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Kapitel 1
ОглавлениеEin harter Schlag
Freitag, 11. November 2011
»Beatrice Walther steht Großes bevor! In wenigen Minuten wird sie im Stockholmer Konzerthaus den berühmtesten Literaturpreis der Welt entgegennehmen. Ihr Name steht für einen neuen Stern, auf dessen Geburt der, so schien es, lichtundurchlässige Himmel mittelmäßiger Literatur so lange gewartet hat. Mit ihrem Werk Am seidenen Faden hat sie Vorzügliches geschaffen, so vorzüglich, dass es vorzüglicher gar nicht mehr geht.«
In der Tat, dachte sie beim Lesen des Flyers, der auf Veranlassung des Nobelkomitees inner- und außerhalb des Gebäudes bereits hundertfach verteilt worden war. Ihre vier Konkurrenten hatte sie locker abgehängt. Der Nobelpreis war ihr sicher. Aus diesem Grund war sie hier.
Ausgewähltes internationales Publikum war nach Stockholm gekommen, um die Ehrung einer Autorin mitzuerleben, die in einem Kleid aus eidottergelber Seide aus der Werkstatt der berühmten Modeschöpferin Evelyn Bandeisen schon vor Beginn der Feierlichkeiten alle Blicke auf sich gezogen hatte.
Ihr Herz schlug bis zum Hals, als der König ihr zur Begrüßung die Hand reichte und sie versehentlich einen Knicks machte, was im Publikum für Heiterkeit sorgte, doch offenbar nicht aus Schadenfreude, denn als ihr Gesicht rot anlief, erscholl Applaus, worauf auch der König klatschte und ihr zuflüsterte, dass dieser drollige Fauxpas sie nur noch sympathischer mache. Verlegen bedankte sie sich für so viel Liebenswürdigkeit, was wiederum das Publikum mit erneutem Beifall belohnte.
Als auch dieser verebbte, konnte es weitergehen im Protokoll, und Seine Majestät kam nun richtig in Fahrt. Zuerst verlief noch alles ganz normal, er überreichte Medaille und Urkunde, dann gratulierte er und lächelte gemeinsam mit ihr in die Fernsehkameras. Doch dann näherte er sich bis auf höchstens drei Zentimeter ihrem Gesicht, und als er sie nach französischer Art auf beide Wangen küsste, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen. Hingerissen von so viel Spontaneität machte das Publikum ah und applaudierte derart übertrieben, dass nur ein energischer Tusch der im Hintergrund arrangierten Hofkapelle den Jubel in vernünftige Bahnen zu lenken vermochte.
Kaum dass ihre Verwirrung sich gelegt und sie die beiden Auszeichnungen in der vom Nobelkomitee spendierten Aktentasche untergebracht hatte, zog Königliche Hoheit hinter seinem Rücken schon die nächste Überraschung hervor. Als er ihr den ein Meter breiten und fünfzig Zentimeter hohen symbolischen Scheck aus Karton entgegenhielt, dachte sie als Erstes an die modrige Nasszelle in ihrem Haus und als Nächstes an das Elektrofahrrad für zweitausend Euro. Auch der altmodische Inhalt des Kleiderschranks kam ihr in den Sinn, dann noch der im Schneckentempo arbeitende Computer und schließlich die fünfzig Jahre alte Sickergrube hinten im Garten.
Dankbar langte sie nach dem Scheck und stemmte ihn, begleitet von den Zurufen der Königsfamilie, mit gestreckten Armen über ihren Kopf hinweg in die Höhe. Beim Anblick des fettgedruckten Betrages hielten die Zuschauer sekundenlang den Atem an. Drei Ehrengäste in der ersten Reihe nutzten die Stille und stimmten die deutsche Nationalhymne an, worauf zehn weitere Personen in unmittelbarer Umgebung verzückt zu Boden sanken. Dadurch entstandene Irritationen verflüchtigten sich sogleich, nachdem sich die Sänger auf »So ein Tag, so wunderschön wie heute« geeinigt hatten, eine Idee, die auch von der Kapelle Unterstützung fand. Männer und Frauen, gekleidet in den herrlichsten Roben, animierte die Musik zum Tanzen, während andere über die Stühle hinwegstiegen, um ohne Umwege zur Bühne zu gelangen, wo sich ihr Idol mit dem Scheck und inzwischen auch mit einem Blumenstrauß zu Tränen gerührt mindestens schon zum fünfzigsten Mal verneigte.
Die Menschen applaudierten abermals wie entfesselt, und ihre Bravo- und Hurrarufe schallten bis weit hinaus in die schwedische Hauptstadt, wo Touristen und Einwohner in Bars, Restaurants und zu Hause vor den Fernsehapparaten gleichermaßen das Spektakel mitverfolgten. Überwältigend, brillant, phänomenal waren nur einige der hundertfach wiederholten Adjektive, mit denen die internationalen Berichterstatter sich gegenseitig überboten, um die Leistung der Preisträgerin zu würdigen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch stundenlang auf der meterhohen Bühne verweilen können, denn eine derartige Huldigung wurde einer Autorin, wenn überhaupt, höchstens einmal im Leben zuteil, und so war es kein Wunder, dass sie die Zeit am liebsten angehalten und dafür sogar auf das anschließende Galadiner verzichtet hätte. Glücklicherweise stand noch ihre Dankesrede auf dem Programm, die selbstverständlich aus ihrer eigenen Feder stammte und die sie, ebenso selbstverständlich, auswendig vortragen würde, was ihren Auftritt um wenigstens dreißig Minuten verlängern würde.
Scheck und Blumenstrauß hatte ihr die Kronprinzessin freundlicherweise abgenommen, und auch die Aktentasche war von der Bühne entfernt worden. Die Menschen hatten sich beruhigt und ihre Plätze wieder eingenommen, niemand sang und applaudierte mehr. Mindestens zweitausend Augen hingen nun an ihren Lippen, doch sie ließ sich Zeit und wartete, bis auch der Letzte sich ein Husten verkniffen hatte. Erst als es mucksmäuschenstill war, schritt sie zum Mikrofon, nahm es aus der Halterung und hielt es dicht an ihren Mund.
Sie hatte sich vorgenommen, auf geschluchzte Dankeschöns und stimmungslähmende Aufzählungen von Namen irgendwelcher Möglichmacher zu verzichten. Sie würde über ihr Buch reden, und nur darüber. Denn eines stand fest: Nirgendwo besser als auf dieser Bühne konnte sie dafür Werbung machen.
Sie setzte den von unbeschreiblicher-Freude-und-tiefer-Dankbarkeit-erfüllt-Blick auf, weil sie wusste, dass er bei den Menschen positive Gefühle weckte, gleichermaßen Sympathie und Empathie erzeugte für die Preisträgerin, die schon tagelang vor der Verleihung enormen Stress hatte aushalten müssen. Sie würde dafür sorgen, dass alle, die ihr Buch bisher noch nicht gekauft hatten, es spätestens nach dieser Ansprache tun würden. Sie wusste genau, wie so etwas funktionierte.
Doch urplötzlich schoss ein Geräusch mitten hinein in den Festakt, und zwar derart schrill, dass die Menschen vor Schreck die Köpfe einzogen und ihre Ohren mit den Händen bedeckten, während der König mit seiner Familie wie auf Kommando von einer Handvoll Leibwächter umringt war, die sich alle gleichzeitig auf die Hoheiten warfen und sie zu Boden drückten. Jemand zog sie mit hinab und rief ihr etwas zu, was sich anhörte, wie: »Aus der Traum!«
Mit einem Schlag war alles vorbei. Sie weilte nicht mehr in Stockholm, der König war verschwunden und mit ihm Scheck und Blumenstrauß. Stattdessen befand sie sich im alten Forsthaus in Mänzelhausen, dort wo sie zuhause war, und der Radau, der ihre Rede abgewürgt hatte, kam von der verdammten Glocke unten an der Haustür.
Sie rappelte sich hoch, noch halb verschlafen, aber schon mit Wut im Bauch. »Wenn das Margot ist, dann steuert sie gerade auf ihre Kündigung zu!«
Sie schielte zum Wecker und fiel zurück ins Kissen. Es war sieben Uhr.
Obwohl es schon vier Wochen her war, erinnerte sie sich wortwörtlich an die Anweisung, die sie Margot beim Antritt der neuen Stelle gegeben hatte: »Ihre Arbeitszeit beginnt um acht, aber ich möchte bis wenigstens elf Uhr auf keinen Fall gestört werden, also betreten Sie das Haus durch den Kellereingang, die Tür ist nicht verschlossen.«
So und nicht anders hatten ihre Worte gelautet, und bis letzten Freitag hatte es diesbezüglich auch keine Missverständnisse gegeben, doch dann fiel ihr der Wortwechsel von vergangener Woche ein, der trotz seiner Belanglosigkeit für Margot vielleicht ein Grund sein konnte, sich zu rächen. Zuzutrauen war es ihr, denn es entsprach ihrer Natur, immer das letzte Wort haben zu wollen, und nur schwer konnte sie es ertragen, wenn es einmal nicht so war.
Sie schlug die Decke zurück und fluchte, weil allem Anschein nach der Finger dieser beschränkten Person am Klingelknopf festgewachsen war und der Tag, obwohl er für sie noch gar nicht angefangen hatte, bereits eine unwillkommene Richtung einzuschlagen im Begriff war, vorausgesetzt der Lärm würde nicht augenblicklich aufhören. Doch es läutete in einem fort.
Kaum dass sie aus dem Bett war, begann sie zu frieren, wie ein Mensch nur frieren konnte, der bei einer Größe von ein Meter fünfundsiebzig kaum mehr als fünfzig Kilo auf die Waage brachte und in dessen Schlafzimmer sich außer Bett und Kleiderschrank nur noch ein verrußtes Kohleöfchen befand, in dem seit ihrem Einzug vor einem Jahr kein Feuer mehr gebrannt hatte.
Ihre Zähne klapperten, als sie den Hausmantel überzog und im Dunkeln bis zur Treppe schlich, die vom ersten Stock in die mit Steinfliesen ausgelegte Eingangshalle führte. Dort blieb sie stehen und schrie mit zugehaltenen Ohren hinab: »Margot, sind Sie das? Wenn sie schon die Frechheit besitzen, mitten in der Nacht hier aufzutauchen, dann bewegen Sie Ihren Hintern gefälligst durch den…«
Gerade noch rechtzeitig brach sie ab, denn vielleicht war es gar nicht Margot. In Mänzelhausen gab es normalerweise nur zwei Personen, die so früh auf den Beinen waren, und das waren Erika Schmontz, Inhaberin der Bäckerei Klingelpelz-Schmontz und ihr Mann, Bäckermeister Erwin. Also könnte da unten ein Fremder stehen, und um ein Haar hätte sie, einzig aus Ärger über ihre Putzfrau, den geheimen Zugang zu ihrem Haus hinausposaunt.
Es war ihr nicht geheuer, als das Läuten plötzlich aufhörte und es ganz still geworden war. Sie stand unverändert auf der obersten Stufe, doch so sehr sie auch die Ohren spitzte, es war von unten kein einziger Laut mehr zu hören. Geh zurück in dein Bett, sagte ihre innere Stimme, doch eine andere war der Meinung, erst nachzusehen, wer der unerhörte Störenfried war.
Ohne Licht zu machen, tastete sie sich die zehn Stufen hinunter, bis sie in der Halle stand. Rechts von ihr, zwischen Garderobe und der Tür zum Arbeitszimmer, stand eine Eichenkommode, hinter der ein alter Jagdkarabiner seinen Platz hatte und von dessen Existenz nicht einmal ihre Clubfreunde etwas wussten. Sie würde sich hüten, ihnen davon zu erzählen. Dass sie eine Waffe besaß, war ihr Geheimnis, und auf eine Diskussion, wieso und vor wem sie glaubte, sich in Mänzelhausen, zu dessen furchteinflößendsten Einwohnern ein sechzehn Jahre alter Schäferhund zählte, mit einem Gewehr schützen zu müssen, konnte sie gut verzichten.
Ihr Haus lag abseits vom Dorf, praktisch schon im Wald. Grund genug, einem Verrückten, der mitten in der Nacht an ihrer Haustür randalierte, deutlich zu machen, was ihm hier eventuell blühte. Nachdem sie die Außenbeleuchtung eingeschaltet hatte, legte sie das Gewehr an und zielte in Brusthöhe auf die Tür.
»Sagen Sie, wer Sie sind, was Sie von mir wollen, und dann hauen Sie ab!«
Als nur Schweigen folgte, wurde ihr schwindlig vor Unbehagen, denn wenn sie den Türriegel aufschöbe, würde sie das Gewehr nur mit einer Hand halten können und den Lauf senken müssen. Ich könnte notfalls aus der Hüfte schießen, überlegte sie und machte sich bereit. Den Finger am Abzug, holte sie noch einmal tief Luft und riss mit einem Ruck die Tür auf.
Der Schein der Lampe fiel auf ein Gesicht, das sie gehofft hatte, in ihrem Leben nie mehr wiederzusehen. Die Überraschung war so groß, dass sie überhaupt nicht auf den Gedanken kam, die Tür gleich wieder zuzuschlagen und Doris vom Club anzurufen oder zur Not auch Lothar, ihren lästigen Verehrer, der sich die Gelegenheit nicht hätte nehmen lassen, sich als Retter aufzuspielen und das, wie sich in weniger als zwei Sekunden herausstellen sollte, zu Recht.
»Was willst du?«
Die Antwort war ein Schlag mitten ins Gesicht. Das Gewehr krachte auf den Boden, weil ihre Hände automatisch zur Nase fuhren, in der es schauderhaft knirschte. Vor ihren Augen sprühte es Funken, und als sie Blut schmeckte, ließ die Übelkeit nicht lange auf sich warten. Blind, und mit Knien, die sich anfühlten wie frischgeschlagene Butter, taumelte sie erst zurück und dann wieder vor, denn dort war die Tür, und dort würde sie Halt finden, doch sie stolperte über das Gewehr und schlug der Länge nach hin.
Als Margot Klöbelschuh sie fand, war es Punkt acht Uhr.
*
»Huch! Was ist denn mit Ihnen los?«
Margot schlug vor Schreck ihre Hände vor den Mund und sah hinab auf Beatrice, die alle Viere von sich gestreckt auf dem Rücken lag und keinen Piep machte.
»Sind Sie tot, oder warum liegen Sie hier auf dem eiskalten Boden?«
Sie war nur gekommen, um ihren Job zu machen, doch daraus würde heute nichts werden, das hatte sie gleich gesehen. Dem Schreck wich Verstimmung, die sich in Ärger steigerte, denn Beatrices augenblicklicher Zustand bedeutete den Ausfall von fünfzig Euro, die Margot sich hier jeden Freitagvormittag mit ehrlicher Arbeit verdiente.
»Also gut, Gnädigste. Wenn Sie schon nicht mit mir reden wollen, dann lassen Sie sich wenigstens den Puls fühlen.«
Sie schüttelte ihren Kopf und stöhnte: »Und das mit meiner Hüfte.«
Umständlich ging sie in die Knie, packte Beatrices rechten Arm, legte zwei Finger ans Handgelenk und nickte. »Glückwunsch, Sie leben noch. Damit ich meine Arbeit nicht verliere, werde ich Sie jetzt ein wenig drehen. Sie wissen schon, stabile Seitenlage. Damit kenn ich mich aus. Herbert war vor Jahren mal umgekippt, als er im Schuppen…«
Als sei ihr die Erinnerung daran unangenehm, unterbrach sie sich und zuckte die Achseln. »Man sollte die Toten in Ruhe ruhen lassen, weil Ruhe immer noch die beste Medizin ist.«
Sie sah, wie Blut aus Beatrices Nase quoll, und in einem Mundwinkel steckte der Teil eines abgebrochenen Zahnes. Mit spitzen Fingern und gerümpfter Nase zog sie ihn heraus und schnippte ihn unter die Kommode. Das lange, brünette Haar, sonst zu einer Hochfrisur aufgetürmt, hatte sich um den Hals der Schriftstellerin gewickelt, was den Anschein erweckte, als habe sie nicht nur einen Boxkampf verloren, sondern sei obendrein mit ihrem eigenen Haar erdrosselt worden.
Margot betrachtete nachdenklich Beatrices Gesicht, dessen Schönheit trotz der eingebeulten Nase unverkennbar war. Sie ist schön, nicht nur hübsch, dachte sie. Irgendwie besonders, also nicht so wie auf den Zeitschriften. Ihre Züge waren vielleicht ein bisschen streng, und um die Augen herum waren im letzten Jahr ein paar Fältchen entstanden, aber ihr Mund war ganz scharf geschnitten, und die Haut hatte immer diesen speziellen Teint, um den sie alle beneideten. Olivfarben hatte sie einmal in einer Zeitschrift gelesen, aber damals hatte sie keine Vorstellung gehabt, wie so eine Farbe in einem Gesicht aussehen könnte. Es gab ein Wort für diese Art von Schönheit, aber sie kam nicht drauf.
Beatrice war sowohl Arbeitgeberin als auch befreundetes Clubmitglied, und es wäre Margot niemals in den Sinn gekommen, ihr etwas Böses zu wünschen, aber vielleicht war diese kleine Abreibung hier genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen, denn das Benehmen der Schriftstellerin war in der letzten Zeit derart unmöglich geworden, dass man es auch mit noch so viel Berühmtheit nicht mehr entschuldigen konnte. Dabei war das nicht immer so gewesen. Ganz zu Anfang ihrer Bekanntschaft, die durch Beatrices Beitritt zum Club zustande gekommen war, hatte sie sich mit ihrer Liebenswürdigkeit auf Anhieb Sympathie verschafft. Doch mit der Zeit wurde sie immer unausstehlicher. Nach Margots Ansicht gab es dafür nur eine Erklärung: Madame war der Erfolg zu Kopf gestiegen!
Trotz ihrer Hüfte hatte sie das Angebot, ihr Haus sauber zu machen, angenommen, denn davon, dass sie die beleidigte Leberwurst spielte, würde sie sich auch nichts kaufen können.
Beatrice trug den Hausmantel aus Cord, ein Erbstück des Revierförsters, der hier vor vielen Jahren gelebt hatte. Nachdem er gestorben war und kein Angehöriger sich für seine Habseligkeiten interessiert hatte, waren zwei von der Forstverwaltung beauftragte Kerle angerückt und hatten die Tür zugenagelt. Darüber waren gut fünf Jahre ins Land gegangen, bis vor etwas mehr als zwölf Monaten eine prominente Städterin das Haus mit all seinem Gerümpel gekauft und bezogen hatte. Als Margot es zum ersten Mal betrat, hatte sie aufgeschrien, denn so etwas war ihr noch nie untergekommen. Wohin das Auge auch blickte, alles war schäbig. Doch die neue Eigentümerin hatte daran keinen Anstoß genommen und sich nicht einmal gescheut, für Waldspaziergänge die porösen Gummistiefel ihres Vorgängers anzuziehen.
»Ich beabsichtige nicht, mein ganzes Leben hier zu verbringen«, hatte sie erklärt und hinzugefügt, dass Mänzelhausen nur eine von vielen Stationen in ihrem Lebens sei, ein Ort, von dem sie sich eine neue und ersprießliche Schaffensphase verspreche. Immerhin hatte sie das in diesem Nest für möglich gehalten, und tatsächlich schien sie unermüdlich am Schreiben zu sein, denn häufig bekam man sie tagelang nirgendwo im Dorf zu sehen.
Unter dem Mantel lugte ein Kinderschlafanzug hervor, und beim Anblick der Entchen, Kätzchen und Dackelwelpen verzog Margot ihr Gesicht. »Weiß Gott, woher sie den hat. Aber gut, dass ihre Leser sie so nicht sehen können.«
Margot machte ein ratloses Gesicht. »Entweder es war jemand hier, der ziemlich sauer auf sie war, oder sie ist die Treppe runtergefallen. Ein Freundschaftsbesuch jedenfalls sieht anders aus.«
Sie rappelte sich wieder hoch, was nicht abging ohne den Protest ihrer Hüfte, in der, sobald der Winter kam, bei jeder falschen Bewegung schneidende Schmerzen tobten. Heute hatte sie es Beatrice zu verdanken, dass sie wie eine Greisin zum Telefon schlurfte, das meterweit entfernt im Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch stand.
Beim Eintreten in den etwa zwanzig Quadratmeter großen und nach Nordosten gehenden Raum wurde sie von einer angenehmen Wärme überrascht, was selten genug vorkam, denn der Kachelofen blieb häufig auch im Winter kalt, weil ein vernünftiges Feuer nun einmal Holz und Kohle benötigt.
Sie wird wieder die ganze Nacht hindurch geschrieben haben, dachte Margot und ging zum Schreibtisch, wo das Telefon stand. Sie wählte den Notruf und wartete.
Auf dem Schreibtisch sah es aus wie Kraut und Rüben. Vollgekritzelte Zettel, Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, wohin das Auge blickte. Aufgerissene Pakete mit Druckerpapier verstaubten von Freitag bis zum nächsten Freitag, und alles, was sie ordentlich sortiert hatte, lag beim nächsten Mal genauso umher, wie sie es eine Woche zuvor vorgefunden hatte. Doch am meisten hasste sie die kleinen Teller mit den ranzigen Butterbroten, von denen sie jede Woche welche in wenigstens einer der sechs Schubladen des Schreibtischs ans Tageslicht beförderte. Vergangenen Freitag war ihr diese Ferkelei so gegen den Strich gegangen, dass sie einfach nicht anders konnte, als zu fragen, was Essensreste denn in einer Schreibtischschublade zu suchen hätten.
»Dann werfen Sie das Zeug eben in den Müll. Dazu sind Sie doch da, oder?«
Margot war einiges gewohnt, aber von dieser Antwort hatte sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt und mit den Tränen gekämpft. Als Beatrice jetzt so vor ihr lag, erinnerte sie sich daran, was sie an jenem Morgen gedacht hatte: So viel Bosheit wird ihren Meister noch finden!
Von allem, was sich im Raum befand, machten nur die beiden Laptops einen gepflegten Eindruck, vermutlich weil sie viel Geld gekostet hatten und für Beatrice unverzichtbare Arbeitsmittel waren.
Margot sah, dass unter dem Deckel des einen ein Blatt Papier klemmte. Sie überlegte nicht lange und zog es heraus. Es stand nur ein kurzer Text mit gedruckten Buchstaben darauf, und in der Mitte war es ein wenig eingeritzt, so als habe jemand versucht, ein Loch hineinzubohren. Sie wollte gerade zu lesen beginnen, als sich am anderen Ende eine Stimme meldete. Mit knappen Worten erklärte Margot, wen sie wie und wo vorgefunden hatte und fügte hinzu, dass es sich um einen Notfall handele. Sie schätzte, dass es dennoch fünfzehn Minuten dauern würde, bis der Notarzt vom zwölf Kilometer entfernten Perlstetten eintreffen würde.
Ich werde es später lesen, dachte sie beim Hinausgehen in die Halle und nahm auch gleich ein Kissen mit, das sie der Bewusstlosen unter den Kopf schob.
Plötzlich sah sie, dass die Haustür einen Spalt geöffnet war. Sie ging hin und lugte hinaus auf den Weg, der vom Gartentor bis hierher führte. Sie rief einige Male Hallo, doch als keine Antwort folgte, warf sie die Tür ins Schloss.
Als sie sich umwandte, erlebte sie die nächste Überraschung. Auf dem Boden lag ein Gewehr.
»Gehört das Ihnen?«, fragte sie verdutzt und hob es auf. »Wozu braucht man in Mänzelhausen denn so ein Mordwerkzeug?«
Genützt hatte es ihr jedenfalls nichts, dachte sie weiter und wunderte sich, dass sie es bei ihrer gründlichen Art zu putzen nicht schon längst entdeckt hatte. Sie sah sich nach einem guten Versteck um, denn es war sicher nicht im Interesse der Hausherrin, dass Notrufpersonal davon Wind bekäme und damit höchstwahrscheinlich auch bald die Polizei.
Ihr Blick fiel auf den Schirmständer gleich neben der Garderobe, wo der von ihr gehasste, an zwei Stellen aufgeschlitzte Gummiregenmantel hing, den sie schon längst weggeworfen hätte, wenn Beatrice nicht so schrecklich knauserig wäre. Steif und fest beharrte sie darauf, dass man das alte Ding noch gut zur Gartenarbeit tragen konnte, dabei hatte kein Mensch sie je im Garten arbeiten gesehen. Es sah dort aus wie in einem Dschungel und alles, was sie für diesen Wildwuchs tat, war, ihn oft und reichlich zu gießen, damit auch kein Pflänzchen verlorenginge. Doch jetzt war sie froh, dass es den Fetzen noch gab, denn nachdem sie das Gewehr mit ausgestreckten Armen zu seinem neuen Platz getragen hatte, stülpte sie den Mantel über den Lauf, so dass es aussah, als befände sich darunter tatsächlich nur ein Regenschirm.
Sie kratzte sich am Ohr und betrachtete nachdenklich Beatrice, deren Hände sich allmählich blau verfärbten.
»Ich sollte sie zudecken. Dürr wie sie ist, friert sie mir am Ende noch am Boden fest«, murmelte sie und zog die obere Schublade der Kommode auf, aus der sie eine Decke nahm. So gut es ging, hob sie den Körper an, schob das fadenscheinige Ding unter ihm hindurch und schlang die beiden Hälften darum. Als Nächstes fühlte sie noch einmal den Puls und stellte fest, dass er langsamer geworden war.
»Kein Wunder bei der Kälte hier. Eine Zumutung bei meinem Leiden. Kauft sich so ein eisiges Gemäuer für viel Geld und spart ausgerechnet an einer vernünftigen Wärmedämmung, von Zentralheizung will ich gar nicht reden. Lieber gibt sie sich mit einer derartigen Armseligkeit zufrieden. Und das Gerede von Mänzelhausen als nur eine vorübergehende Station ist doch dummes Zeug. Ich habe jedenfalls nichts davon mitbekommen, dass hier demnächst ein Auszug stattfinden soll.«
Sie war richtig böse geworden und blickte von oben auf Beatrice. »Das musste endlich mal gesagt werden, Frau Hochwohlgeboren!« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Sie werden gleich da sein. Ich bin im Arbeitszimmer. Hier ist es mir zu kalt.«
Am Schreibtisch angekommen, schnappte sie sich die Seite und las, was dort geschrieben stand. Sie tat dies dreimal hintereinander, dann löschte sie das Licht und ging wieder hinaus zu Beatrice, deren Augen sich inzwischen ein wenig geöffnet hatten. Nur wenige Augenblicke später traf der Krankenwagen ein.
Margot hatte schweigend zugesehen, wie die Verletzte auf die Trage gehoben wurde. Sie streckte ihren Arm in die Höhe und wedelte mit dem Blatt Papier in der Hand, damit Beatrice es sehen konnte.
»Ich nehme das hier mit. Was es zu bedeuten hat, werden Sie uns später verraten!«
*
Nachdem Beatrice im Krankenhaus verarztet worden war, brachte Margot sie per Taxi zurück nach Mänzelhausen. Von unterwegs hatte sie Doris Braunmeier angerufen und mitgeteilt, was geschehen war und auch das Schreiben nicht unerwähnt gelassen, worauf Doris eine Krisensitzung anordnete, die um 15 Uhr in ihrer Villa stattfinden sollte.
»Ich werde die anderen sofort benachrichtigen«, hatte sie gesagt und das Gespräch grußlos beendet, so als bliebe keine Sekunde mehr Zeit.
Mit den anderen waren die 73-jährige Schneiderin Evi Bandeisen gemeint, dann Reinhold Kratz, Bestatter und 65 Jahre alt, des Weiteren der pensionierte 67-jährige Steuerbeamte Lothar Bölker sowie Herbert Klöbelschuh, ebenfalls 67 und ehemaliger Angestellter in einem Getränkegroßhandel. Margot Klöbelschuh war seine Frau, die mit 61 vier Jahre jünger war als Doris.
Doris war durch die Hinterlassenschaft ihrer Eltern zur wohlhabendsten Bewohnerin des Dorfes aufgestiegen und hatte sich unter dem Einfluss der mit ihr damals befreundeten Hedwig Krötzinger in der geerbten Jugendstilvilla jahrelang vom Rest der Dorfbevölkerung abgekapselt. Doch irgendwann war ihr das eitle Geschwätz der ehemaligen Landärztin so auf die Nerven gegangen, dass sie heimlich in Erikas Bäckerei mit einem Aushang um neue Freunde, gleich welchen Standes, geworben hatte. Ihre Idee war die Gründung eines lockeren Zirkels von Leuten gewesen, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Es hatte nur einen Tag gedauert, bis Evi, Lothar und das Ehepaar Klöbelschuh sich gemeldet hatten.
Hedwig war kurz darauf dreiundneunzigjährig verschieden. Während des Begräbnisses, mit dem Hedwigs zwei Jahre ältere Schwester Isolde ein Beerdigungsinstitut aus Perlstetten beauftragt hatte, hatte Doris dem Inhaber Reinhold Kratz während seiner Trauerrede schöne Augen gemacht. Der smarte Unternehmer mit der Eloquenz eines Handelsvertreters musste sofort bemerkt haben, dass er mit Doris einer standesgemäßen Person begegnet war und hatte sich an ihre Fersen geheftet, was ihn vom Friedhof direkt in ihre geräumige Villa führte, wo seine Mitgliedschaft im Zirkel noch am selben Tag besiegelt worden war. Später hatten sie sich auf Club geeinigt, weil Margot das Wort Zirkel an ihre quälend lange Schulzeit erinnerte. Mit der erst 40-jährigen Schriftstellerin schließlich, deren herber Schönheit Lothar auf den ersten Blick verfallen war, hatten sie den großen Fang gemacht. Zumindest glaubte das Doris.
Dass sich die Mitglieder seit Bestehen des Clubs fortwährend in den Haaren lagen, erschien kaum verwunderlich, so grundverschieden wie sie waren, und so wurde gestichelt und gelästert, was das Zeug hielt. Trotzdem wäre keine Vorstellung abwegiger gewesen als jene, die unterhaltsamen Nachmittage in Doris‘ Villa gegen gepflegte Langeweile bei Kaffee und Kuchen in den eigenen vier Wänden einzutauschen, und keiner von ihnen wäre jemals auf die Idee gekommen, dem Club wegen ein wenig Gezänks den Rücken zu kehren. Dazu schmeckte der Champagner viel zu gut.
Am Gründungstag, und wenig später noch einmal bei Reinholds Einstand, hatte Doris welchen spendiert, was auf derart große Begeisterung gestoßen war, dass sie ihren Kühlschrank leergeräumt hatte, um Platz zu schaffen für die, so Herberts Worte, edle Brause, die sie in vier Kartons zu jeweils sechs Flaschen einmal pro Woche in Perlstetten einkaufte.
»Bei der Menge sind wir auch bereit, zu liefern«, hatte der Chef vom »Getränkehandel und Weinkontor Spritz« freundlich angeboten, der Herbert als ehemaligen Mitarbeiter noch gut in Erinnerung hatte, weshalb es bei jedem Einkauf eine Flasche gratis dazugab. Trotz der Schlepperei hatte Doris das Angebot des Händlers abgelehnt, denn ein Lieferwagen mit seinem Firmenlogo, der viermal im Monat vor ihrer Villa halten würde, hätte die Dörfler dazu verleiten können, zu behaupten, die Braunmeier saufe wie ein Loch. Die Kosten für das teure Vergnügen teilten sie sich, doch Margot saß auf dem Geld und musste jedes Mal an den fälligen Beitrag erinnert werden. Reinhold dagegen steuerte beinahe jede Woche einen Extrakarton bei.
Evi, in jeder Hinsicht unabhängig und emanzipiert, versorgte sich mit drei bis vier Flaschen Mandellikör pro Woche selbst. Champagner trank sie nur ungern, denn schon winzige Schlückchen davon reichten aus, und sie bekam das schönste Magenbrennen. Hinzu kamen alle fünf Tage drei Stangen mit insgesamt 570 Zigaretten, die sie Kette rauchte.
Als sie sich pünktlich zur vereinbarten Zeit in Doris‘ Wohnzimmer versammelt hatten und wenige Minuten später Beatrice erblickten, machten alle bestürzte Gesichter, denn die Schreiberin, wie Herbert sie spöttisch nannte, war nicht nur mit einem Hausmantel und einem Schlafanzug bekleidet, sondern mit dem dicken Verband mitten im Gesicht kaum wiederzuerkennen.
»Ist das Gips?«, fragte Herbert und kam mit ausgestrecktem Finger so dicht an ihr Gesicht heran, dass Margot ihn zurück auf seinen Platz stieß und fauchte: »Lass sie in Ruhe!«
»Wieso sind Sie denn nicht angezogen?« Evi, die in ihren selbstkreierten und eigenhändig geschneiderten Modellkleidern stets aussah wie ein Mannequin aus einem exklusiven Modesalon, starrte auf die Kleidungsstücke, die an dem schlaksigen Körper der Schriftstellerin herabhingen wie Lumpen an einer Vogelscheuche.
»Was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich in einem von Gabis Bademänteln erschienen wäre?«, erwiderte Beatrice spitz.
Evi zog einen Mundwinkel an und lächelte süßlich. »Nichts, denn das wäre immer noch erträglicher gewesen, als der Anblick dieser unglaublichen Aufmachung.«
»Sie brauchen gar nicht über Gabis Bademäntel herzuziehen«, widersprach Margot. »Zugegeben, ihr Basar ist bis zur Decke vollgestopft mit Kram unter einem Euro, aber die Auswahl an geschmackvoller Mode kann sich sehen lassen.«
»Wofür Sie beide der beste Beweis sind«, schloss Evi.
Beatrice winkte ab, was wohl so viel heißen sollte wie, du kannst mich mal und schlurfte auf das noch freie Brokatsofa zu, von denen vier im Quadrat um einen ovalen Tisch herum angeordnet waren. Margot drückte Beatrice sanft auf das durchgesessene Polster und legte, nachdem sie neben ihr Platz genommen hatte, einen Arm um ihre Schulter.
»Wie schön, Doris. Sie haben bereits eine Flasche geöffnet.« Beatrice griff nach ihrem bis zum Rand gefüllten Glas, und ohne auf die anderen zu warten, kippte sie den eisgekühlten Champagner in zwei Schlucken hinunter.
»Wäre es nicht besser, Sie nach Hause zu bringen, damit Sie sich ausruhen können? Für meine Begriffe handeln Sie sehr unvernünftig.«
»Ach lassen Sie mich doch in Ruhe, Margot. Um nichts in der Welt möchte ich jetzt in mein Haus zurück. Schenken Sie mir lieber nach, an meine Vernunft können Sie mich später erinnern.«
»Schon wieder ganz die Alte. Selbst ein Treffer wie dieser kann dein freches Mundwerk nicht stopfen.«
»Vielen Dank für Ihre Anteilnahme, Herr Klöbelschuh. Sie finden immer die richtigen Worte.«
»So ist er eben, unser Herbert.«
»Reinhold, bitte nicht jetzt.« Doris’ Stimme klang wie eine freundliche Warnung. »Wer möchte Champagner?«, fragte sie und hielt die Flasche hoch.
»Na wir alle natürlich, oder haben Sie nur noch die eine?«
»Du trinkst doch gar keinen, Schneiderin. Aber keine Sorge. Sie hat im Kühlschrank mehr davon, als wir Lebensmittel in all unseren Kühlschränken zusammengenommen.«
»Hören Sie gar nicht hin, Doris. Er will Sie nur aufziehen.«
»Wieso? Es stimmt doch.«
»Wie halten Sie das nur aus, Margot?«
»Was denn?«
»Evi meint Ihren Mann.«
»Ach so. Herbert, sag du es ihnen.«
»Das frag ich mich selbst auch immer.«
»Da hören Sie‘s.«
»Reinhold, reichen Sie mir Ihr Glas?«
»Damit unser Totengräber bloß nicht verdurstet. Vielleicht braucht einer von uns ihn bald. Ich meine vor allem dich, Schneiderin. Wie alt bist du eigentlich? Vom Aussehen her würde ich sagen, du marschierst auf die neunzig zu.«
»Ich bin Bestatter, Herr Klöbelschuh.«
»Und ich dreiundsiebzig. Meine Haut ist zwar schrumpeliger als Ihre, doch dafür besitze ich immer noch das volle Haar einer Dreißigjährigen, während auf Ihrem polierten Schädel nicht mal mehr eine Franse wächst. Und Ihr feuerrotes Gesicht, verursacht durch hohen Blutdruck und den Alkohol, den Sie vermutlich schon vor unserem außerplanmäßigen Treffen intus hatten, ist der beste Beweis dafür, dass Sie noch vor mir in einem Sarg unseres noblen Bestatters verschwinden werden.«
»Sie sind sehr erfolgreich, nicht wahr, Reinhold?«
»In der Tat, verehrte Doris. Fünf, nicht selten bis zu acht Begräbnisse pro Woche, Überführungen, Balsamierungen, von mir persönlich verfasste Grabreden et cetera, et cetera. Nicht schlecht, bedenkt man die ständig wachsende Konkurrenz der Billiganbieter aus dem Internet.«
»Eine gute Partie, wie ich finde. Ich verstehe gar nicht, wieso Sie noch Junggeselle sind.«
»Dann heiraten Sie ihn doch, Doris. Oder haben Sie bereits einen Liebhaber, von dem wir nichts wissen?« Evi machte ein verschmitztes Gesicht und ließ sich von Herbert helfen, eine Zigarette aus dem Päckchen zu ziehen.
»Deine Finger sind so krumm wie Bananen. Du qualmst zu viel.«
»Das ist die Gicht, Klöbelschuh. Mit dem Rauchen hat das nichts zu tun.«
»Und ob es das hat«, mischte sich Margot ein. »Vor allem, wenn man dazu literweise Mandellikör schluckt.«
Evi verdrehte die Augen und zog an der Zigarette, bis ihre Wangen so hohl wurden, dass sich die obere Reihe ihrer Zahnprothese abzeichnete.
»Also was ist, Doris?«, wiederholte sie. »Warum machen Sie unserem smarten Totengräber nicht endlich einen Antrag?«
»Nur zu gerne, aber ich mag keine schmutzigen Fingernägel.«
Herbert brüllte vor Lachen, wobei er sich auf die Schenkel klopfte und nach Luft schnappte.
»Der hätte auch von mir sein können«, prustete er und stieß den Bestatter an, der lächelnd die Stelle seines Sakkos abklopfte, an der Herbert es berührt hatte.
»Es reicht jetzt!« Lothar Bölker verschränkte seine Arme vor der Brust und machte ein finsteres Gesicht. Die übrigen, bis auf Herbert, verstummten und sahen ihn überrascht an.
»Du hast es nötig, Steuereintreiber«, blaffte er. »Dein Gejammer, als das mit deiner Frau passierte, haben wir uns auch wochenlang anhören müssen.«
»Gott, wenn ich daran noch denke«, erinnerte sich Margot und legte eine Hand auf ihren Mund. »Die arme Christel! Beim Wäscheaufhängen von den nassen Laken eingewickelt wie eine Mumie und dann von den Leinen ihrer eigenen Wäschespinne erdrosselt. Das war aber auch ein Sturm an dem Tag.«
»Und dann ist er in den »Gescheckten Eber« gelaufen und hat sich von Olaf so lange Schnaps einschenken lassen, bis er so voll war, dass er anfing zu heulen und gar nicht mehr aufhören wollte.«
»Ich glaube, er war nur Sachbearbeiter beim Finanzamt. Fürs Steuereintreiben waren andere zuständig, stimmt doch, Lothar?«
Evi grinste und blies eine gewaltige Rauchfahne hinauf bis zur Decke, wo inmitten eines Kringels aus vergilbtem Stuck ein achtarmiger Kronleuchter hing. Margot war der Fahne mit ihren Blicken gefolgt und schien ihren Augen nicht zu trauen.
»Das Ding ist ja vollkommen eingesponnen. Wenn Sie einen langen Besen hätten, könnte ich damit mal ordentlich hineinfahren.«
Alle legten ihre Köpfe in den Nacken und blickten hinauf zu dem Ding, das bis dahin offenbar noch keinem aufgefallen war.
»Dieser Leuchter ist das Zuhause unterschiedlichster Spinnentiere«, erläuterte Doris. »Ein Refugium, in dem sie Schutz und Geborgenheit finden. Und das wollen Sie zerstören? Mit einem Besen?«
»Ihr Zuhause? Ein Refu…?« Margot wurde von Lothar unterbrochen, der sich kerzengerade aufgerichtet hatte und offenbar Evi etwas zu sagen hatte.
»Ich war Finanzbeamter des gehobenen Dienstes beim Finanzamt Perlstetten. Und die Personen, die Sie abschätzig als Steuereintreiber bezeichnen, sind tragende Säulen einer funktionierenden Gesellschaftsordnung.«
»Und Sie waren eine davon? Ganz erstaunlich.«
Lothar gab keine Antwort mehr, sondern widmete sich Beatrice, die gerade ihr drittes Glas Champagner geleert hatte und auf den Tisch zurückstellte. Sogleich schenkte Doris nach, was sie wortlos geschehen ließ.
»Sie gehören nunmehr seit einem Jahr zu unserem Club, und doch haben Sie uns verschwiegen, dass Sie einen Drohbrief erhalten haben«, sagte Lothar vorwurfsvoll.
»Wieso sollte ich das denn ausgerechnet Ihnen auf die Nase binden?« Deutlicher ließ sich Beatrices Abneigung gegen den Mann, der sich wie kein anderer nach ihrer Liebe sehnte, kaum ausdrücken.
»Weil dieser Brief höchstwahrscheinlich von einem Irren stammt, der bereits Ernst gemacht zu haben scheint«, antwortete er. »Oder wollen Sie uns erzählen, dass es sich um die Idee für ein neues Buch handelt?«
»Wieso plustern Sie sich eigentlich so auf?«, reagierte Beatrice zunehmend verärgert. »Sie wissen doch gar nicht, was drinsteht. Ich hatte das längst vergessen, aber gestern Abend ist es mir wieder eingefallen.«
Ihre Stimme klang ein wenig versöhnlicher, als sie hinzufügte: »Ich hatte ja vor, Ihnen allen davon zu erzählen. Aber dann habe ich das Blatt einfach unter den Deckel des Laptops geklemmt, weil ich sicher davon ausgehen konnte, dass Margot es schon lesen würde.«
»Und wenn nicht? Vielleicht hätte sie es aus Anstand dort gelassen, wo es war«, konterte Lothar.
Er machte eine kurze Pause, während der er Margot anblickte, die schon zu ahnen schien, was er sich als Nächstes herausnehmen würde, denn sie richtete sich wie zur Warnung auf und hielt seinem Blick stand.
Doch anstatt zu tadeln, fand Lothar unerwartet lobende Worte. »Gott sei Dank aber hat Margot das Richtige getan, sonst wüssten wir immer noch nichts davon. Eines Tages hätte man Sie nicht nur bewusstlos aufgefunden, sondern tot wie eine Kirchenmaus.«
»Es heißt arm wie eine Kirchenmaus«, stellte Evi klar. »Ähnlichkeit mit einer hat sie ja.«
Beatrice zuckte nur die Achseln. Ihre Augen waren mittlerweile von dunkelblauen Ringen umrahmt, die einen starken Kontrast zu dem schneeweißen Gipsverband abgaben, der mit Pflasterstreifen rechts und links auf ihren Wangen festgeklebt war.
»Ich bin Schriftstellerin«, sagte sie, wobei sie mit Daumen und Zeigefinger auf den Verband drückte, so als fürchte sie, er könne hinunterrutschen. Mit der anderen Hand drehte sie so lange am oberen Knopf des Schlafanzuges, bis er abfiel und in ihrem Schoß landete. »Täglich erhalte ich über meinen Verleger Briefe und E-Mails von Lesern, die mir zu meinen Büchern gratulieren oder aber mich beschimpfen, weil ich angeblich ihre Gefühle verletze. Damit muss man als Autorin eben leben. Wer meine Bücher liest, weiß, dass ich auf amüsante Art gerne Menschen aufs Korn nehme. Und wer meine Auflagen kennt, weiß auch, dass die Leute nicht alle humorlose Spießer sind. Viele positive Reaktionen erhielt mein Roman, den ich vor zwei Jahren über eine Frau geschrieben habe, die im Internet nach Männerbekanntschaften Ausschau hielt und vor jedem Idioten, dessen richtigen Namen sie nicht einmal kannte, ihr gesamtes Leben ausbreitete. Es folgten einige Verabredungen, aber die meisten Kerle waren nur irgendwelche Spinner, die bald dahinterkamen, dass sie nicht ganz unvermögend war. Einer verfolgte sie mit wachsender Ausdauer, und am Ende bedurfte es eines Wohnungswechsels, um ihn loszuwerden. Hunderte von Leserinnen hatten sich in der Figur erschreckt wiedererkannt und mir gedankt, weil ich ihnen die Augen geöffnet hatte.«
»Auf amüsante Art«, unterbrach Herbert und verzog sein Gesicht. »Da muss sich einer beim Lesen so amüsiert haben, dass er dich abmurksen wollte.«
»Das ist doch Unsinn und völlig übertrieben. Ein Schlag auf die Nase, ja, das ist bestimmt unangenehm. Aber davon stirbt man doch nicht«, stellte Evi fest und zupfte am beigefarbenen Seidentuch, das sie locker um ihren Hals geschlungen hatte und das perfekt mit einem ziegelroten Kleid aus schottischer Schurwolle korrespondierte, dessen absichtlich überlange Ärmel sie zweimal umgeschlagen trug.
»Daran bist du selbst schuld«, schimpfte Herbert weiter, doch Beatrice tat mit zur Decke gerichteten Augen so, als höre sie gar nicht hin.
»Weil du es mit deinen Frechheiten übertreibst. Vor allem in deinem vorletzten Werk, wo du Dicke und damit auch Margot und mich, nach allen Regeln der Kunst durch den Kakao ziehst. Dass du dein Geld mit dem Schreiben von Büchern verdienst, macht dich im Dorf vielleicht zu was Besonderem, was nicht heißt, dass du beliebt bist. Man braucht nur in den »Gescheckten Eber« zu gehen. Dann weiß man, was die Leute hier von dir halten. Immer die Nase oben und der Blick von oben herab. Mit deinen Geschichten machst du dir jedenfalls keine Freunde, und was du als Humor bezeichnest, sind doch nur Beleidigungen. Und jetzt hast du die Quittung bekommen.«
»Nanu, Sie reden ja wie einer, der meine Bücher kennt.«
»Vermutlich hat er sich vorlesen lassen.« Evi hielt eine Hand vor den Mund und kicherte.
»Dass ich nur einfacher Angestellter in einem Getränkegroßhandel war, heißt noch lange nicht, dass ich total verblödet bin. An deinen Intelligenzquotienten reiche ich noch lange heran, du alte Schnepfe.«
»Na so was! Herr Klöbelschuh kann ja richtig nett sein«, staunte Evi mit Qualm im Mund.
»Evi, nun lassen Sie es doch gut sein«, rügte Doris ungewöhnlich scharf. »Und Sie, Beatrice, erzählen uns jetzt ganz genau, was heute Morgen geschehen ist.«
Beatrice stöhnte laut auf, so als sei ihr die Aufforderung lästig, und entsprechend genervt gab sie Antwort.
»Es war sieben Uhr, es läutete Sturm, ich ging hinunter, öffnete die Tür, erhielt einen Schlag ins Gesicht und verlor das Bewusstsein.«
»Das ist alles? Sie müssen vorher doch irgendetwas gehört oder gesehen haben, was auf den Täter schließen ließ.«
»Sie stand direkt vor mir.«
»Wer sie? Eine Frau?« Herbert sprach, als halte er das für vollkommen unmöglich.
»Eine Frau? Eine Frau?«, äffte Evi ihn nach und hob ihre Hände mit den knotigen Fingern, so als wollte sie sich bei so viel Beschränktheit ihr toupiertes Haar raufen. »Wieso glauben Männer eigentlich immer, Frauen seien zu solchen Taten nicht fähig. Wir sind keine Engel von Natur aus.«
»Du nicht«, antwortete Herbert schlagfertig, »aber es soll ja auch noch andere Frauen geben.«
»Nun ist es aber endgültig genug!« Lothars Gesicht war vor Ärger rot angelaufen.
»Beatrice wird uns gleich sagen, wer die Frau war«, wies wiederum Doris ihn zurecht, worauf er ein beleidigtes Gesicht machte, aber wenigstens hielt er seinen Mund.
»Eleonore, die Schwester meines Ex-Mannes«, sagte Beatrice.
»Sie waren verheiratet?« Doris‘ Verblüffung war kaum zu überhören. »Das haben Sie uns nie erzählt. Wer ist Ihr Mann, und wo lebt er?«
»Er heißt Cornelius. Wo er lebt? Keine Ahnung. Er hat sich aus dem Staub gemacht. Schon vor Jahren. Niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Und genauso lange habe ich auch Eleonore nicht gesehen.«
»Dann haben Sie vielleicht auch Kinder?«
»Nein. Dazu ist es nicht mehr gekommen.«
»Sie wollen also sagen, dass Ihre Schwägerin…«
»Ex-Schwägerin!«
»Dass Ihre Ex-Schwägerin Ihnen das angetan hat?«
Reinhold hatte während der ganzen Zeit geschwiegen und von allen Seiten seine wie immer erstklassig manikürten Hände betrachtet. Seine Frage verriet, dass nun auch er sich zu interessieren begann.
»Hat sie den Brief geschrieben?«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie würde sich niemals die Mühe machen, ihren Besuch schriftlich anzukündigen. Dazu ist sie viel zu impulsiv. Ich habe sie anders in Erinnerung. Sie handelte immer spontan, ohne zu überlegen. Und Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen. Es war bösartig und gemein, genau wie früher.«
»Wie haben Sie ihn erhalten?«, fragte Doris.
»Er war mit einer Nagelschere außen an der Haustür befestigt«, antwortete Beatrice.
»Mit einer Nagelschere? Das wird ja immer verrückter«, rief Margot und bekam ihren Mund nicht mehr zu.
»Was wollte diese Eleonore von Ihnen?«
»Ach Doris. Was weiß denn ich. Sie sagte ja kein Wort.«
»Und dann hat sie Ihnen einfach ihre Faust ins Gesicht geschlagen?« Evi machte ein ungläubiges Gesicht.
»Ich weiß nicht, ob es ihre Faust war. Es war viel härter, wie aus Eisen. Vielleicht so eins von diesen Dingern, ich komme gerade nicht drauf.«
»Sie meinen einen Schlagring?«, war Evi behilflich.
»Nanu, Schneiderin. Ich dachte immer, das einzige Mordwerkzeug, das du kennst, wäre dein Nadelkissen.«
»Sogar ein ziemlich gefährliches«, warnte Evi. »Nehmen Sie sich also in Acht, Klöbelschuh.« Sie zog an der Zigarette und blies ihm den Rauch mitten ins Gesicht.
»Wollen Sie uns nicht endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat?«, unterbrach Margot das Gestichel und presste ihren Arm noch fester um Beatrices Schulter.
»Erklären? Was denn? Ich habe Ihnen doch gerade erzählt, was passiert ist. Eleonore ist eine völlig verrückte Person, unberechenbar und gewalttätig. Darin ähnelt sie ihrem Bruder, dem Mann, mit dem ich einmal verheiratet war. Vielleicht suchte sie ihn und glaubte, ich habe ihn wieder bei mir aufgenommen.«
Sie lachte nervös und versetzte Margot einen Schlag auf den Arm. »Wollen Sie mich zerquetschen, oder was? Lassen Sie mich gefälligst los, ich bekomme ja kaum noch Luft!«
Margot schluckte heftig, doch sie tat wie geheißen und nahm den Arm weg. »Sie sind noch ziemlich durcheinander, das verstehe ich«, sagte sie scheinbar ruhig, doch mit jedem weiteren Wort nahm ihre Stimme um einen harschen Ton zu. »Aber deswegen müssen Sie mich vor versammelter Mannschaft nicht wie eine Idiotin behandeln, auf der Sie nach Belieben herumtrampeln können. Es reicht schon, dass ich mich in Ihrem Haus wie eine Dienstmagd behandeln lassen muss.«
Beatrice winkte nur ab und nuschelte: »Ja, ja.«
Doris blickte Herbert mit Augen an, die darum flehten, dass er sich um Gottes Willen nicht einmischen möge. Doch sie ging lieber auf Nummer sicher und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, leider in die verkehrte, wie sich gleich darauf herausstellte.
»Was hatte Sie eigentlich zu so früher Stunde zu Beatrice geführt? Und wie sind Sie überhaupt ins Haus gekommen?«
Margot räusperte sich. »Ich war, wenn Sie so wollen, beruflich dort. Wie jeden Freitag ging ich durch den Hintereingang ins Haus. Eigentlich sehr leichtsinnig von Ihnen, Beatrice. Ich meine, die offene Kellertür.«
»Wenn Sie es nicht gerade bei Erika hinausposaunen, sehe ich darin eigentlich kein großes Problem«, erwiderte Beatrice schnippisch.
Schon wieder diese patzige Art, dachte Doris und machte ein bedenkliches Gesicht. Wie lange würde Margot sich das noch bieten lassen? Von Herbert gar nicht zu reden.
»Was soll das heißen, Sie waren beruflich dort?«, fragte Lothar.
»Das geht Sie gar nichts an, Herr Bölker. Aber ich verrate es Ihnen trotzdem. Beatrice hatte mich vor einiger Zeit darum gebeten, einmal pro Woche bei ihr sauber zu machen. Wer den Saustall kennt, versteht warum. Zehn Euro pro Stunde zahlt sie für die Knochenarbeit. Lachhaft, wenn man bedenkt, was sie mit ihren Büchern verdient.«
»Schön wär’s«, lachte Beatrice auf. »Sie haben ja keine Ahnung, wie wenig für mich bleibt.« Sie blickte Lothar von der Seite an. »Vom Finanzamt will ich gar nicht reden.«
»Meine Frau geht putzen!«, sagte Herbert baff. »Und wieso weiß ich davon nichts?«
»Wozu denn? Das geht dich überhaupt nichts an.« Margot hatte zum Zeichen ihrer Verstimmung die Arme vor der Brust gekreuzt.
»Und ob mich das was angeht«, pochte Herbert. »Ich bin immerhin noch dein Mann.«
»Dem ich dumme Gans, anstatt das sauer verdiente Geld für sich selbst zu behalten, einen neuen Mantel gekauft habe«, herrschte Margot ihn an. »Der alte ist doch nur noch ein Kartoffelsack. Frag mal Evi, was sie davon hält.«
»Ich will’s gar nicht wissen«, kam umgehend zurück.
»Du bist so was von undankbar«, erregte sich Margot von Neuem. »Undankbar und egoistisch. Aber so warst du ja schon immer.«
»Können wir dann weitermachen?«, fragte Lothar gedehnt.
»Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten«, antwortete Margot, vom sinnlosen Hin und Her offenbar ebenso bedient, doch eine letzte Bemerkung, die sie mit einer wegwerfenden Handbewegung aufs Deutlichste unterstrich, wollte sie sich wohl nicht nehmen lassen. »Ich habe meinem Mann sowieso nichts mehr zu sagen!«
»Umso besser, denn so kann Beatrice uns endlich etwas über den Brief erzählen«, bedankte sich Lothar mit angezogenen Mundwinkeln.
»Richtig«, übernahm Doris. »Wenn nicht Ihre Schwägerin, wer sonst könnte ihn geschrieben haben? Vielleicht haben Sie einen Verdacht? Hatten Sie früher schon einmal ähnliche Briefe erhalten?«
»Sie reden immer von einem Brief. Dabei sind es doch nur zwei Sätze auf einem großen Blatt Papier. Ich habe das überhaupt nicht ernst genommen«, antwortete Beatrice.
»Ein Drohbrief! Mit einer Nagelschere an Ihre Haustür gespießt!«, ereiferte sich Lothar. »Und das haben Sie nicht ernst genommen?«
»Ich konnte mir ja denken, dass es sich mal wieder um eine Reaktion auf meine Bücher handelte, also das heißt, auf ein bestimmtes Buch. Aber das ist nichts Neues, glauben Sie mir.«
»Soll das heißen, dass so etwas schon einmal vorgekommen ist?«
»Zugegeben, diese Variante ist auch für mich neu. Ich meine, bisher hatten sich die Kritiker auf ganz normale Briefe und E-Mails beschränkt.«
»Dass der sogenannte Kritiker weiß, wo Sie wohnen, muss Ihnen doch zu denken gegeben haben.«
»Hm. Jetzt, wo Sie es sagen…«
»Was steht denn nun eigentlich in dem Brief?«, wollte Herbert endlich wissen. »Ich dachte, deswegen sind wir hier.«
»Außer mir und Beatrice kennt niemand den genauen Inhalt«, erwiderte Margot und machte ein bedeutsames Gesicht. »Ich finde, wir sollten zuerst fragen, ob sie es überhaupt erlaubt, dass wir ihn alle kennen.«
»Was ist das denn für eine blödsinnige Idee?«, rief Lothar mit Zeigefinger am Kopf. »Natürlich erlaubt sie es. Wenn Sie es schon wissen, dann werden wir es wohl erst recht erfahren dürfen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Beatrice und hob zum Zeichen ihrer Einwilligung lahm eine Hand.
Doris hielt Herbert eine neue Champagnerflasche hin. Er nahm sie und entfernte den Korken so geschickt, dass dabei nicht das leiseste Geräusch zu vernehmen war. Er schenkte ein und stellte die leere Flasche unter den Tisch. Dort stand eine neue, die er nahm und in den mit Eis und Wasser gefüllten Kühler setzte. Doris hatte sich neben den Bestatter gesetzt.
»Sie sehen wieder hinreißend aus, gnädige Frau. Die Anmut in Person«, flüsterte er.
»Sie sind ein schlechter Lügner«, entgegnete Doris scheinbar tadelnd. »Sehen Sie mal den altmodischen Rock, der stammt noch aus den Siebzigern.«
»Stimmt«, bemerkte Evi, die mit gespitzten Ohren das Gesäusel verfolgt hatte. »Sie sollten sich dringend mal beraten lassen. Das gilt auch für Sie, Beatrice.«
Margot hatte inzwischen den Brief aus ihrer Handtasche genommen und zog nun alle Blicke auf sich.
»Können wir dann?«
»Worauf warten Sie denn noch?«, gab Evi zurück, in deren rechten Mundwinkel eine fast abgebrannte Zigarette steckte, die bei jedem Wort auf und nieder hüpfte.
Margot machte noch einmal pff, dann begann sie: »An die Sündhafte! Der seidene Faden wird bald zerschnitten sein, und dann tauchst du hinein in die Kloake, kopfüber bis zum tiefen Grund. Doch gehst du fort von hier, wird dir vergeben. Ein Erlöser.«
Herbert reagierte als Erster: »Das klingt mir ganz nach Backhaus. Der will dich loswerden. Wundern tut mich das nicht.«
»Das ist nicht zum Lachen, Sie grober Kerl.« Evis Stimme, von Likör und Nikotin belegt, klang empört.
»Gib der Sündhaften noch ein Glas von der Brause«, schlug Herbert vor, »dann kann sie selbst drüber lachen.«
»Und Sie geben mir bitte den Brief.« Doris nahm ihn Margot aus der Hand und setzte ihre Lesebrille auf. »Ganz gewöhnliches Papier«, stellte sie fest, nachdem sie das Blatt von beiden Seiten betrachtet und ein wenig gewedelt hatte. Beim Lesen des Textes hingegen machte sie ein nachdenkliches Gesicht.
»Sündhafte, Erlöser«, wiederholte sie die religiös anmutenden Worte. »Das klingt wirklich ein wenig nach dem Pfarrer oder eher nach seiner Frau. Charlotte ist ganz außerordentlich gläubig.«
»Backhaus will die Schreiberin ins Jenseits befördern, wenn das keine Erlösung ist«, wieherte Herbert drauflos.
»Aber nur, wenn sie nicht verschwindet«, schränkte Margot ein.
»Das ist doch Unsinn«, schimpfte Lothar.
»Wieso Unsinn?« Evi schüttelte ihren Kopf. »Backhaus ist ein Erlöser, weil er in der Kirche Sünden vergibt. Zum Beispiel beim Abendmahl wie damals Jesus.«
»Genau«, stimmte Margot zu. Sie beugte sich hinüber zu Doris und tippte mit dem Zeigefinger auf das Papier. »Dort steht es schwarz auf weiß: Er vergibt ihr, wenn sie von hier fortgeht.«
»Doris, wollen Sie nicht endlich einschreiten?«, flehte Lothar mit erhobenen Händen. »Das ist ja kaum noch auszuhalten.«
»Haben Sie eine Idee, wer das geschrieben haben könnte?«, erfüllte die Vorsitzende Lothars dringenden Wunsch, wohl auch aus eigenem Interesse.
»Nicht die mindeste. Es könnte auf jedem x-beliebigen Computer geschrieben worden sein.«
»Sie sagten eben, es könne eine Reaktion auf ein ganz bestimmtes Buch sein. Welches meinten Sie?«
»Nun ja, ich nehme an »Am seidenen Faden«, meinen Bestseller, also keins von den neueren Büchern.«
»Worum geht es in dem Buch?«, wollte Evi wissen.
»Wenn’s geht, in einem Satz«, verlangte Herbert.
»Ich kenne es«, unterbrach Doris. »Es ist die Abrechnung mit einem Mann, der seinen Sohn entführte. Er unterhielt ein inzestuöses Verhältnis zu seiner bildschönen Schwester, das er aber löste, als er seine Frau kennenlernte. Die Schwester wollte das nicht hinnehmen und stellte sich zwischen ihren Bruder und die Schwägerin. Sie schaffte es, ihn immer wieder in ihr Bett zu ziehen, und erst nach drei Jahren erfuhr seine Frau davon. Als diese den Schlussstrich zog, hetzte die Schwester ihren Bruder auf, das Kind zu entführen, da der Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen werden sollte. Er drang in die Wohnung seiner Frau ein und nahm es in seinem Wagen mit. Unterwegs baute er einen Unfall, der Wagen überschlug sich, wobei das Kind hinausgeschleudert wurde und in einem Wassergraben ertrank. Der Mann überlebte und kam ins Gefängnis. Kurze Zeit später beging er in seiner Zelle Selbstmord. Er tauchte seinen Kopf in die Toilette und sog mit einem einzigen Atemzug so viel Wasser in seine Lungen, dass er auf der Stelle tot war.«
»Und so was lesen die Leute?« Herbert verzog sein Gesicht. »Das können nur Verrückte sein.«
»Geht das überhaupt?« Margot rümpfte ihre Nase. »Ich meine, wie soll er mit dem Kopf denn bis… Ich mag gar nicht dran denken.«
»Fragen Sie die Autorin«, riet Doris. »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie er das geschafft hat.«
»Er stopfte sein Kopfkissen in den Abfluss und zog ab. Im Nu hatten sich gut fünf Liter Wasser gestaut. Das genügte«, erklärte Beatrice sachlich wie ein Sanitär-Installateur.
»Dasselbe hätte er auch im Waschbecken erreichen können, nur viel hygienischer.«
»Sie müssen immer das letzte Wort haben, Margot. Es ist ein Roman, eine Geschichte, verstehen Sie? Er hat diesen Tod gewählt, weil er tiefe Reue empfand und es allen auf diesem, eben nicht hygienischen Weg beweisen wollte.«
»Oder Sie wollten ihn besonders leiden lassen«, setzte Margot nach und nickte heftig, als Herbert genau das aussprach, was sie wohl am liebsten selbst gesagt hätte. »Du hast den armen Kerl im Klo ersaufen lassen.«
»Er war kein armer Kerl.« Beatrice hatte die Hände in den Schoß gelegt. Ihre Stimme war leiser geworden, und sie wirkte auf einmal müde. Margot hatte es bemerkt und ihren Arm wieder um die Schulter der Clubfreundin gelegt. Es sah ganz danach aus, als habe sie die rüden Worte von eben verziehen und als wolle sie mit dieser Geste ihre Loyalität bekunden gegenüber der Frau, die ihr einen Job gegeben hatte. Dieses Mal wand sich Beatrice nicht aus der Umarmung, und sie ließ es sogar geschehen, dass Margot sanft über ihr Haar strich.
Es war ganz still geworden, weil alle schweigend zusahen, wie das schlimm zugerichtete Anschlagsopfer immer mehr in sich zusammensank. Ausgerechnet Lothar aber, der sich wie kein anderer nach Beatrices Aufmerksamkeit verzehrte, benahm sich wie ein Elefant im Porzellanladen und störte die gefühlvolle Szene mit einer herzlosen Frage. »Was geschah mit der Mutter des Kindes?«
»Sie verlor beinahe ihren Verstand und verbrachte lange Zeit in der Psychiatrie«, antwortete Beatrice ruhig, so als habe sie die Frage erwartet. »Doch ihr Zustand besserte sich, und sie konnte entlassen werden.«
»Und wie geht die Geschichte aus?«, fragte Evi.
»Sie versuchte, einen neuen Anfang zu finden, aber schon bald beherrschte sie die Sehnsucht nach ihrem Kind, die, so wusste sie, niemals aufhören würde. Rastlos trieb sie durchs Leben, immer auf der Suche nach einem Sinn, doch sie fand ihn nicht. Ihr Leben hing am seidenen Faden, weil es leer und zerbrechlich geworden war. Es drohte zu zerreißen. An einem trüben Novembertag gab sie auf und nahm sich das Leben. Eine Tragödie hatte ihr Ende gefunden.«
Herbert tippte sich an die Stirn und sagte: »Mit was für einem Blödsinn sich die Leute gegenseitig das Leben schwermachen.«
»Fassen wir mal zusammen«, schlug Doris vor. »Beatrice erhält einen Drohbrief. Darin ist die Rede von einem seidenen Faden, was vermutlich eine Anspielung auf ihr Buch ist. Der Brief ist mit einer Schere an der Haustür befestigt. Für mich ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass jemand gedenkt, Beatrices Lebensfaden durchzuschneiden.«
»Und versinken soll sie in der Kloake«, murmelte Lothar.
»So wie der Kerl im Buch«, ergänzte Evi.
»Zwar in halbwegs klarem Wasser. Trotzdem schlimm genug«, beendete Margot die Überlegungen.
»Hast du eigentlich eine Regentonne?«, fragte Herbert grinsend.
»Ja, habe ich«, antwortete Beatrice. »Meistens ist sie aber leer, weil ich das Wasser zum Gießen verwende. Im Moment ist sie natürlich voll, da man im November kaum noch gießen muss.«
»Lassen Sie mich weiter zusammenfassen«, würgte Doris die Lästerei ab. »Der Anschlag erfolgte auf eine Art, die mit dem relativ geräuschlosen Ertrinken nichts gemeinsam hat. Stattdessen ein brutaler Hieb ins Gesicht, verbunden mit einer Menge Blut und Schmerzen, ausgeführt von Ihrer Schwägerin.«
»Sie meinen, es gibt zwei Täter? Die beide gleichzeitig, aber unabhängig voneinander den Entschluss fassten, Beatrice Schaden zuzufügen?«, fragte Evi mit gekräuselter Stirn. »Aber das würde bedeuten, dass der zweite Anschlag noch bevorsteht.«
»Evi, hören Sie eigentlich zu?«, tönte Margot überlegen. »Natürlich steht er noch bevor. Ertrunken ist sie ja noch nicht.«
»Danke für den Hinweis«, erwiderte die Schneiderin und streckte Margot die Zunge heraus.
»Ich stimme Doris zu«, sagte Lothar. »Diese Eleonore kann den Brief nicht geschrieben haben. Die Ankündigung darin und der Faustschlag sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Vielleicht hat sie ja was mit dem Buch zu tun«, meinte Herbert.
»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«, fragte Beatrice herablassend.
»Weil in dem Buch auch eine Schwägerin vorkommt, deshalb«, antwortete Herbert.
»Ach, und ich bin dann die Verrückte aus der Psychiatrie, oder was?« Beatrice verzog ihr Gesicht. »Sie spinnen ja«
»Sie wird wiederkommen, das sagt mir meine Gicht.« Evi leckte ihr Likörglas aus, worauf an ihrem Mund ein klebrig schimmernder Rand zurückblieb. Als Nächstes zündete sie sich eine neue Zigarette an, doch als sie bemerkte, dass der Filter zwischen ihren Lippen festklebte, war es bereits zu spät. Eine hektische Bewegung führte dazu, dass ein winziges Stück Glut auf ihren Rock fiel.
»So ein Mist«, presste sie hervor und fegte mit einer Hand über den Stoff, doch die Glut hatte bereits einige Fasern angesengt, was deutlich an einem schwarzen Fleck zu sehen war. Wie durch ein Wunder brach Herbert nicht in schadenfrohes Gelächter aus, sondern beobachtete wortlos das Geschehen, worauf Evi sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Wenn es aber doch irgendein beleidigter Leser war, der den Brief geschrieben hat, dann ja wohl nur einer, der im Buch eine wichtige Rolle spielt, die ihm nicht zu gefallen scheint«, nahm Doris den Faden wieder auf.
»Aber es gibt niemanden, weil die Geschichte frei erfunden ist«, rief Beatrice ungeduldig. »Es muss irgendeinen anderen Grund geben.«
»Richtig«, bekräftigte Lothar, »und deswegen sage ich noch mal, dass der Hieb auf die Nase nichts mit dem Drohbrief zu tun hat und daher nicht Eleonore, sondern ein anderer Ihnen nach dem Leben trachtet. Das Wasser in der Regentonne sollten Sie vorsorglich ablassen, ehe es Ihnen zum Verhängnis wird.«
»Regenwasser ist doch keine Kloake, oder?«
»Nein, Margot. In der Tat ist es das nicht«, belehrte Lothar. »Aber wissen Sie, was im Kopf eines Irren vor sich geht? Er kann sein Vorhaben neu überdenken, und dem müssen wir zuvorkommen. Selbstverständlich werden wir mit vereinten Kräften alles tun, um unsere Freundin zu beschützen. Dies wird aber nur dann Sinn ergeben, wenn wir sie abwechselnd rund um die Uhr in ihrem Haus überwachen, was für Beatrice selbstverständlich eine große Umstellung bedeuten würde.«
»Dass ausgerechnet Sie diesbezüglich Vorbehalte anmelden, wundert mich jetzt aber«, sagte Evi. »Ich hätte erwartet, dass Sie sich um diesen Job geradezu reißen würden.«
Glücklicherweise hatte auch Herbert eine Meinung dazu und stoppte Lothar, der sich mit hochrotem Kopf der Schneiderin gefährlich näherte.
»Moment mal, Bölker«, sagte er. »Wir können da absolut gar nichts machen.« Er ließ Lothar links liegen und fixierte stattdessen Beatrice. »Ich sag dir was, Schreiberin. Du musst zur Polizei gehen und diese verrückte Eleonore anzeigen, dann gibst du denen den Brief, womit der Fall erledigt ist.«
»Ich muss Ihnen ausnahmsweise recht geben, Klöbelschuh«, sagte Lothar. »Lassen Sie uns die Polizei anrufen. Damit wäre der Spuk im Handumdrehen beendet.«
»Auf keinen Fall!« Beatrice hatte ihre Hände aus dem Schoß genommen und Ablehnung gewedelt. »Damit würde der Spuk ja erst beginnen. Außerdem weiß ich nicht, wo sie jetzt wohnt.«
»Das herauszufinden, dürfte für die Polizei kein Problem sein«, entgegnete Reinhold.
»Ich sagte doch, dass ich keine Polizei möchte. Womöglich müsste ich ihr gegenübertreten, aber sie würde sowieso alles abstreiten. Und wegen des Drohschreibens gäbe es eine Untersuchung. Die Polizei würde hier auftauchen und durch ihre Präsenz dafür sorgen, dass die abenteuerlichsten Vermutungen darüber angestellt würden mit der Folge, dass ich bei Erika und vor allem in Gabis verlaustem Basar eine Erklärung abgeben müsste. Als Autorin kann ich mir eine schlechtere Publicity gar nicht vorstellen.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Reinhold. »Sie sollten beides groß herausbringen und zu Werbezwecken vermarkten. Man wird mit Ihnen fühlen, und damit meine ich nicht nur Ihre bestehende Leserschaft. Sie werden viele neue Fans hinzugewinnen, die sich aus Sorge auf Ihre Bücher stürzen, denn wer weiß, wie lange es noch welche von Ihnen gibt. Die Auflagen werden steigen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn Ihr Verlag davon Wind bekommt, wird er Ihnen und sich selbst zu diesem Glücksfall gratulieren.«
»Reinhold, bitte.« Doris schüttelte entrüstet ihren Kopf. »Schwer verletzt zu werden ist doch kein Glücksfall. Außerdem gibt es Wichtigeres als Geld im Leben eines Menschen.«
»Liebe Freundin, bei allem Respekt«, entgegnete Reinhold, »aber kommen Sie mir nicht mit dieser abgedroschenen Phrase. Möchten Sie etwa Ihr Leben in entbehrungsreicher Bescheidenheit verbringen? Wovon, wenn nicht von ihrer stattlichen Pension und dem Erbe Ihrer Eltern sollten Sie sonst den Champagner bezahlen, den hier alle wie selbstverständlich gleich flaschenweise trinken?«
»Was wissen Sie denn über meine Pension, geschweige denn über das Erbe meiner Eltern?«
»Nichts. Die Bemerkung sollte nur der Veranschaulichung dienen.« Er räusperte sich und warf ihr einen versöhnlichen Blick zu.
»Das klingt ja, als würden wir uns aushalten lassen«, empörte sich Margot, doch Lothar fuhr ihr über den Mund und rief: »Aber Beatrice, Sie können das doch nicht einfach auf sich beruhen lassen!«
Zitternd vor Erregung schüttete er den Inhalt seines Glases hinunter, doch er verschluckte sich und hustete seinen Protest hinaus, dass es nur so sprühte. »Gar nicht zu reden von dem Brief, in dem Ihr Tod angekündigt wird. Es geht um Ihr Leben und nicht um die Verkaufszahlen Ihrer Bücher.«
Er fasste sich an den Kopf und sah die anderen an, als hoffe er auf Zustimmung, und tatsächlich begannen sie, bis auf Reinhold, wild durcheinander auf sie einzureden wie auf ein krankes Pferd.
Doch Beatrice schwieg und senkte den Blick auf ihren Schoß, in dem der abgerissene Knopf lag. Sie nahm ihn und knetete daran herum, bis er ihr aus den Fingern sprang und unter eins der Sofas kollerte. Evi versuchte, ihn zu fassen, rutschte vom Sofa und stieß mit dem Kopf an die Tischkante.
Doris atmete plötzlich hörbar ein. »Sie wissen, wer den Brief geschrieben hat, nicht wahr?«
»Natürlich weiß sie es«, rief Lothar. »Ihre Weigerung, die Sache anzuzeigen, beweist es doch.«
Seine Stimme klang wie eine Mischung aus Ärger und Enttäuschung, doch es gab noch etwas anderes, was seiner Seele schmerzte, und alle wussten es. Dass sie nicht sehen wollte, wie verliebt er in sie war und wie sehr er sich um sie sorgte.
Beatrice stand plötzlich auf und begann, kreuz und quer durch den Raum zu wandern, bis sie an den Flügeltüren zur Terrasse Halt machte und durch schlierige Scheiben hinaus in den Garten blickte. Dessen graue und halb erfrorene Pflanzen boten einen traurigen Anblick.
Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt, doch dann drehte sie sich ruckartig zu ihnen um und breitete als Geste ihrer Kapitulation die Arme aus. »Also schön. Sie lebt hier im Dorf.«
»Schon wieder eine sie?«, meinte Herbert amüsiert.
»Sagen Sie uns den Namen, Beatrice.« Doris‘ Ton ließ nicht darauf schließen, dass sie die Aufforderung zum Spaß an die Schriftstellerin richtete.
»Es ist Barbara«, gab sie endlich zu.
»Wer ist Barbara?« Herbert kannte offenbar niemanden, der so hieß.
Margot hob ihre Hände vor Ungeduld. »Barbara Backhaus, du Dussel. Die Tochter des Pfarrers.«
*
»Barbara? Aber sie ist ein Kind. Vielleicht elf oder zwölf Jahre alt.« Evi schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wie kommen Sie denn nur auf diese Idee?«, setzte Margot nach und wich erschreckt zurück, als Beatrice mit großen Schritten auf sie zukam.
»Sie ist dreizehn!«, fauchte sie. »Und wie ich darauf komme, geht Sie gar nichts an. Ich werde schon einen Grund haben oder glauben Sie, ich hätte mir das ausgedacht?«
Sie schwankte und wäre beinahe gefallen, doch Lothar sprang hinzu und fing sie auf. Wütend schüttelte sie seine Arme ab und stieß ihn von sich. »Ich will nach Hause. Mir ist schlecht, und ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Doris, würden Sie mich begleiten?«
»Natürlich. Ich hole Ihren Mantel.«
»Nicht nötig, ich gehe gleich mit hinaus.«
Doris fasste sie unter und führte sie langsam in die Halle, wo sie alleine waren.
»Sie brauchen jetzt vor allem Schlaf«, sagte sie in mütterlichem Ton, während sie Beatrice in den Mantel half. »Vermutlich haben Sie einen Schock erlitten, unverantwortlich, dass man Sie nicht im Krankenhaus behalten hat.«
»Es ging mir gut, wirklich. Aber Margot mit ihrer aufdringlichen Art hat mich so verärgert, dass ich die Nerven verlor. Jetzt ist es mir peinlich. Ich sollte wieder hineingehen und mich bei ihr entschuldigen. Und auch bei Lothar.«
»Das können Sie später noch tun, aber vielleicht sollten wir Herbert und Lothar mitnehmen, damit sie sich ein wenig bei Ihnen umsehen.«
»Glauben Sie, Lothar würde das tun nach dieser Abfuhr?«
»Bestimmt. Er ist nicht nachtragend. Und Herbert schon gar nicht.«
Doris ging ins Wohnzimmer zurück und unterbreitete den beiden Männern ihre Bitte. Herbert brummte verstimmt, und auch Lothar zögerte.
»Nehmen Sie die mit«, sagte Evi zwischen zwei Zügen an ihrer Zigarette und hielt eine von noch vier Flaschen hoch, die unter dem Tisch standen.
Der Vorschlag fand Zustimmung, und so fuhren sie zu viert zum alten Forsthaus, wo Doris die inzwischen vollkommen erledigte Schriftstellerin ohne Umwege zu Bett brachte.
»Wie geht es Ihnen jetzt?« Doris hatte sich auf die Bettkante gesetzt und blickte Beatrice besorgt an.
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich begleitet haben, Doris. Sagen Sie das bitte auch Herbert und Lothar. Es tut mir gut zu wissen, dass ich von Freunden umgeben bin.«
»Das haben Sie schön gesagt, und es macht mich froh, wenn wir Ihnen beistehen können.«
Sie kann auch nett sein, dachte Doris und lächelte Beatrice freundlich an. »Aber es ist kalt hier«, sagte sie und ging zum Ofen. »Ich werde Feuer machen.«
»Sparen Sie sich die Mühe«, winkte Beatrice ab. »Das Ofenrohr ist verstopft. Alles in diesem Haus ist alt und morsch. Ich sollte mir ein anderes suchen, irgendwo.«
»Irgendwo ist hoffentlich hier bei uns. Wir würden Sie nur ungern gehen lassen.«
Doris setzte sich wieder auf die Bettkante. Nach einer Weile sagte sie: »Erzählen Sie mir von Barbara. Ich selbst kenne sie kaum. Was für ein Mädchen ist sie eigentlich?«
Die Frage zauberte augenblicklich ein warmes Leuchten in Beatrices Augen, das Doris so noch nie an ihr gesehen hatte.
»Sie wundern sich vielleicht, aber sie ist meine beste Freundin. Sie vertraut mir. Wir treffen uns häufig, und ich kann spüren, wie gerne sie bei mir ist. Manchmal lädt sie mich zu sich nach Hause ein. Dann sitzen wir in ihrem Zimmer und reden über meine Bücher, über Literatur im Allgemeinen und darüber, dass auch sie den Wunsch hat zu schreiben. Wie ich hörte, ist ihr Vater nicht nur Pfarrer, sondern verfasst nebenher Bücher über religiöse Themen. Natürlich ermuntere ich sie dazu, denn sie besitzt Talent und eine wunderbare Ausdrucksweise, und ihre Bildung ist bemerkenswert. Ihr Charakter ist von einfühlsamer Natur, dennoch besitzt sie einen starken Willen und vertritt ihre Standpunkte mit klugen Argumenten. Dazu ist sie hübsch und gerade gewachsen. Für ihr Alter ist sie ziemlich groß. Haben Sie einmal ihr Haar aus der Nähe gesehen? Es glänzt wie Seide und dabei ist es doch fest und stark.
Wenn wir uns unterhalten, meistens geht es ja um Bücher, dann leuchten ihre Augen, und man erkennt darin die Begeisterung für alles, was mit dem Schreiben und Lesen zu tun hat. Manchmal bringt sie mir eigene kleine Geschichten mit, handgeschrieben in einem Schulheft, auf dessen Deckel Nur für Beatrice steht. Ist das nicht reizend? Verstehen Sie jetzt? Den dummen Brief werde ich vorsorglich vernichten, damit er nicht in falsche Hände gerät.«
»Aber wie kommen Sie dann darauf, dass sie ihn geschrieben haben könnte?«, fragte Doris. »Es gibt doch überhaupt keine sichtbaren Hinweise. Er könnte mit jedem x-beliebigen Computer geschrieben worden sein, das hatten Sie doch selbst gesagt.«
»Sichtbare nicht, aber ich kann sie riechen.«
»Sie können riechen, dass er von Barbara stammt? Das müssen Sie mir erklären.«
»Anscheinend hat niemand von Ihnen den Duft wahrgenommen, der vom Papier ausgeht. Die hauchzarte Note eines Parfums, nach dem Barbara oft riecht.«
»Sie benutzt ein Parfum?«
»Nichts Ungewöhnliches. Schon Babys duften heutzutage nach Eau de Cologne.«
»Tatsächlich? Aber Barbara. Ehrlich gesagt wirkt sie auf mich schrecklich brav und wohlerzogen. Und ausgerechnet sie soll Ihren Tod planen oder zumindest androhen? Und warum sollte sie so etwas tun? Ich meine, welches Motiv sollte sie haben, wo sie doch Ihre Freundin ist?«
Beatrice zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte sie nur einen Spaß machen.«
»Oder sie war es gar nicht selbst, sondern jemand hat sie dazu angestiftet, um Ihnen einen Schreck einzujagen. Sie müssen mit ihr reden, vielleicht gibt sie die Sache zu.«
»Und wenn sie gar nichts damit zu tun hat?«
»Eben das müssen Sie herausfinden. Das Papier duftet nach ihr, das wird sie nicht abstreiten können, also verlangen Sie eine Erklärung. Schlimmstenfalls können Sie drohen, es ihren Eltern zu sagen.«
Beatrice drehte ihren Kopf zur Seite und seufzte. »Sie würde mir nie wieder vertrauen.«
Sie schwiegen eine Weile, während der Doris sich fragte, was so schwierig daran sein sollte, mit einem, wie Beatrice behauptete, so gebildeten und offenbar schon ziemlich erwachsenen Mädchen über diese Angelegenheit vernünftig zu reden. Doch sie glaubte nicht, dass Beatrice gerade jetzt willens war, ihr diese Frage zu beantworten, und fuhr im Plauderton fort. »Wie sind Sie auf das Drama im Buch eigentlich gekommen? Die Geschichte passt gar nicht zu Ihren ironisch-heiteren Themen, mit denen Sie Ihre Leserschaft so erfolgreich unterhalten.«
»Das Buch ist schon ziemlich alt, mein erstes übrigens, erschienen 2002. Damals wollte ich noch über die Dramen des Lebens schreiben und Geschichten über Menschen erzählen, die Tragödien erlebt und Schicksalsschläge erlitten hatten. Ich hoffte, Inspiration in Zeitungsarchiven zu erhalten, um aus verschiedenen Ereignissen ein einziges in sich zusammenhängendes Bild zu schaffen. Doch ich spürte, dass es so nicht funktionierte. Ich musste meine eigene Phantasie ankurbeln, und so dachte ich mir eine Geschichte aus, die offenbar bei den Lesern großen Eindruck machte, denn das Buch wurde sofort ein großer Erfolg.«
»Aber dann hatten Sie keine Lust mehr auf Tragödien?«
»Nein, es machte mich traurig. Deshalb begann ich damit, aus den unzähligen menschlichen Schwächen und Fehlern die unterhaltsamen Aspekte herauszuarbeiten und stellte fest, dass diese ebenso wie die dramatischen sozusagen auf der Straße liegen. Doch keine der Frauen, die Bekanntschaften auf diese Weise zu finden hofften, habe ich beleidigt, so wie Herbert es behauptet. Ich nehme sie ein wenig auf die Schippe oder wie Sie es sagten, ich necke sie, weil sie sich für meinen Geschmack zu leichtfertig preisgeben, doch niemals habe ich moralisiert oder sie gar verurteilt.«
»Erzählen Sie mir auch ein wenig von Eleonore?«
»Von Eleonore? Nein, nein. Nicht jetzt. Mit ihrem Auftauchen kommen die alten hässlichen Dinge wieder zum Vorschein.«
Doris hätte gerne gewusst, was genau sie damit meinte und warum sie so geheimnisvoll tat.
»Wie könnte Barbaras Parfum an den Brief gekommen sein?«, fragte sie stattdessen.
»Ich weiß es nicht. Es muss absichtlich daran gekommen sein, wahrscheinlich von jemandem, der den Verdacht auf sie lenken wollte. Auf ein Kind!«
Ihre Hand fuhr hinauf zu dem Verband in ihrem Gesicht. Mit fahrigen Fingern nestelte sie daran herum, bis sich einer der Pflasterstreifen löste.
»Darf ich?« Doris benutzte ihren Daumen und drückte den Streifen wieder an.
Sie spürte, dass Beatrice das Gespräch beenden wollte und drängte nicht weiter. »Ich lasse Sie jetzt alleine, aber ich bestehe darauf, heute Nacht bei Ihnen zu bleiben.«
Noch ehe Beatrice etwas erwidern konnte, tönte Herberts Stimme von der Diele hinauf bis ins Schlafzimmer.
»Lehrerin, komm mal runter. Wir haben was gefunden.«
»Ein blutiges Taschentuch?« Doris war so schnell sie konnte hinuntergeeilt in die Diele, wo die beiden Spurensucher ihr stolz das Tuch entgegenhielten.
»Es lag draußen am Waldrand hinter den Eichen«, erklärte Herbert. »Beinahe hätten wir es übersehen, weil nur ein kleines Stück vom weißen Stoff durchs Laub blitzte.«
»Geben Sie mal her«, sagte Doris und nahm es ihm aus der Hand. »Hm. Sogar mit feiner Spitze. Wem mag das gehören?«
»Eleonore natürlich«, antwortete Herbert. »Als sie zuschlug und Blut spritzte, hat sie was abbekommen, und dann hat sie es mit dem Taschentuch abgewischt.«
»Und hat es hier fallen lassen?«, fragte Lothar ungläubig.
»Nein, natürlich hat sie es nicht einfach fallen lassen«, äffte Herbert ungeduldig. »Sie hat es verloren. Auf der Flucht.«
»Jetzt übertreiben Sie mal nicht, Sie Wichtigtuer«, fauchte Lothar. »Vielleicht gehört es Beatrice, und es steckt gar nichts dahinter.«
»Wir werden sie fragen«, beschwichtigte Doris. »Es könnte aber auch dem Briefschreiber gehören, der sich mit der Nagelschere verletzt hat.«
»Auch möglich«, sagte Herbert und nahm Doris das Taschentuch wieder ab. Mit spitzen Fingern hielt er es in die Höhe und konstatierte im Stil eines Spezialisten: »Zumindest eines können wir mit Sicherheit sagen: Es stammt von einer Frau.«
»Seien Sie froh, dass Evi Sie jetzt nicht hören kann«, sagte Doris. »Ein Spitzentaschentuch kann ebenso gut einem Mann gehören.«
»Oder es dient dazu, eine falsche Fährte zu legen. Wir sollen glauben, es gehöre einer Frau«, mutmaßte Lothar.
»Vielleicht«, sagte Doris, doch zufriedengeben wollte sie sich damit offenbar nicht, denn ihre nächste Frage verriet Ungeduld und Nervosität. »Sonst haben Sie nichts gefunden? Vielleicht hat derjenige vom Waldrand aus das Haus beobachtet. Dabei könnte er geraucht und die Kippe achtlos weggeworfen haben.«
»Das ist doch ein alter Hut. Höchstens was für Fernsehkrimis«, meinte Herbert.
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, antwortete Doris, »aber den Stoff für Krimis schöpfen die Autoren meistens aus der Wirklichkeit, und dort gibt es nichts, was es nicht gibt.«
»Selbst wenn du eine Kippe finden würdest, wie willst du herausfinden, wer sie geraucht hat?«
»Gute Frage«, musste selbst Lothar anerkennen. »Aber was ist mit Fingerabdrücken? Zum Beispiel auf der Nagelschere. Und auf dem Brief natürlich. Von uns haben ihn nur Beatrice, Margot und Sie, Doris, in der Hand gehabt«
»Ausgezeichnet, Lothar«, lobte Doris. »Dann müssten wir zunächst unsere eigenen Fingerabdrücke nehmen, um uns selbst auszuschließen. Und als Nächstes benötigen wir einen Gegenabdruck von Barbara. Aber das dürfte kein Problem sein, so oft wie sie bei Beatrice zu Gast ist.«
»Schon. Aber wer gleicht die Abdrücke ab?«, dämpfte Lothar die Euphorie der Vorsitzenden. »Wenn wir damit zur Polizei gehen, dann kann das nur gegen den Willen von Beatrice geschehen. Das wird ihr nicht gefallen, aber wir sollten das in Kauf nehmen. Ich appelliere noch einmal ganz dringend an Sie, Doris. Reden Sie mit ihr und bestehen Sie auf eine Anzeige.“
»Vielleicht später. Zunächst werden wir Reinhold wegen der Fingerabdrücke fragen, er weiß immer eine Antwort. Ich schlage vor, dass wir uns gleich morgen wieder treffen. Wie immer um 15 Uhr bei mir.«