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Kapitel 2
ОглавлениеEin schwacher Duft
Samstag, 12. November 2011
Wie besprochen war Doris über Nacht bei Beatrice geblieben.
»Bleiben Sie im Bett«, riet die Vorsitzende, als sie sich verabschieden wollte, versprach aber, gleich nach der Sitzung nach ihr zu sehen.
»Aber ich fürchte mich hier alleine«, wimmerte Beatrice und ergriff Doris’ Hand.
»Dann kommen Sie einfach mit zu mir. Ich habe ein entzückendes Gästezimmer, in dem Sie bis zu Ihrer Genesung wohnen können. Was halten Sie davon?«
Beatrice zögerte, aber dann sagte sie: »Ich habe wohl kaum eine Wahl.«
Nachdem Doris einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten gepackt hatte, fuhren sie zurück zur Villa, wo Beatrice umgehend ihr Zimmer bezog.
»Hübsch«, sagte sie, nachdem sie sich in dem mindestens dreißig Quadratmeter großen und knapp drei Meter hohen Raum umgesehen hatte. »Wenn man dagegen Ihr Wohnzimmer betrachtet…«
Doris hüstelte und ging schnell zu den beiden Fenstern zu ihrer Linken, wo sie schwungvoll die Vorhänge aus apfelgrünem Damast zuzog. Beatrice war ihr gefolgt und fuhr mit den Fingerspitzen über die Wand.
»Was für eine schöne Tapete«, sagte sie. »Sie fühlt sich so samtig an, gar nicht wie eine aus Papier.«
»Sie ist aus Stoff«, erklärte Doris.
Beatrice sah genauer hin. »Wirklich schön. Und das zarte Blütenmuster passt gut zum Rosenwasser, nach dem es hier ganz leicht duftet.«
»Das können Sie riechen? Ganz erstaunlich, wo ich doch glaubte, Ihre Nase würde bis auf Weiteres ihren Dienst verweigern.«
Doris wies auf das Doppelbett aus braun lackiertem Holz, das einen großen Teil des Raumes einnahm. »Meine Eltern schliefen darin. Die Matratze ist selbstverständlich neu und sehr bequem, Sie werden darauf wunderbar ruhen.«
»Was bin ich doch für ein Glückspilz«, bemerkte Beatrice und schob die gemurmelten Worte nach: »Der Anschlag war scheint’s noch nicht genug.«
Doris überhörte die Unverschämtheit und ließ ihren Gast stehen, während sie selbst den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand durchquerte, wo der Kleiderschrank stand.
»Hier können Sie Ihre Sachen hineinhängen«, sagte sie freundlich und öffnete eine der Türen.
»Da drin hingen sicher schon die Klamotten Ihrer Eltern, stimmt’s«, amüsierte sich Beatrice. Sie war Doris gefolgt und warf nun einen Blick ins Innere des wuchtigen Eichenholzmöbels. »Er ist riesig«, stellte sie fest und schnüffelte betont. »Ein wenig muffig. Sie sollten häufiger lüften, sonst verschimmelt das gute Stück, und das wäre doch schade, oder?«
Sie wandte sich um und schlenderte durchs Zimmer, so als habe sie sich noch nicht entschieden, ob es ihr wirklich zusagt. »Und wo ist das Bad?«, fragte sie. »Gibt es dort auch Handtücher?«
»Ich weiß, es ist eine Zumutung«, entschuldigte sich Doris, »doch leider müssen Sie dazu das Zimmer verlassen. Es befindet sich zwei Türen weiter. Und die Handtücher. Nun ja. Ich bin nicht gerade die geborene Hausfrau. Es kann sein, dass sie nicht mehr ganz so frisch duften, wie Sie es gewohnt sind. Es hat hier schon lange niemand mehr übernachtet.«
Beatrice beantwortete die spöttische Erklärung mit einem Schulterzucken. »Für eine Nacht wird es wohl gehen. Länger gedenke ich sowieso nicht, mich irgendwo außerhalb meiner eigenen vier Wände aufzuhalten.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Doris und wandte sich zum Gehen. An der Tür blickte sie noch einmal zurück.
»Sie sind eine Zicke durch und durch«, sagte sie nicht unfreundlich. »Aber Sie haben Glück. Ich mag Zicken.«
*
Pünktlich um drei hatte der Club sich versammelt.
»Ich habe zwei Flaschen extra mitgebracht«, flüsterte Margot ins Ohr von Doris und lüftete vorsichtig die Einkaufstasche an ihrer Hand. »Herbert braucht davon nichts zu wissen. Er findet die schönen Dinge des Lebens meistens nur dann schön, wenn sie ihn nichts kosten.«
»Tatsächlich?«, wunderte sich Doris. »Ich dachte immer, es sei genau umgekehrt.«
Margot wollte etwas erwidern, doch die Vorsitzende kam ihr zuvor. »Jetzt setzen Sie sich bitte, damit wir anfangen können.«
Margot tat wie geheißen und nahm neben ihrem Mann Platz, der gerade eine Flasche geöffnet hatte und nun damit beschäftigt war, die Gläser zu füllen. Als er bei Evi angekommen war, fragte er: »Und du, Schneiderin? Ein Schlückchen zur Begrüßung oder lieber gleich den Zuckersirup?«
»Machen Sie schon«, forderte sie ihn augenrollend auf, »aber nur halbvoll.«
Mit geschlossenen Augen tranken sie ihre Gläser bis zum letzten Rest leer. Es folgte ein sechsfaches Hick, danach stellte jeder sein Glas zurück auf den Tisch. Doris entfernte die leere Flasche und ersetzte sie durch eine volle, die schon unter dem Tisch darauf wartete, ins Eis getaucht zu werden. Reinhold zündete sich eine Zigarre an und vergaß beinahe, Evi Feuer zu geben, die bereits eine Zigarette zwischen den Lippen hielt. Drei volle Päckchen lagen vor ihr auf dem Tisch, gerade ausreichend für eine zwei- bis dreistündige Besprechung. Doris war zum Barschrank gegangen, wo sich Evis Flaschendepot befand. Als Flasche und Glas auf dem Tisch standen und Herbert bis zum Rand eingeschenkt hatte, ergriff die Vorsitzende das Wort.
»Beatrice ist bei mir eingezogen, weil sie sich in ihrem Haus verständlicherweise nicht sicher fühlt. Sie schläft jetzt, so dass wir auf sie verzichten müssen. Herbert wird Ihnen mitteilen, was er und Lothar gestern entdeckt haben. Bitte, Herbert.«
»Ein blutverschmiertes Taschentuch. Gleich gegenüber vom alten Forsthaus. Es lag im Laub hinter den Eichen.«
Doris hob einen Finger und entschuldigte sich für die Unterbrechung: »Nur zur Information: Es gehört nicht Beatrice.«
»Wir wollen wissen, von wem das Blut stammt«, machte Herbert weiter. »Vielleicht von dieser Eleonore oder vom Briefschreiber. Und dann müssen wir herausfinden, ob auf der Nagelschere und dem Briefpapier Fingerabdrücke sind. Die Lehrerin ist der Meinung, dass du Ahnung davon haben könntest, Totengräber.«
»Ich? Wie kommen Sie denn auf die Idee?« Reinhold zeigte mit dem Finger auf sich selbst und blickte überrascht in die Runde.
»Sie haben doch sicher Kontakte zu Labors, die DNA-Analysen machen«, antwortete Doris, »und vielleicht wissen Sie ja auch, wie man Fingerspuren sicherstellt und miteinander vergleicht?«
»Schauen Sie ins Internet. Dort finden Sie alle Antworten auf Ihre Fragen.«
»Wir wollen es aber von Ihnen wissen.«
»Liebe Doris, ich bin sicher, dass Sie nicht locker lassen werden, ehe ich mich an diesem Unfug beteilige. Doch selbst wenn ich mich überreden ließe, was denken Sie mit einer Blutanalyse zu erreichen? Mit welcher anderen DNA wollen Sie die auf dem Taschentuch denn vergleichen?«
»Da hat er recht«, sagte Evi. »Aber ich könnte ins Pfarrhaus gehen und Barbara aus Versehen mit einer Nadel in den Finger stechen. Dann wische ich das Blut mit einem Papiertaschentuch ab, stecke es ein und übergebe es Reinhold.«
»Du schluckst zu viel von diesem klebrigen Zeug«, sagte Herbert und tippte an seine Stirn.
»Ich kapier überhaupt nichts mehr.« Margot hob fragend ihre Hände. »Wozu brauchen wir Eleonores Blut? Wir wissen doch definitiv, dass sie dort war und Beatrice niedergeschlagen hat.«
»Das heißt ja nicht, dass es ihr Blut am Taschentuch ist«, antwortete Doris.
»Dann ist es ja noch aussichtsloser«, entgegnete Margot. »Wie sollen wir denn herausfinden, wer da geblutet hat?«
»Da ist was dran, Lehrerin«, bekräftigte Herbert und wackelte mit dem Kopf.
»Dann konzentrieren wir uns zunächst auf den Brief. Wenn Barbara Backhaus ihn geschrieben hat, müssen ihre Fingerabdrücke drauf sein. Und vielleicht auch auf der Schere.«
»Sie kann Handschuhe getragen haben«, warf Evi ein.
»Wir müssen es trotzdem versuchen«, bestimmte Doris. »Beatrice lädt Barbara zu sich ein, trinkt mit ihr ein Gläschen Limonade und übergibt das Glas mit den Fingerabdrücken Ihnen, Reinhold.«
»Ohne mich.«
»Nun haben Sie sich doch nicht so. Sie kennen doch Gott und die Welt. Wer sonst könnte diese Aufgabe denn übernehmen?«
»Die Polizei natürlich. Denn es ist deren Job, in einer Strafsache Beweise sicherzustellen und auszuwerten. Wenn jedoch Geld keine Rolle spielt, dann können Sie Brief, Schere und Limonadenglas einer Detektei übergeben, die mit wissenschaftlichen Methoden Spuren sichert und auswertet. Es gibt Verfahren, die speziell für Fingerspuren auf Papier angewendet werden und hervorragende Ergebnisse bringen sollen. Aber wollen Sie das wirklich alles auf sich nehmen, nur um einer exzentrischen Diva gefällig zu sein? Und haben Sie bedacht, dass es auch für Sie durchaus gefährlich werden könnte, wenn Sie sich mit einem anonymen Drohbriefverfasser anlegen?«
Doris räusperte sich und legte ihre Fingerspitzen aneinander. »Von einer exzentrischen Diva ist Beatrice sicher noch weit entfernt. Aber ich gebe zu, dass Ihre Einwände gerechtfertigt sind. Tatsächlich haben wir all diese Dinge überhaupt nicht bedacht. Wir sind so voller Eifer, dass wir glaubten, alles gehe ganz locker von der Hand. Natürlich, wenn ich es jetzt bedenke, ist eine Spurensicherung nichts für Amateure wie wir es sind, weil uns die Mittel und das Wissen fehlen, vorhandene Fingerabdrücke überhaupt sichtbar zu machen, geschweige denn sie mit anderen Abdrücken zu vergleichen. Und was Ihre Sorge um unsere Sicherheit angeht…«
»Ich mache mir keine Sorgen um Ihre Sicherheit, Ihre, gnädige Frau, natürlich ausgenommen. Ich habe Sie nur gewarnt, mehr nicht, und ich sage es jetzt noch einmal mit aller Deutlichkeit: Ich kann Ihnen nicht helfen. Und selbst wenn sich Fingerspuren von einer Detektei nachweisen ließen, müssten Sie damit ja doch zur Polizei gehen, es sei denn, Sie verfügen über eine Verbrecherkartei.«
Nach dieser Abfuhr hielt Doris es für das Klügste, dem Bestatter nicht mehr zu widersprechen. Sie kannte seine Eitelkeit, die ihn früher oder später dazu bringen würde, sich doch in die Ermittlungen einzuschalten.
»Erzähl das mit dem Parfüm«, sagte Herbert nach einer Weile. »Vielleicht bringt uns das weiter.«
»Ach ja. Der Brief riecht nach einem Parfüm«, erläuterte Doris. »Beatrice glaubt, es sei das von Barbara. Es scheint heutzutage nichts Ungewöhnliches zu sein, dass Kinder sich mit Duftwässerchen einsprühen.«
»Wo ist der Brief eigentlich abgeblieben?«, fragte Margot.
»Er befindet sich in meiner Obhut. Beatrice wollte ihn vernichten. Da habe ich ihn ohne ihr Wissen an mich genommen.«
Doris erhob sich und ging hinüber zu dem kleinen Sekretär. Sie kam mit einer Mappe zurück, in der sie die Beweisstücke Brief, Schere und Taschentuch sowie ein Paar leichte Baumwollhandschuhe verwahrt hatte.
»Bevor Sie ihn berühren, ziehen Sie bitte die Handschuhe an, damit wir nicht noch mehr von unseren Abdrücken darauf hinterlassen, und dann riechen Sie mal vorsichtig am Papier. Vielleicht kommt Ihnen der Duft bekannt vor oder einer kennt ganz und gar die Marke des Parfüms.«
»Es riecht nach Papier«, stellte Herbert fest und gab den Bogen an Margot weiter.
»Stimmt. Ich rieche nichts Besonderes.«
Lothar zuckte die Schultern. »Ich auch nicht.«
Als Letzte kam Evi an die Reihe. Sie schnüffelte einige Male, rieb sich die Nase und schnüffelte erneut.
»Das ist kein Parfüm.« Sie zog das Papier noch einmal mit geschlossenen Augen dicht unter ihrer Nase entlang. Schließlich nickte sie und sagte: »Jedenfalls keines, das man in einer Parfümerie erhält. Es dürfte sich um einen Duft handeln, der einer Wäscheappretur beigefügt ist. Das würde erklären, warum Barbara, in Wirklichkeit aber ihre Kleidung danach riecht. Der Geruch ist zwar nicht typisch, wie man ihn aus Schnellreinigungen und Wäschereien kennt. Dennoch. Vielleicht lässt sie in der Stadt waschen.«
»Charlotte doch nicht«, winkte Margot ab. »Dazu ist sie viel zu geizig. Wer für das Abendmahl bei Erika drei Tage alte Weißbrotreste kauft und in winzige Würfelchen schneidet, wäscht selbst, vermutlich sogar mit der Hand, um Strom zu sparen.«
»Sie meinen, es könnte eins von diesen Pflegemitteln sein, mit denen man Wäsche behandelt?« Doris hatte früher gelegentlich ihre Bettwäsche gestärkt, aber das erwähnte sie lieber nicht. Herbert hätte sich wahrscheinlich totgelacht.
»Ja«, antwortete Evi. »Die Stoffe bleiben länger formschön und lassen sich zum Beispiel leichter bügeln.«
»Und was heißt das jetzt?«, wollte Lothar wissen, der prompt Antwort von Herbert erhielt.
»Dass die kleine Backhaus ihre Klamotten mit irgendeinem Zeug behandelt, das nach Parfüm riecht. Anscheinend hat der Brief aus Versehen was abbekommen.«
»Ein Kind in dem Alter kümmert sich doch nicht um seine Wäsche, geschweige denn benutzt es Appreturen, damit sie sich leichter bügeln lässt«, belehrte ihn Margot.
»Dann eben Charlotte, ihre Mutter. Oder Backhaus selbst. Er hat heimlich seinen Talar gestärkt, damit er ihn in die Ecke stellen kann.« Herbert lachte, bis ihm Tränen über die Wangen liefen. Margot verdrehte die Augen und hob entschuldigend ihre Hände.
»Es wird Zeit, dass Sie Ordnung schaffen«, meldete sich Reinhold wieder zu Wort und legte die Havanna in den gläsernen Aschenbecher, der von Evis Kippen beinahe überquoll.
»Sie diskutieren völlig zusammenhanglos und verzetteln sich dabei immer mehr. Selbst von Amateuren scheinen Sie noch meilenweit entfernt zu sein. Ich wette, Evi hat den Überblick längst verloren, stimmt’s?«
»Wenn wir Sie nicht hätten, Sie eingebildeter Pinsel.«
Reinhold deutete eine Verbeugung an, so als bedanke er sich für das nette Kompliment.
»Der eingebildete Pinsel schlägt vor, dass wir uns nacheinander einmal folgende Fragen stellen und diese versuchen zu beantworten. Erstens: Was wäre, wenn Eleonore den Brief nun doch geschrieben hat? Die Antwort könnte lauten: Dann wäre sie diejenige, die den nächsten Anschlag plant.
Zweitens: Was wäre, wenn Barbara den Brief geschrieben hat? Dann müsste sie einen Komplizen haben, denn alleine dürfte sie kaum in der Lage sein, einen erwachsenen Menschen zu ertränken.
Drittens: Was wäre, wenn Barbaras Eltern den Brief geschrieben haben? Dann müssten sie das Buch gelesen und dessen Inhalt als einen Angriff auf ihren christlichen Glauben interpretiert haben. Aber warum sollten sie so dumm sein und einen spezifischen Duft hinterlassen, der sofort auf einen Zusammenhang mit ihnen hinweist? Viertens: Was wäre, wenn keiner der Genannten den Brief geschrieben hat …?«
»Was wäre, wenn du endlich deine Klappe halten würdest? Dann würdest du uns nicht so auf den Wecker gehen.«
»Bitte Herbert«, mahnte Doris und bedeutete Reinhold weiterzusprechen.
»Um die erste Frage zu beantworten: Eleonore wird meiner Überzeugung nach nicht wiederkommen. Was auch immer sie von Beatrice wollte, sie hat sich mithilfe eines Schlagringes Genugtuung verschafft. Auch hat sie den Brief nicht geschrieben, doch vielleicht gehört ihr das Taschentuch. Möglich, dass sie sich bei dem Angriff selbst verletzt hat, oder sie hat Blut von Beatrice abbekommen. Zweitens behaupte ich, dass Barbara keinen Komplizen haben kann, weil sie keinen braucht, denn sie war es nicht.
Drittens: Charlotte und Hortensius Backhaus sind gläubige Protestanten, die Inzest als widernatürliche Erscheinung einer zügellosen und schamfreien Gesellschaft verabscheuen dürften. Soweit wir von Beatrice erfahren haben, gibt es keine weiteren Personen, die sich durch das Buch provoziert fühlen könnten.
Doch halt, und damit wäre ich bei viertens: Um Inzest als Teufelswerk anzuprangern, bedarf es nicht unbedingt Religiosität. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, dass einer oder eine der zahlreichen Leser und Leserinnen in Frage kommen kann. Was ich allerdings für sehr unwahrscheinlich halte. Bei dem wenigen, das wir bisher wissen, würde ich mit der dritten Möglichkeit sympathisieren.«
»Sie verdächtigen die Eltern?«, fragte Doris.
»Wen denn sonst?«, antwortete Reinhold. »Sie haben das einzige und stärkste Motiv.«
»Alles nur Spekulationen«, würgte Lothar die Erklärungsversuche ab.
»Sie haben das nicht richtig verstanden«, entgegnete Doris. »Wenn wir beispielsweise nicht wie Reinhold der Meinung wären, dass Eleonore, was den Brief betrifft, unschuldig ist, müssten wir uns die Mühe machen, herauszufinden, ob sie das Buch gelesen hat, wobei aber nicht klar ist, was im Buch sie so aufgeregt haben könnte. Dasselbe würde dann auch für Backhaus und seine Frau gelten. Auch sie müssten das Buch gelesen haben, sonst hätten sie kein Motiv. Und wir müssten herausfinden, wieso dieser Duft am Papier haftet. Charlotte könnte an den Geruch so gewöhnt sein, dass sie gar nicht wahrnahm, dass auch das Papier ihn bereits angenommen hatte. Vielleicht riecht das ganze Haus danach, ähnlich wie Kochdünste, die tagelang durch die Räume wabern.«
»Dann sollten Sie dort einen Riechtest durchführen«, riet Reinhold amüsiert. »Auf Charlottes Gesicht bin ich gespannt.«
Doris war verstimmt, weil Reinhold sich über sie lustig zu machen schien. Natürlich hatte er in vielem recht, und wenn sie ehrlich war, hatte sie von Beatrices Stimmungen allmählich auch genug. Die Gründe, nicht zur Polizei gehen zu wollen, kamen ihr immer fragwürdiger vor. Dass sie eine schlechte Publicity fürchtete, wenn nicht gar einen Skandal. Und dass Eleonore in ihrem Leben wieder eine Rolle einnehmen könnte. Was sie sich einzubilden schien. Sie hatte einen Bestseller geschrieben, aber das war zehn Jahre her. Offenbar aber glaubte sie, eine Berühmtheit zu sein, die durch eine schlechte Presse um ihren Ruf bangen musste, doch dazu müsste sich die Presse erst einmal für sie interessieren.
»Wir sollten es für heute genug sein lassen«, sagte sie kurz angebunden und machte sich daran, die leeren Flaschen einzusammeln, als sie plötzlich ein Geräusch vernahmen.
Alle wandten sich zur Tür und erblickten Beatrice, die in einem bis zum Boden reichenden Morgenrock aus strahlend gelber Seide dastand, dass man meinen konnte, die Sonne sei gerade aufgegangen.
»Wollen Sie etwa schon gehen?«, fragte sie verwundert.
Sie kam näher und setzte sich neben Lothar.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Margot als Erste.
»Ich weiß nicht, aber mir ist nach einem Schluck Champagner und ein wenig Gesellschaft«, antwortete sie. Doris vergaß die leeren Flaschen und eilte hinaus in die Küche, wo sie drei neue aus dem Kühlschrank nahm. Durch Beatrices Erscheinen war damit zu rechnen, dass die Besprechung nun erst richtig beginnen würde. Wieder zurück im Wohnzimmer, übergab sie Herbert eine der Flaschen. »Beeilung mit dem Öffnen, Herbert«, flüsterte sie, »es wird sicher gleich spannend werden.«
Evi schlug ein Bein über das andere und lehnte sich zurück. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen ihr Likörglas und musterte Beatrice mit teils interessierten, teils missbilligenden Blicken. »Wie sind Sie denn an diesen Morgenmantel gekommen?«, fragte sie schließlich.
»An den Morgenmantel?«, wiederholte Beatrice und blickte an sich hinab. »Ich habe ihn auf einem Flohmarkt gekauft. Er ist schon ziemlich alt, an manchen Stellen sogar ein wenig zerschlissen, doch ich kann mich einfach nicht von ihm trennen. Die Farbe ist sensationell, finden Sie nicht?«
»Doch, sensationell.«
»Wieso? Gefällt er Ihnen nicht?«
»Er ist von mir. Ich habe ihn entworfen und genäht. Dass ausgerechnet Sie ihn tragen, wo Sie sich gewöhnlich nur mit Lumpen bedecken, wertet ihn nicht gerade auf.«
Beatrice lachte schrill und griff nach dem Glas, das Doris ihr hinhielt. Sie trank gierig und wischte anschließend mit dem Handrücken über ihren Mund. »Dieser Mantel soll Ihre Arbeit sein? Davon träumen Sie höchstens.«
»Dann sehen Sie doch nach. Unten am linken Innensaum sind meine Initialen eingestickt.«
Beatrice hob den Saum an, so dass es alle sehen konnten. »Da steht E.B., sonst nichts. Das ist noch lange kein Beweis.«
»Oh doch. Ich nähte ihn für einen berühmten Schauspieler, der in den Siebzigern auf vielen Theaterbühnen gestanden hatte. Er wollte einen besonderen Mantel, den er nur in seiner Garderobe trug. Leider, denn dadurch sahen ihn nur ganz wenige Leute. Eine Schande, dass dieses maßgefertigte Stück harte Arbeit auf einem verlausten Flohmarkt endete, zusammengeworfen mit irgendwelchem minderwertigen Kram.«
»Ich kann Sie beruhigen. Er hing ordentlich auf einem richtigen Bügel in einer Reihe mit ähnlich wertvollen Kleidungsstücken. Er war auch keineswegs billig. Ich hatte damals fast 100 Mark für ihn bezahlt.«
»Ein Schnäppchen also. So einen Mantel finden Sie kein zweites Mal. Aus feinster chinesischer Seide, handgefärbt und teilweise handgenäht. 1000 Mark hat er damals gekostet.«
»Mein Gott. Anstatt zu nörgeln, sollten Sie froh sein, dass es ihn überhaupt noch gibt.«
»Wie hieß der Schauspieler?« Durch Doris‘ Frage entschärfte sich sogleich die Verstimmung, und überdies sollte sich daraus eine interessante Geschichte entwickeln.
»Lukas Huss«, antwortete Evi. »Aber das war sein Künstlername. Seinen richtigen Namen kannte niemand.«
»Huss? Aber natürlich!«, rief Doris. »Ich kenne ihn von meinen gemeinsamen Theaterbesuchen mit Hedwig. Eine Ewigkeit ist das her.«
»Leider«, sagte Evi. »Er hatte ein Engagement in Perlstetten, und ich besuchte alle Vorstellungen mehrere Male hintereinander. Ich bewunderte Huss wegen seines ruhigen und getragenen Spiels. Natürlich wünschte ich mir ein Autogramm von ihm. Eines Abends ergab sich die Gelegenheit, ihn in seiner Garderobe zu besuchen. Er trug einen hässlichen Hausmantel, so ein gestreiftes, graubraunes Ding aus Cord. Er sah darin aus wie Sie gestern, Beatrice. Alt und krank. Als ich mein Autogramm erhielt, hatte ich gleichzeitig einen neuen Auftrag in der Tasche. Einen Haus- und Morgenmantel für Lukas Huss!«
»Welch ein Zufall!«, rief Reinhold. »Ich kannte Huss, vielmehr seinen Leichnam. Ich bestattete ihn seinerzeit, genauer gesagt, vor zehn Jahren, nachdem er todkrank verstarb. Allerdings war er nicht halb so berühmt, wie es Evi uns glauben machen will. Der beste Beweis dafür dürfte seine Beisetzung gewesen sein, bei der ganze drei Personen anwesend waren, alles Schauspielkollegen übrigens. Von Familienangehörigen oder gar Bewunderern seiner Kunst war weit und breit nichts zu sehen gewesen. Doch dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Ich erinnere mich, dass die Trauerfeier bereits in vollem Gange war, und ich hielt gerade eine meiner Standartreden, als plötzlich eine Frau auftauchte. Sie kam auf uns zugerannt und schrie wie von Sinnen: Huss ist ein Mörder! Zu unserem Glück gelang es einem Friedhofsangestellten, sie abzufangen und vom Gelände zu entfernen.«
»Huss ein Mörder? Niemals!«, widersprach Evi. »Er war so ein feiner Mensch, eine Ausnahmeerscheinung, möchte ich sagen. Wahrscheinlich war es eine Verrückte, der er sein Autogramm verweigert hatte.«
»Wo war das?«, fragte Doris.
»In Offtenheim, wo er gewohnt hatte. Ich kannte den Ort nur vom Hörensagen, doch selbstverständlich erledige ich Bestattungen im ganzen Land. Für den Erfolg darf kein Weg zu weit sein, und dieser war weit. Genauer gesagt 250 km in nördliche Richtung. Mein guter Ruf eile mir voraus, so lobte mich einer der Mimen, was der Grund war, mir den Auftrag zu erteilen, der eine ausgezeichnete Werbung für mein Institut war, selbst noch bei nur drei lebenden Anwesenden.«
»Und die Frau?«
»Ach ja. Sie stand am Friedhofstor, als die Beisetzung beendet war. Selbstverständlich hielt ich an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie nickte nur und verschwand. Das war alles.«
»Wie sah sie aus?«, fragte Evi.
»Sie war ausgesprochen attraktiv. Ziemlich groß und sehr schlank. Darin ähnelte sie Ihnen, Beatrice. Sie trug einen hübschen Hut, in der heutigen Zeit leider eine Seltenheit bei Frauen.«
»Und wie alt war sie?«
»Vielleicht 30, auf keinen Fall älter.«
»Das ist ja alles gut und schön. Aber dieser Huss ist im Moment nicht unser Problem und erst recht nicht sein Bademantel und auch nicht die Verrückte mit Hut.« Herbert hörte sich an, als würde ihm gleich die Hutschnur platzen. »Wir sitzen hier seit über zwei Stunden und sind noch keinen Schritt weiter. Totengräber hat recht, wir drehen uns im Kreis.«
Doris fiel auf, dass Beatrice ganz still geworden war. Sie spielte mit dem Gürtel ihres Seidenmantels und sah niemanden an.
»Beatrice, bitte. Wir brauchen jede Information, denn alles könnte wichtig sein. Sie müssen doch irgendetwas wissen!«
»Wenn Sie damit Eleonore meinen, kann ich Ihnen wirklich nicht viel mehr sagen. Als ich sie zum letzten Mal sah, arbeitete sie als Lehrerin. Sie unterrichtete damals Sport und irgendeine Fremdsprache. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Sport?«, wiederholte Herbert und nickte wissend. »Deswegen kann sie so zuhauen.«
»Und an welcher Schule unterrichtete sie?«
»Hm. Lassen Sie mich nachdenken. Ich glaube, sie hieß »Laurenzio–Schule«. In Offtenheim am Rhein.«
»In Offtenheim? Da, wo dieser Huss begraben wurde?«
»Verzeihen Sie, Doris«, unterbrach Reinhold. »Er wurde beigesetzt, vielmehr seine Urne und nicht begraben.«
»Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam machen«, erwiderte sie lächelnd. »Schon wieder ein Zufall. Hm. Dann haben Sie dort vielleicht auch gelebt? Mit Ihrem Mann? Wann war das? Könnte sie noch dort sein und vielleicht eine Familie haben?«
»Ja, wir haben alle dort gelebt«, antwortete Beatrice, »aber das ist schon lange her. Nach meiner Scheidung hatte ich den Kontakt zu ihr abgebrochen und die Stadt verlassen. Eine eigene Familie? Warum nicht. Sie war damals noch jung, ungefähr in meinem Alter. Cornelius hatte sonst keine Geschwister mehr, und die Eltern müssten jetzt um die 70 sein, falls sie überhaupt noch leben.«
»Beatrice, was ist zwischen Ihnen beiden passiert, dass sie so wütend auf Sie war?« Die Ungeduld schien nun auch Reinhold erfasst zu haben. Er richtete sich auf und rückte dicht an sie heran. »Herrje, nun reden Sie schon!«
Beatrice seufzte und schloss die Augen. »Es ist eine sehr, sehr persönliche und alles andere als alltägliche Angelegenheit«, begann sie zögernd. »Es ist etwas, über das ich noch nie mit einem Menschen geredet habe, selbst mit meinem Vater nicht, dem einzigen Menschen, der mir damals noch geblieben war. Er dachte, ich habe Cornelius verlassen, weil er mich mit einer anderen Frau betrogen hatte, und das stimmte auch, doch er wusste nicht, mit welcher Frau. Das wussten nur Cornelius, Eleonore und ich.«
»Welche Frau, Beatrice?« Reinhold bohrte die Frage förmlich in sie hinein.
»Also schön«, gab sie sich endlich geschlagen. »Cornelius hat vor und besonders während unserer Ehe mit seiner Schwester geschlafen. Mit Eleonore.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Doch Herbert hatte seine Sprache schnell wiedergefunden. Mit beiden Händen schlug er auf seine Schenkel und funkelte Beatrice an. »Ich hab’s die ganze Zeit geahnt. Dein komischer Roman handelt von dir selbst!«
Doris bezweifelte, dass Herberts Geistesblitz seiner Intuition zu verdanken war, sondern vielmehr seinem Ärger über Beatrice, die er vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte.
»Ich war gleich skeptisch«, sagte er. »Du hast uns belogen, Schreiberin.«
»Spielen Sie sich doch nicht so auf«, fauchte Beatrice. »Mit so was geht man ja nicht gerade von Tür zu Tür, um es jedem auf die Nase zu binden.«
»Nein, man schreibt gleich ein Buch darüber.«
»Ach lassen Sie mich doch in Ruhe.«
»Mit Vergnügen. Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber ich will jetzt nach Hause. Falls Gnädigste vielleicht noch etwas loswerden will von ihrem Familiendrama, kann sie ja einen neuen Termin machen. Bis dahin will ich nichts mehr davon hören.«
Er stand auf und nickte Margot zu, die ihm beide Hände entgegenstreckte, damit er sie vom Sofa hochzog. »Verdammt, ich bin völlig steif vom langen Sitzen«, schimpfte sie. »Ihre Schuld, Beatrice. Wenn Sie Ihren Mund gleich aufgemacht hätten, wären wir vielleicht schon einen Schritt weitergekommen und hätten konkrete Aufgaben verteilen können. Vorausgesetzt, Sie sind an unserer Hilfe überhaupt noch interessiert.«
»Sie alle waren es doch, die sich regelrecht aufgedrängt haben«, verteidigte sich Beatrice mit scharfer Stimme und richtete einen Zeigefinger auf Margot. »Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, wäre es gar nicht dazu gekommen.«
»Wie bitte?« Margot schnaubte vor Ärger. »Sie geben mir die Schuld, weil ich Sie gefunden habe?«
»Nein, nein, so hat sie das sicher nicht gemeint«, rief Doris alarmiert, doch Margot wollte sich nicht beschwichtigen lassen. Mit erhobener Faust ging sie auf Beatrice los, aber mit einem Trick konnte die Vorsitzende den Angriff gerade noch verhindern. Sie riss die Champagnerflasche aus dem Eiswasser und drückte sie Margot in die Hand. »Trinken Sie! Es ist die Letzte!«
Margot packte zu und setzte die Flasche an. Ohne einmal abzusetzen, rann gut ein halber Liter Champagner durch die Kehle von Klöbelschuhs Frau. Als aus ihren Nasenlöchern Kohlensäure zischte, nieste sie so heftig, dass alle auseinanderstoben und Taschentücher auf ihre Gesichter pressten.
»Auch das ist Ihre Schuld«, schniefte sie, während vom Kinn Champagnerreste in ihren Ausschnitt tropften. Doris hatte in den Polsterritzen ihres Sofas ein zerknülltes, braun-gelbes Staubtuch entdeckt und reichte es Margot, doch die zog es vor, ihr Gesicht mit den Ärmeln ihrer gestärkten Bluse abzutrocknen.
»Der Fall wäre längst geklärt, Beatrice, wenn Sie gleich die Polizei hinzugezogen hätten«, sagte Reinhold vorwurfsvoll und faltete sein Taschentuch zusammen. »Dann wäre Eleonore bereits ausfindig gemacht und der ominöse Briefeschreiber vielleicht ebenfalls schon entlarvt.«
»Sie will aber nicht zur Polizei gehen«, bellte Lothar dem Bestatter ins Gesicht, doch der winkte nur ab und ging hinaus.
»Na dann eben nicht. Wenn der WC-Mörder auftaucht, kann sie ja kurz anrufen«, schlug Herbert vor und marschierte mit seiner Frau ebenfalls hinaus in die Halle, wo Reinhold bereits im Mantel dastand und auf die Verabschiedung durch die Vorsitzende wartete. Doch diese musste sich noch um Lothar kümmern, der sich wieder auf seinem Platz gesetzt hatte und auf ein Zeichen der Frau mit dem Nasenverband zu hoffen schien, die er trotz aller Enttäuschung über ihr Misstrauen so sehr verehrte. Doch sie sah ihn nicht einmal an. Sie erhob sich und verließ ohne ein Wort den Raum. Evi war bis zum Schluss sitzengeblieben und leckte an ihren klebrigen Fingern. »Darf ich mir im Bad die Hände waschen?«
»Natürlich. Sie wissen ja, wo es ist.« Doris begleitete Lothar hinaus, der nur mit den Schultern zuckte. »Geben Sie ihr Zeit«, sagte sie und drückte sanft seinen Arm.
»Wie viel denn noch?« Seine Traurigkeit rührte Doris fast zu Tränen, doch sie konnte nichts für ihn tun.
Sie ging vor bis zur Haustür, öffnete sie und gab jedem die Hand, bevor sie hinaus in die Kälte traten.
»Ich darf doch auf ein baldiges Wiedersehen hoffen?«, flötete Reinhold und deutete einen Handkuss an.
»Sie dürfen«, lachte Doris, »aber nur, wenn Sie sich nicht wieder so zickig benehmen.«
Evi kam als Letzte und nahm ihren Mantel in Empfang, den Doris bereits vom Bügel genommen hatte.
»Evi, Ihr Geruchssinn hat Sie auch nicht getäuscht? Ich meine, das Parfüm ist tatsächlich der Duftstoff einer Appretur und kein Eau de Parfum?«
Die Schneiderin lachte und knöpfte ihren Mantel zu. »Beatrice hat offenbar noch nie ein Parfum benutzt. Was auf dem Papier kaum noch wahrzunehmen ist, stammt von einem Wäschepflegemittel. Hundertprozentig.«
»Aber könnte es nicht auch ein Waschpulver sein oder ein Weichspüler?«
»Nein. Ich kenne sowohl alle Waschmittel als auch sämtliche Weichspüler, die es hierzulande auf dem Markt gibt, da ich ständig die Marken wechsle. Sie riechen ganz anders, meist süßlich-blumig und sehr intensiv, doch der wenn auch kaum noch wahrnehmbare Duft auf dem Papier erinnert mich an Moschus, was sehr ungewöhnlich ist für eine gewöhnliche Wäschestärke. Aus unserem Land stammt sie jedenfalls nicht.«
Doris machte hm und kräuselte die Stirn. »Gehört Charlotte Backhaus nicht auch zu Ihren Kundinnen?«
»Oh, das ist schon lange her. Ich befasse mich ja nur noch selten mit Auftragsarbeiten. Höchstens, wenn es sich um etwas Besonderes handelt.«
»Um so etwas wie diesen todschicken Wollmantel, den ich schon seit langem an Ihnen bewundere?«
»Ersparen Sie sich das Gesäusel, Doris. Ich weiß auch so, worauf Sie hinauswollen. Ich soll Charlotte Backhaus einen Besuch abstatten und ihr einreden, dass sie dringend einen neuen Mantel braucht. Und ganz nebenbei finde ich heraus, ob sie ausländische Wäschestärke verwendet, richtig?«
»Absolut richtig.«
»Und wie soll ich das anstellen?«
»Keine Ahnung, aber ich bin sicher, Sie finden einen Weg.«
*
Nachdem alle gegangen waren, ging Doris ins erste Stockwerk hinauf und klopfte leise an Beatrices Zimmertür.
»Kommen Sie nur herein, ich habe Sie schon erwartet.«
Doris sah als Erstes den gelben Seidenmantel auf dem Boden liegen. Sie hob ihn auf und legte ihn über die Lehne eines kleinen Stuhls im Biedermeierstil. Beatrice lag ausgestreckt im Bett, die Decke bis zur Brust gezogen. Wie so oft nestelte sie am Verband, der schon ein wenig schmutzig geworden war.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Doris und ging auf das Bett zu.
»Meine Nase schmerzt, mein Kopf tut weh, in meinen Ohren pfeift es, und was meine Augen betrifft, so habe ich das Gefühl, als seien die blauen Ringe darum herum so dick wie Fahrradschläuche. Kurz und gut: Es geht mir blendend.«
Sie lachte und verzog sogleich ihr Gesicht, weil offenbar ein neuer Schmerz sie durchzuckt hatte.
»Sie brauchen noch viel Ruhe und ein gutes Schmerzmittel. Hat man Ihnen nichts mitgegeben?«
»Danke für Ihre Fürsorge«, sagte Beatrice. »Aber Sie sind nicht deswegen gekommen, oder?«
Doris zog den Stuhl heran und setzte sich. »Nun, ich wollte Ihnen sagen, dass wir alle ein wenig enttäuscht sind, vor allem aber Lothar scheint sehr traurig zu sein, weil er glaubt, Sie vertrauten uns nicht. Und Sie haben umgekehrt nicht gerade dazu beigetragen, mein Vertrauen in Sie zu bestärken, denn Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Die Geschichte ist nicht frei erfunden, das heißt, alles, was im Buch steht, ist bis auf Ihren eigenen Selbstmord wirklich so geschehen. Cornelius ist tot und nicht einfach verschwunden, und Sie hatten doch ein Kind, aber es ist ebenfalls tot, gestorben bei der Entführung. War es so?«
Beatrice antwortete nicht, sondern zupfte an den Pflasterstreifen, ohne Doris dabei anzusehen.
»Warum haben Sie das Buch geschrieben, wenn es Ihnen so schwer fällt, darüber zu reden?«, versuchte Doris es mit einer direkten Frage.
»Genau deswegen habe ich es ja geschrieben«, platzte es aus Beatrice heraus. »Ich wollte darüber reden, aber niemand sollte mich dabei ansehen können. Dass ich auch Orte und Namen verändert habe, war anscheinend nicht anonym genug.«
»Weil die Ereignisse dieselben blieben. Und die waren außergewöhnlich. Eleonore musste sofort begriffen haben, um was es sich handelte. Damit ist sie anscheinend nicht fertiggeworden.«
»Das ist mir doch so was von egal.«
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Beatrice. Was wollte Eleonore?«
»Vielleicht mit mir abrechnen. Weil ich die Geschichte aufgeschrieben habe und veröffentlichen ließ.«
»Hm. Aber wieso haben Sie uns darüber so lange im Dunkeln gelassen? Während wir rätselten und eine Theorie nach der anderen aufstellten, verheimlichten Sie uns die Wahrheit über Ihr Buch. Wir fühlen uns getäuscht.«
»Mein Gott. Es war mir peinlich.«
»Sicher, das verstehe ich. Aber Sie können uns vertrauen. Niemand wird etwas davon nach außen tragen, das sollten Sie eigentlich wissen.«
Doris erwartete keine Antwort und beließ es dabei. Sie hatte sich Klarheit verschafft und hoffte, dass Beatrice dieses Mal die Wahrheit gesagt hatte. »Verraten Sie mir nur noch eins. Warum haben Sie Ihren eigenen Tod als Ende gewählt?«
»Weil ich gestorben bin. Innerlich, verstehen Sie?«
Doris nickte und schenkte der Frau mit dem Nasenverband ein freundliches Lächeln. »Ja, ich denke schon.«
»Ich frage mich, wie Eleonore an mein Buch gekommen ist«, sagte Beatrice nach einer Weile.
»Was soll daran so schwierig sein?«, meinte Doris. »Sie geht in eine Buchhandlung, stöbert umher und bekommt das Buch in die Hand, auf dem Ihr Name prangt. Natürlich wird sie es kaufen und aufmerksam lesen. Was Sie insbesondere über ihren Bruder schreiben, kann sie Ihnen, obgleich es die Wahrheit ist, natürlich nicht durchgehen lassen und beschließt, sich an Ihnen zu rächen. Der Brief dagegen ist nicht von ihr, da gebe ich Reinhold recht. Und schon gar nicht von der kleinen Backhaus, davon bin ich inzwischen auch überzeugt.«
Sie überlegte, ob sie es erwähnen sollte, aber dann entschied sie sich dafür. »Wussten Sie, dass Barbara adoptiert wurde?«
»Adoptiert?« Beatrice richtete sich ein wenig auf und machte ein überraschtes Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung. Weiß sie davon?«
»Ich weiß nicht. Hat sie darüber nie etwas gesagt?«
»Nein, nie.«
»Die Adoption könnte ein wichtiger Ansatzpunkt sein und bringt mich auf eine Idee«, sagte Doris stirnrunzelnd. »Reinhold sagte doch, dass ihre Eltern, falls sie das Buch gelesen haben, das stärkste Motiv hätten. Immerhin geht es um ein sexuelles Verhältnis zwischen Geschwistern. Darüber hinaus ist er in Deutschland strafbar. Für Hortensius und Charlotte Backhaus, er Pfarrer und sie fromme und ergebene Ehefrau, dürfte es ein Unding sein, dass ausgerechnet bei der Autorin dieses unerhörten Buches ihre liebliche Tochter ein und aus geht. Ihr den Umgang zu verbieten, würde eine Menge unangenehmer Fragen seitens des Kindes aufwerfen, auf die es keine vernünftigen Antworten gäbe, vorausgesetzt natürlich, man wollte ihr den Grund verschweigen. Wie ich schon sagte, ist Charlotte eine ausgesprochen gläubige Frau. Sicher würde sie sehr empfindlich reagieren, sollte ihre, ich nenne es mal göttliche Ordnung, gestört werden, denn Barbara ist ein Geschenk Gottes an sie.«
»Sagt sie das?«
»Oh ja. Als Barbara noch sehr klein war, hat Charlotte sie im Dorf umhergezeigt und im Beisein der Leute immer wieder Gott für die große Gnade gedankt, ihr, die keine Kinder bekommen konnte, doch noch ein Kind geschenkt zu haben. Sie wurde deswegen ziemlich belächelt. Als die Kleine heranwuchs, legte sich ihre Verzückung. Anscheinend hatte der Erziehungsalltag zu einer gewissen Ernüchterung beigetragen. Dennoch ist Barbara ihr Ein und Alles, und ich bin sicher, dass sie sich wie eine Löwin jedem in den Weg stellen würde, der versuchen sollte, sie ihr wegzunehmen.
»Meinen Sie, ich sollte den Kontakt zu Barbara abbrechen?«
»Tun Sie das bloß nicht. Dann müssten Sie ihr nämlich erklären, warum. Und Sie müssten Mänzelhausen sehr wahrscheinlich den Rücken kehren, um das arme Kind nicht noch mehr zu verstören.«
»Aber ich soll doch verschwinden.«
»Das werden Sie schön bleiben lassen. Wir sind Ihre Freunde und werden Sie beschützen. Mit Zähnen und Klauen, wenn’s sein muss.«
Beatrice schien zu überlegen, dann sagte sie: »Eigentlich habe ich Verständnis für Charlotte. Es ist völlig in Ordnung, dass sie sich um Barbara sorgt. Jede Mutter, die ihr Kind liebt, sollte das tun. Ich habe mein Kind verloren, weil ich die Gefahr nicht erkannte und nicht genug aufgepasst habe. Umso mehr mag ich die Kleine, und manchmal wünschte ich, sie könnte ganz bei mir sein.«
»Das behalten Sie besser für sich, denn wenn Charlotte davon erführe, hinge vermutlich bald ein zweiter Drohbrief an Ihrer Tür.«
»Sie glauben auch, dass Charlotte dazu fähig wäre?«
»Immerhin hätte sie ein Motiv. Und Reinhold läge richtig: Sie befürchtet, dass Sie ihr unschuldiges Mädchen mit unanständigen Schriften verderben könnten.«
»Deswegen sollte sie mich ermorden wollen? Ich habe doch keine Werbung für Inzest gemacht. Zudem war ich selbst Opfer dieser Affäre. Das muss sie, falls sie das Buch gelesen hat, doch begriffen haben.«
»Woher sollte sie das denn gewusst haben? Sie haben die Namen verändert, nirgendwo im Buch taucht eine Beatrice Walther auf. Für Charlotte sind Sie nichts weiter als eine anstößige Person, die sich mit Themen beschäftigt, an die man ihrem Glauben nach noch nicht einmal denken darf. Aber vorerst ist es ja nur eine Warnung, allerdings eine sehr ernstzunehmende.«
»Dann sagen Sie mir doch, was ich tun soll, Doris.«
»Sie tun gar nichts. Oder doch: Lassen Sie sich von Ihrem Zahnarzt schleunigst einen Termin geben. Die Lücke sieht einfach scheußlich aus.«