll ich es Ihnen beweisen? Dann schauen Sie tief in meine Augen. Gleich geht’s los.«

Und wirklich: Beckergsell breitete seine Arme aus und schrie aus vollem Hals: »Evi Bandeisen, Sie haben die schönsten Beine der Welt!«

*

10.20 Uhr, in der Villa Braunmeier

»Beckergsell ist im Dorf«, sagte Evi, nachdem Doris ihr den Mantel abgenommen und sie ins Wohnzimmer geführt hatte. Gemeinsam schoben sie ein Brokatsofa dicht vor den Kamin und ließen sich darauf nieder.

»Ich war zufällig bei Erika, als er eintraf und habe kurz mit ihm gesprochen. Er war ziemlich schlechter Laune, aber ich habe ihm einen Denkzettel verpasst.«

»Hat er Erikas Füße geküsst?«

»Nein, aber ich glaube, er steht auf mich.«

»Wirklich? Dann achten Sie darauf, dass Reinhold nichts davon mitbekommt.«

Die Schneiderin verzog ihren Mund. »Dass Sie immer noch auf dieser uralten Sache herumreiten.«

Die uralte Sache war Teil der Geiselnahme vor einem Jahr, bei der Evi mit ihrem Stich in Lothars Zeh großen Mut bewiesen und dafür viel Lob erhalten hatte. Reinhold hatte am Ende einen winzigen Beitrag zu ihrer eigenen Rettung geleistet, wodurch Evi wiederum glaubte, für alle Zeiten in seiner Schuld zu stehen. Zum Zeichen ihrer Dankbarkeit hatte sie sich ihm an die Brust geworfen und aufs Leidenschaftlichste von seiner mustergültigen Männlichkeit geschwärmt. Als sich die Aufregung gelegt hatte, wäre sie vor Scham über die völlig überzogene Ehrerbietung am liebsten im Erdboden versunken.

»Likör?«, fragte Doris.

Evi nickte.

»Spendieren Sie mir ein Gläschen?«, bat Doris. »Eine Flasche Champagner schaffe ich am Vormittag nicht.«

»Nur zu«, antwortete Evi.

Sie war mit ihrer Handtasche beschäftigt, in der sich neben bergeweise Krimskrams auch eine halbe Stange Zigaretten befand, der Rest vom Vorabend. »Ah!«, rief sie erfreut. »Hier ist ja auch der Streuselkuchen. Fast hätte ich ihn vergessen.«

Doch beim Herausnehmen zerriss das Einschlagpapier. Das Kuchenstück rutschte vom Pappteller direkt auf die Zigaretten, auf ein goldenes Feuerzeug sowie auf ein Handy, das in einer Hülle aus künstlichem Krokodilleder steckte.

»Typisch Erika«, schimpfte sie. »Ist der Kuchen von vorgestern, stimmt die Verpackung, ist er frisch, spart sie daran, und jetzt ist alles übersät mit fettigen Streuseln. Die Tasche kann ich wegwerfen. Das neueste Modell einer französischen Luxusmarke! Haben Sie eine Vorstellung, wie viel sie gekostet hat?«

Doris zuckte mit den Achseln: »Ich schätze, ein Vermögen.«

»Allerdings! Und nicht einfach zu beschaffen. In Perlstetten gibt es ja nur ein einziges Kaufhaus, ein lachhaft antiquiertes Gemäuer, in dem sich übrigens Margot mit Hingabe herumtreibt und ihren Sklavenlohn verschleudert.«

Schwer atmend zündete Evi sich eine Zigarette an, zog dreimal und schnippte die Kippe in den Kamin. Der Ärger über die ruinierte Handtasche saß tief, und erst Doris‘ ungeduldiges Wedeln mit dem Schürhaken vermochte die Schneiderin zum Weitererzählen zu animieren.

»Beckergsell ist ein Depp«, sagte sie endlich nach einem letzten Seufzer. »Und erst die beiden anderen. Sie schienen dem Tode näher zu sein als dem Leben. Noch halb betrunken und ungewaschen. Einer übergab sich mitten auf der Straße. Einen schönen Eindruck hat das gemacht.«

»Sie wollten sicher zu Lottchen, oder?«, fragte Doris.

»Ja, und zu Erika.«

»Vielleicht kennt eine ihn.«

»Erika wohl kaum, aber vielleicht Lottchen. Es kam mir so vor, als sei sie gar nicht überrascht gewesen, als der Kerl neulich vor ihrem Haus stand. Dafür weiß ich von Beckergsell, dass der Tote Holger Bölker heißt. Und jetzt halten Sie sich fest: Er war Lothars Bruder.«

Doris stellte ihr Glas ab und starrte die Schneiderin an.

»Ich dachte mir, dass Ihnen das die Sprache verschlägt«, sagte Evi. »Demnach wussten auch Sie nichts von einem Bruder. Aber ich hatte den richtigen Riecher. Er erinnerte mich sofort an Lothar. Selbstverständlich hat Beckergsell nicht wörtlich gesagt, dass es der Bruder ist. Er hat mich sogar angewiesen, es nicht einmal in Betracht zu ziehen. Wie durchschaubar dieser Mann ist. Es ist doch offensichtlich, wieso er diese Andeutung ausgerechnet einer Clubangehörigen macht. Er zählt natürlich auf unsere Hilfe, und das zu einem Zeitpunkt, wo die Ermittlungen gerade erst begonnen haben. Wenn das kein Beweis für seine Inkompetenz ist.«

»Aber dieser Holger könnte doch auch ein Neffe sein oder ein Cousin«, überlegte Doris.

»Und wenn? Fest steht, dass er ein Verwandter war. Ich finde, das sollte fürs Erste genügen«, antwortete Evi.

»Dann wollte er gar nicht zu Lottchen, sondern zu Lothar«, sagte Doris, »und wusste vermutlich gar nicht, dass sein Bruder nicht mehr lebt. Aber was tat er dann bei Lottchen?«

»Das wüsste ich auch gerne. Vielleicht kannte er Lothars Adresse nicht und wollte in der Bäckerei danach fragen und dann nachsehen, ob es etwas für ihn zu erben gab. Das Haus, der Grund und Boden, und wer weiß, was Lothar sonst noch alles besaß.«

»Falls Lothar kein Testament hinterlassen hat, erbt der Staat alles. Seine Ehefrau ist schon vor langem verstorben, er hatte keine Lebenspartnerin und - jedenfalls glaubten wir es - auch keinen Verwandten.«

»Der Staat?«, höhnte Evi. »Damit wird er keine Freude haben. Alleinstehende Männer von Lothars Sorte hausen mehr, als dass sie wohnen. Sie lieben Gerümpel, dreckiges Geschirr, fettige Fußböden und schmutzige Wäsche. Sie duschen nur selten, schlafen monatelang in derselben Bettwäsche und riechen streng. Also können Sie sich denken, wie’s bei Lothar aussieht. Welcher Staat möchte sich schon mit so etwas abgeben? Bedauerlich, dass der einzige Erbe sein Leben auf offener Straße aushauchte.«

»Wie wurde er eigentlich getötet?«

»Bei der Menge an Blut tippe ich auf mehrere Messerstiche.«

»Hat Beckergsell schon einen Verdacht?«

»Gesagt hat er nichts.«

Doris tauchte ihre Zunge ins Glas und rührte damit im bronzefarbenen Likör. In ihren Augen spiegelte sich das rotgelbe Flackern des Kaminfeuers. Sie atmete langsam ein und aus, dann nahm sie die Zunge aus dem Glas und leckte den Zucker von den Lippen.

»Was meinen Sie, Evi?«

»Was schon? Es hat Sie wieder gepackt. Die Detektivin in Ihnen will auf Mörderjagd gehen.«

Doris lächelte über ihr Likörglas hinweg in die listigen Augen der Schneiderin.

»Und was will die Detektivin in Ihnen?«

»Beckergsell beweisen, dass er ein Depp ist!«

Tu, was ich denke!

Подняться наверх