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Um drei Uhr nachmittags war der erste Verhandlungstag im Prozeß Carola Groß zu Ende. Das sehr scharfe Verhör des Oberstaatsanwalts hatte die Aussage der Angeklagten nicht erschüttern können, und auch die Vernehmung durch den Verteidiger erbrachte nichts Neues. Das Gericht hatte ohne Unterbrechung getagt, aber Ellen Krone hatte gar nicht gemerkt, wie die Stunden vergingen.

Erst als sie aus dem Gerichtsgebäude auf die Straße trat, spürte sie, wie erschöpft und hungrig sie war. Sie hätte gern wenigstens eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht, aber es drängte sie nach Hause zu ihrem Mann.

Um so größer war ihre Enttäuschung, als sie die kleine Wohnung am Waldfriedhof verlassen vorfand. Sie tröstete sich damit, daß Peter sie sicher noch nicht so früh zurückerwartet hatte.

Sie mochte nicht allein essen, machte sich nur ein Brot zurecht, goß sich eine Tasse Kaffee auf. Aber ihre innere Unruhe konnte sie nicht besänftigen. Sie brannte darauf, mit jemandem über die Erlebnisse des heutigen Tages zu reden, um sie selber besser verarbeiten zu können.

Es ging auf fünf Uhr zu, und ihr Mann war immer noch nicht zurück. Schließlich verfiel sie darauf, die Fotos, die Peter aus Karachi mitgebracht hatte, in eines ihrer Alben einzukleben. Sie holte das letzte Album, das sie für ihre Hochzeitsreise angelegt hatte, aus dem Regal. Dabei fiel ein anderes, das Bilder aus der Junggesellenzeit ihres Mannes enthielt, zu Boden und öffnete sich.

Ellen Krone hob es auf, begann darin zu blättern, lächelte in sich hinein, als sie die Kinderbilder ihres Mannes sah, Fotos, die ihn als halberwachsenen Burschen darstellten, dann Bilder, die ihn fast so zeigten, wie er heute war.

Zum Schluß kamen ein paar leere Seiten, und auch die blätterte sie durch. Zwischen der letzten und der vorletzten Seite steckte ein gutgelungenes, sehr scharfes Foto, ein Schnappschuß aus einem Nachtlokal.

Es zeigte Peter Krone neben einem attraktiven Mädchen mit langem blondem Haar, schrägstehenden Augen und hohen Backenknochen. Ellen Krone starrte das Bild an, wollte nicht glauben, was sie sah – die Begleiterin ihres Mannes war niemand anders als Annabelle Müller.

Es dauerte Minuten, bis sie fähig war, die Bedeutung dieses Fotos zu begreifen. Der Schock war zu groß. Er überflutete sie mit einer Welle eisigen Entsetzens, die jeden Gedanken in ihr auslöschte.

Unwillkürlich schloß sie die Augen, als könnte sie sich so vor der Wirklichkeit verstecken. Aber als sie sie wieder öffnete, mit der zaghaften und trügerischen Hoffnung, sich getäuscht zu haben, war alles noch viel schlimmer. Die beiden lachenden, unbekümmerten Gesichter schienen noch näher gerückt. Es war Ellen Krone, als stünde in Annabelle Müllers Augen eine spöttische Herausforderung, die ihr, Ellen Krone, galt.

Sie mußte sich zwingen, diesen Eindruck abzuschütteln – unmöglich hatte Annabelle jemals etwas von ihrer Existenz gewußt. Oder doch?

Sie begann nachzudenken. Nein, es war unmöglich. Sie hatte ihren Mann einige Wochen vor dem Tod Annabelle Müllers kennengelernt. Sie hatten sich regelmäßig in einer kleinen Gastwirtschaft, dem »Goldenen Eck«, gesehen, in der sie zu Mittag zu essen pflegten. Aber über einen Gruß und ein paar belanglose Worte war ihre Bekanntschaft nicht hinausgegangen. Erst nach Annabelles Tod, Wochen nach Annabelles Tod, waren sie sich nähergekommen, hatte Peter sie zum erstenmal ins Kino eingeladen.

Ellen Krone versuchte sich krampfhaft zu erinnern. Wie war Peter nach Annabelles Tod gewesen? Bedrückt, niedergeschlagen, nervös – oder ganz wie immer? Sie wußte es nicht, sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, denn sie hatte ihn damals noch nicht sonderlich beachtet, oder vielmehr, sie hatte sich Mühe gegeben, ihn nicht zu beachten, da sie ihm nicht zeigen wollte, wie sehr er ihr gefiel.

Der Mord an Annabelle Müller war durch alle Zeitungen gegangen. Täglich hatte die Presse neue Einzelheiten gebracht. Hatte Peter eigentlich je mit ihr darüber gesprochen? Nein, das wußte sie genau, er hatte niemals ein Wort darüber verloren.

Jetzt schien ihr das plötzlich sonderbar, da doch alle Welt davon gesprochen hatte. Wenn er ein gutes Gewissen hatte, dann hätte er ihr schon damals sagen müssen, daß er Annabelle gekannt hatte.

Ellen Krone konnte ihre Augen nicht von dem Foto wenden. Er mußte mit ihr befreundet gewesen sein. Das bewies die besitzergreifende Art, mit der er seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.

Vielleicht hatte er geglaubt, sie würde eifersüchtig werden, wenn sie von dieser Beziehung erfuhr, versuchte sie sich einzureden. Aber jetzt arbeitete ihr Verstand unerbittlich, ließ sich nicht einlullen. Eifersüchtig auf eine Tote? Nein, das war unsinnig, für so kindisch konnte er sie nicht halten.

Außerdem – sie selber hatte ihm offen von ihrer Vergangenheit erzählt. Es hatte Männer in ihrem Leben gegeben, bevor sie ihn kennenlernte. Auch er hatte ihr vergangene Liebesgeschichten gebeichtet. Nur den Namen und die Beziehung zu Annabelle Müller hatte er sorgfältig ausgeklammert.

Ellen Krone starrte noch immer auf das Foto in ihren Händen. Annabelle Müller war eine schöne Frau gewesen. Diese schrägstehenden geheimnisvoll spöttischen Augen, dieses schmale Gesicht mit den hohen Backenknochen, umrahmt von blondem, nixenhaftem Haar, konnten einen Mann schon reizen. Es mußte eine Faszination von ihr ausgegangen sein.

Auf dem Foto war nur das schulterfreie Oberteil ihres schwarzen Kleides zu sehen, das mit einer seltsam geformten Brosche geschmückt war, die auffallend einem Sheriffstern ähnelte. Ellen Krone vermochte nicht zu entscheiden, ob es sich um einen Modeschmuck handelte. Wenn sie echt war, mußte sie sehr kostbar sein. Auf alle Fälle wirkte Annabelle Müller gepflegt und elegant, nicht wie eine Frau, deren Bekanntschaft man sich hätte schämen müssen.

Warum hatte Peter dann niemals ein Wort über sie erwähnt?

Die Schlußfolgerung lag nahe, aber Ellen Krone wollte sie nicht ziehen. Alles in ihr sträubte sich dagegen.

»Nein, nein, nein!« Sie rief es laut, als wenn sie ihre Gedanken damit übertönen könnte.

Ihr Mann war kein Mörder, sie durfte sich nicht in eine solche Vorstellung verrennen. Wahrscheinlich war er nicht einmal Annabelles Liebhaber gewesen. In all den zahllosen Pressenotizen, die sie über den Fall gelesen hatte, war niemals ein Wort von einem unbekannten Freund erwähnt worden.

Annabelle Müller war die Geliebte von Heinrich Groß gewesen. Das stand fest. Diese Tatsache hatte auch die Aussage der Angeklagten erhärtet. Wahrscheinlich war das Foto schon vor Jahren aufgenommen worden, vielleicht stammte es sogar noch aus jener Zeit, da Annabelle verheiratet gewesen war.

Ellen Krone drehte es um, in der Hoffnung, auf der Rückseite ein Datum zu finden, aber dort stand nur eine Widmung. »Meinem geliebten Peter von seiner Annabelle.«

Mehr nicht. Aber diese wenigen Worte genügten, um Ellen Krone erneut in einen Abgrund von Verzweiflung zu stürzen. Zwischen ihrem Mann und der ermordeten Annabelle hatte also eine enge Beziehung bestanden. Auch wenn diese Freundschaft Jahre zurücklag – warum, warum hatte er ihr nichts davon erzählt?

Es gab nur eine einzige Erklärung für dieses Schweigen, eine einzige Erklärung für das Entsetzen darüber, daß sie als Geschworene ausgerechnet für diesen Mordprozeß bestimmt worden war – er war in den Mordfall verwickelt.

Ellen Krone sträubte sich dagegen, selbst in Gedanken auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie liebte ihren Mann, und sie war fest überzeugt, daß er kein Mörder sein konnte.

Beinahe hätte sie, einem Impuls folgend, das verräterische Foto in tausend Fetzen zerrissen. Aber dann besann sie sich und ließ es in ihre Handtasche gleiten. Sie mußte mit ihrem Mann darüber sprechen. Aber sie scheute sich, ihn danach zu fragen. Er sollte sich ihr gegenüber nicht wie ein ertappter Sünder fühlen. Nein, es war viel besser, ihm eine Gelegenheit zu geben, von sich aus die Wahrheit zu bekennen.

Er würde es tun, dessen war sie sicher, er würde alles klären können. Aber obwohl sie sich bemühte, tapfer und vernünftig zu sein, wollte der Druck nicht von ihrem Herzen weichen. Sie spürte den drohenden Schatten, der über ihr junges Eheglück gefallen war, fast körperlich.

In der Gastwirtschaft »Zum goldenen Eck« ging es in den frühen Nachmittagsstunden sehr ruhig zu. Außer Peter Krone befanden sich nur wenige Gäste in dem großen, gemütlichen Schankraum, genauer gesagt, nur eine Runde älterer Herren, wahrscheinlich Rentner, die einen ausgiebigen Skat klopften, und ein junger Lastwagenfahrer, der an der Theke eine Cola trank.

Aber gerade die Anwesenheit dieses jungen Mannes machte es Peter Krone unmöglich, mit dem Wirt, Hubert Erlinger, einem Kameraden aus der Kriegszeit, ein vertrauliches Gespräch zu führen.

Erlinger, ein untersetzter Mann mit einem gemütlichen Boxergesicht, fuhr mit einem Wischtuch über das glänzende Spülbecken. »Schön, daß du dich auch mal wieder sehen läßt, Kumpel«, sagte er, »die Ehe scheint dich sehr häuslich gemacht zu haben …«

»Ich war unterwegs«, erwiderte Peter Krone kurz und warf einen Blick auf den Lastwagenfahrer, der sich jetzt auch noch eine Zigarette anzündete.

Ohne eine Bestellung abzuwarten, stellte Hubert Erlinger ein Bier und einen Korn vor Peter Krone auf die Theke. »Na dann«, sagte er, »wohl bekomm’s!«

»Willst du nicht einen mitheben?« fragte Peter Krone.

»Lieber nicht. Der Tag ist noch lang«, wehrte der Wirt ab, aber dann drehte er doch den Zapfhahn noch einmal auf und ließ Bier in ein Glas schäumen. »Weil du es bist«, sagte er, wischte mit der flachen Hand den Schaum ab und hob sein Glas. »Auf alte Zeiten!«

Peter Krone hatte den Schnaps schon gekippt, jetzt nahm er das Bierglas und prostete dem Freund zu. »Auf daß sie unvergessen bleiben!« Er leerte sein Glas. »Noch mal dasselbe!« forderte er.

»Na, du gehst aber heute ’ran«, sagte Erlinger. »Ärger zu Hause gehabt?« Er füllte das Schnapsglas erneut randvoll, so geschickt, daß nicht ein einziger Tropfen vergossen wurde.

»Ach wo«, sagte Peter Krone, »Ellen ist ganz in Ordnung.«

»Wem sagst du das! Ich habe euch ja schließlich zusammengebracht … oder?«

»Stimmt!« Peter Krone zündete sich eine Zigarette an.

»Wenn ich allerdings gewußt hätte, daß ihr beide euch, sobald ihr verheiratet wart, nie mehr würdet blicken lassen …« Erlinger drehte den Zapfhahn zu, wartete, bis der Schaum sich gesetzt hatte.

»Nun hör mal auf, alter Meckerkopf, jetzt bin ich ja da! Du kannst schließlich nicht erwarten, daß wir als verheiratete Leute immer noch mit deiner Küche vorliebnehmen …«

Hubert Erlinger drehte den Zapfhahn wieder auf und gab noch einen Schuß in das Bierglas. »Na, aber deshalb könntet ihr doch abends mal vorbeikommen, nur so auf ein Bierchen …« Er schob dem Freund das wohlgefüllte Glas zu.

»Ich sagte doch schon, ich war unterwegs, bin erst vorgestern wieder zurückgekommen …«

Hubert Erlinger beugte sich vor, stützte die Ellenbogen breit auf die Theke. »Wo hast du denn gesteckt?«

»Karachi…«

Der Lastwagenfahrer horchte auf. »Liegt das nicht in Indien?«

»Pakistan, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Da wollt’ ich immer schon mal hin!«

»Dann tun Sie’s doch!« sagte Peter Krone grob.

Der junge Mann verstand die Abweisung. »Na, entschuldigen Sie schon«, sagte er etwas beleidigt, »man wird sich ja wohl noch unterhalten dürfen!« Er warf ein Geldstück klirrend auf die Theke, tippte an seine Mütze und verließ den Schankraum.

Hubert Erlinger richtete sich auf. »Na, nett hast du den Jungen eben nicht behandelt!«

»Ich wollte ihn loswerden«, gab Peter Krone unumwunden zu.

»Nanu?«

»Ich möchte nämlich was mit dir besprechen!« Peter Krone drückte seine Zigarette aus, zündete sich aber gleich darauf eine neue an. »Du erinnerst dich doch, daß ich noch im vorigen Jahr so ungefähr jeden Abend hier war …«

»Und ob.«

»Na, ich hoffe, du kannst mir dann auch bestätigen, daß ich am Abend des neunzehnten September bis kurz nach Mitternacht hier in deiner Kneipe gesessen habe!«

Hubert Erlinger lachte laut auf und schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich? Bildest du dir ein, ich mache mir über das Kommen und Gehen meiner Gäste Notizen? Da hätte ich viel zu tun.«

»Denk mal nach«, drängte Peter Krone. »Vielleicht erinnerst du dich doch noch an jenen Abend! Es war ein Freitag …«

»Zahltag also. Noch schlechter. Da ist es hier immer bumsvoll. Wenn du mich fragst, wer alles am vorigen Freitag dagewesen ist, ich könnte dir nicht mal das sagen.«

Peter Krone gab nicht auf. »Aber ich war am neunzehnten September vorigen Jahres hier, das weiß ich zufällig ganz genau …«

»Wieso? Führst du etwa Tagebuch?«

»Nein. Aber …«, Peter Krone zögerte, »… aber gerade an jenem Abend ist etwas Besonderes geschehen. Es war der Abend, an dem Annabelle Müller, ermordet worden ist.«

Diese Eröffnung hatte nicht die erwartete Wirkung. Hubert Erlinger sah ihn nur verständnislos an und fragte: »Annabelle Müller? Wer ist denn das? Ich muß den Namen doch schon irgendwo gehört haben …«

»Ja, Menschenskind, liest du denn keine Zeitungen? Da steht doch alles über sie drin! Sie hatte ein Verhältnis mit einem Schuhfabrikanten, einem gewissen Heinrich Groß, und dessen Frau soll sie vergiftet haben! Heute morgen ist der Prozeß gegen sie eröffnet worden.«

»Schon gut, jetzt weiß ich wieder Bescheid. Ich interessiere mich nicht für solche Sachen, Fußball ist mir lieber. Aber was hast du denn damit zu tun?«

»Gar nichts! Das versuche ich dir ja schon die ganze Zeit klarzumachen. Ich war in der Mordnacht hier im ›Goldenen Eck‹.« Peter Krone schüttete den Schnaps durch die Kehle, ließ den halben Inhalt des Bierglases folgen, wischte sich mit der Hand über den Mund. »Das Dumme ist bloß, ich habe diese Annabelle gekannt …«

»Bist du als Zeuge geladen?«

»Ach wo. Niemand aus meiner Bekanntschaft weiß davon, jedenfalls bis jetzt noch nicht …«

»Dann begreife ich eigentlich nicht, warum du dich aufregst.«

»Nun hör endlich auf, dich so blöd zu stellen! Du kannst dir doch denken, wie das ist! Annabelle und ich waren verschiedentlich zusammen aus, ich war auch manchmal in ihrer Wohnung, es ist also durchaus nicht ausgeschlossen, daß man uns zusammen gesehen hat … wie stehe ich da, wenn ich in den Prozeß verwickelt werde! Denk doch mal an Ellen! Der habe ich nie was von der ganzen Sache erzählt!«

»Aber wenn du doch gar nicht dort warst …«

»Nein, ich war hier! Und ich möchte, daß du das bestätigst … für den Fall, daß man dich danach fragt!«

»Du brauchst also ein Alibi?«

»Nenn es, wie du willst.«

Hubert Erlinger begann die Gläser zu polieren, seine breiten kurzen Finger bewegten sich dabei erstaunlich geschickt. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Klar, daß ich mich daran erinnere. Du hattest mir doch mal erzählt, daß du diese Annabelle kennst, deshalb fiel mir gleich auf, als ich am nächsten Tag von dem Mord in der Zeitung las …«

»Erst am Dienstag! Die Leiche ist am Montag entdeckt worden, und anfangs hat die Polizei an einen Selbstmord geglaubt …«

»Na schön, als ich also am Dienstag davon in der Zeitung las, fiel mir gleich auf … der Junge war von acht bis kurz nach Mitternacht hier im Lokal. Recht so?«

»Verheddere dich bloß nicht!«

»Ich bin ja kein Idiot. Man muß mir bloß sagen, worum es geht.«

»Ich danke dir, Hubert«, sagte Peter Krone. »Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen kann! Ich war’s nicht, Hubert, ich habe nichts damit zu tun!«

»Um so besser.« Er sah, daß Peter Krone mit der Hand in die Hosentasche fuhr, fragte: »Du willst doch nicht etwa schon gehen?«

»Doch. Leider. Ich muß nach Hause. Meine Frau …«

»Na, ein bißchen Freizeit könnte sie dir schon lassen.«

»Darum geht’s nicht. Sie nimmt als Geschworene an dem Prozeß teil, und deshalb …«

»Eijeijeijei, was du nicht sagst!« unterbrach ihn der Wirt. »Das ist aber ein dicker Otto! Da kann ich dir wirklich nur Hals- und Beinbruch wünschen, alter Junge! Nein, zahl mir nichts, heute warst du mein Gast … wenn alles gut vorbei ist, kannst du mich dann mal einladen, abgemacht?«

Peter Krone reichte ihm die Hand. »Ich werde dir das nie vergessen«, sagte er, »du bist wirklich ein Mordskerl!«

Sie drückten sich kräftig die Hände, dann verließ Peter Krone das »Goldene Eck«. Er fühlte sich sehr viel besser als bei seiner Ankunft.

Die Angeklagte Carola Groß war nicht gleich nach der Verhandlung ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht worden. Sie hatte vorher noch ein Gespräch mit ihrem Rechtsanwalt Dr. Suttermann geführt, das in Anwesenheit des Justizbeamten stattfand, der sie ins Gericht begleitet hatte und sie jetzt wieder zurückbringen sollte.

Die vielen Stunden, in denen sie vor dem Richter Rede und Antwort hatte stehen müssen, hatten Carola Groß erschöpft. Ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz, ihre Züge wirkten verfallen, gleichsam wie aufgelöst, ihre schmalen Lippen bebten.

»Habe ich es richtig gemacht?« fragte sie nervös. »Ich … manchmal wußte ich gar nicht mehr, was ich sagen sollte! Dieser Staatsanwalt, er mag mich nicht, nicht wahr? Er … er ist so zynisch, aber …«

»Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Frau Groß«, mahnte Dr. Suttermann. Er spürte selber, daß seine Stimme durch das krampfhafte Bemühen, eindringlich zu wirken, einen unangenehm öligen Ton bekam. Er räusperte sich, sagte: »Möchten Sie eine Zigarette?«

»Ja … nein, erst einmal etwas zu trinken! Meine Kehle ist ganz rauh geworden …«

»Das kann ich mir vorstellen!« Dr. Suttermann nahm ein Tablett mit einem Kännchen Kaffee und einer Tasse von einem Schränkchen, stellte es auf den Tisch, goß ein.

»Hier«, sagte er, »trinken Sie! Ich habe Ihnen einen Schluck Kaffee aus der Kantine bringen lassen. Ich hoffe, er wird Ihnen guttun!«

Carola Groß umfaßte die Tasse mit beiden Händen, trank gierig, sagte dann erst: »Danke«, nahm eine Zigarette entgegen, die Dr. Suttermann ihr anbot.

»Der Herr Oberstaatsanwalt«, sagte Dr. Suttermann, »hat gar nichts gegen Sie, nicht gegen Sie persönlich, das dürfen Sie sich nicht einreden! Er steht einfach auf der anderen Seite, beruflich. Es ist seine Aufgabe, Ihnen die Tat nachzuweisen … wie es meine ist, Sie zu verteidigen!«

»Aber deshalb braucht er doch nicht so … so hämisch zu sein!«

»Das gehört zu seiner Methode. Er will Sie aus der Fassung bringen. Aber da Sie sich keiner Schuld bewußt sind, kann ihm das ja keinesfalls gelingen. Sie haben nicht das geringste zu befürchten.«

»Wenn ich das nur glauben könnte!«

»Sie müssen es! Haben Sie doch Selbstvertrauen! Das ist lebenswichtig für Sie! Man könnte Ihre … Ängstlichkeit als Schuldbewußtsein auslegen.«

Carola Groß sah aus erschrockenen Augen zu ihm auf. »Habe ich … so gewirkt?« fragte sie. »Schuldbewußt?«

»Aber nein! Keineswegs. Sie haben sich während der Verhandlung großartig gehalten.«

»Ich … bitte, halten Sie mich nicht für albern … aber ich habe gar kein Gefühl mehr dafür, ob ich …«

»Das verstehe ich gut, Sie brauchen sich deswegen nicht zu entschuldigen. Prägen Sie sich nur eines ganz fest ein: Wenn Sie sich immer strikt an die Wahrheit halten, kann Ihnen gar nichts passieren!«

»Ich weiß nicht …«, sagte sie wenig überzeugt.

»Sie müssen mir glauben. Sicher, es ist schon einmal vorgekommen, daß ein Unschuldiger verurteilt worden ist. Aber nur dann, wenn er sich in Lügen verstrickt hat. Also …!«

Carola Groß atmete tief und zwang sich zu einem Lächeln. »Sie haben mir wieder Mut gemacht!«

»Dann ist es ja gut. Und jetzt werde ich Ihnen einen Spiegel hinhalten, Sie werden Ihr Make-up erneuern und Ihr Haar in Ordnung bringen!« Er fuhr mit der Rechten unter den Talar, zog einen kleinen Spiegel aus seiner Jackentasche.

»Aber ich dachte … die Verhandlung wäre für heute beendet? Oder muß ich doch noch …?«

»Die Reporter, Frau Groß! Sie werden zwar das Gerichtsgebäude durch eine Hintertür verlassen, bis zum Gefängniswagen sind es nur wenige Schritte, aber …«

»Nein!« sagte Carola Groß entsetzt und hob beide Hände. »Nein! Das stehe ich nicht noch einmal durch!«

»Sie müssen es«, sagte Dr. Suttermann ruhig, »niemand kann Sie davor bewahren oder Sie gegen die Journalisten abschirmen! Und Sie müssen es sogar in besserer Haltung durchstehen als heute früh! Sie dürfen nicht wieder Ihr Gesicht abdecken, den Kopf zwischen die Schultern ziehen, einfach flüchten. Denken Sie immer daran … diese Bilder kommen in die Presse. Mit ihnen wird die Meinung der Öffentlichkeit und der Geschworenen beeinflußt.«

»Sie können nicht von mir verlangen, daß ich lächle!«

»Lächeln wäre falsch. Aber Sie müssen Ihr Gesicht zeigen, so wie es ist … ernst, leidend, gequält! Ein menschliches Gesicht. Sie haben doch nichts zu verbergen.«

»Ich kann nicht«, wiederholte Carola Groß nur. »Beim besten Willen … ich kann nicht!«

»Sie müssen es! Solche Bilder … flüchtend, den Unterarm vor dem Gesicht, erwecken bei dem Beschauer einen ganz falschen Eindruck. Unwillkürlich glaubt man: Diese Frau kann kein gutes Gewissen haben!«

»Können sich diese Leute denn nicht vorstellen, wie mir zumute ist? Wie grauenhaft es für mich ist, im Scheinwerferlicht zu stehen? In meiner Situation allen neugierigen Blikken preisgegeben zu sein?«

»Nein, und das können Sie von den Reportern auch nicht verlangen. Das versteht nur jemand, der etwas Ähnliches durchgemacht hat wie Sie … und dann noch sensibel genug ist. Also seien Sie tapfer! Wo haben Sie Ihren Lippenstift? Uns bleiben nur noch wenige Minuten!«

Er nahm ihr die Zigarette aus der Hand, drückte sie aus, sah aufmerksam zu, wie sie mit zitternden Fingern versuchte, ihr Aussehen zu verbessern.

»So, jetzt geht’s«, sagte er dann, »Sie sind doch eine gutaussehende Frau! Vergessen Sie Ihre Situation, bilden Sie sich ein, Sie wären die Fürstin von Humsti-Bumsti, die das Hotel ›Vierjahreszeiten‹ verläßt und in ihren Rolls-Royce steigt… na, sehen Sie, jetzt können Sie sogar lächeln!«

Aber ihr Lächeln verwehte, während sie, von ihrem Rechtsanwalt und dem Justizbeamten flankiert, auf den Gang hinaustrat. Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes mußte sie die Lippen zusammenpressen, um nicht vor Qual aufzuschreien. In ihren Augen stand das blanke Entsetzen. Von links und rechts, unten und oben klickten Kameras, flammten Blitzlichter auf, wollten Reporter sie durch Zurufe bewegen, sich in Position zu stellen.

»Schauen Sie mal hierher!« – »Zu mir!« – »Lächeln!« – »Ein Foto fürs Familienalbum!«

Sie war weit davon entfernt, zu begreifen, daß diese Männer nur ein flüchtiges berufliches Interesse an ihr hatten, daß es ihnen lediglich darauf ankam, ein sympathisch wirkendes Bild von ihr zu schießen – sie fühlte sich verstört, erniedrigt, gedemütigt, an den Pranger gestellt.

Als Carola Groß eine gute Stunde später im Untersuchungsgefängnis Besuch gemeldet wurde, war sie nahe daran, sich zu weigern, die Beamtin zu begleiten. Sie hatte das Essen fast unberührt gelassen, war unfähig, zu ruhen oder einen Gedanken zu fassen … es schien, als habe dieser eine Tag auch die letzten Kräfte in ihr zerstört.

Die Beamtin deutete das Zögern richtig. »Wenn Sie nicht wollen«, erklärte sie, »dann sage ich Bescheid. Niemand kann Sie zwingen …«

»Nein«, sagte Carola Groß entschlossen, »ich komme mit!« Plötzlich erschien ihr alles gut, was sie aus der Enge ihrer kleinen Zelle hinausführte.

Sie folgte der Beamtin über den langen Gang, vorbei an den eisernen Türen, ohne nach links oder rechts zu blicken.

Die Beamtin stieß die Tür zu dem kleinen Sprechzimmer auf, übergab sie einem Kollegen, der Carola Groß neugierig musterte.

Dann wurde die gegenüberliegende Tür geöffnet, und Heinrich Groß, ihr Mann, trat ein.

Unwillkürlich machte sie einen Schritt auf ihn zu, wollte in seine Arme sinken – aber sie blieb stehen, noch bevor sich der Beamte gezwungen sah, einzugreifen. Sie wußte von vielen vergangenen Besuchen her, daß jede Berührung, ja sogar ein Händedruck, verboten war.

»Heinrich«, stammelte sie überwältigt, »daß du gekommen bist! Heute!«

Heinrich Groß zog die Rechte, die er schon ausgestreckt hatte, zurück, rieb sie verlegen mit seiner anderen Hand. »Na«, sagte er, »ich mußte doch schließlich sehen, wie es dir geht!«

Eine Pause entstand. Sie sahen sich an. In Carolas Augen stand die Liebe, die sie für ihren Mann empfand – diesen keineswegs schönen Mann mit dem Bauchansatz, den selbst sein elegant geschneiderter Anzug nicht verbergen konnte, dem fahlen, schütteren Haar, den hellen Augen hinter der randlosen Brille.

»Wie geht es dir, Heinrich?« fragte sie endlich.

»Och, den Umständen entsprechend.«

»Zu Hause alles in Ordnung?«

»Ja. Das Mädchen ist ganz tüchtig. Natürlich ist es nicht dasselbe wie früher, als du noch da warst.«

»Und Vater?«

»Ich soll dich von ihm grüßen. Er wollte auch kommen, aber dann dachten wir, wir wechseln uns lieber ab.«

Wieder entstand eine jener Pausen, die immer dann einsetzen, wenn zwei Menschen sich allzuviel zu sagen haben und nicht recht wissen, womit sie beginnen sollen. Beide fühlten sich überdies durch die Anwesenheit des Beamten gehemmt.

»Ich habe mit deinem Rechtsanwalt gesprochen«, sagte Heinrich Groß schließlich, »du sollst dich großartig gehalten haben.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie, »es war alles wie ein … Alptraum.«

»Jetzt hast du es ja bald überstanden.«

»Ja. Hoffentlich.«

»Kathi ist zu Hause schon beim Großreinemachen. Damit alles in Ordnung ist, wenn du kommst.«

»Ich kann mir das gar nicht mehr vorstellen«, sagte sie, »daß alles wieder so werden soll wie früher… daß ich wieder herauskomme, in einem ordentlichen Bett schlafen darf, einkaufen gehen, ins Theater …«

»Vielleicht sollten wir zuerst einmal verreisen?«

»Ja. Vielleicht wäre das eine gute Idee.«

»Oder du fährst allein weg. In ein Bad. Oder in ein Sanatorium.«

»Nein! Das möchte ich nicht! Oder …« Erst jetzt schien sie die Tragweite seines Vorschlages zu begreifen, »… sehe ich so schlecht und so häßlich aus, daß ich …«

»Ach was. In ein paar Wochen kriegst du das schon wieder hin.«

Das Leuchten in ihren Augen erlosch, ihr Gesicht schien zusammenzuschrumpfen. »Mit einer Frau wie Annabelle Müller«, sagte sie, »werde ich nie konkurrieren können …«

»Ich dachte, dieses Thema wäre zwischen uns erledigt?«

»Entschuldige, es ist mir nur so herausgerutscht.«

»Das kann ja heiter werden, wenn du erst wieder zurück bist.«

Sie straffte die Schultern. »Wäre es dir lieber, wenn sie mich einsperren würden?«

»Herrgott noch mal! Red nicht so einen Unsinn! Natürlich wäre es mir nicht lieber!«

»Ich … ich bin nicht so sicher, daß es nicht vielleicht doch geschieht.«

»Unsinn!«

»Alles spricht gegen mich, Heinrich. Ich habe es nicht getan. Aber… ich kann es nicht beweisen.«

»Mach dich nicht nervös, Carola«, sagte er freundlich. »Selbst wenn sie dich verurteilen … was kann dir schon passieren?«

Ihre müden Augen wurden groß. »Wie meinst du das, Heinrich?«

»Na, ganz einfach. Wenn du es getan hast, dann doch nur aus Eifersucht …«

»Aber ich habe es ja gar nicht getan!«

»Versteh mich doch richtig, ich meine … selbst wenn das Gericht zu der Ansicht käme, daß du es getan hättest… ja? Weißt du jetzt, was ich sagen will? Dann war es doch kein gemeiner Mord, sondern du hast aus menschlich sehr verständlichen Motiven gehandelt… aus Liebe, um deine Ehe zu retten! Das wird bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Mehr als ein paar Jahre kriegst du bestimmt nicht aufgebrummt. Sprich mal mit Dr. Suttermann darüber.«

»Aber …«

»Die paar Jahre werden für mich und für dich nichts ändern. Ich werde auf dich warten, verlaß dich darauf. Mir käme es gar nicht in den Sinn, mich deswegen scheiden zu lassen.«

Auch der letzte Hauch von Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Heinrich!« stammelte sie.

»Bitte, nun reg dich doch nicht auf, Liebste! Wir mußten doch einmal darüber sprechen! Schließlich weiß ich, daß ich genauso schuld bin an dem, was dir passiert ist, wie du … ich werde dich nicht im Stich lassen, was auch immer geschieht!«

Carola Groß konnte sich später weder erinnern, wie sie in ihre Zelle zurückgekommen war, noch womit sie die Stunden bis zum Auslöschen des Lichtes verbracht hatte.

Sie wußte nur eines: Ihr eigener Mann hielt sie für eine Mörderin, er rechnete damit, daß sie verurteilt wurde!

Ihr erschöpfter Kopf und ihr gequältes Herz hatten dieser grausamen Erkenntnis, die für sie das Ende aller Dinge bedeutete, nichts entgegenzusetzen.

Carola Groß zog sich an diesem Abend nicht aus, sondern verkroch sich angezogen auf ihrer Pritsche, deckte sich mit der rauhen Decke bis zum Hals zu, schloß die Augen, wartete auf das vertraute Geräusch am Guckloch, die regelmäßige Kontrolle der Beamtin.

Dann stand sie auf, kniete nieder, tastete unter der Matratze nach ihrem Spiegel, fand ihn und brach ihn in zwei Stücke. Sie wußte, daß sie mit der Ausführung ihres Plans nicht zögern durfte, wenn sie Erfolg haben wollte, und sie vergeudete keine weitere Sekunde.

Sie nahm die eine Spiegelhälfte in die linke Hand, schnitt sich mit der zackigen scharfen Bruchstelle über das Handgelenk der rechten. Der gräßliche Schmerz war für sie fast eine Erlösung, denn jetzt, zum erstenmal seit langer Zeit, gab es etwas für sie, das stärker war als die ausweglose Qual ihres Herzens. Alles versank hinter diesem glühenden Schmerz, und sie schnitt sich ins eigene Fleisch, so tief sie es vermochte.

Dann nahm sie die Spiegelscheibe in die rechte Hand, wiederholte die gleiche Prozedur mit zusammengebissenen Zähnen. Beide Hände wurden klebrig von Blut, das auf ihr Kleid tropfte, auf den Fußboden – eine dickliche, süßlich riechende Flüssigkeit, fast schwarz im Schein dämmrigen Nachtlichtes.

Sie wollte aufstehen, sich niederlegen. Nicht der Schmerz, sondern der Geruch des Blutes, der klebrigen Substanz, die jetzt schon durch ihr Kleid bis auf die Schenkel drang, war zuviel für sie. Sie brach über der Pritsche zusammen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie unter der hellen Lampe eines Operationszimmers.

»Nicht bewegen«, sagte eine sachliche männliche Stimme, »es ist alles in Ordnung!«

Sie blickte in das gelassene Gesicht eines jungen Arztes. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. »Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?«

»Sie haben die Pulsadern gar nicht erwischt, seien Sie froh darüber. Ich habe beide Schnitte säuberlich vernäht. Morgen machen wir ein paar hübsche kleine Verbände darum – die werden niemandem auffallen.«

»Muß ich … zur Verhandlung?«

»Ich könnte sie krank schreiben. Aber damit wäre Ihnen nicht geholfen. Wollen Sie, daß in ein paar Wochen alles wieder von vorn beginnt? Es ist besser, Sie stehen es jetzt durch, dann haben Sie es hinter sich. Heute nacht bleiben Sie hier auf der Krankenstation. Ich werde Ihnen ein gutes Schlafmittel geben. Der erste Tag ist meist der schlimmste … morgen sieht alles anders aus!«

Als Ellen Krone den Schlüssel im Türschloß hörte, hatte sie die Fotoalben längst weggeräumt. Dennoch zuckte sie zusammen, wußte in plötzlicher Verwirrung nicht, wie sie sich verhalten sollte – ihrem Mann entgegengehen oder einfach sitzen bleiben? Dinge, die sie sonst ohne jede Überlegung getan hatte, waren plötzlich zu einem Problem geworden. Sie spürte, daß sie jede Unbefangenheit ihrem Mann gegenüber verloren hatte. Aber das durfte er nicht merken, um keinen Preis.

Sie zwang sich, mit einem Lächeln von ihrer Handarbeit aufzusehen, als er ins Wohnzimmer trat.

Er beugte sich über sie, gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Ich habe nicht geahnt, daß du schon zu Hause bist.«

»Macht ja nichts«, sagte sie spröde, ohne ihn anzusehen.

»Ich habe mich inzwischen ein bißchen ausgeruht.«

»War es so anstrengend?«

»Nein«, sagte sie zögernd, »nicht für uns … ich meine, für uns Geschworene. Wir brauchten ja nur zuzuhören.« Sie legte ihre Handarbeit zur Seite, nahm sich eine Zigarette aus der Tischdose.

Er reichte ihr Feuer. »Und?« fragte er beiläufig-ein wenig zu beiläufig, wie es ihr schien. »Ist etwas Neues herausgekommen?«

»Nein. Das Gericht hat sich heute auf die Vernehmung der Angeklagten beschränkt. Für sie muß es furchtbar gewesen sein.«

Er nahm sich selber eine Zigarette. »Leugnet sie weiter?«

»Ja.« Sie schwieg wieder, weil sie nicht wußte, wie sie das Gespräch auf jenes Thema bringen sollte, das ihr im Augenblick allein interessant war.

Er deutete ihr Schweigen falsch. »Wenn du nicht darüber sprechen möchtest …«

»Doch«, sagte sie, »nur … weißt du, ich habe das Gefühl, der Schlüssel zu dieser ganzen Angelegenheit ist nicht bei der Angeklagten, sondern nur bei dem Opfer selber zu finden. Man müßte wissen … Was war Annabelle Müller eigentlich für eine Frau?«

Er zuckte nicht mit der Wimper. »Das fragst du mich?«

»Nein. Eher mich selber. Es müßte ja wirklich schon ein Zufall sein, wenn du diese Annabelle gekannt hättest.« Sie sah, wie sich sein Gesicht verschloß, redete rasch weiter, um es ihm leicht zu machen.

»Allerdings glaube ich, daß es eine Menge Leute geben muß, die sie gekannt haben! Stell dir nur vor, eine junge attraktive Frau in einer großen Stadt! Sie muß doch Bekannte gehabt haben, Freunde, Freundinnen … viel mehr, als Zeugen vor Gericht erschienen sind!«

Er zuckte die Achseln. »Die wichtigsten sind bestimmt geladen.«

»Woher willst du das wissen? Vielleicht gibt es Menschen, die sehr interessante Dinge sagen könnten, wenn sie nur wollten … die sich einfach deshalb nicht gemeldet haben, weil sie nicht vor Gericht erscheinen mögen.«

»Na, und scheint dir das so unverständlich?«

»Nein, aber ich finde doch … wenn man nichts zu verbergen hat, sollte man mithelfen, ein solches Verbrechen aufzuklären.«

»Dafür«, sagte er und erhob sich, »ist doch in erster Linie die Polizei verantwortlich. Wärst du mir sehr böse, wenn ich dich jetzt für ein oder zwei Stunden allein ließe? Ich habe noch zu arbeiten.«

Er ging, und sie war sich klar darüber, daß sie keinen Schritt weitergekommen war. Er hatte so unbefangen auf ihre Anspielungen reagiert, daß sie ihm seine Ahnungslosigkeit bestimmt geglaubt hätte, wenn – ja, wenn sie nicht den Beweis seiner Beziehungen zu Annabelle mit eigenen Augen gesehen hätte.

Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen und hätte ihm ins Gesicht gesagt, was sie wußte.

Aber sie wagte es nicht. Sie hatte Angst, Angst vor ihrem eigenen Mann, und diese Erkenntnis erfüllte sie mit eisigem Entsetzen.

Die erste Zeugin, die am zweiten Verhandlungstag aufgerufen wurde, war Fräulein Elfriede Kramer, 28 Jahre alt, Direktrice in einem Modehaus. Sie war schlank, dunkelhaarig, sehr elegant und schien – jedenfalls hatte Ellen Krone den Eindruck – ihren großen Auftritt vor Gericht in vollen Zügen zu genießen. Sie trug ein bronzefarbenes Kostüm mit Nerzbesatz und einen auffallend großen Hut mit breiter, geschwungener Krempe, die ihre Stirn und ihre Augen beschattete.

Nachdem Landgerichtsrat Mergentheimer ihre Personalien erfragt hatte, kam er zur Sache. »Ist Ihnen die Angeklagte bekannt?«

Elfriede Kramer wandte sich Carola Groß zu und musterte sie mit übertriebener Gründlichkeit. »Nein«, sagte sie dann, »aber natürlich weiß ich, wer sie ist …«

»Haben Sie sie früher schon einmal gesehen?«

»Ja …«

»Wann und bei welcher Gelegenheit?«

»Am Abend des neunzehnten September vorigen Jahres!«

»Sie erinnern sich genau an das Datum?«

»Ja, denn es war der Tag, an dem ich auch Annabelle Müller das letztemal gesehen habe … lebend, meine ich.«

»Wie kam es zu dieser Begegnung zwischen Ihnen und der Angeklagten?«

»Ich verließ meine Wohnung … ich wohnte nämlich sozusagen Tür an Tür mit der Ermordeten … gegen acht Uhr. An die Zeit erinnere ich mich genau, weil ich eigentlich schon um Punkt acht Uhr verabredet war und mich verspätet hatte. Als ich zum Lift ging, hielt er gerade, und eine Dame kam heraus. Es war«, fügte Elfriede Kramer mit einer dramatischen Geste hinzu, »Frau Carola Groß!«

Da die Angeklagte bereits zugegeben hatte, ihre Rivalin an jenem Abend aufgesucht zu haben, verpuffte diese Aussage ohne Wirkung.

»Sie sagten eben, daß Sie an diesem Tag auch Annabelle Müller zum letztenmal gesehen haben … wann war das?« fragte der Vorsitzende.

»Als ich aus dem Geschäft nach Hause kam. So gegen sieben Uhr. Sie kam auf einen Sprung zu mir herüber, um mit mir zu plaudern. Das tat sie öfter, wir waren in gewisser Weise miteinander befreundet.«

»Was erzählte sie an jenem Abend?«

»Sie kam gar nicht dazu, irgend etwas zu erzählen, denn ich hatte es sehr eilig, weil ich ja verabredet war. Ich wollte noch baden und mich umziehen, deshalb schob ich sie so schnell wie möglich wieder ab.«

»Was für einen Eindruck machte Fräulein Müller auf Sie?« »Eindruck?« fragte die Zeugin verständnislos zurück. »Nun, ich meine … war sie besonders aufgedreht oder niedergeschlagen, vielleicht nervös, schien sie Angst zu haben …?«

»Nein, dann hätte ich mich bestimmt länger mit ihr befaßt.

Sie war ganz wie sonst.«

»Wie lange dauerte diese Unterhaltung?«

»Nur wenige Minuten, und ich glaube, die meiste Zeit habe ich selber geredet.«

»Wann kamen Sie an jenem Abend wieder nach Hause?«

»Oh, eigentlich erst am nächsten Tag, es muß schon gegen zwei Uhr früh gewesen sein …« Die Zeugin lächelte, als wenn sie sich auf ihre Antwort und die Tatsache, die dadurch enthüllt wurde, besonders viel zugute täte.

»Sie waren es dann auch, die am nächsten Montag den Vorschlag machten, in die Wohnung Fräulein Müllers einzudringen und nach dem Rechten zu sehen?«

»Das weiß ich nicht mehr … ich meine, ob ich den Vorschlag gemacht habe oder unsere Hausmeisterin, Frau Kerner. Jedenfalls fiel mir auf, daß sich das ganze Wochenende über nichts in der Nachbarwohnung rührte … sonst hörte man nämlich allerhand durch die Wände – nicht daß man ein Wort verstehen könnte, aber doch Musik, wenn das Fernsehen läuft, oder das Rauschen des Wassers und ähnliches. Aber an diesem Wochenende war es totenstill, Annabelle Müller ließ sich auch bei mir nicht blicken, und ich dachte schon, sie wäre verreist …«

»Kam das öfter vor?« warf der Vorsitzende ein.

»Nicht eben häufig, aber doch manchmal. Als ich, am Montag aus dem Geschäft nach Hause kam, traf ich Frau Kerner unten in der Halle, und ich deutete an, daß Fräulein Müller wohl verreist sei. Frau Kerner glaubte aber ziemlich sicher zu wissen, daß Annabelle nicht fort war, weil sie ihr sonst immer die Wohnungsschlüssel gab und sie auch zu bitten pflegte, ihre Topfpflanzen zu begießen… also, da kamen wir überein, doch mal in der Wohnung nachzusehen …« Elfriede Kramer legte eine kleine Kunstpause ein. »Und da fanden wir sie dann …«

»Danke«, sagte der Vorsitzende, »Herr Oberstaatsanwalt … haben Sie noch Fragen an die Zeugin?«

Oberstaatsanwalt Kleiper erhob sich. »Sie sagten eben, Sie und die verstorbene Annabelle Müller seien Freundinnen gewesen?«

»Wir standen auf freundschaftlichem Fuß miteinander, ja …«

»Dann hat Ihnen die Verstorbene doch sicher auch von ihren Beziehungen zu Heinrich Groß erzählt?«

»Nein. Natürlich wußte ich, daß sie einen Freund hatte. Aber einen Namen hat sie nie erwähnt.«

»Hat sie Ihnen erzählt, daß die Frau ihres Freundes eifersüchtig war?«

»Ja. Andeutungen darüber hat sie gemacht.«

»Daß sie sich vor der Frau ihres Freundes fürchtete?«

»Nein, das bestimmt nicht. Annabelle hatte keine Angst. Sie war sehr selbstbewußt und davon überzeugt, mit jeder Schwierigkeit fertig zu werden.«

»Es gab also Schwierigkeiten?«

»Die gibt es ja immer. Aber Annabelle hatte, glaube ich, eher Spaß daran, Menschen gegeneinander auszuspielen.«

»Sie können sich demnach vorstellen, daß Fräulein Müller die Angeklagte so lange gereizt hat, bis …«

Rechtsanwalt Suttermann sprang auf. »Ich erhebe Einspruch! Die Zeugin kann zu dieser Frage nichts anderes als Mutmaßungen äußern, die …«

»Dem Einspruch wird stattgegeben!« entschied der Vorsitzende.

»Dann habe ich keine weiteren Fragen mehr an die Zeugin«, erklärte der Oberstaatsanwalt.

Rechtsanwalt Suttermann war an der Reihe. »Jetzt denken Sie einmal gut nach! Sind Sie sicher, daß die Verstorbene Ihnen immer nur von einem Freund erzählt hat? Oder gab es in ihrem Leben vielleicht mehrere Männer?«

»Sie sprach immer nur von einem Freund… mein Freund, sagte sie, wenn sie von Heinrich Groß sprach … aber natürlich hatte sie noch andere Bekannte.«

»Hat Sie Ihnen einen dieser Männer einmal vorgestellt?«

Ellen Krone warf einen raschen, besorgten Blick auf ihren Nachbarn, Kasimir Kaiser, aber der blickte mit leeren Augen geistesabwesend vor sich hin. Niemand im ganzen Gerichtssaal schien zu begreifen, wieviel von der Beantwortung dieser Frage abhing.

»Nein«, sagte die Zeugin.

»Sind Sie vielleicht einmal zufällig einem dieser Männer begegnet?«

»Außer Heinrich Groß?«

»Ja.«

Die Zeugin schien angestrengt nachzudenken. »Einmal traf ich Annabelle Müller im Theater. Sie war in Begleitung.«

»In Begleitung eines Mannes?«

»Ja.«

»Wie sah er aus?«

»Sehr gut. Groß, breitschultrig, kräftiges Kinn, blondes Haar …«

Es war Ellen Krone, als bliebe ihr das Herz stehen. Die Beschreibung traf genau auf ihren Mann zu. Ohne Zweifel: Die Zeugin hatte Annabelle Müller in Begleitung Peter Krones gesehen.

Alle Liebe dieser Welt

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