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Eine unerhörte Neuigkeit

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Auf dem Schloßinternat Hohenwartau war große Pause.

Über das bucklige, uralte Kopfsteinpflaster des Schloßhofes rannten, hüpften, jagten und stießen sich die kleinen Mädchen, während die älteren, kichernd oder in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, auf und ab spazierten.

Einige Schülerinnen der zwölften Klasse hatten sich die breite Rampe erobert, die schräg zum Burgtor hinaufführte. Hier saßen sie nun dicht nebeneinander, aufgereiht wie die Schwalben. Die meisten hatten den Kopf in den Nacken gelegt und blinzelten in den föhnblauen Himmel hinauf und zu den bayrischen Voralpen, auf deren Gipfeln über Nacht der erste, sehr weiße Schnee gefallen war. Sie genossen die wärmenden Strahlen der Herbstsonne, die Hunderte von großen und kleinen Fenstern des Schlosses aufblitzen ließ, während der Hof selber schon im Schatten lag.

Sie merkten nicht, daß sich unter ihren Mitschülerinnen eine sonderbare Unruhe auszubreiten begann. Die kleinen Mädchen, die eben noch getobt und gespielt hatten, rotteten sich in Gruppen zusammen, und auch die Spaziergängerinnen blieben stehen und tuschelten miteinander.

Kicki, ein zierliches Chinesenmädchen, Schülerin der Zwölften, kam um die Ecke gesaust und schrie: “Herhören, Kinder! Eine Riesenneuigkeit!”

Ihre Klassenkameradinnen fühlten sich unsanft aus ihren Träumen gerissen.

“Um Himmels willen, schrei nicht so”, mahnte Yvonne und bemühte sich, sie mit ihren vom Licht noch halb geblendeten blauen Augen beschwörend anzusehen. “Wir sind ja nicht taub!”

“Scheint mir aber doch so”, erwiderte Kicki keck, “sonst wärt ihr nicht die letzten, die davon erfahren!”

“Wie meinst du das?” fragte die braungelockte, sehr natürliche Helga ohne sonderliches Interesse.

“Na, seht euch doch mal um! Begreift ihr immer noch nicht, was passiert ist?”

Die muskulöse, sportlich durchtrainierte Ellen schwang sich elegant mit den Füßen auf die Rampe. “Hm, sieht aus wie ein Aufruhr im Bienenhaus”, stellte sie fest.

“Du hast es erfaßt!” bestätigte Kicki.

“Jetzt bitte ich dich, mach es nicht ganz so spannend, Kicki”, drängte Babsy, eine amerikanische Negerin, die mit den anderen schon seit Jahren auf Hohenwartau war. Ihre Eltern waren beide berühmte Sänger und in Europa engagiert.

Kicki hätte die anderen gerne noch länger auf die Folter gespannt, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. “Tweedy hat sich verlobt!” platzte sie heraus.

“Was?” rief Hannelore, die sich sonst immer viel auf ihre Erfahrung und ihre Seelenruhe zugute tat, ganz verblüfft.

Den anderen verschlug es die Sprache. Dr. Herbert Jung, genannt Tweedy, war zu Beginn des Schuljahrs als Lehrer für Deutsch und Englisch nach Hohenwartau gekommen, und es gab nicht eine unter den Schülerinnen der zwölften Klasse, die nicht mehr oder weniger heimlich für ihn geschwärmt hatte. Helga und Yvonne, die früher die besten Freundinnen gewesen waren, hatten sich sogar seinetwegen ernstlich zerstritten.

“Wollt ihr denn gar nicht wissen, mit wem?” fragte Kicki.

“Menschenskind, red endlich!” rief Margot. “Du machst uns noch wahnsinnig!”

“Dich?” fragte Kicki zurück. “Ich dachte immer, du wärst verlobt!”

“Das nimmt mir doch nicht das Recht, neugierig zu sein!” sagte Margot.

“Ganz bestimmt nicht”, mischte die rothaarige Uschi sich ein, ”ich gehöre auch nicht zu denjenigen, die sich Hoffnungen auf ihn gemacht haben, aber trotzdem …”

“Also los! Wer ist es?” Ellen sprang von der Rampe, packte die um einen Kopf kleinere Kicki bei den Schultern und schüttelte sie kräftig. “Sprich, oder du kannst was erleben!”

“Aua! Laß mich los, oder du erfährst kein Wort!”

Ellen lockerte ihren Griff.

Kicki holte tief Atem und sagte mit heller, überkieksender Stimme: “Trudchen!”

“Das ist nicht möglich!” Helga starrte sie fassungslos an. “Das ist doch einfach nicht möglich!”

“Ich glaub‘s auch nicht”, erklärte Yvonne, seit langem zum ersten Mal wieder einer Meinung mit der ehemaligen Freundin.

“So einen schlechten Geschmack kann Tweedy bestimmt nicht haben.”

“Trudchen könnte ganz gut aussehen, wenn sie sich nur etwas besser zurechtmachte”, wandte Uschi ein. “Zumindest hat sie eine tadellose Figur!”

“Ach was, darauf kommt es doch gar nicht an”, erklärte Margot. “Laßt euch mal was von einer erfahrenen Frau erzählen: Trudchen ist immerhin die Tochter des Direktors, und Tweedy kriegt nicht nur sie, sondern alles, was damit zusammenhängt, das ganze Internat mit allem Drum und Dran! Und für einen Lehrer ist das schon ein lohnender Happen!”

“Du meinst, er hat sie ihres Geldes wegen genommen?” Babsy rollte die blitzenden Augen. “Das wäre doch wirklich die größte Gemeinheit des Jahrhunderts!”

Sie diskutierten eifrig weiter, und nicht nur die Schülerinnen der zwölften Klasse, sondern auch die älteren und die jüngeren bis hinab zu den ganz neuen kannten heute nur das eine Thema: das Gerücht über Dr. Herbert Jungs Verlobung.

Es wurden Wetten darüber abgeschlossen, ob es wirklich stimmte oder nur eine Internatsente war. Niemand spielte mehr, niemand warf noch einen letzten Blick in ein Schulbuch, sondern alle standen in kleinen und großen Gruppen beieinander und besprachen das Ereignis.

Die Zwölfte konnte die Nachricht noch nicht glauben.

“Fragen wir doch einfach Tweedy, ob es wirklich stimmt”, schlug Yvonne vor.

“Unmöglich”, widersprach Uschi und bekam schon bei dem bloßen Gedanken an eine solche Kühnheit einen roten Kopf.

“Warum denn nicht? Das ist doch das allereinfachste”, behauptete Yvonne.

Ellen dämpfte ihr Selbstgefühl: “Gib nicht so an, du traust dich ja doch nicht!”

“Und außerdem”, gab Babsy zu bedenken, “woher sollen wir denn wissen, ob er uns die Wahrheit sagt. Wenn er uns bis heute an der Nase herumgeführt hat, dann ist ihm doch auch zuzutrauen, daß er uns auch weiter beschwindelt.”

“Das hat er nie getan”, versuchte Helga den geliebten Lehrer zu verteidigen, aber es kam nicht sehr überzeugend heraus; seit Kickis Eröffnung fühlte sie sich geradezu körperlich elend, so groß war ihr Schmerz.

“Natürlich hat er das!” widersprach Margot. “Er hat uns den Junggesellen vorgespielt, dabei war er in Wirklichkeit längst gebunden. Oder glaubt ihr etwa, daß er sich aus heiterem Himmel mit Trudchen verlobt hat?”

“Ganz bestimmt nicht!” rief Ellen. “Erinnert ihr euch, wie sie ihn damals, am ersten Schultag, bei seinem Auto begrüßt hat? Die beiden haben sich gekannt, bevor er hier ankam, und wahrscheinlich hat er überhaupt nur ihretwegen in Hohenwartau angefangen!”

“So ein Schuft!” stieß Uschi hervor.

“So ein elender, gemeiner Halunke!” zischte Yvonne.

“Aber vielleicht stimmt ja alles gar nicht”, wandte Helga verzweifelt ein. ”Vielleicht ist es nur ein dummes Gerücht. Ihr wißt doch, wieviel hier geredet und getratscht wird.”

“Somit wird mein Vorschlag wieder akut”, stellte Yvonne fest, “wir müssen ihn fragen.”

In diesem Augenblick kam Ilse, die Klassenbeste, angefegt, ein untersetztes Mädchen mit glanzlosem, strohblondem Haar und zahllosen Sommersprossen auf Nase und Stirn.

“Habt ihr schon gehört…” begann sie.

Hannelore winkte ab. “Ja, alles. Wir überlegen gerade, ob wir Tweedy fragen sollen, ob es wirklich stimmt.”

“Nein, wenn schon, dann sie!” erklärte Margot. “Wenn Trudchen ihn sich wirklich geangelt hat, dann wird sie viel zu stolz darauf sein, um es abzuleugnen.”

“Und wenn sie es ableugnet”, behauptete Helga mit zaghafter Hoffnung, “können wir sicher sein, daß es nur ein Gerücht ist.”

“Nur nicht so hastig!” warnte Ilse. “Es kommt auch darauf an, wie sie nein sagt, findet ihr nicht? Wir müssen sie genau beobachten, wenn wir die Wahrheit herausbringen wollen.”

”Sehr richtig”, stimmte Margot zu. ”Ich bin ausnahmsweise deiner Meinung. Jetzt nur noch eines: Wer hat das Herz, Trudchen zur Rede zu stellen?”

”Ich natürlich”, erwiderte Yvonne prompt. ”Ihr braucht mich gar nicht so anzustaunen. Was ist denn schon dabei? Schließlich ist Hohertwartau eine Privatschule, und das bedeutet, daß sie vom Geld unserer Eltern existiert. Wieso sollten wir da Angst vor ihr haben? Das heißt”, fügte sie mit einem boshaften Blick auf Helga hinzu, ”abgesehen von denjenigen, die gnadenweise als Stipendiatinnen hier sind.”

”Glaub nur nicht, daß du mich damit triffst”, parierte Helga, ”mir ist es lieber, ich verdanke den Aufenthalt auf Hohenwartau meiner Intelligenz als, wie gewisse andere, nur dem Geld der Eltern!”

”Bitte, nun zankt euch nicht schon wieder”, versuchte Babsy zu vermitteln, ”das sind doch olle Kamellen.”

”Angst haben wir ja auch nicht”, sagte Ellen nachdenklich, ”jedenfalls nicht in dem Sinne, daß wir fürchten, sie könnte uns beißen. Aber zwischen Mut und Unverschämtheit klafft eben doch eine erhebliche Lücke. Mir kommt es taktlos vor, so direkt zu fragen.”

Yvonne warf ihr blondes Haar in den Nacken. ”Na, wenn ihr meint, es gehört sich nicht, dann verzichten wir eben. Obwohl ich eigentlich nicht einsehe, warum.”

”Ich auch nicht”, erklärte Margot rasch. ”Frag sie nur, Yvonne, und hör nicht auf Ellens Meckerei. Wir anderen sind dir ja dankbar, daß du dich traust, nicht wahr? Du doch auch, Helga?”

”Ja”, gestand Helga ehrlich, ”ich möchte es auch wissen, und zwar so schnell wie möglich!”

Die letzte Stunde an diesem Tag war Handarbeit bei der Tochter des Direktors. Keinem der Mädchen entging es, daß sie einen funkelnagelneuen goldenen Ring mit einem kleinen Brillanten am Ringfinger der linken Hand trug. Alle warteten gespannt auf den großen Augenblick, da Yvonne fragen würde.

Aber in den ersten zehn Minuten ergab sich keine Gelegenheit, denn Fräulein Pförtner ließ sich des längeren und des breiteren über die katastrophale Unordnung im Handarbeitsschrank aus und versuchte, den Mädchen klarzumachen, daß Ordnung und Sauberkeit die grundlegenden Voraussetzungen für jede gute Handarbeit seien.

Endlich aber mußte sie doch einmal Luft holen, und Yvonne erhob sich langsam und mit Nachdruck.

”Na, was gibt es?” fragte Fräulein Pförtner, da Yvonne beim besten Willen nicht zu übersehen war.

”Ich habe nur eine kleine Frage …”

Die anderen Mädchen hielten den Atem an und ließen die Strickereien sinken.

”Kommen Sie mit Ihrem Muster nicht zurecht?”

”O doch, Fräulein Pförtner, es handelt sich um eine private Frage.”

”Dann stellen Sie sie mir, bitte, nach dem Unterricht. Ich stehe Ihnen im Konferenzzimmer zur Verfügung.”

”Danke, Fräulein Pförtner”, erwiderte Yvonne mit bewundernswürdiger Gelassenheit, ”aber es handelt sich um eine Frage, die nicht nur mich brennend interessiert.” Und rasch, ehe Fräulein Pförtner dazu kam, sie noch einmal zu unterbrechen, fügte sie hinzu: ”Stimmt es, daß Sie sich mit Doktor Herbert Jung verlobt haben?”

“Ja”, sagte Fräulein Pförtner nur, aber dieses eine kleine Wort schlug wie eine Bombe ein.

”Also doch!” stieß Yvonne hervor, plötzlich gar nicht mehr gelassen.

Fräulein Pförtner tat, als ob sie den Schock, den sie den Mädchen verpaßt hatte, nicht bemerkte. “Ja, Sie dürfen mir gratulieren“, erklärte sie lächelnd. “Die offizielle Verlobung wird zwar erst unter dem Weihnachtsbaum stattfinden, aber Doktor Jung wollte nicht mehr so lange warten. So haben wir gestern schon die Ringe getauscht.”

“Na dann, herzlichen Glückwunsch”, sagte Margot, aber es klang alles andere als begeistert.

Helga war es plötzlich, als wenn der ganze Raum sich erst langsam, dann immer schneller um sie zu drehen begänne.

”Helga, was haben Sie denn?” rief Fräulein Pförtner besorgt.

”Die Luft”, brachte Helga mühsam hervor, ”es ist so … so stickig!”

”Machen Sie die Fenster auf!”

Helga fühlte sich links und rechts gepackt und zu einem der geöffneten Fenster geschleppt. Die schneidend kalte Luft tat ihr gut. Sie atmete tief durch, und die Welt um sie herum kam zum Stillstand.

Aber der wehe, nie zuvor gefühlte Schmerz in ihrer Brust blieb und bohrte sich tiefer und tiefer.

Als Fräulein Pförtner nach der Stunde das Klassenzimmer verlassen hatte, sprang Yvonne auf einen der vorderen Tische.

”So leicht wollen wir es Tweedy nicht machen!” rief sie. ”Wir werden ihm einen Denkzettel verpassen! Wer ist dafür? Wer ist dagegen?”

”Dem tunken wir’s ein“, rief Kicki.

“Jawohl, der kann sich auf was gefaßt machen!” stimmte Babsy zu.

“Und wenn ich mir meine Noten verderbe, ich mache mit!” erklärte Ilse.

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