Читать книгу Das Herz einer Mutter - Unterhaltungsroman - Marie Louise Fischer - Страница 6
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ОглавлениеFür Anna Reimers war eine Welt zusammengebrochen. Sie war weit davon entfernt, die wirklichen Zusammenhänge auch nur zu ahnen. Es fiel ihr schwer genug, zu begreifen, daß Helga nicht mehr im Kaufhaus Maak arbeitete, und selbst diese Erkenntnis wollte weder ihr Herz noch ihr Verstand wahrhaben.
Sie hatte keinen Grund, an den Worten ihres Mannes zu zweifeln, und dennoch . . . Immer wenn sie an ihre älteste Tochter gedacht hatte, und das war tagtäglich viele Male geschehen, hatte sie sie hinter dem Ladentisch der Schmuckwarenabteilung gesehen, adrett gekleidet, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, wie sie geduldig oder leicht gereizt – Helga war schließlich kein Engel! – schwierige Kunden zufriedenstellte.
Zwar war Frau Reimers nie in Frankfurt gewesen, hatte das Kaufhaus Maak nie betreten, aber Helga hatte doch immer alles so lebendig geschildert. Noch bei ihrem letzten Besuch hatte sie eine amüsante Geschichte von einem jungen Mann erzählt, der bei ihr Eheringe erstehen wollte und dem sie nur mühsam begreiflich machen konnte, daß im Warenhaus kein echter Schmuck geführt wurde.
Und das alles sollte erlogen sein? Ein Jahr, mehr als ein Jahr, sollte Helga ihr eine Existenz vorgegaukelt haben, die mit ihrem wirklichen Leben gar nichts zu tun hatte? Und warum nur? Warum?
Frau Reimers fiel es nicht schwer, Entschuldigungen für ihre Tochter zu finden. Natürlich hatte sich das Mädchen geschämt weil man sie entlassen hatte. Sie hatte den Zorn des Vaters gefürchtet, die Eltern nicht enttäuschen wollen. Aber diese Entschuldigungen boten keine wirkliche Erklärung. Frau Reimers war klug genug, das einzusehen. Inzwischen mußte Helga doch längst wieder eine andere Stellung gefunden haben. Wenn sie sich schon schämte, die Wahrheit zuzugeben, wäre es doch viel einfacher gewesen, zu behaupten, sie hätte ihre Stellung bei Maak freiwillig aufgegeben, weil ihr der neue Arbeitsplatz mehr zusagte.
Aber zu lügen, immer wieder zu lügen, mit offenen Augen und ohne eine Spur von Verlegenheit, nein, das überstieg das Fassungsvermögen der Mutter. Sie hatte das quälende Gefühl, daß sich ein schreckliches Geheimnis hinter alldem verbarg, und es kam ihr auch vor, als ob ihr Mann mehr wußte, als er sagte – aber was steckte dahinter? Frau Reimers Phantasie wurde nur von eigenen Erlebnissen gespeist; sie reichte nicht in eine Welt, die ihr so fern lag wie das Leben auf einem anderen Stern.
In den nächsten Tagen versuchte sie immer wieder, das Gespräch auf Helga zu bringen. Aber sobald sie auch nur eine Andeutung in dieser Richtung machte, stand Paul Reimers auf und verließ das Zimmer, auch wenn sie mitten in einer gemeinsamen Mahlzeit waren. Sie mußte einsehen, daß er entschlossen war, seine Drohung wahr zu machen – für ihn existierte Helga nicht mehr.
Anna Reimers hatte sich in all den Jahren ihrer Ehe noch nie so einsam gefühlt. Verstand Paul denn nicht, daß sie ihre Tochter nicht einfach aufgeben konnte? Ihre Älteste, die sie in so schweren Zeiten geboren, die ihr so viel Freude geschenkt, so viel Sorgen bereitet hatte!
Das Gefühl unendlicher Einsamkeit verstärkte sich noch durch die Gleichgültigkeit ihrer anderen Kinder.
»Hör doch endlich damit auf, Mutti«, sagte Karin, als Paul Reimers wieder einmal mit steinernem Gesicht zu seinem Hut gegriffen und die Wohnung verlassen hatte. »Das wird doch wirklich langsam zu dumm. Vater will einfach nicht darüber reden, begreifst du das denn nicht?«
Und Rolf sagte: »Reg dich nicht auf, Mammutschka! Du kennst doch Vati. Lange hält er das sowieso nicht durch. Laß ihn doch in Ruhe, dann kommt alles ganz von selbst wieder in Ordnung.« Er erklärte das auf seine nette Art, die Frau Reimers sonst immer gut getan hatte. Jetzt aber spürte sie nur seine grenzenlose Verständnislosigkeit und hatte plötzlich das Gefühl, einem Fremden gegenüberzusitzen, dem fremden Sohn eines fremden Mannes.
Sie stürzte aus dem Zimmer, weil sie ihren Kindern nicht das Schauspiel ihrer Tränen und ihrer Verzweiflung bieten wollte.
Es gab für Anna Reimers nur einen einzigen Trost: Sie hatte Helgas Adresse. Sie bewahrte den Zettel des Einwohnermeldeamtes, den ihr Mann ihr im Zorn hingeschleudert hatte, wie eine Kostbarkeit auf. Mehr als einmal war sie nahe daran, Helga zu schreiben. Aber dann unterließ sie es doch wieder. Wenn Helga sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht hinein belogen hatte, wieviel leichter würde es ihr fallen, einen Bogen Papier mit Lügen zu bedecken.
Nein, ein Brief konnte jetzt nichts mehr helfen. Sie mußte Helga sehen, mit eigenen Augen, wie sie lebte, was sie tat, wie es ihr ging. Sie mußte es wissen, sonst würde sie keine ruhige Minute mehr haben.
Natürlich wagte sie nicht, mit ihrem Mann über diesen Plan zu sprechen. Sie war sich darüber klar, daß sie eine Lüge erfinden mußte, um wenigstens für zwei Tage von Bingen fortzukommen. Ihr Kummer verdoppelte sich noch bei diesem Gedanken. Zum erstenmal in ihrem Leben würde sie ihren Mann hintergehen. Aber es half nichts. Er zwang sie ja dazu. Es blieb ihr keine andere Wahl.
Während Anna Reimers ihrer gewohnten Tätigkeit nachging, putzte, wusch, stopfte, kochte und einkaufte, zerbrach sie sich unentwegt den Kopf über dieses Problem, das sie bis in die Nächte hinein verfolgte.
Endlich kam ihr eine Idee. Sie hatte nur wenige Stunden geschlafen, war früh erwacht, als der Morgen erst grau vor dem Fenster heraufdämmerte. Sie wagte sich nicht zu rühren, um ihren Mann nicht zu stören. Mit brennenden Augen starrte sie an die Zimmerdecke, da kam ihr ein Gedanke.
In den nächsten Tagen hatte ihre Schwester Bertha, die in Hilden verheiratet war, Geburtstag. Das war ein guter Vorwand. Seit Monaten hatte sie ihre Schwester nicht gesehen, aber sie standen in enger brieflicher Verbindung. Paul würde keinen Verdacht schöpfen, wenn sie erklärte, Bertha besuchen zu wollen – und er würde bestimmt auch nicht auf die Idee kommen, sie zu begleiten, denn er schätzte die Familie ihrer Schwester nicht. Berthas Mann, ein gelernter Bäcker, hatte es vorgezogen, in die Fabrik zu gehen, wegen des besseren Verdienstes und der angenehmeren Arbeitszeit. Paul hatte ihm dieses »Absinken ins Proletariat«, wie er es nannte, nie verziehen.
Anna Reimers mußte an sich halten, um ihren Mann nicht zu wecken. Am liebsten hätte sie sofort mit ihm darüber gesprochen. Aber sie lag starr und steif mit gefalteten Händen. Sie kannte ihn nur zu gut. Sie durfte nichts überstürzen, ihn auf keinen Fall verärgern, sonst war alles verloren.
Als der Wecker klingelte, fuhr sie hoch. Sie konnte es nicht begreifen, aber sie war tatsächlich noch einmal eingeschlafen.
Sie legte ihre Hände auf die Schulter ihres Mannes und rüttelte ihn leicht. »Paul, Paul . . . es ist Zeit! Du mußt aufstehen!«
Er ächzte laut.
Sie sprang aus dem Bett, ließ den Wecker weiter läuten, ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Dann klopfte sie gegen die Türen der Kinder. Aber sie ließ sich nicht wie sonst Zeit, sich zu vergewissern, ob sie wirklich wach geworden waren, sondern lief ins Schlafzimmer zurück.
Paul Reimers saß auf der Bettkante, den Kopf in die Hände gestützt. Sein Gesicht war fahl vor Müdigkeit. Er wirkte in dem viel zu weiten Schlafanzug bemitleidenswert mager.
»Paul«, sagte Frau Reimers so beiläufig wie möglich, »mir ist heute nacht ein Gedanke gekommen! Übermorgen hat doch Bertha Geburtstag . . . Wollen wir da nicht zusammen nach Hilden fahren? Sie würde sich bestimmt sehr, sehr freuen.«
Er gähnte. »Warum?«
»Aber Paul!« Sie zwang sich zu einem kleinen Lachen. »Sie hat uns doch so lange nicht mehr gesehen!«
Er reckte sich, stand auf. »Fahr du von mir aus, wenn du gern möchtest. Mich laß gefälligst mit solchen Geschichten in Frieden . . .« Er angelte nach den Pantoffeln, schlurfte ins Bad.
Sie lief hinter ihm her. »Du müßtest mir einen kleinen Zuschuß geben, Paul. Für die Fahrt hätte ich noch genug, aber ich muß Bertha doch schließlich irgend etwas mitbringen.«
»Ein Narr, der mehr gibt, als er hat . . .« Paul Reimers starrte in den Spiegel über dem Waschbecken, fuhr sich mit der Hand über seine unrasierte Wange.
»Paul!« sgte sie bittend.
»Ich kann dir nicht helfen. Wenn du es dir nicht leisten kannst, mußt du eben drauf verzichten. Ich halte das Ganze sowieso für eine Kateridee.«
Anna Reimers gab nicht auf. »Dann werde ich eben ohne ein Geschenk zu Bertha fahren. Aber was macht das für einen Eindruck!«
Er prüfte die Klinge seines Rasierapparates. »Vor der Fabrikarbeitergattin brauchst du dich bestimmt nicht zu genieren«, sagte er verächtlich.
Das Frühstück wurde eine einzige Hetze. Rolf war natürlich nicht rechtzeitig aufgestanden und schlang im Stehen sein Brötchen hinunter. Karin war wieder einmal beleidigt, daß der Vater das Bad zu lange in Beschlag genommen hatte. Paul Reimers, der gern in Ruhe frühstückte, verschanzte sich hinter der Zeitung.
Anna Reimers atmete auf, als endlich alle gegangen waren.
Sie trat zum Küchenschrank, holte die ausrangierte Zuckerdose heraus, in der sie ihr Geld aufbewahrte. Sie hoffte auf ein Wunder, aber das Wunder blieb aus: Ihr mühsam erspartes Geld reichte nicht. Der Hunderter, den Helga ihr beim letzten Besuch in die Hand gedrückt hatte, war für einen neuen Anzug für Rolf draufgegangen – der Junge sollte doch im Gymnasium nicht hinter den anderen zurückstehen müssen.
Mit einem tiefen Seufzer strich sie ihre Notgroschen wieder zusammen. Dann holte sie ihr Portemonnaie und zählte das Wirtschaftsgeld nach. Aber sie konnte rechnen, soviel sie wollte, es ließ sich einfach nicht genug abknapsen. Selbst wenn sie darauf verzichtete, Rolfs Schuhe, die er so dringend brauchte, vom Schuster zu holen, selbst wenn sie die Milchrechnung anstehen ließ, es reichte nicht.
Es gab nur eine einzige Möglichkeit: Sie mußte Karin um Hilfe bitten. Karin, die als Sekretärin in einer Weingroßhandlung arbeitete, verdiente gut. Sie legte seit Jahren fleißig für eine Aussteuer beiseite. Karin würde helfen können. Wenn sie nur wollte.
Anna Reimers nahm es als ein gutes Zeichen, daß sie allein in der Wohnung war, als Karin am Spätnachmittag nach Hause kam. Der Vater war noch nicht zu Hause, und Rolf hatte seine Schulaufgaben schon erledigt und war wieder fort.
»’n Abend, Mutti!« rief Karin und guckte in die Küche.
»Gibt’s was Neues?«
Frau Reimers stand am Bügelbrett. »Ich habe dir deine weiße Bluse geplättet«, sagte sie, »die gute! Sie ist wieder wie neu geworden.«
»Aber Mutter, ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, das sollst du nicht tun! Das kann ich genausogut selber.«
»Ich weiß, Karin!« Frau Reimers glättete das feuchte Tuch über der Hose ihres Mannes. »Aber ich wollte dir eine kleine Freude machen.«
Karin lachte. »Ist dir auch prächtig gelungen!« Sie ging um das Bügelbrett herum, legte ihren Arm um die Schulter der Mutter, gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich protestiere auch nur anstandshalber!«
Frau Reimers setzte das heiße Eisen auf das feuchte Tuch. Zischend entwichen Dampfwolken. »Karin«, sagte sie, ohne ihre Tochter anzusehen, »du könntest mir einen großen Gefallen tun . . .«
»Ja? Was denn?«
»Könntest du mir . . . zwanzig Mark leihen?« Sie sah, daß Karins Gesicht sich verfinsterte und fügte hastig hinzu: »Nur bis Ende des Monats, Karin, dann kannst du es von deinem Wirtschaftsbeitrag abziehen.«
»Ich verstehe nicht, wieso dir das helfen soll«, erwiderte Karin. »Im nächsten Monat fehlt es dir dann wieder.«
Frau Reimers blickte angestrengt auf das Bügeleisen, wie es über das feuchte Tuch glitt – hin und her, her und hin. q»Ich möchte gern Tante Bertha in Hilden besuchen, sie hat doch Geburtstag und –«
Karin fiel ihr ins Wort. »Warum siehst du mich nicht an, Mutti?«
»Ich? Ja, aber . . . ich bügle doch«, verteidigte sich Frau Reimers, aber sie konnte nicht verhindern, daß sie rot wurde.
»Nein, es ist nicht deswegen!« Karin nahm der Mutter mit energischem Griff das Bügeleisen aus der Hand und stellte es auf den Drahtuntersatz. »Du beschwindelst mich, Mutti!«
»Aber Karin . . . warum sollte ich denn . . .«
»Weil du nicht zu Tante Bertha nach Hilden, sondern zu Helga nach Frankfurt fahren willst!«
Eine Sekunde lang sahen sich Mutter und Tochter fast feindselig in die Augen.
Frau Reimers senkte als erste den Blick. »Bitte, Karin«, sagte sie, »verrat mich nicht bei Vater! Er . . . du weißt, wie er ist . . . er würde kein Verständnis dafür haben, aber . . . ich muß zu Helga! Ich muß, Karin!«
»Warum?« fragte Karin nüchtern und glich in diesem Augenblick ihrem Vater.
»Das fragst du? Ich muß mich doch um Helga kümmern! Du hast gehört, was Vater erzählt hat, sie arbeitet nicht mehr bei Maak . . . Vielleicht geht es ihr schlecht, vielleicht ist sie in Not . . .«
»Nein«, sagte Karin hart, »das glaube ich nicht, Mutti! Helga geht es besser als uns allen zusammen.«
»Du weißt etwas von ihr?« fragte Frau Reimers, halb hoffnungsvoll, halb erschrocken.
»Nein«, antwortete Karin, »aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Und du auch, Mutti . . . wenn du nur willst! Mach dir doch nichts vor! Ich habe schon seit Monaten gemerkt, was mit Helga los ist.«
»Ich habe gar keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Anna Reimers.
»Helga hat einen reichen Freund. Das ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche. Denk mal nach, Mutti . . . Helgas Geschenke! Du weißt doch, wie geizig sie immer war. Schon als Kind hat sie ihre Schätze immer gehortet, hat ihre Ostereier lieber verschimmeln lassen, als mir oder Rolf was abzugeben. Als sie zum erstenmal mit Geschenken ankam, da wußte ich gleich, was los war.«
Frau Reimers ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Der Mensch kann sich ändern, Kind.«
»So nicht. Wenn Helga uns etwas schenkt, dann nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hat und weil sie so viel Geld hat, daß es ihr kein Opfer bedeutet! Und woher soll eine stellungslose Verkäuferin schon Geld haben, wenn nicht von einem Mann?«
»Wußtest du früher schon, daß sie ihre Stellung bei Maak verloren hat?«
»Natürlich nicht. Damals ahnte ich ja auch nur, daß irgend etwas nicht stimmt. Aber jetzt weiß ich es, ich weiß es ganz genau. Hast du nicht gemerkt, wie sie sofort wieder versucht hat, mit André Colbert zu flirten? Obwohl sie wußte, wie ich zu ihm stehe? Aber so ist Helga, sie schreckt vor nichts zurück. Sie will alles haben, was ihr gefällt. So war sie immer schon. Und ausgerechnet um dieses Biest machst du dir Sorgen!« Karin lachte schrill.
»Bitte, Karin«, mahnte Frau Reimers, »ich wünsche nicht, daß du in diesem Ton von Helga sprichst! Schließlich ist sie deine Schwester . . .«
»Eine feine Schwester, die keine Skrupel haben würde, mir André auszuspannen! Die sich von irgend so einem alten Kerl aushalten läßt, nur, um nicht arbeiten zu müssen . . .«
»Aber das weißt du doch alles gar nicht, Karin!« rief Frau Reimers. »Das sind doch nur Behauptungen . . . völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen!«
Karin stemmte die Hände in die Hüften. »So? Und warum hat sie uns dann alle belogen?«
Da war sie wieder, die Frage, die Anna Reimers Tag und Nacht keine Ruhe ließ und auf die sie keine Antwort geben konnte.
»Weil sie etwas zu verbergen hat«, fuhr Karin fort, »und wie ich Helga kenne, kann es sich dabei nur um einen Mann handeln! Mach dich doch nicht verrückt, Mutti, laß Helga in Ruhe. Sie lebt das Leben, das sie sich selbst ausgesucht hat, sie braucht dich ja gar nicht.«
Frau Reimers schüttelte wie betäubt den Kopf. »Das kannst du nicht wissen.«
»Na schön, wenn du dir nichts sagen läßt, dann fahr zu Helga!« rief Karin aufgebracht. »Sie hat dir ja immer schon mehr bedeutet als wir alle zusammen. Immer war sie dein Liebling, immer hast du sie verwöhnt und vorgezogen . . .«
»Das ist doch nicht wahr!«
»O doch! Für Helga hattest du immer eine Entschuldigung, für ihre Faulheit, ihren Leichtsinn, ihren Egoismus. Das kam ja alles von der Flucht, die sie als kleines Kind mitgemacht hatte! Wenn Helga eine schlechte Note in der Schule hatte, dann hast du sie bedauert und vor Vater in Schutz genommen . . . und ich, ich bin für meine guten Zeugnisse nicht einmal gelobt worden! Bei mir war ja alles immer selbstverständlich!«
Anna Reimers stand auf, wollte Karin in die Arme nehmen. »Liebling, das kommt dir alles nur so vor . . .«
Karin wich vor ihr zurück. »So? Ich leide wohl an Wahnvorstellungen? Und daß ich immer nur Helgas abgelegte Fetzen tragen durfte, das bilde ich mir wohl auch nur ein?«
»Es ist doch ganz natürlich, daß die jüngere Schwester –«
»Völlig natürlich! Besonders dann, wenn die ältere viel hübscher ist! ›Ist sie nicht ein süßer blonder Engel?‹ Wie oft hast du das gesagt, du warst ja immer vernarrt in Helga . . . du bist es auch heute noch!«
Karin stürzte aus der Küche, kam wenige Sekunden später mit ihrem Portemonnaie zurück, warf einen Fünfzigmarkschein auf das Bügelbrett. »Hier, da hast du dein Reisegeld, an mir soll es nicht liegen. Aber beklag dich nachher nicht, wenn du eine unangenehme Überraschung erlebst. Und vergiß nicht, Helga einen schönen Gruß zu bestellen! Von mir aus kann sie tun und lassen, was sie will . . . Aber André bekommt sie nicht, und wenn sie sich auf den Kopf stellt! André gehört mir!«
Als der erste Schrei durch die nächtliche Stille des Appartementhauses gellte, fuhr Kitty hoch. Kerzengerade saß sie im Bett und starrte mit weit offenen Augen in das schummrig beleuchtete Schlafzimmer. Das Blut stockte in ihren Adern, ihr Herzschlag setzte aus.
Beim nächsten Schrei duckte sie sich, schlang die Arme über den Kopf, als erwarte sie, daß Wände und Deck im nächsten Augenblick über ihr zusammenstürzten. Für Sekunden vergaß sie völlig, daß sie nicht allein war.
Erst als der Mann an ihrer Seite sie zu sich herabzuziehen suchte, erinnerte sie sich wieder. Mit einer geschmeidigen Bewegung löste sie sich von ihm. »Nein, laß mich, bitte . . .«
In diesem Augenblick schrillte auch schon die Türglocke. Fast gleichzeitig hämmerten Fäuste gegen die Füllung. Kitty raste zur Tür, ergriff im Laufen ihren violetten Hausmantel, schlüpfte hinein, während sie die Tür aufriß.
Irma taumelte in die kleine Diele. Ihr schwarzseidener Hausanzug war über der Brust zerrissen. Sie schrie wimmernd, mit weit geöffnetem Mund.
Kitty schlug die Tür hinter ihr zu, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Was ist, Irma? Um Gottes willen, nimm dich zusammen! Was ist denn geschehen?«
Aber Irma war außerstande etwas zu erklären. Sie brachte nur stöhnende, unverständliche Laute heraus. Kitty schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Die keuchenden Töne verstummten, Irma schluckte schwer, fuhr sich mit beiden Händen zum Hals, auf dem sich rote Flekken abzeichneten. »Ein Kerl«, stieß sie hervor, »er will mich umbringen . . . in meiner Wohnung!«
Kitty hatte es schon in jener Sekunde gewußt, als der erste Schrei ertönte, und dennoch überfiel sie panisches Entsetzen. In ihrer nächsten Nähe war geschehen, was sie und alle anderen, die ihr Glück auf der Straße suchen, in jeder Phase ihrer Tätigkeit zu fürchten hatten. Die Angst, die mit ihr aufstand und sie selbst im Schlaf nicht einen Atemzug verließ, hatte plötzlich greifbare Gestalt angenommen.
Irma klammerte sich an ihr fest. »Du mußt mir helfen, Kitty! Allein traue ich mich nicht mehr zurück . . .«
»Dann bleib hier!«
»Nein, ich . . . mein ganzes Geld ist drüben, mein Schmuck . . . bitte, Kitty, laß mich nicht im Stich!«
Der Mann kam aus dem Schlafzimmer. Er hatte die Jacke unter den Arm geklemmt, stopfte sich mit fahrigen Händen das Hemd in die Hose; seine Krawatte hing ihm aus der Tasche.
Irma stürzte zu ihm hin. »Bitte, kommen Sie mit! Sie sind ein Mann, Sie können leicht –«
»Nichts zu machen!« Der Kunde schlüpfte in seine Jacke.
»Feigling!«
Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Du hast gut reden, Mädchen, du hast keinen Ruf zu verlieren. Aber ich kann es mir einfach nicht leisten, in einen Skandal verwickelt zu werden!«
Er riß seinen hellen Mantel vom Garderobenhaken. »Also dann, bis bald mal . . .« Ohne Kitty anzusehen öffnete er die Tür und drückte sich ins Treppenhaus hinaus.
Irma rieb sich den Hals, sie mußte husten. »Da geht er hin«, sagte sie verächtlich.
»Und kommt nicht wieder! Den hast du mir vertrieben, Irma!« Kitty hatte ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen, sie drehte sich um und ging in ihr Wohnzimmer.
Irma folgte ihr. »Was willst du tun, Kitty? Doch nicht etwa . . . Sie schob sich zwischen Kitty und das Telefon.
»Die Polizei? Ich bin doch nicht blöd. Warte nur, mit dem Kerl werden wir schon allein fertig.« Sie riß die linke Schublade des Chippendale-Sekretärs auf, holte eine Pistole hervor.
Irma riß die Augen auf. »Du hast . . . eine Waffe?«
»Eine Gaspistole. Aber immerhin! Das wird genügen, um den Kerl einzuschüchtern.«
»Er hat ein Messer«, sagte Irma, »ein Fallschirmmesser, ein Riesending, damit hat er mich bedroht. Ich bin nicht hysterisch, Kitty . . .« Irma schluchzte auf. »Er wollte mich wirklich umbringen!«
»Wir dürfen ihn eben nicht an uns herankommen lassen. Gehen wir!«
Hintereinander schlichen sich die beiden Mädchen aus der Wohnung. Kitty, die Gaspistole in der vorgesteckten Hand, ging voraus. Die Tür von Irmas Appartement stand halb offen.
Kitty schob die Pistole durch den Spalt. »Hände hoch!«
Von drinnen kam keine Antwort.
Mit einem Fußtritt ließ Kitty die Tür aufspringen, durchquerte die winzige Diele. Irmas Appartement war kleiner als ihres. Es gab nur einen einzigen Raum, der Irma zum Wohnen, Schlafen und zur Ausübung ihres Berufes diente.
Das große Zimmer war leer.
»Er ist fort«, sagte Irma unendlich erleichtert.
Kitty senkte die Gaspistole. Ihre Hand zitterte, die Knöchel waren weiß vor Anstrengung. »Sollten wir nicht doch vorsichtshalber im Bad und in der Küche –«
Irmas Aufschrei schnitt ihr das Wort ab. Erst in diesem Moment sah sie, was geschehen war. Die Türen des eingebauten Kleiderschranks standen weit offen. Einige Kleider waren von den Bügeln gerutscht und lagen auf dem Teppich. Irma war hingelaufen, um sie aufzuheben. Sie hielt ein langes weißes, mit goldenen Pailletten besticktes Abendkleid in der Hand – es war von oben bis unten aufgeschlitzt.
Sie warf es über das Bett, hob das nächste auf. Es war genauso zugerichtet. Sie ließ es fallen, als hätte sie sich verbrannt, stürzte auf den Schrank zu, fuhr mit beiden Händen durch Kleider und Mäntel – alle, alle waren sie zerschlitzt.
»Nein«, wimmerte sie, »o nein, nein, nein!«
Kitty wurden die Knie weich. Sie ließ sich in einen Sessel sinken. Sie fühlte die grauenhafte Bedeutung dieser Entdeckung mehr, als sie sie verstand. »Der muß verrückt gewesen sein«, stammelte sie. »Das ist ja . . . Wahnsinn!«
Irma brach – eine aufgeschlitzte Breitschwanzjacke in den Händen – über dem Bett zusammen und schluchzt hemmungslos. Von der Straße herauf tönten die Signale der Funkstreife, ohne daß die Mädchen darauf achteten.
»Der gute Pelz«, wimmerte Irma, »der gute, gute Pelz . . .«
»Aber der läßt sich doch reparieren!« Kitty erhob sich, sie hatte immer noch das Gefühl, als wären ihre Knie aus Gummi. Langsam ging sie zum Bett hinüber und beugte sich über die Freundin. »Hör auf zu heulen, das nutzt jetzt auch nichts mehr . . . besser die Kleider als du!«
Es läutete an der Wohnungstür. Irma und Kitty schraken hoch. Beiden fiel gleichzeitig ein, daß sie die Tür nicht hinter sich abgeschlossen hatten, um sich den Rückzug frei zu halten. Dann hörten sie auch schon Schritte.
Zwei Beamte der Funkstreife traten ins Zimmer. Es waren stämmige junge Männer mit glatten, selbstbewußten Gesichtern und hellen, wachsamen Augen. Auf der Schwelle blieben sie stehen. Der eine, kleiner als sein Kamerad, mit blondem Bürstenhaar, zog zischend die Luft durch die Zähne.
Der andere, ein Schwarzhaariger, hob die Augenbrauen. »Na, hier scheint’s ja wirklich was gesetzt zu haben, meine Damen! Kleine Prügelei?«
»Ein Kerl mit einem Fallschirmmesser«, stammelte Irma. »Er hat mich bedroht, er wollte mich umbringen! Da bin ich zu meiner Freundin rüber, und als wir wiederkamen . . .« Die Stimme versagte ihr.
Der Kleinere hob das zerfetzte weiße Abendkleid vom Boden.
»Scheint eine Mordswut gehabt zu haben, der Knabe!« Er sah Irma an. »Warum? Was hat es gegeben?«
»Nichts! Ich . . . ich habe ihn ja erst heute kennengelernt!«
»Ein Wahnsinniger«, sagte Kitty.
Der Blonde richtete sofort seinen Blick auf sie. »Hat er einen solchen Eindruck auf Sie gemacht?«
Kitty kam erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie nackt unter ihrem violetten Morgenmantel war. Unwillkürlich versuchte sie, ihre Beine zu bedecken. »Ich habe ihn ja gar nicht gesehen! Ich schlief schon, als meine Nachbarin –«
Der Schwarzhaarige unterbrach sie. »Am besten erzählen Sie das alles auf dem Präsidium! Ziehen Sie sich jetzt an, alle beide . . .«
Kitty sprang auf. »Aber ich . . . ich habe mit der ganzen Sache doch nichts zu tun!«
»Wir haben Sie am Tatort angetroffen«, erklärte der Blonde, »und laut Aussage Ihrer Freundin –«
»Freundin, was heißt hier Freundin?« rief Kitty. »Wir sind Nachbarinnen, nichts weiter!«
»Das können Sie später alles erzählen! Bleib du hier, Jochen, mach Bestandsaufnahme! Ich werde die Rothaarige rüber begleiten!« Er packte Kitty am Arm.
Sie versuchte sich loszureißen. »Was fällt Ihnen ein? Ich kann sehr gut allein gehen!«
»Finden Sie? Nach dem hier . . .« Der Blonde deutete mit einer Kopfbewegung auf die zerfetzten Kleidungsstücke. »Ich glaube, Sie können männlichen Schutz sehr wohl gebrauchen!« Im Hinausgehen sagte er zu seinem Kameraden: »Ich verstehe die Mädchen nicht, beim besten Willen . . . Nacht für Nacht Kopf und Kragen zu riskieren für ein paar lumpige Piepen! Was ist das für ein Geschäft!«
In jeder anderen Situation hätte Kitty sich stärker zur Wehr gesetzt, aber nach dem, was heute nacht geschehen war, brachte sie keine Kraft zum Widerstand mehr auf. Außerdem wäre es doch zwecklos gewesen.
Sie machte noch einen schwachen Versuch, den Polizeibeamten in der Diele zum Warten zu bewegen, aber als er darauf bestand, sie ins Schlafzimmer zu begleiten, gab sie nach.
»Wenn sie Wert darauf legen, mir beim Anziehen zuzusehen, na, bitte!« sagte sie frech und warf die kupferroten Lokken in den Nacken.
Sie stieß die Tür auf und ging voraus. Der Polizist folgte ihr auf dem Fuß. Einen Augenblick lang sah sie das Zimmer wie durch seine Augen: das zerwühlte Bett, ihr Kleid, ihre Unterwäsche, ihre Strümpfe, die sie achtlos über den mit Kreton bezogenen Sessel geworfen hatte, und noch etwas – über dem Fußende hing ein Kleidungsstück, das nicht ihr gehörte: ein Männerhemd. Der Kunde mußte es in der Eile vergessen oder bewußt darauf verzichtet haben, es anzuziehen.
Mit einer raschen Bewegung wollte Kitty es wegnehmen, aber der Polizeibeamte fiel ihr in den Arm. »Lassen Sie nur«, sagte er freundlich, »aufräumen können Sie später. Jetzt ziehen Sie sich besser erst einmal an!«
Sie wandte sich ihm zu und las in seinen Augen, daß er alles verstand.
Er zog sein Meldebuch aus der Brusttasche seiner Uniformjacke, begann sich Notizen zu machen, während sie eine lange graue Hose und einen Rollkragenpullover aus dem Kleiderschrank zog, ihre Unterwäsche vom Sessel nahm und im Badezimmer verschwand.
Als sie zurückkam, hatte er einige Geldscheine in der Hand. »Hier«, sagte er, »das gehört Ihnen! Es lag auf dem Nachttisch, stecken Sie es ein.«
Wäre sie nicht so abgebrüht gewesen, wäre sie errötet. Sie war nahe daran, den Besitz des Geldes abzuleugnen – sie hatte wirklich nichts davon gewußt, der Kunde mußte es beim Weggehen für sie hingelegt haben –, dann aber griff sie zu, holte ihre Handtasche und stopfte das Geld hinein.
»Also, können wir gehen?« fragte der Polizeibeamte. »Nehmen Sie die Tasche ruhig mit . . . Sie werden Ihre Ausweise brauchen!«
Kitty zuckte die Schultern. Sie hätte die Tasche, die den Verdienst dieser Nacht und das Notizbuch enthielt, in dem sie ihre Einnahmen einzutragen pflegte, liebend gern zu Hause gelassen, aber sie wollte den Beamten nicht mißtrauisch machen. Dem Menschen ist alles zuzutrauen, dachte sie, der durchsucht mir noch meine Tasche, wenn ich jetzt unsicher werde!
»Von mir aus«, sagte sie, trat zum Kleiderschrank und holte ihren Nerzmantel heraus – nicht weil sie gefroren hätte, die Frühlingsnacht war mild und ihr Pullover warm genug, aber sie brauchte jetzt dringend etwas, um ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein zu heben.
Aber der Polizeibeamte verzog beim Anblick des kostbaren Pelzes keine Miene. »Kommen Sie, kommen Sie«, drängte er. »Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren!«
»Gestatten Sie mir wenigstens, daß ich mit meinem eigenen Wagen fahre?« fragte sie hochnäsig. »Mein Mercedes parkt unten vor der Tür.«
»Da steht er auch morgen früh noch gut«, erwiderte der Polizeibeamte ungerührt. »Fahren Sie lieber mit uns, da haben Sie’s schneller und bequemer.«
Er ließ sie vorgehen, faßte sie nicht an, und trotzdem war ihr so elend, als würde sie in Handschellen abgeführt.
Im Wachzimmer des Polizeipräsidiums mußten Irma und Kitty ihre Personalien angeben. Dann wurden sie voneinander getrennt. Irma wurde in ein Nebenzimmer geführt. Ein älterer Beamter begleitete Kitty über einen langen, spärlich beleuchteten Gang, klopfte an eine Tür und forderte sie auf, einzutreten.
Das Zimmer war einfach möbliert. Es gab zwei große Schreibtische, die gegeneinandergestellt waren. Der eine war leer, hinter dem anderen saß ein Herr mit grauen Schläfen, einer randlosen Brille auf der scharf geschnittenen Nase, durch deren Gläser aufmerksame ruhige Augen blickten. Er trug keine Uniform, sondern einen unauffälligen, leicht zerknitterten Anzug.
Bei Kittys Eintritt erhob er sich halb und stellte sich vor. »Kriminalrat Hellwege . . . bitte, nehmen Sie doch Platz!« Er nahm den Laufzettel aus den Händen des begleitenden Beamten entgegen. »In Ordnung, ich danke Ihnen!«
Kittys Begleiter zog sich zurück. Sie setzte sich auf den Stuhl, den der Kriminalrat ihr zugeschoben hatte und schlug die Beine übereinander. Die Höflichkeit des Beamten tat ihr wohl.
»Darf ich rauchen?«
Kriminalrat Hellwege hatte den Laufzettel überflogen, jetzt hob er den Kopf. »Aber bitte sehr, natürlich . . . nehmen Sie doch meine!« Er schob ihr ein Päckchen hin, gab ihr Feuer.
Kitty inhalierte tief und mit Genuß. Es schien nur halb so schlimm zu werden, wie sie befürchtet hatte.
»Sie sind also Helga Reimers?« fragte der Kriminalrat.
Kitty nickte. »Ja, und ich muß mich über diese Funkstreifenbeamten beschweren, Herr Kriminalrat! Ich mache nicht gern jemandem Unannehmlichkeiten, aber es war völlig überflüssig, mich mitten in der Nacht hierherzuschleppen . . . Ich weiß von der ganzen Sache gar nichts. Nur das, was meine Wohnungsnachbarin mir erzählt hat. Ich habe den Kerl ja überhaupt nicht gesehen . . . und was er angerichtet hat, das kann Irma ja auch viel besser bezeugen als ich. Außerdem haben Ihre Männer das doch mit eigenen Augen gesehen . . .«
Kriminalrat Hellwege ließ sie reden, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu unterbrechen. Er wartete einfach ab, bis sie nicht mehr weiter wußte.
»Sie müssen mir glauben«, sagte Kitty, »ich weiß wirklich nichts . . . gar nichts!«
Kriminalrat Hellwege zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Wenn Sie das sagen, wird es wohl auch so sein . . .«
Kitty sprang auf. »Dann kann ich jetzt also gehen?«
»Ich werde Sie nicht lange aufhalten, das verspreche ich Ihnen . . . aber ich glaube doch, wir sollten die Gelegenheit nutzen, uns ein wenig zu unterhalten.«
»Worüber?«
»Sie haben angegeben, daß Sie von Beruf Verkäuferin sind . . . Setzen Sie sich doch wieder!«
Kitty gehorchte. »Das stimmt auch«, sagte sie.
»Aber Sie arbeiten doch nicht mehr in Ihrem Beruf?«
»Ich habe meine Stellung verloren. Ich bin auf der Suche nach . . . nach einem geeigneten Arbeitsplatz.«
Kriminalrat Hellwege schüttelte sanft den Kopf. »Und das seit über einem Jahr! Dabei habe ich mir sagen lassen, daß das Stellenangebot noch niemals so groß war wie heute.«
»Es ist trotzdem nicht leicht, etwas Passendes zu finden.«
»Ja«, bestätigte der Kriminalrat ruhig, »besonders dann, wenn man gar nicht wirklich arbeiten will.«
»Aber wer sagt Ihnen denn das?« fuhr sie auf.
Er wechselte den Ton. »Kitty«, sagte er, »nun machen Sie bloß keine Geschichten. Geben Sie doch zu, daß Sie nicht allein waren, als Ihre Freundin Sie um Hilfe rief . . .«
»Und wenn schon! Kann man denn nicht mal Besuch haben?«
Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß er sie mit ihrem Decknamen angeredet hatte. »Woher wissen Sie überhaupt . . .« Sie stockte und hatte plötzlich Angst, sich zu verraten. »Es war mein Verlobter«, trumpfte sie auf, »ja, damit Sie Bescheid wissen . . . mein Verlobter war bei mir!«
»Und Ihr Verlobter pflegt Ihnen Geld für Ihre . . . Gefälligkeit zu geben?«
»Ach so, das meinen Sie, das war nur . . . ich hatte ihm etwas geliehen, das hat er mir heute wiedergebracht.«
»Und würden Sie dann auch so nett sein, mir den Namen Ihres Verlobten zu nennen?« Kriminalrat Hellwege bog die Schreibtischlampe so, daß ihr voller Schein auf Kittys Gesicht fiel. Er selbst saß jetzt im Halbdunkel.
Sie preßte die Lippen zusammen, dachte angestrengt nach.
»Machen Sie es sich doch nicht so schwer, Kitty«, sagte der Kriminalrat. »Glauben Sie etwa, mir macht es Spaß, mit Ihnen Katze und Maus zu spielen? Es wäre doch viel besser, wenn wir beide uns miteinander unterhielten wie zwei erwachsene, vernünftige Menschen.«
»Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen!« erwiderte sie böse.
»Na schön, dann werde ich es Ihnen sagen. Wir – ich arbeite übrigens im Sittendezernat, falls Sie die Aufschrift auf der Tür übersehen haben sollten – also, wir beobachten Sie schon seit Monaten. Sie pflegen in Ihrem Mercedes die Kaiserstraße abzugrasen, und . . .«
Kitty protestierte. »Das ist eine Verleumdung!«
Kriminalrat Hellwege seufzte. »Gut. Dann seien Sie so nett und erklären Sie mir, wovon Sie leben. Aber erklären Sie es mir, bitte ganz genau, so, daß ich es auch verstehe. Woher haben Sie zum Beispiel diesen Nerz?«
»Den hat mir ein Bekannter geschenkt.«
»Aha. Wahrscheinlich wieder Ihr Verlobter. Den Mercedes verdanken Sie wohl auch diesem sagenhaften Herrn?«
Kitty schwieg.
»Wir wissen alles über Sie, glauben Sie mir doch«, sagte der Beamte eindringlich. »Wir haben Sie beobachtet, wir haben die Männer gezählt, mit denen Sie zusammen waren . . . Es hat wirklich keinen Zweck, mir etwas vorzumachen! Ich will Ihnen ja auch keine Schwierigkeiten bereiten. Sie haben nicht das geringste zu befürchten . . .«
»Was wollen Sie dann überhaupt von mir?«
»Eine Kleinigkeit.« Kriminalrat Hellwege öffnete eine Schublade, zog ein Formular heraus, trug Kittys Personalien ein und schob es ihr über den Schreibtisch zu. »Da. Lesen Sie das durch und unterschreiben Sie!«
Kitty studierte das Formular mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Sie verpflichten sich damit, sich beim Gesundheitsamt zu melden und wenn nötig, einer stationären Behandlung zu unterziehen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Kitty, »ich bin doch ganz gesund.«
»Um so besser für Sie! Dann kann es Ihnen doch auch nichts ausmachen, sich mal von einem Arzt untersuchen zu lassen. Das ist eine Sache von zehn Minuten, dann können Sie wieder gehen.«
»Aber ich sehe den Zweck nicht ein . . .«
»Kitty!«
Sie warf das Formular auf den Schreibtisch. »Und überhaupt, ich will das nicht! Ich gehe schon von selber zum Arzt, wenn ich krank bin . . . Nein, ich denke nicht daran, diesen Quatsch zu unterschreiben.«
»Wie Sie wollen«, sagte Kriminalrat Hellwege ruhig, »dann sehe ich mich leider gezwungen, Sie bis morgen früh in Haft zu nehmen und dem Untersuchungsrichter vorzuführen.«
»Was?«
Kriminalrat Hellwege lächelte. »Ja, so ist es nun mal. Sie haben die Wahl.«
Aber Kitty wußte sehr gut, daß ihr keine Wahl blieb. Wenn sie nicht unterschrieb, würde man sie in Untersuchungshaft stekken, man würde ihr die Tasche abnehmen und ihr sorgfältig gehütetes Notizbuch finden, und damit wäre alles zu Ende.
Wortlos zog sie das Formular wieder zu sich heran, Kriminalrat Hellwege reichte ihr seinen Kugelschreiber, und sie malte ihre Unterschrift.
»Danke«, sagte er, »ich wußte ja, daß Sie ein vernünftiges Mädchen sind.«
»Kann ich jetzt gehen?« Kittys grüne Augen flackerten vor Erregung und Zorn.
»Nur noch ein paar Formalitäten. Wir müssen eine Karteikarte für Sie ausfüllen . . . Augenblickchen, das haben wir gleich.« Er zog die Schreibmaschine heran, schob ein Formblatt hinein und begann mit zwei Fingern zu tippen. »Es handelt sich nur um eine erkennungsdienstliche Maßnahme, eine reine Routinesache . . . So, da haben wir’s schon!« Er zog das Formblatt aus der Maschine. »Jetzt noch Ihre Fingerabdrücke . . . alle fünfe bitte, von jeder Hand . . . es tut nicht weh!«
Er stand auf, legte das Formblatt vor Kitty hin, daneben die flache Dose mit dem blauen Puder.
»Nachher werden wir noch zwei hübsche Fotos von Ihnen machen . . . von vorn und im Profil . . . Und dann werden Sie nie mehr etwas mit uns zu tun haben, dann ist es ausgestanden und vorbei . . .«
Kitty hatte ihre Finger schon in das blaue Pulver gesteckt und wollte sie auf die Stelle drücken, die der Kriminalrat ihr zeigte. Da las sie, was auf dem Kopf des Formblattes stand. Es war ihr, als habe sie einen betäubenden Schlag auf den Hinterkopf erhalten. »Helga Reimers, alias Kitty, Prostituierte . . .«
In riesigen Lettern schien dieses Wort vor ihr aufzuleuchten, dieses Wort, mit dem ihr ein Stempel aufgeprägt wurde, der nie mehr zu löschen sein würde: Prostituierte!
Bis zu diesem Moment hatte sie sich frei gefühlt, jetzt war sie gefangen in dem Netz, das sie sich selbst geknüpft hatte. Das Spiel war vorbei, es war bitterer Ernst geworden.
Sie war eine Prostituierte.
Obwohl Kitty in dieser Nacht kaum geschlafen hatte, stand sie doch am nächsten Morgen schon gegen zehn Uhr auf – für sie eine ungewöhnlich frühe Zeit – und fuhr zum Gesundheitsamt. Mit ihrem Mercedes. Aber diesmal – zum erstenmal – konnte es ihr Selbstbewußtsein nicht heben, am Steuer des luxuriösen Wagens zu sitzen. Die Angst und das Entsetzen steckten ihr noch in allen Gliedern.
Die Untersuchung zeigte kein Ergebnis, die Krankenhausbehandlung blieb ihr erspart. Sie nahm es ohne Genugtuung zur Kenntnis und zeigte auch keine Erregung, als der Amtsarzt ihr erklärte, daß sie sich von nun an jede Woche einmal zur Untersuchung zu melden hätte, entweder bei ihm oder einem privaten Arzt ihrer Wahl.
»Das sollte doch auch in Ihrem eigenen Interesse sein«, sagte der Amtsarzt, den Kittys starre Ruhe irritierte.
»Aber ja«, erwiderte sie müde, »alles geschieht nur in meinem eigenen Interesse . . . warum auch sonst?«
Weder einige Apéritifs noch ein ausgezeichnetes Mittagessen in einem guten Lokal vermochten ihre Laune zu heben. Sie verzichtete auf den Kaffee, fuhr gleich wieder nach Hause, zog die Vorhänge zu und legte sich schlafen – jetzt endlich konnte sie schlafen. Es war alles entschieden, erledigt, sie brauchte nicht mehr zu grübeln, es war vorbei.
Als sie gegen fünf Uhr erwachte, fühlte sie sich besser. Sie machte sich einen Nescafé in der kleinen Küche, rauchte eine Zigarette, studierte die Zahlen in ihrem kleinen Notzibuch und fand allmählich ihren Lebensmut zurück.
Na, wenn schon, dachte sie, dann bin ich eben eine Prostituierte! Was soll’s? Ist ja auch bloß ein Wort. Die können mich mal, alle!
Sie hatte ein plötzliches Bedürfnis nach Sauberkeit und Bewegung, schlüpfte in ihren hellblauen Kittel und machte sich daran, ihre Wohnung aufzuräumen – das tat sie gewöhnlich nur selten. Meist überließ sie es ihrer Zugehfrau, Frau Hommers, aber heute hatte sie Lust, sich selbst zu bestätigen.
Sie führte den Staubsauger über den Wohnzimmerteppich, als es an der Wohnungstür klingelte. Sie öffnete einen Spaltbreit, ohne die Kette zu lösen und – sah sich ihrer Mutter gegenüber.
Schreck und Freude überfielen sie. Vor Verwirrung wußte sie im ersten Augenblick nicht, was sie tun sollte, und fuhr sich unwillkürlich mit der Hand übers Haar – Gott sei Dank! Sie hatte ihre Perücke nicht auf.
»Helga, ja, was ist?« sagte draußen Frau Reimers. »Willst du mich nicht hineinlassen?«
Kitty nahm die Kette ab, öffnete die Tür, und die beiden Frauen fielen sich in die Arme.
»O Mutti, was für eine Überraschung! Warum hast du denn nicht geschrieben? Ja, woher hast du überhaupt meine Adresse? Ich wollte sie dir mitteilen, aber dann . . . ich bin einfach nicht dazu gekommen . . .«
»Du bist aber schwer zu finden«, sagte Frau Reimers. »Warum hast du denn kein Türschild? Ich mußte erst bei der Hausmeisterin nach dir fragen.«
»Ach, das Schild kommt noch. Ich hab’s schon lange bestellt, aber du weißt doch, die Handwerker . . . Komm herein, Mutti, schau dich um . . . Soll ich dir eine Tasse Kaffee machen?«
»Hübsch hast du es hier«, sagte Frau Reimers und sah sich anerkennend in der kleinen Diele um. »Also, nach dem, was Vati mir erzählt hat . . . Er war nämlich in Frankfurt, mußt du wissen . . .«
Kitty nahm der Mutter den Mantel ab. »Was hat er dir erzählt?« fragte sie scharf und konnte nur mühsam ihren Schrecken verbergen.
»Daß du nicht mehr bei Maak arbeitest . . .«
»Und sonst?«
»Nichts weiter. Aber du kannst dir vorstellen, wie böse er deswegen war. Du hättest uns das wirklich mitteilen sollen.«
Kitty nahm ihre Mutter in die Arme. »Ach, Mutti, das ist alles so kompliziert . . . Ich bin richtig froh, daß du jetzt hier bist, daß ich dir alles zeigen kann! Weiß du, das ist nämlich so . . . Ich bin verlobt, aber wir können jetzt noch nicht heiraten, weil . . . ich werde dir alles erzählen! Er ist ein wunderbarer Mann, er würde dir auch gefallen, ein Industriemanager, Heinz, ein großes Tier . . .«
»Verheiratet?« fragte Frau Reimers.
»Aber nein, Mutti, dann könnten wir doch nicht verlobt sein!
Es ist etwas ganz anderes, nämlich . . . komm doch erst mal in die Küche!«
Wieder klingelte es an der Tür.
Verdammt, dachte Kitty, das wird doch nicht Irma sein? Na, die werde ich aber abschieben, schneller, als sie es je für möglich gehalten hätte!
Sie öffnete. Heinz Schlüter-van Dorn stand da, strahlend, gepflegt, selbstsicher, einen Strauß roter Rosen in der Hand.
»Heinz . . . du?«
»Ich habe dir doch versprochen . . .«
Helga wußte eine Sekunde lang nicht, was sie tun sollte. Er war schon eingetreten und sah mit leichtem Erstaunen von Kitty auf Frau Reimers.
»Ja, willst du uns denn nicht bekannt machen, Helga? Ich bin nämlich Helgas Mutter, müssen Sie wissen . . . und Sie, Sie können ja wohl niemand anders sein als ihr Verlobter!«