Читать книгу Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman - Marie Louise Fischer - Страница 5
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ОглавлениеDen Bruchteil einer Sekunde starrten sich Vater und Tochter durch das geöffnete Fenster des weißen Mercedes an.
Dann sagte Paul Reimers mit einer Stimme, die fremd in seinen eigenen Ohren klang: »Helga . . . du?«
Jetzt reagierte sie. »Was wollen Sie von mir?« stieß sie rauh hervor. »Ich kenne Sie ja gar nicht!«
Blitzschnell ging das Fenster in die Höhe. Der weiße Mercedes glitt davon.
Paul Reimers war es, als drehte sich die nächtliche Großstadtstraße um ihn. Er taumelte, schwankte zur Seite, suchte einen Halt. Aber um ihn war nichts, eine öde, gähnende Leere, die ihn zu verschlingen drohte.
Jemand packte ihn am Arm. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte eine unbekannte Stimme. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Paul Reimers atmete tief und klammerte sich an den Fremden. »Danke«, sagte er mühsam, »es ist nichts . . . nur eine kleine Übelkeit!« Er sah in das freundliche, besorgte Gesicht eines älteren Herrn.
Eine Frau, mit einem komischen kleinen Hut auf den weißen Locken, stand mehrere Meter entfernt. Sie schwenkte ungeduldig ihre Handtasche. »Laß doch den Kerl«, sagte sie schrill, »siehst du denn nicht, daß er betrunken ist?«
»Aber, Lilly, ich muß doch . . .« Der ältere Herr protestierte.
»Gar nichts mußt du, Otto! Komm endlich!«
Paul Reimers quälte sich ein Lächeln ab. »Danke«, sagte er, »es geht mir wirklich schon besser!«
»Na also!« Die Frau kam und zog ihren Begleiter fort.
Sie entfernten sich.
»Zu albern von dir, den Samariter zu spielen«, hörte Paul Reimers die Frau noch sagen.
Dann verschwanden sie aus seinem Gesichtskreis und seiner Erinnerung.
Er ging langsam weiter. Es war Helga, dachte er, ich kann mich doch nicht so täuschen. Ich kenne doch meine eigene Tochter!
Aber je länger er über das Unfaßbare nachgrübelte, desto stärker wurden die Zweifel an seiner eigenen Erkenntnis. Es war alles so unwahrscheinlich, so unglaublich. Wie sollte Helga zu einem so eleganten Wagen kommen? Sie konnte unmöglich so viel verdienen, und wenn es so wäre, dann hätte ihm seine Frau doch wohl davon erzählt.
Außerdem hatte Helga blondes Haar, und in den ganzen letzten Jahren hatte sie es kurz geschnitten getragen. Er erinnerte sich noch gut, als sie das erste Mal mit ihrer Kurzfrisur in Bingen aufgetaucht war. Vor sechs Wochen hatte er sie zuletzt gesehen, und er war ganz sicher, daß ihre Haare damals noch kurz gewesen waren. Die Unbekannte hatte lange kupferrote Locken gehabt. Natürlich, die Frauen ließen sich heutzutage das Haar färben. Aber es war doch unmöglich, daß es in ein paar Wochen so wachsen konnte. Auch die Augen waren anders gewesen, größer, faszinierender, der Mund üppiger.
Wie hatte er nur in dieser eleganten Frau seine eigene Tochter sehen können? Die Phantasie mußte ihm einen Streich gespielt haben, das war die einzige Erklärung – eine recht unglaubhafte Erklärung, denn Paul Reimers wußte nur zu gut, daß er ein nüchterner Mensch ohne große Einbildungskraft war.
»Wahrscheinlich«, sagte er sich, »habe ich wirklich zu viel getrunken, und das schwere Essen heute abend . . . Ich bin so etwas einfach nicht gewöhnt . . . und die vielen Reden! Irgend etwas muß bei mir ausgesetzt haben, sonst wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, den Wagen anzuhalten . . . Ja, in dem Augenblick muß bei mir schon etwas nicht in Ordnung gewesen sein. Wie wäre ich denn sonst auf die abwegige Idee gekommen, in Frankfurt ein Abenteuer zu suchen – ich, der ich mich ein ganzes Leben lang um Anstand, Ordnung und Korrektheit bemüht habe! Es muß das schlechte Gewissen gewesen sein, das mir einen Streich gespielt hat.«
Paul Reimers lief durch die nächtlichen Straßen und merkte nicht einmal, daß er halblaut mit sich selber sprach. Der Schock saß ihm noch in allen Gliedern.
Als er das kleine Hotel erreichte, in dem er und die meisten anderen Kursteilnehmer von der Stadtverwaltung aus untergebracht waren, hatte er sich zu der Überzeugung durchgerungen, daß er einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen sein mußte. Eine andere Erklärung war für ihn einfach nicht denkbar.
Und dennoch, eine tiefe Beunruhigung blieb. Wenn ich mir doch nur die Autonummer gemerkt hätte, dachte er, dann könnte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich muß Klarheit habe!
Dann fiel ihm ein, daß ja alles ganz einfach war. Er brauchte nur morgen in das Kaufhaus Maak zu gehen und mit Helga zu sprechen. Dann würde er alles erfahren.
Er nahm sich vor, seine Tochter gleich am nächsten Tag aufzusuchen. Und nachdem er sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, fühlte er sich entschieden besser.
»Helga in einem weißen Mercedes und mit kupferroten Lokken auf der Kaiserstraße in Frankfurt«, murmelte er, »wenn ich das zu Hause erzähle, werden sich alle totlachen! Das ist wirklich der Witz des Jahrhunderts!«
Aber sein Lächeln wurde zu einer schmerzlichen Grimasse, als sein Magen rebellierte.
Für Kitty gab es keinen Zweifel – sie hatte ihren Vater erkannt, und sie wußte, daß kein Irrtum möglich war. Das kalte Entsetzen saß ihr im Nacken, als sie mit zusammengebissenen Zähnen weiterfuhr. Um ein Haar hätte sie ein Rotlicht überfahren. Gerade noch im letzten Augenblick kam sie zum Stehen, und ihr Entsetzen wurde zur Panik. Ein Zusammenstoß mit der Polizei war genau das, was sie sich in ihrer Situation am wenigsten erlauben konnte.
Als die Ampel umschaltete, fuhr sie langsam und mit äußerster Konzentration weiter. Aber an der Hauptwache wendete sie nicht, wie gewöhnlich, um die Tour über die Kaiserstraße noch einmal zu machen, sondern sie bog in eine Nebenstraße ein und fuhr weiter, bis sie eine Parklücke fand. Sie war jetzt außerstande, ihrer nächtlichen Beschäftigung nachzugehen.
Sie parkte den Mercedes, stieg aus, schloß ab. Erst jetzt merkte sie, daß ihre Knie zitterten. Im Schein einer Straßenlaterne zog sie einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihr Aussehen.
Ihr Make-up war tadellos, aber ihre Haut war unter der Schminke blutleer. Ihre Augen zeigten einen verstörten, verängstigten Ausdruck.
Zum Davonlaufen sehe ich aus, dachte sie, als sie den Spiegel in ihre Handtasche zurückgleiten ließ.
Ihr Blick glitt die Häuserreihe entlang, und sie atmete auf, als sie wenige Meter entfernt auf der anderen Straßenseite ein Lokal entdeckte. Sie brauchte dringend eine Stärkung.
Sie überquerte die Fahrbahn, öffnete die schwere Tür und schlug den ledernen Vorhang zurück. Auf den ersten Blick sah sie, daß sie nicht in eines der üblichen Nachtlokale geraten war, sondern in ein gutes Restaurant. Die gediegene Garderobe, die dunkel getäfelten Wände, die schweren Teppiche drückten Seriosität aus. Aber das störte sie nicht, im Gegenteil. Es wäre ihr unangenehm gewesen, jetzt in die gewohnte Umgebung zu geraten, ein bekanntes Gesicht zu treffen.
Sie winkte der Garderobenfrau ab, die sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte, und schritt weiter. Der Wandspiegel warf ihre elegante Erscheinung – eine schlanke junge Dame mit kupferroten Locken in einem hellgrünen Komplet – zurück und stärkte ihr Selbstvertrauen.
Auch in den Gasträumen waren die Wände holzgetäfelt. Auf den blütenweißen Decken schimmerten Gläser, weißes Porzellan mit blauem Muster, und überall standen Blumen. Das Publikum war so gepflegt wie die Räumlichkeiten. Es gab keine Musik, man unterhielt sich gedämpft.
Einige Herren blickten auf, als Kitty eintrat, aber sie achtete nicht darauf. Im Augenblick stand ihr nicht der Sinn danach, Bekanntschaften anzuknüpfen. Selbstbewußt und mit hocherhobenem Kopf schritt sie geradeaus und war erleichtert, als sie einen freien Tisch fand.
Es wurde ihr nicht einmal bewußt, daß der Herr am Nebentisch, ein hochgewachsener blonder Mann in tadellosem hellgrauem Anzug, sie unter halb geschlossenen Lidern heraus fixierte.
Kitty setzte sich, zog die langen weißen Handschuhe aus, legte ihre Tasche vor sich auf den Tisch. »Einen Fernet Branca, bitte«, sagte sie zu dem herbeieilenden Ober, einem grauhaarigen Mann, der die Würde eines englischen Butlers zur Schau trug.
Sie öffnete ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger mit den langen, leuchtend lackierten Nägeln zitterten. Sie preßte die Lippen zusammen.
Mein Vater in Frankfurt, dachte sie, verdammt, hätte mich nicht jemand warnen können? Millionen Männer gibt es, und ausgerechnet er muß mir über den Weg laufen. So was kann auch nur mir passieren. Verdammt, wie soll es jetzt weitergehen? Ich kann mich nie mehr in Bingen blicken lassen, nie mehr. Es ist aus.
Ihre Lippen verzogen sich bei der Erinnerung daran, daß ihr Vater, der gestrenge, moralisch unantastbare kleine Provinzbeamte, offensichtlich Kontakt gesucht hatte. Aber diese Erkenntnis, die Zerstörung des Vaterbildes, das trotz ihres Lebenswandels bisher unangetastet geblieben war, trug nicht dazu bei, ihre Verzweiflung zu mildern.
Vielleicht hab’ ich’s von ihm, dachte sie, vielleicht war er seit jeher so und hat uns allen nur blauen Dunst vorgemacht!
Plötzlich tauchte ein ganz neuer Gedanke in ihr auf. Er wird nicht wagen, es Mutter zu erzählen, er kann’s nicht wagen! Ich hab’ ihn ja auf frischer Tat ertappt. Er wird es nicht riskieren, daß ich ihn bloßstelle. Ich habe ihn ja in der Hand!
Unwillkürlich ballte sie die Linke zur Faust, als wollte sie ihn zwischen ihren langen Fingern zerdrücken.
Sie zuckte zusammen, als der Ober sie ansprach. Er reichte ihr ein kleines silbernes Tablett, auf dem nichts lag als eine schmale Karte aus Büttenpapier.
Kitty sah ihn verständnislos an. »Was soll das? Ich hatte einen Fernet Branca bestellt . . .«
Mit unbewegtem Gesicht hielt ihr der Ober das Tablett unter die Nase. Sie nahm die Karte, las sie – und glaubte ihren Augen nicht zu trauen: »Sie werden gebeten, das Restaurant rasch und unauffällig zu verlassen!«
»Was soll das heißen?« sagte sie laut. »Was fällt Ihnen denn ein? So was ist mir noch nie passiert . . .«
Der Ober beugte sich zu ihr herab und erklärte flüsternd: »Diese Maßnahme ist keineswegs gegen Sie persönlich gerichtet. Die Direktion duldet keine alleinstehenden Damen. Ich hoffe doch, daß ich auf Ihr Verständnis rechnen kann!«
»Das ist eine Unverschämtheit!« sagte Kitty unbeherrscht, »rufen Sie mir Ihren Direktor hierher! Er soll mir das persönlich sagen, wenn er den traurigen Mut dazu aufbringt!«
Der alte Ober war ganz beleidigte Würde. »Aber ich bitte Sie, seien Sie doch nicht so laut!« mahnte er. »Die anderen Gäste werden ja schon aufmerksam! Sie werden doch keinen Skandal erregen wollen!«
Der blonde junge Herr vom Nebentisch hatte sich langsam erhoben. Er zog mit einer mechanischen Bewegung die weißen Manschetten, an denen Platinknöpfe schimmerten, aus den Ärmeln seiner Jacke und trat näher. »Würden Sie die Freundlichkeit haben, die Dame zu bedienen, Herr Ober«, sagte er scharf. »Sie steht unter meinem Schutz!«
»Ich bedauere außerordentlich, Herr Direktor.«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage!«
Der Ober wand sich vor Verlegenheit. »Bitte, verstehen Sie mich doch nicht falsch, Herr Direktor, aber ich habe strikte Anweisung . . .«
Der Blonde fiel ihm ins Wort. »Auch gut«, sagte er, »dann muß ich Sie bitten, meine Bestellung zu streichen!« Er warf mit lässiger Bewegung einen Geldschein auf den Tisch, verbeugte sich vor Kitty. »Gnädiges Fräulein, darf ich mir erlauben . . .«
Kitty war aufgesprungen, raffte ihre Handschuhe und ihre Tasche zusammen. »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte sie, »gehen wir irgendwohin, wo die Luft besser ist!«
Sie sah alle Blicke auf sich gerichtet, als sie und ihr Beschützer das Lokal verließen, aber das machte ihr nichts aus. Sie mußte an sich halten, sich nicht umzudrehen und jedem einzelnen der Gaffer die Zunge herauszustrecken. Sie fühlte sich nicht gedemütigt, sondern sie war ehrlich empört, und das Eingreifen des ritterlichen Fremden erfüllte sie mit Triumph.
Er eilte ihr nach, warf der Garderobenfrau seinen Schein auf den Tisch, riß ihr den Mantel fast aus der Hand. Dann öffnete er Kitty die Tür und ließ sie vorausgehen. Auf der Straße schob er seine Hand unter ihren Ellenbogen. »Bitte, gnädiges Fräulein, wohin darf ich Sie bringen? Sie werden mir doch die Freude machen, mit mir zusammen zu essen?«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie geziert. »Das alles ist mir . . . so furchtbar unangenehm!«
»Dieser Ober hat sich einfach unglaublich benommen!« empörte er sich.
»Wahrscheinlich hat er nur seine Pflicht getan«, widersprach sie heuchlerisch. »Ich . . . es ist sonst auch nicht meine Art, allein auszugehen. Aber . . . mir ist vorhin etwas Furchtbares passiert. Ich hätte beinahe einen Menschen angefahren, und da . . .«
Er war einen guten Kopf größer als sie und mußte sich etwas herabneigen, um ihr in die Augen zu sehen. »So etwas Ähnliches habe ich mir gleich gedacht. Sie wirkten vorhin ganz verstört.«
»Man hat es mir angesehen?« fragte sie erschrocken.
»Keine Angst, Sie sahen blendend aus.« Er lächelte. »Aber unter diesen Umständen kommt es natürlich gar nicht in Frage, daß Sie Ihren Wagen benutzen. Meiner steht gleich da vorn. Ich schlage vor, wir fahren ins ›Bukarest‹. Übrigens . . . ich hatte bisher keine Gelegenheit, mich vorzustellen . . .« Er verbeugte sich formell. »Heinz Schlüter-van Dorn.«
»Ich heiße Helga Reimers«, sagte sie und wußte selbst nicht, warum sie ihren bürgerlichen Namen nannte.
Eine gute Stunde später waren Kitty und Heinz Schlüter-van-Dorn bei französischem Champagner angelangt und nannten sich bei den Vornamen. Sie hatten Schaschlik am Spieß und Pilaw gegessen, zum Nachtisch kleine, sehr süße Honigkuchen und dazu würzigen roten Wein getrunken. Ein Zigeunergeiger spielte schmachtende Weisen, und Kitty fühlte sich glücklich und wie berauscht – nicht durch den Alkohol, sondern durch das Bewußtsein, von einem so gutaussehenden und finanzkräftigen Mann umworben zu werden.
Heinz Schlüter-van Dorn hatte ihr erzählt, daß er Industriemanager sei, von seinen großen Reisen quer durch Europa und die ganze Welt berichtet. Kitty war beeindruckter, als sie zugeben wollte. Von einem Mann wie Heinz Schlüter-van Dorn hatte sie ihr ganzes Leben geträumt.
»Zu schade, daß wir uns heute erst kennengelernt haben«, sagte er und spielte mit dem Stiel des Champagnerglases. »Morgen früh muß ich nach Paris und von dort aus auf einen Sprung nach London. Es ist noch nicht abzusehen, wann ich wieder in Frankfurt sein werde.«
Sie zwang sich zur Zurückhaltung. »Sie führen ein beneidenswertes Leben, finde ich.«
»Wie man’s nimmt. Wenn man eine gewisse Höhe erreicht hat, dann umweht einen eine kalte Luft. Man fühlt sich manchmal recht einsam.« Er sah sie an, stellte zum erstenmal eine direkte Frage: »Sie leben immer in Frankfurt?«
»Ja.« Sie spürte, er wartete darauf, daß sie etwas von sich erzählte, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Ich will nicht indiskret sein«, versicherte er sofort, »wenn Sie nicht über sich sprechen möchten . . .«
»Doch natürlich, nur . . . von mir gibt es nicht viel zu berichten.« Sie lächelte zaghaft. »Ich führe das langweilige Leben einer Tochter aus reichem Hause.«
Er hob die hellen Augenbrauen. »Ist das wirklich so langweilig?«
»Doch.« Sie seufze. »Bis zum Abitur war ich in einem sehr strengen Internat, und dann, als ich nach Hause durfte . . .« Sie rechnete blitzschnell nach, machte sich um zwei Jahre jünger. »Das war vor einem Jahr, ich war gerade neunzehn, mußte ich feststellen, daß Papa schon ganz feste Pläne mit mir hatte. Ich sollte den Sohn eines Geschäftsfreundes heiraten, André Colbert. Er war ein netter Junge, ich kannte ihn schon von Kindheit an. Aber ohne Liebe, nein, das war nicht das Richtige für mich. Ich weigerte mich, Papa wurde sehr böse, drohte mir mit Enterbung. Da bin ich bei Nacht und Nebel aus meinem Elternhaus fort.«
»Und jetzt sind Sie ganz auf sich allein gestellt?«
»Doch nicht ganz«, erwiderte sie. »Ich habe ein kleines Vermögen von meiner Großmutter geerbt, und dann . . . Ich stehe immer noch mit meiner Mutter in Verbindung. Aber sie hat wenig Zeit für mich. Gesellschaftliche Verpflichtungen, Sie kennen das ja sicher . . .« Sie zuckte die Schultern. »Nicht nur Sie sind einsam, Heinz . . .«
»Man sollte glauben, daß ein Mädchen wie Sie von Verehrern geradezu umwimmelt wäre.«
»Wo sollte ich jemanden kennenlernen? Ich gehe fast nie aus. All diese Parties . . . natürlich werde ich oft eingeladen, seit ich in Frankfurt bin . . . langweilen mich nur, dieses ganze verlogene gesellschaftliche Getue. Und in ein Lokal kann man ja als alleinstehende Dame nicht gehen. Sie haben selber miterlebt, was mir heute passiert ist.«
»Es gibt auch andere Gaststätten.«
»Ja, sicher. Da haben Sie recht. Aber unter zweifelhafte Mädchen möchte ich mich natürlich auch nicht gerade mischen.« Sie blickte ihn lächelnd an. »Sie sehen, es ist alles gar nicht so einfach für mich.«
Er streichelte sanft ihre Hand. »Nachdem ich das weiß, bin ich dem Zufall doppelt dankbar, der uns zusammengeführt hat.«
»Vielleicht sollte ich arbeiten«, sagte sie, »aber ich habe ja keinen Beruf gelernt. Und wenn man’s finanziell nicht nötig hat, fehlt eben auch der nötige Antrieb . . .«
»Das verstehe ich sehr gut, Helga!« Er hob sein Glas. »Trinken wir den letzten Schluck darauf, daß wir uns gefunden haben . . . und darauf, daß Sie von nun an nie mehr ganz allein sein werden. Das verspreche ich Ihnen!«
Sie sah in sein männliches, ein wenig kantiges Gesicht. Seine blauen Augen waren von überzeugender Ehrlichkeit.
»Ich danke Ihnen, Heinz«, sagte sie benommen.
Sie tranken. Helga spürte noch keine Müdigkeit. Sie war es gewohnt, nachts auf zu sein, für sie hatte der Abend gerade erst begonnen. Aber sie erhob keinen Einwand, als er zahlte und zum Aufbruch drängte.
»Sie ahnen nicht, wie leid es mir tut, daß wir schon Schluß machen müssen. Aber kurz nach sechs Uhr startet mein Flugzeug, das heißt für mich, um fünf Uhr aufstehen . . .«
Sie hielt die Hand vor den Mund, täuschte ein leichtes Gähnen vor. »Mir ist es auch lieber so«, log sie, »ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«
»Auf alle Fälle werde ich Sie noch nach Hause bringen«, erbot er sich, als sie auf die Straße traten. »Das werden Sie mir doch erlauben?«
Aha, dachte sie, jetzt kommt’s! Na, etwas anderes war ja auch nicht zu erwarten. Sie mußte sich zusammenehmen, um ihre Enttäuschung zu verbergen – er war so anders gewesen als alle anderen Männer, die sie bisher gekannt hatte.
»Eigentlich wollte ich mir ein Taxi nehmen und meinen Wagen holen«, sagte sie.
»Kommt gar nicht in Frage. Heute nacht lasse ich Sie nicht mehr ans Steuer«, erklärte er entschieden.
Sie gab ihren Widerstand auf, ließ sich von ihm zu seinem Jaguar dirigieren, wies ihn an, wie er zu fahren hatte. Sie sprachen kein privates Wort miteinander, die Stimmung zwischen ihnen war plötzlich gespannt.
»Halten Sie da vorn«, sagte sie, »ja, dort in dem neuen Appartementhaus wohne ich!«
Er stoppte, zog die Handbremse, stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür. »Die Adresse«, sagte er lächelnd, »werde ich mir merken . . .« Er beugte sich über ihre Hand, sie spürte den sanften Druck seiner Lippen. »Ich danke Ihnen für diesen wundervollen Abend, Helga . . . Sie haben mich sehr glücklich gemacht!«
Sie merkte, daß dies der Abschied sein sollte, und war wieder, diesmal auf andere Weise, enttäuscht. »Wollen Sie nicht noch eine Tasse Kaffee bei mir trinken?«
Er schüttelte den Kopf. »Sehr lieb von Ihnen, Helga, aber es ist schon sehr spät. Ich möchte Sie nicht kompromittieren.«
Für Sekunden verschlug es ihr den Atem. »Ja, natürlich«, stammelte sie dann, »daran habe ich gar nicht gedacht. Sie sehen, ich bin ein sehr unerfahrenes Mädchen.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Bleiben Sie, wie Sie sind, Helga!«
Dann wandte er sich ab, als müsse er sich mit Gewalt losreißen, stieg in seinen Wagen, winkte ihr noch einmal zu und brauste davon.
Sie sah ihm nach, fast schwindelig vor Glück. Dann trat sie entschlossen ins Haus.
Als Kitty die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, steckte sie, noch bevor sie die Tür aufstieß, die Hand durch den Spalt und knipste das Licht in der winzigen Diele an. Erst dann trat sie ein.
So machte sie es immer, wenn sie nachts allein in ihre leere Wohnung kam. Sie hatte Angst vor der Dunkelheit, Angst vor einer unbekannten Gefahr, die sie aus einer finsteren Ecke heraus anspringen könnte.
Schon oft hatte sie daran gedacht, sich eine Katze anzuschaffen, oder besser noch einen Hund, der sie schwanzwedelnd empfangen würde. Aber bisher hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Ein Tier brauchte Pflege, darüber war sie sich klar. Vielleicht gab es auch Schwierigkeiten wegen der Kunden.
Sie ging von Zimmer zu Zimmer, knipste sämtliche Lampen an und gab sich erst zufrieden, als auch der letzte Winkel erhellt war. Sie zog die Jacke ihres grünen Komplets aus, trat in das kleine Wohnzimmer, ließ sich in den riesigen, pompösen Ledersessel fallen, der zuviel Platz einnahm, aber ihrer Vorstellung von Luxus entsprach. Sie streckte die Beine aus, streifte die Pumps von den Füßen, legte sie auf den niedrigen Tisch.
Ihr Blick fiel auf den blankpolierten Sekretär, eine teure, aber schlechte Chippendale-Imitation, den sie praktisch nie benutzte. Dort standen neben einer riesigen Muschel, einem Mitbringsel von der Ostsee, ein Eiffelturm en miniature und ein rotberockter Wachsoldat mit Bärenmütze, jeweils unter einer Plastikglocke. Diese Souvenirs hatten für sie seit jeher die Verbindung mit der großen weiten Welt bedeutet, jetzt erinnerten sie sie an Heinz Schlüter-van Dorn, und unwillkürlich seufzte sie sehnsüchtig auf.
Sie fuhr sich mit beiden Händen in die Perücke, riß sie ab, warf sie auf einen Stuhl. Dann nahm sie die Beine vom Tisch, öffnete ihre Handtasche, zog das dicke Notizbuch heraus, schlug die Seite mit dem Datum von heute auf – sie war blank und leer, und das nach einer Nacht, in der sie so viel erlebt hatte.
Sie zückte den Kugelschreiber, überlegte eine Sekunde, dann kritzelte sie quer über die Seite: »Ihn kennengelernt!« Das Wörtchen »ihn« malte sie in dicken Druckbuchstaben. In die Rubrik, in die sie sonst ihre Einnahmen einzutragen pflegte, machte sie einen dicken Strich.
Die verspielte kleine Messinguhr über dem Sekretär holte schnarrend aus, um die volle Stunde anzuschlagen. Sie blickte auf. Es war genau zwei Uhr. So früh war sie schon seit langem nicht mehr zu Bett gekommen. Aber sie dachte gar nicht daran, noch einmal wegzufahren, ihren Mercedes zu holen und ihr Glück zu versuchen. Es war ihr, als ob sie einen Wendepunkt ihres Lebens erreicht habe, als würde von nun an alles anders werden.
Sie klappte das Notizbuch zu, steckte es in die Handtasche zurück und ging auf Strümpfen ins Bad. Gerade als sie die Klinke in der Hand hatte, klingelte es an der Wohnungstür – einmal kurz, einmal lang, dann wieder kurz. Es war das Zeichen, das sie mit ihrer Freundin Irma verabredet hatte.
Irma hatte die Wohnung im gleichen Stockwerk gegenüber. Sie war einige Jahre älter als Kitty und auch schon einige Jahre länger im Geschäft. Kitty verdankte ihr manchen Hinweis und einige Tricks, Irma war die einzige Kollegin, mit der sie wirklich befreundet war.
Aber heute nacht hatte sie keine Lust, Irma zu begegnen. Trotzdem kam ihr gar nicht der Gedanke, die Freundin nicht hereinzulassen. Sie zog eine kleine Grimasse des Abscheus und ging zur Wohnungstür. Irma platzte herein wie eine Rakete.
»Bist du allein, Kitty?« sprudelte sie los. »Das nenne ich Glück! Du, ich brauche dich dringend . . . Rate mal, wer drüben bei mir ist?«
Sie hatte offensichtlich getrunken. Ihre weißblonde Perücke war etwas verrutscht, ihre hellen Augen unter den angeklebten Wimpern blickten verschwommen. Sie war kleiner als Helga, zierlicher und wirkte aus entsprechender Entfernung immer noch wie ein Teenager. Aber ihre Haut war schlaff und großporig, scharfe Falten hatten sich zwischen Nase und Mund eingekerbt. Sie trug einen schwarzseidenen Hausanzug, der ihren Körper wie eine zweite Haut umspannte.
Kitty zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte sie uninteressiert.
»Bolle und Neumann! Was sagst du nun? Wir haben einen Riesenspaß zusammen . . . Komm doch auch rüber, dein Typ wird verlangt!«
Kittys Gleichgültigkeit war wie weggewischt. »Bolle und Neumann«, sagte sie, »das sind doch die . . .«
»Klar, mit denen wir damals die Gaudi hatten! Du, die lassen was springen, das weiß du doch! Anspruchsvoll sind sie zwar, das stimmt. Aber das ist endlich mal wieder ’ne Sache, die lohnt!
Von einer Sekunde zur anderen war Heinz Schlüter-van Dorn zu einem bedeutungslosen Schemen verblaßt. In Kittys grüne Augen trat der Ausdruck kalter Gier. »Du, ich komme!« sagte sie und leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Zieh dich erst um«, sagte Irma, »du willst dir doch nicht das gute Kleid ruinieren, und außerdem . . .« Sie zwinkerte vielsagend. »Wir müssen die beiden doch auf Touren bringen! Also, ich geh’ schon vor!«
»Ich bin in fünf Minuten drüben«, rief Kitty ihr nach, riß an ihrem Reißverschluß und ließ das grüne Kleid zu Boden sinken. »Aber ich warne dich . . . laß dir nicht einfallen, vorher abzukassieren! Ich laß’ mich nicht von dir übers Ohr hauen, klar?«
Irma blickte lächelnd über die Schulter zurück. »Nur keine Sorge, Kleines, wir machen halbe-halbe. Das versteht sich doch am Rande!« Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloß.
Kitty stieg aus dem Kleid, warf es im Schlafzimmer über einen bunt bezogenen Sessel, trat – in Strümpfen und schwarzem Büstenhalter – vor den Spiegel und stülpte sich die Perücke mit den langen kupferroten Locken auf.
Erst zwei Tage später hatte Paul Reimers Gelegenheit, das Kaufhaus Maak aufzusuchen. Es geschah in der Mittagspause, der einzigen Zeit, in der er sich freimachen konnte.
Er hatte seine Selbstsicherheit wiedergewonnen. Schon im hellen Licht des nächsten Tages war ihm das nächtliche Erlebnis wie ein wüster Alptraum erschienen. Seine Tochter in einem weißen Mercedes auf der Kaiserstraße? Das war etwas, was es nicht geben durfte und deshalb auch nicht geben konnte.
Als er durch einen der weit offenen Eingänge in das riesige Kaufhaus trat, war er ganz sicher, daß er in wenigen Minuten seiner Tochter gegenüberstehen und auch der letzte Schatten aus seinem Bewußtsein schwinden würde.
Was sein eigenes Verhalten in jener Nacht betraf, so verschanzte er sich hinter der Ausrede, daß es sich ja nur um einen Versuch gehandelt hatte, einen Spaß, den er bestimmt nicht bis zum Ende ausgekostet hätte. Vor sich selber war er schon wieder der brave und treusorgende Gatte und Familienvater geworden, für den er sich seit jeher hielt. Das Bollwerk seiner Rechtschaffenheit hatte geschwankt, aber es war stark genug, um auch ein Erdbeben zu überdauern.
Sehr gerade, mit steifem Rücken und hochgerecktem Hals, marschierte er zwischen den Verkaufsständen dahin, fest entschlossen, sich von dem überwältigenden Angebot an Waren aller Art – Handtücher, Bettwäsche, Strümpfe, Socken, Küchengeräte, Sportartikel und Parfümeriewaren –, über die sein Blick hinwegflog, nicht verwirren zu lassen.
»Alles Schund«, redete er sich ein, »mit so etwas zieht man nur den Leuten das Geld aus der Tasche!«
Aber er war dennoch und ganz gegen seinen Willen beeindruckt. Immerhin, daß Helga hier arbeitete, hieß schon etwas. Sie hatte mehr erreicht, als er nach ihren miserablen Schulzeugnissen erwartet hatte.
Es war schwer für ihn, sich zwischen all den Ständen mit Angeboten und Sonderangeboten zurechtzufinden. Aber sein Stolz verbot es ihm, jemanden zu fragen – auf keinen Fall wollte er für einen unbeholfenen Provinzonkel gehalten werden.
Endlich fand er, gleich neben der Rolltreppe, einen Hauswegweiser, der ihm weiterhalf. »Schmuckwaren, Parterre«, las er und wußte jetzt wenigstens, wo er suchen mußte.
Er marschierte weiter, die Hände auf dem Rücken. Kinder liefen ihm zwischen die Beine, Frauen stießen ihn an mit ihren Paketen. Dann entdeckte er den Stand mit den Schmuckwaren – einen gläsernen Ladentisch, unter dessen Platte auf schwarzem Samt glitzernde Broschen, Ringe, Ketten und Colliers ausgebreitet lagen. Auf einem Ständer hingen vielfarbige Ketten.
Hinter dem Ladentisch standen zwei Mädchen und unterhielten sich. Die eine war groß, schwarzhaarig, sie lachte mit breitem Mund und kräftigen weißen Zähnen. Von der anderen sah er nur den Rücken. Sie war schmal, mit kurzgeschnittenem aschblondem Haar.
Helga! durchfuhr es ihn, und die ungeheure Erleichterung, die er in dieser Sekunde empfand, erfüllte ihn fast mit Scham. Er unterdrückte das Lächeln, das schon auf seinen Lippen lag-nein, er durfte Helga auf keinen Fall überschwenglich begrüßen. Dazu lag wirklich kein Grund vor. Immerhin blieb die unerhörte Tatsache, daß sie es nicht für nötig gehalten hatte, ihren Eltern ihre Adresse anzugeben.
Er trat auf die beiden Mädchen zu. Die Schwarzhaarige mit dem breiten Mund wurde auf ihn aufmerksam und stieß ihre Kollegin an. Beide fuhren auseinander und wandten sich ihm zu. Paul Reimers erkannte, daß er sich wiederum geirrt hatte. Die blonde Verkäuferin war nicht Helga, sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Tochter.
Das Blut hämmerte in seinen Schläfen. Mit Anstrengung hielt er die Worte zurück, die ihm schon auf der Zunge gelegen hatten. Einen Atemzug lang war er aus dem Konzept gebracht.
»Sie wünschen, mein Herr?« fragte die Blonde mit einem berufsmäßigen Lächeln.
»Ich . . . ich suche meine Tochter«, brachte Paul Reimers mühsam heraus.
Die beiden Mädchen wechselten einen raschen Blick.
»Sie heißt Helga Reimers«, erklärte er mit Nachdruck, »und sie muß hier arbeiten.«
»Im Verkauf?« fragte die Schwarze.
»Natürlich im Verkauf«, sagte er gereizt. »Wo denn sonst?«
Das Lächeln der Blonden wurde amüsiert. »War ja nur ’ne Frage«, sagte sie. »Hier bei Maak gibt es auch jede Menge Büropersonal, Packerinnen, Dekorateurinnen und so weiter. Aber Sie sind ganz sicher, daß Ihre Tochter als Verkäuferin arbeitet?«
»Ja, und zwar hier . . .« Paul Reimers trommelte auf die gläserne Theke. »Sie verkauft Schmuckwaren!«
Wieder wechselten die beiden Mädchen einen Blick.
»Aber das müßten wir doch wissen«, sagte die Schwarze. »Kennst du eine Helga Reimers, Susi?«
Die Blonde schüttelte den Kopf.
»Vielleicht gibt es noch einen anderen Stand mit Schmuckwaren im Haus?« fragte Paul Reimers.
»Ausgeschlossen«, erwiderte Susi entschieden.
»Und wenn Sie sich nun in der Adresse geirrt haben?« gab die Schwarze zu bedenken. »Vielleicht arbeitet Ihre Tochter bei Karstadt oder bei . . .«
»Nein. Im Kaufhaus Maak. Ich bin ganz sicher.«
»Ja dann . . .« Die Schwarze legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Dann erkundigen Sie sich doch am besten mal bei der Personalabteilung! Die ist da hinten, im Seitenflügel, hinter der Milchglasscheibe, wo steht: Für Unbefugte ist der Eintritt verboten!«
»Warten Sie, da vorn kommt die Abteilungsleiterin«, rief die Blonde und lief ein paar Schritte vor. »Fräulein Lichnowsky!«
Fräulein Lichnowsky war eine Frau Anfang der Dreißig. Sie hatte das selbstbewußte Auftreten einer Junggesellin, die etwas erreicht hat und sich ihres Wertes bewußt ist.
»Der Herr da«, erzählte Susi, während sie neben ihr zurücktrippelte, »möchte eine Helga Reimers sprechen! Er behauptet, sie hätte ihm gesagt, sie würde hier bei uns arbeiten . . . bei den Schmuckwaren!«
Fräulein Lichnowsky musterte Paul Reimers durchdringend aus scharfen grauen Augen. »Guten Tag, mein Herr«, sagte sie ohne Wärme.
Paul Reimers beeilte sich, sich noch einmal vorzustellen.
»Ach so«, sagte Fräulein Lichnowsky, »Sie sind der Vater . . .« Sie scheuchte die beiden Mädchen mit einer Handbewegung an ihren Stand zurück, trat ein paar Schritte beiseite und wartete ab, bis Paul Reimers ihr nachgekommen war.
»Tut mir sehr leid, Herr Reimers«, sagte sie dann mit leiser Stimme, »Ihre Tochter arbeitet nicht mehr bei uns. Schon lange nicht mehr. Sie ist . . . also, das war vor etwa einem Jahr . . . entlassen worden. Nicht daß etwas Besonderes gegen sie vorgelegen hätte. Aber sie kam meist unausgeschlafen zur Arbeit, war hochfahrend und interesselos. Bei dem derzeitigen Personalmangel verzichten wir nicht gern auf eine Kraft, aber schließlich müssen wir auch auf den Ruf unseres Hauses Rücksicht nehmen. Sie werden verstehen.«
»Ja«, sagte Paul Reimers und fühlte sich zutiefst gedemütigt.
»Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt arbeitet und was sie tut«, sagte Fräulein Lichnowsky. »Vielleicht können Sie bei der Personalabteilung ihre alte Adresse erfahren. Aber ich bezweifle, ob Ihnen das etwas nützen wird. Mädchen dieser Art sind ja meist nicht sehr seßhaft.«
Paul Reimers zuckte zusammen, als habe er eine Ohrfeige bekommen. »Danke.«
»Am einfachsten ist, wenn Sie sich ans Einwohnermeldeamt wenden«, erklärte Fräulein Lichnowsky, »dort können Sie jederzeit erfahren, ob . . .«
Paul Reimers ertrug es nicht länger. Er wartete nicht ab, bis die Abteilungsleiterin ausgesprochen hatte, sondern drehte sich brüsk um, mitten im Satz, ließ sie stehen und ging davon.
Er glaubte, die Blicke der beiden Verkäuferinnen und ihrer Vorgesetzten geradezu in seinem Rücken zu spüren, aber er hielt sich kerzengerade, den Kopf erhoben. Wenn er schon ein geschlagener Mann war, so sollte ihm doch niemand anmerken, wie hart ihn diese Niederlage traf.
Paul Reimers wurde am Samstagabend zu Hause erwartet, und seine Frau hatte alle Vorbereitungen getroffen, die sie für diese Gelegenheit notwendig hielt. Sie hatte seine Abwesenheit zu einem gründlichen Hausputz benützt. Die alten Möbel waren auf Hochglanz poliert, die Gardinen gewaschen. Ein Strauß Frühjahrsblumen stand auf dem Wohnzimmertisch. Ein Kartoffelauflauf, Vaters Lieblingsessen, wartete nur darauf, in das Backrohr geschoben zu werden. Bestimmt hatte er in der ganzen Zeit in Frankfurt nichts Anständiges zu essen bekommen. Man wußte ja, was man in den billigen Lokalen heutzutage vorgesetzt bekam, und um in ein teures Restaurant zu gehen, war Vater doch viel zu sparsam.
Geschäftig lief Frau Reimers hin und her. Sie hatte sich sogar die Zeit genommen, zum Friseur zu gehen, und zu Ehren des Tages den schwarzseidenen Unterrock, Helgas Geschenk, angezogen – nur schade, daß er unter dem guten geblümten Kleid gar nicht zur Geltung kam.
Karin und Rolf beobachteten die Tätigkeit ihrer Mutter mit amüsierter Nachsicht. Sie fühlten sich erst betroffen, als Frau Reimers mit aller Entschiedenheit erklärte, daß beide heute abend zu Hause zu bleiben hätten.
»Vater war eine ganze Woche fort«, sagte sie, »er hat bestimmt Sehnsucht nach euch gehabt. Und er hat das Recht, wenigstens an diesem einen Abend seine Familie beisammen zu finden!«
Rolf, der aus Erfahrung wußte, was die Glocke geschlagen hatte, wenn seine Mutter diesen bestimmten Ton anschlug, ergab sich in sein Schicksal. »Schon gut, Mutter«, sagte er friedfertig. »Reg dich doch nicht auf . . . klar, wir bleiben. Ist ja Ehrensache!«
Karin gab sich nicht so schnell geschlagen. »Ich denke ja gar nicht daran!« protestierte sie. »Das ist ja eine Zumutung . . . gerade heute, wo ich mit André verabredet bin!«
»Wann bist du das denn nicht?« spottete Rolf und duckte sich eiligst, um einer Ohrfeige seiner Schwester zu entgehen.
»Du hast die ganze Woche gewußt, daß Vater heute zurückkommt«, sagte Frau Reimers eisern, »du hättest eben für heute abend keine Verabredungen treffen sollen. Übrigens bin ich überzeugt, daß André durchaus versteht . . .«
»Ich kann ihn doch nicht einfach versetzen!«
»Warum nicht? Schließlich ist es doch auch schon mal vorgekommen, daß André nicht zu einer Verabredung erschienen ist!«
»André ist ein Geschäftsmann, er hat viel zu tun . . . Das läßt sich doch gar nicht vergleichen . . .«
»Doch«, widersprach Frau Reimers, »auch du hast Verpflichtungen deiner Familie gegenüber. Und du kannst erwarten, daß er das gleiche Verständnis dafür aufbringt wie du für –« Sie hielt mitten im Satz inne, denn sie hörte den Schlüssel in der Wohnungstür.
»Da kommt Vati!« schrie Rolf und stürzte in den düsteren Flur hinaus.
»Schon?« fragte Frau Reimers verwirrt. »Und ich dachte . . . na, um so besser!« Sie lächelte ihre Tochter an, sagte begütigend: »Vielleicht kannst du dann nachher doch noch fort, Karin, ich will dir ja nicht den Spaß verderben. Nun setz aber ein anderes Gesicht auf, ja?«
Auch sie wollte zur Begrüßung auf den Flur hinaus, aber da kam Rolf schon zurück. »Dicke Luft!« flüsterte er mit Verschwörermiene, »Achtung, äußerste Vorsicht! Gefahrenstufe eins!«
»Du machst Spaß«, sagte Frau Reimers ungläubig. Aber als ihr Mann eintrat, sah sie sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie kannte ihn seit beinahe 25 Jahren, und sie wußte nur zu gut, was die verkniffenen Lippen, die steile, tiefe Furche auf der Stirn zu bedeuten hatten.
Dennoch machte sie den zaghaften Versuch, die Situation zu überspielen. »Paul«, sagte sie, »wie schön, daß du endlich wieder da bist! Es . . . es war sehr einsam ohne dich und . . .« Sie bot ihm die Wange zum Kuß, spürte die flüchtige Berührung seiner kalten Lippen.
Auch Karin begrüßte den Vater.
»Du bist sicher hungrig, Paul«, sagte Frau Reimers. »Wir können in einer Stunde essen . . . oder soll ich lieber erst Kaffee machen? Wir könnten den Sonntagskuchen anschneiden.«
Die Explosion kam ohne Vorbereitung. »Essen, essen, essen!« brüllte Paul Reimers. »Etwas anderes hast du nicht im Kopf! Kümmere dich lieber um deine Kinder, anstatt ein solches Theater mit deiner ewigen Kocherei zu machen!«
Anna Reimers schluckte. »Natürlich, du hast recht, Paul, es war dumm von mir! Entschuldige, bitte, ich . . . ich bin einfach ein bißchen nervös . . .«
»Von was denn, möchte ich wissen?«
Unerwartet kam Karin der Mutter zu Hilfe. »Es war bestimmt furchtbar anstrengend für dich, Vati«, sagte sie schmeichelnd. »Nun setz dich doch mal erst . . . Erzähl uns, wie ist es mit dem Kurs gegangen?« Sie bugsierte den Vater in seinen Lieblingssessel, schwang sich selber auf die Lehne und legte den Arm um seine Schulter.
Frau Reimers schöpfte neuen Mut. »Ja, und wie geht es Helga?« fragte sie. »Wart ihr mal zusammen aus? Du hast sie doch bestimmt getroffen und –«
Er unterbrach sie hart. »Nein!«
»Aber, Paul, ich hatte dich doch so gebeten . . .«
»Ich war im Kaufhaus Maak, wenn du das meinst. Aber dort arbeitet sie nicht mehr. Sie ist entlassen worden, schon vor mehr als einem Jahr. Wegen Faulheit und Unfähigkeit.«
Frau Reimers war totenblaß geworden. Sie rang nach Luft, ihre Lippen zitterten.
»Und damit«, erklärte Herr Reimers mit Nachdruck, »ist dieses Thema endgültig erledigt. Ich wünsche Helga nicht mehr zu sehen, ich verbiete hiermit, daß sie meine Wohnung auch nur ein einziges Mal noch betritt. Sie ist für mich und für euch gestorben . . . Habt ihr mich alle verstanden?«
»Aber, Paul, ich bitte dich . . .«
»Schluß«, donnerte er, »Ende der Debatte. Ich habe zu arbeiten.«
Karin stand auf. »Na, dann darf ich mich ja wohl zurückziehen«, sagte sie, nahm ihre Mutter rasch in die Arme und küßte sie auf beide Wangen. »Mach dir nichts draus, Mutti, so was Ähnliches habe ich seit langem kommen sehen!«
»Bitte, geh du auch, Rolf«, sagte Frau Reimers tonlos. »Laß Vati und mich allein!«
Paul Reimers sah seine Frau an, und sein Blick wurde milder. »Vielleicht ist es nicht allein unsere Schuld, Anna«, sagte er. »Wir hätten sie eben nicht nach Frankfurt gehen lassen sollen. Aber schließlich war sie groß genug. Jedenfalls läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Du mußt dich damit abfinden.«
In Anna Reimers’ Augen standen Tränen. »Aber, Paul, sie ist doch unser Kind, wir können sie doch nicht einfach . . . Wir müssen uns um sie kümmern! Vielleicht hat sie Sorgen, sie sah immer so blaß aus! Mein Gott, das arme, arme Mädchen!«
Paul Reimers dachte an den weißen Mercedes und war nahe daran, alles zu sagen. Aber er tat es nicht. Es gibt Dinge, die der Mensch nicht einmal vor sich selbst wahrhaben will.
»Sie hat uns belogen und betrogen«, sagte er, »begreif das doch endlich! Sie hätte ja unsere Hilfe haben können, jederzeit. Wir hätten ihr hier in Bingen bestimmt eine neue Stellung verschafft, wenn sie –«
»Vielleicht hat sie sich geschämt«, sagte Frau Reimers leise.
»Man schämt sich nur dann, wenn man etwas zu verbergen hat!« Herr Reimers stand auf. »Ich habe keine Lust, länger mit dir darüber zu reden. Das führt zu nichts. Ich will nichts mehr darüber hören. Der Fall ist für mich erledigt.«
»Aber . . . sie war doch immer so ein gutes Kind!«
»War sie das wirklich? Kennst du sie so genau?« Herr Reimers trat dich auf seine Frau zu. »Du hast dir doch immer etwas vorgespiegelt. Mach die Augen auf, sieh deine Tochter, wie sie wirklich ist!« Er zog einen kleinen Zettel aus der Jackentasche – den Zettel mit Helgas Adresse, die er sich beim Einwohnermeldeamt hatte geben lassen, ohne dann den Mut aufzubringen, weiter nach ihr zu forschen. »Da! Das schenke ich dir! Damit du wenigstens weißt, wo deine Tochter lebt!«