Читать книгу Alle Liebe dieser Welt - Marie Louise Fischer - Страница 6
3
ОглавлениеSekundenlang war die Geschworene Ellen Krone fast besinnungslos vor Entsetzen. Es schien ihr, als richteten die Zuhörer unten im Sitzungssaal ihren Blick auf sie, als sähe jeder ihr an, welches Geheimnis sie in ihrem Herzen verbarg.
Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzustehen und es laut hinauszuschreien: »Ich kenne diesen Mann, der Annabelle Müller begleitet hat! Ich bin mit ihm verheiratet!«
Sie brauchte alle ihre Energie, um sich in der Gewalt zu behalten, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, den Aufruhr in ihrem Innern zu bekämpfen.
Von den weiteren Fragen, die Rechtsanwalt Dr. Suttermann an die Zeugin Elfriede Kramer stellte, drang kein Wort in ihr Bewußtsein. Sie kam erst wieder zu sich, als Elfriede Kramer vereidigt war und die nächste Zeugin, die Hausmeisterin Agathe Kerner, vor dem Richtertisch erschien.
Frau Agathe Kerner, eine mollige junge Frau in einem hellen offenen Mantel, mit kräftigen Händen, die sie in zu enge Glacéhandschuhe gezwängt hatte, bestätigte die Aussage Elfriede Kramers in jedem Punkt, wußte aber trotz der bohrenden Fragen des Oberstaatsanwaltes nichts Neues hinzuzufügen.
»Frau Zeugin«, sagte Rechtsanwalt Dr. Suttermann, »Sie erklärten soeben, daß Sie den Freund der Verstorbenen, Herrn Heinrich Groß, während der letzten beiden Jahre einige Male gesehen haben…«
Frau Kerner wandte sich dem Anwalt zu, warf den Kopf mit dem wohlfrisierten blonden Haar, auf dem ein kleiner roter Lackhut thronte, herausfordernd in den Nacken. »Das stimmt auch«, erklärte sie entschieden.
Es war offensichtlich, daß sie das Gefühl hatte, man wolle ihr eine Falle stellen, und deshalb bemühte sich der Rechtsanwalt, so freundlich wie möglich zu sprechen. »Können Sie uns einmal genau erzählen bei welchen Gelegenheiten das war?«
»An die Daten erinnere ich mich natürlich nicht mehr … ich konnte ja nicht ahnen, daß das mal wichtig sein würde …«
»Die Daten interessieren uns hier auch gar nicht! Ich möchte nur wissen, wie Ihre Begegnungen mit Herrn Groß sich abspielten.«
»Ach so! Sie wissen ja, ich bin Hausmeisterin im Appartementhaus. Wir haben da einen Lift, zu dem jeder einzelne Mieter einen Schlüssel besitzt. Wenn aber jemand Besuch bekommt, dann öffne ich den Lift mit meinem Schlüssel, damit der Besuch nach oben fahren kann …«
»Aha. Und Sie haben also Herrn Groß verschiedentlich den Lift geöffnet?«
»Ja.«
»Jetzt denken Sie mal gut nach! Ist es möglich, daß Herr Groß an dem fraglichen Abend… also am neunzehnten September vorigen Jahres … Sie auch wieder gebeten hat, ihn nach oben fahren zu lassen? Es wäre ja denkbar, daß Ihnen das über all den Aufregungen bisher entfallen ist …«
Die Angeklagte zuckte zusammen, sie machte eine Bewegung, als wenn sie ihrem Anwalt etwas sagen wollte, aber er brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Bestimmt nicht«, sagte Frau Kerner entschieden, »gerade weil Fräulein Müller an jenem Abend ermordet worden ist, hätte ich es sicher nicht vergessen!«
»Hätte Herr Groß … ich frage das nur ganz theoretisch … auch ohne Ihre Hilfe zu Fräulein Müllers Wohnung gelangen können?«
»Natürlich. Es gibt eine Treppe. Aber die hat Herr Groß nie benutzt. Fräulein Müller wohnte ja im achten Stock.«
»Aber theoretisch hätte er auch die Treppe hinaufgehen können, ohne von Ihnen gesehen worden zu sein?«
»Ja.«
»Sie beobachten die Leute, die in das Appartementhaus kommen oder es verlassen, also nicht?«
»Dazu bin ich nicht angestellt.«
»Es hätte also nicht nur Herr Groß, sondern jeder, der es wollte, ohne Ihr Wissen in den achten Stock dringen können?«
»Ja…«
»Sie können also nicht mit Sicherheit sagen, daß außer von Frau Groß Fräulein Müller an jenem Abend von niemand anderem aufgesucht worden ist?«
»Nein …«
»Und Sie haben auch Frau Groß nicht gesehen?«
»Nein.«
»Wie erklären Sie dann, daß sie … ohne Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen … den Lift benutzen konnte?«
»Wahrscheinlich ist gerade einer der Mieter nach Hause gekommen, und sie hat mit ihm zusammen den Lift betreten.«
Rechtsanwalt Dr. Suttermann wandte sich fragend an die Angeklagte. Carola Groß nickte.
»Noch eine Frage«, sagte der Verteidiger. »Sie können nicht mit Sicherheit behaupten, daß Fräulein Müller außer Herrn Groß keine anderen Freunde hatte?«
»Natürlich nicht.«
»Wissen Sie, ob Annabelle Müller außer Herrn Groß auch andere Besucher empfing?«
Jetzt zögerte Frau Kerner. »Sie kam manchmal mit Bekannten nach Hause. Sie fuhren dann zusammen nach oben.«
»Sie sind doch eine gute Beobachterin, Frau Kerner … können Sie uns einige dieser Bekannten beschreiben?«
»Nein.«
»Die Zeugin Kramer hat ausgesagt, Annabelle Müller in Begleitung eines hochgewachsenen, gutaussehenden blonden Herrn gesehen zu haben. Können Sie sich an diesen Herrn erinnern?«
»Nein«, sagte Frau Kerner entschieden, »ich weiß überhaupt nicht, was Sie mit diesen Fragen wollen. Ich bin ja nicht dazu angestellt, um hinter unseren Mietern herumzuspionieren. Ich habe einen Mann und zwei Kinder, und das Privatleben anderer Leute interessiert mich überhaupt nicht.«
»Da es sich aber nun um einen Mordfall handelt …«
»Wenn ich gewußt hätte, daß Fräulein Müller ermordet werden würde, hätte ich schon aufgepaßt!« sagte Frau Kerner erregt.
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf …«
»Das kommt mir aber so vor! Jeder weiß doch, daß Herr Groß mit Fräulein Müller befreundet war, und Frau Groß hat ja zugegeben, Fräulein Müller am neunzehnten September aufgesucht zu haben! Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen!«
Auch diese Zeugin wurde vereidigt, dann wurde Kriminalrat Amstetter aufgerufen. Er trat mit der Selbstsicherheit eines Mannes in den Verhandlungssaal, für den Schwurgerichtssitzungen nichts Außergewöhnliches sind, machte seine Angaben zur Person schnell und präzise.
Er war ein unauffälliger Mann mit einem ruhigen Gesicht. Nur die harten grauen Augen verrieten den Kriminalisten, und Ellen Krone schauderte bei der Vorstellung, von diesem Mann verhört zu werden. Unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Angeklagte. Carola Groß war blasser als am Tag zuvor, der Ausdruck ihres Gesichtes hatte etwas Maskenhaftes, ihre Haltung wirkte verkrampft. Ellen Krone fiel auf, daß sie während der ganzen bisherigen Verhandlung die Hände im Schoß gehalten hatte.
Kriminalrat Amstetter hatte schon mit seiner Aussage begonnen. Er berichtete, daß er auf Grund des Anrufs einer Funkwagenbesatzung, die als erste am Tatort erschienen war, mit einem Assistenten in das Appartementhaus fuhr. Die Leiche Annabelle Müllers hatte in verrenkter Haltung, die Knie hochgezogen, auf dem Diwan gelegen. Ihr Gesicht war blau verfärbt gewesen, die Augen hatten weit offengestanden. Er gab dem Vorsitzenden einen Stoß Fotografien, die Landgerichtsrat Mergentheimer aufmerksam betrachtete, bevor er sie einzeln an seine Mitrichter und die Geschworenen weitergab. Ellen Krone konnte sich nicht überwinden, die entsetzlichen Bilder genau anzusehen.
Kriminalrat Amstetter berichtete weiter, daß er, da die Verstorbene keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte und ein Giftbehälter unauffindbar gewesen war, auf Mord geschlossen habe. Die fast geleerte Cognacflasche auf dem Tisch sei auf Fingerabdrücke untersucht worden, doch hätten sich keine Abdrücke außer denen der Verstorbenen feststellen lassen.
»Auffällig war«, sagte er, »daß Aschenbecher und Gläser geleert und sorgfältig gespült worden waren. Alles stand an seinem Platz, beziehungsweise die Gläser im Schrank. Es sah aus, als habe eine Hausfrau aufgeräumt.«
»Ich erhebe Einspruch!« rief der Verteidiger. »Diese Bemerkung ist irreführend und soll nur dazu dienen, die Angeklagte zu belasten!«
»Das lag keineswegs in meiner Absicht! Ich wollte nur meinen Eindruck schildern!«
»Sie können aber doch nicht ausschließen, daß Fräulein Müller selber ihre Wohnung aufgeräumt hat?«
»Doch, das kann ich. Die Analyse des Mageninhaltes hat ergeben, daß die Tote an einem sehr starken und sehr rasch wirkenden Gift gestorben ist. Sie hatte keineswegs die Möglichkeit, noch vor ihrem Tod, beziehungsweise bevor die ersten sehr schmerzhaften Krämpfe einsetzten, das Glas, aus dem sie getrunken hatte, zu spülen, abzutrocknen und fein säuberlich in den Schrank zu stellen.«
»Woher wollen Sie denn wissen, daß sie das Gift aus einem Glas zu sich genommen hat?«
»Weil eine andere Möglichkeit unvorstellbar ist.«
»Nicht für mich«, behauptete der Anwalt, »ich könnte mir denken, daß sie das Gift auch in Form einer Praline eingenommen haben kann!«
»Ihr Magen wies keine Spur von Schokolade auf. Es fanden sich auch in der Wohnung keinerlei Reste von Konfekt, lediglich dünne Käseplätzchen und Kümmelstangen, die zur Injizierung von Gift ganz ungeeignet waren.«
»Haben Sie sie analysieren lassen?«
»Nein, ich hielt das für überflüssig.«
Rechtsanwalt Dr. Suttermann setzte sich, als wenn er einen Sieg errungen hätte. Tatsächlich aber hatte dieses Geplänkel weder auf die Richter noch auf die Geschworenen Eindruck gemacht. Es war nur zu deutlich, daß die Verteidigung kein wirkliches Argument in der Hand hatte und es nur darauf anlegte, Verwirrung zu stiften und den Zeugen unglaubwürdig zu machen.
Landgerichtsrat Mergentheimer beugte sich vor. »Um nochmals auf die Bemerkung, als habe eine Hausfrau aufgeräumt, zurückzukommen! Mir persönlich will es so scheinen, als wenn keine besonderen Fähigkeiten dazu gehören, ein paar Gläser auszuwaschen, abzutrocknen und fortzustellen … oder sind Sie da anderer Meinung?«
»Durchaus nicht.«
»Die gleichen Handgriffe hätte doch auch ein zwölfjähriges Kind oder ein hauswirtschaftlich völlig unvorgebildeter Mann durchführen können?«
»Ja, das stimmt.«
»Dann sind wir uns wohl einig, daß diese Bemerkung irreführend war und aus dem Protokoll gestrichen werden sollte?«
»Ja«, mußte der Kriminalrat zugeben.
Landgerichtsrat Mergentheimer wandte sich an den Schriftführer.
»Bitte, nehmen Sie das auf!« Dann sah er wieder den Zeugen an.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, waren in der Wohnung der Ermordeten keine Spuren zu entdecken, die auf einen Kampf schließen ließen.«
»Richtig.«
»Aber auf diesem Foto … wenn Sie bitte näher treten wollen … ist doch die Couchdecke zerwühlt, der kleine Teppich vor der Couch verrutscht!«
Kriminalrat Amstetter warf nur einen flüchtigen Blick auf die Fotos.
»Das ist im Todeskampf geschehen.«
»Möglich. Aber es ist doch wohl nicht ganz ausgeschlossen, daß die Tote das Gift nicht unwissend zu sich nahm, sondern gewaltsam dazu gezwungen wurde?«
»Ihr Körper zeigte keinerlei Spuren irgendwelcher Gewalteinwirkungen.«
»Danke. Das genügt mir, Herr Oberstaatsanwalt …?«
Oberstaatsanwalt Kleiper erhob sich mit betonter Langsamkeit, die seinen Bewegungen etwas verhängnisvoll Drohendes gab. »Herr Kriminalrat«, sagte er, »hatten Sie den Eindruck, daß die Wohnung der Ermordeten nach der Tat durchsucht worden ist?«
»Nein. Ich sagte ja schon, alles wirkte sehr aufgeräumt … keine offenen Schubladen, keinerlei Unordnung in den Schränken …«
»Das beweist aber doch nicht, daß die Wohnung nicht durchsucht worden ist. Der Täter hatte Zeit, viel Zeit … erinnern wir uns daran, daß der Mord erst Tage später entdeckt wurde. Er wurde also auf keine Weise gestört.«
»Das ist richtig.«
»Fehlte in der Wohnung irgend etwas? Vielleicht Bargeld? Schmuck?«
»In der Brieftasche der Toten fanden sich etwas über zweihundert Mark. Da sie am selben Morgen zweihundertfünfzig Mark von ihrem Bankkonto abgehoben hatte, ist es so gut wie sicher, daß sie den fehlenden Betrag selber ausgab.«
»Schmuck?«
»Die Tote trug eine Armbanduhr, einen Goldreif und einen Ring mit einem Rubin. Den Hauptteil ihres Schmuckes pflegte sie in einem Banksafe aufzubewahren. Er konnte sichergestellt werden. Allerdings …« Kriminalrat Amstetter zögerte.
»Ja?« fragte der Oberstaatsanwalt.
»Es gibt keine Aufstellung über diesen Schmuck und keinen Zeugen, der uns hätte angeben können, was die Ermordete tatsächlich an Schmuck besaß. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, daß der Täter aus gewinnsüchtigen Motiven handelte, denn dann hätte er auch Ring, Armreif und vor allem das Bargeld an sich genommen.«
»Aber es fehlte doch etwas in der Wohnung, nicht wahr?«
»Ja. Ein Fotoalbum. Alle Zeugen, die die Ermordete zu Lebzeiten gekannt haben, bestätigen, daß sie ein Album besaß, in das sie nicht nur ihre sämtlichen Fotos klebte, sondern auch gewisse Eindrücke zu notieren pflegte …«
Der Oberstaatsanwalt tat so, als komme ihm diese Tatsache jetzt zum erstenmal zu Ohren und als fände er sie ungeheuer interessant. »Aha«, sagte er, »das ist bemerkenswert! Haben Sie nach dem verschwundenen Album geforscht?«
»Ja, das habe ich.«
»Und haben Sie es gefunden?«
»Ich habe die verkohlten Reste eines Fotoalbums in dem Haus der Familie Groß gefunden, und zwar im offenen Kamin!«
Diese Tatsache war bisher in der Presse noch nicht erwähnt worden, und sie erregte im Gerichtssaal beträchtliches Aufsehen. Aber ein einziger Blick auf Carola Groß überzeugte Ellen Krone davon, daß sie und ihr Verteidiger den Schlag erwartet hatten.
»Ich möchte einige Fragen an die Angeklagte richten«, erklärte der Oberstaatsanwalt.
»Falls Sie keine Fragen mehr an den Zeugen haben … und auch Sie nicht, Herr Verteidiger«, sagte Landgerichtsrat Mergentheimer.
»Doch, aber erst etwas später«, erwiderte Dr. Suttermann.
»Setzen Sie sich einen Augenblick, Herr Zeuge! Angeklagte, bitte!«
Carola Groß stand auf. Sie hielt ihre Arme steif nach unten. »Ich weiß, was Sie mich fragen wollen, Herr Oberstaatsanwalt«, sagte sie mit überraschend klarer und fester Stimme, »aber ich habe dieses Fotoalbum nie gesehen, auch niemals früher von seiner Existenz gewußt. Es stimmt, daß ich im Kamin unseres Hauses ein Album verbrannt habe. Es enthielt Bilder von unserer Hochzeitsreise und … ich konnte diese Bilder einfach nicht mehr ertragen, nachdem ich glauben mußte, daß unsere Ehe zerstört war.«
»Aber Sie haben uns gestern weismachen wollen, daß Sie völlig beruhigt waren, als Sie Annabelle Müller verließen?«
»Das habe ich niemandem weismachen wollen, sondern es war wirklich so. Das Fotoalbum … unser Fotoalbum … hatte ich schon am Morgen verbrannt. Als ich erfuhr, daß sich mein Mann trotz aller Versprechungen wieder mit seiner Geliebten getroffen hatte.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?« Der Oberstaatsanwalt lächelte geringschätzig und setzte sich.
»Es ist die Wahrheit!«
»Darf ich jetzt noch einige Fragen an den Herrn Kriminalrat richten?« sagte Dr. Suttermann.
Kriminalrat Amstetter trat vor, noch ehe der Richter ihm einen Wink dazu gab.
»Sie haben die Einlassung der Angeklagten gehört«, sagte der Verteidiger, »sie erklärt, ein Fotoalbum mit Bildern ihrer Hochzeitsreise verbrannt zu haben.«
»Das überrascht mich nicht.«
»Haben Sie dieses zweite Album ausfindig machen können?«
»Nein.«
»Es spricht also alles dafür, daß die Angeklagte die Wahrheit sagt.«
»Durchaus nicht. Sie war raffiniert genug, beide Alben zusammen zu verbrennen.«
»Haben Sie in der Asche Reste von zwei verschiedenen Alben nachweisen können?«
»Nein, das nicht, aber …«
»Danke, das genügt mir.« Dr. Suttermann setzte sich.
»Vielen Dank, Herr Kriminalrat«, sagte der Vorsitzende freundlich, »wenn der Herr Oberstaatsanwalt keine weiteren Fragen an Sie hat … nein? Dann können wir jetzt die Vereidigung vornehmen.«
Nachdem der Kriminalrat vereidigt worden und gegangen war, erhob sich Oberstaatsanwalt Kleiper erneut zu seiner vollen, imposanten Größe. »Ich möchte noch einige Fragen an die Angeklagte stellen.«
Auch Carola Groß stand wieder auf.
»Sie haben ausgesagt, daß Sie etwa eine Stunde, also bis gegen neun Uhr, bei der Ermordeten waren.«
»Ja, das stimmt auch … das heißt, so genau kann ich es nicht sagen, es kann auch etwas später geworden sein.«
»Vielleicht waren Sie zwei Stunden dort? Bis zehn?«
»Nein, das ist ausgeschlossen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Ich habe nur einen Cognac getrunken und zwei, höchstens drei Zigaretten geraucht …«
»Ach ja, stimmt, die Flasche war ja noch zu Dreiviertel voll, als Sie gingen?«
»Ja.«
»Und dann? Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich bin nach Hause gefahren.«
»Haben Sie vielleicht auf die Uhr gesehen, als Sie zu Hause ankamen?«
»Nein.«
»Haben Sie irgend jemanden unterwegs getroffen? Oder sind Sie zu Hause von Ihrem Gatten oder Ihrem Mädchen empfangen worden?«
»Nein. Mein Mann war nicht da. Und Kathi, unser Mädchen, hat grundsätzlich ab acht Uhr Feierabend, wenn wir nicht gerade Gäste haben.«
»Hätte sie Sie nicht nach Hause kommen hören müssen?«
»Ihr Zimmer war dunkel. Es ist möglich, daß sie schon schlief. Oder daß sie vielleicht im Kino war.«
»Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, daß Sie von Annabelle Müller aus geradewegs nach Hause gefahren und dort … wollen wir großzügig sein … etwa gegen zehn Uhr eingetroffen sind?«
»Später war es bestimmt nicht.«
Oberstaatsanwalt Kleiper wandte sich an Landgerichtsrat Mergentheimer. »Ich möchte bitten, als nächste Zeugin die Hausangestellte Katharina Scheibel aufzurufen!«
Katharina Scheibel war eine adrette, sehr lebendige junge Person, die auf das Gericht und die Zuhörer im Saal einen guten Eindruck machte.
Auf eine Frage des Richters erklärte sie, Frau Carola Groß sei am Abend des neunzehnten September kurz nach zehn Uhr nach Hause gekommen. »Ich hatte gerade das Licht ausgemacht, aber ich war noch wach. Ich hörte, wie sie den Wagen in die Garage fuhr … mein Zimmer liegt gleich darüber … und dann klapperten ihre hohen Absätze über das Pflaster zur Haustür.«
»Haben Sie aus dem Fenster geschaut?«
»Nein. Aber ich bin ganz sicher, daß es Frau Groß gewesen ist. Das Auto von Herrn Groß macht andere Geräusche, und auch seine Schritte sind viel schwerer.«
Der Oberstaatsanwalt erhob sich, stemmte beide Arme auf den Tisch, beugte sich drohend vor. »Zeugin! Sie wissen, daß Sie diese Aussage auf Ihren Eid nehmen müssen?«
»Ja…«
»Und Sie wissen auch, was ein Eid bedeutet?«
»Ja …«
»Daß Sie beim Namen des Allerhöchsten schwören müssen … die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen?«
»Ja …«, sagte Katharina Scheibel nur wieder, aber ihre Stimme klang nicht mehr so sicher.
Das ist ja ein Einschüchterungsversuch, dachte Ellen Krone, das dürfte man doch nicht zulassen! Sie warf einen Blick auf die Angeklagte, die sich mit einer fahrigen Bewegung über das blonde Haar strich, sah jetzt zum erstenmal den weißen Verband um ihr Handgelenk. Aber ehe sie noch ihre Schlüsse daraus ziehen konnte, wurde sie durch die Vernehmung der Zeugin davon abgelenkt.
»Sie sind im Begriff, einen Meineid zu leisten«, donnerte Oberstaatsanwalt Kleiper mit einer Stimme, die jeden Gleichmut verloren hatte. »Danken Sie Gott, daß das Gericht das nicht zulassen wird! Wir wissen … machen Sie sich klar, was das bedeutet… wir wissen, daß Sie am Abend des neunzehnten September vorigen Jahres mit Ihrem Freund im Kino waren und daß Sie anschließend mit ihm noch in einer Gastwirtschaft ein Glas Bier getrunken haben … Sie können die Angeklagte also gar nicht gegen zehn Uhr gehört haben, denn da waren Sie selber noch nicht zu Hause!«
»Aber ich habe sie gehört«, versuchte sich die Zeugin zu verteidigen.
»Möglich. Aber erst um zwölf Uhr!«
»Nein! Zwölf hatte es noch nicht geschlagen!«
»Dann also kurz vor zwölf… geben Sie es zu, oder wollen Sie weiter lügen? Auch auf wissentlich falschen Aussagen, selbst wenn sie nicht unter Eid geschehen, steht Gefängnisstrafe … bekennen Sie sich also endlich zur Wahrheit!«
»Ich habe Frau Groß kurz vor zwölf Uhr nach Hause kommen hören«, sagte die Zeugin leise und warf einen scheuen Blick auf die Angeklagte.
»Und … warum haben Sie versucht zu lügen? Weil Sie die Angeklagte für die Täterin halten.«
»Nein, nein, das stimmt ja gar nicht! Ich habe es getan, weil Herr Groß mich darum gebeten hat!«
In den Aufruhr hinein, der nun im Gerichtssaal entstand, schrie sie: »Ich … ich habe mir nichts dabei gedacht, wirklich nicht! Ich wollte Frau Groß ja nur helfen!«
Als Ellen Krone am frühen Nachmittag das Landgericht verließ, riefen die Verkäufer am Stachus die Abendzeitungen aus: »Sensation im Mordprozeß Carola Groß! Selbstmordversuch der Angeklagten! Sensation im Mordprozeß Carola Groß …«
Ellen Krone kaufte ein Blatt. Einzelheiten über den Selbstmordversuch der Angeklagten standen auf der ersten Seite. Ein Foto zeigte Carola beim Verlassen des Gerichtsgebäudes mit einem Ausdruck panischer Furcht in den weitaufgerissenen Augen. Ellen Krone las den Artikel, während sie mit der Straßenbahn in Richtung Waldfriedhof fuhr. Erst jetzt wurde ihr klar, was die verkrampfte Haltung der Angeklagten, ihr Bemühen, die Handgelenke unter den Jackenärmeln zu verbergen, was die weißen Verbände zu bedeuten hatten. Ihre Vorsicht hatte Carola Groß nichts genutzt, es gab für sie kein Privatleben mehr; jeder, der sich dafür interessierte, konnte nachlesen, was sie in ihrer Verzweiflung getan und wie sie gerettet worden war.
Dieser Selbstmordversuch mußte – das war Ellen Krone klar – Richter und Geschworene gegen die Angeklagte einnehmen, er kam einem Schuldgeständnis nur zu nahe. Vielleicht war sie, Ellen Krone, die einzige, in der er tiefes Mitleid erweckte. Schon als Kind hatte sie immer die Neigung gehabt, sich auf die Seite der Schwächeren zu stellen, Freundschaften gerade mit solchen Kindern zu schließen, die bei den Mitschülerinnen und den Lehrern unbeliebt gewesen waren. Oft genug hatte sie sich selber dadurch geschadet, aber manchmal hatte sie auch durch ihr tapferes Eintreten beweisen können, daß das Vorurteil gegen ein bestimmtes Kind zu Unrecht bestand. Auch bei Carola Groß konnte sie, allen vernünftigen Erwägungen zum Trotz, das Gefühl nicht loswerden, einen Menschen vor sich zu haben, der ohne eigenes Verschulden in das Räderwerk der Justiz geraten war.
Nur ein Geständnis der Angeklagten hätte sie wirklich überzeugen können, nur ein Geständnis hätte sie von ihrer Angst, ihren Zweifeln, ihrem Mißtrauen, ihrer Gewissensqual erlöst. Die Fragen, die sie seit Beginn des Prozesses-bedrängten, waren an diesem zweiten Verhandlungstag noch drängender geworden, verlangten noch nachdrücklicher nach einer Antwort. Was hatte ihr Mann mit Annabelle Müller zu tun? Warum schwieg er sich so beharrlich über seine Beziehungen zu der Ermordeten aus? Wußte er etwas über ihren Tod?
Sie mußte es in Erfahrung bringen, um jeden Preis, denn sie konnte nicht länger mit einem Mann Zusammenleben, dem sie nicht mehr voll und ganz vertraute, der ein Geheimnis vor ihr verbarg.
Peter kam ihr in der kleinen Diele entgegen, als sie die Wohnungstür aufschloß. Er nahm sie in die Arme, küßte sie – aber er spürte sofort, daß sie seine Zärtlichkeit nicht so hingebend und weich erwiderte wie sonst.
Er gab sie frei. »War es anstrengend?«
»Ziemlich«, erwiderte sie und zermarterte ihr Hirn, wie sie das unaufschiebbar gewordene Gespräch beginnen könnte.
Er half ihr aus dem Mantel, sie setzte ihren Hut ab, strich vor dem Garderobenspiegel mit beiden Händen die dunkel glänzenden Locken glatt. Ihre tiefblauen Augen brannten in ihrem blassen Gesicht.
»Peter«, sagte sie, »ich muß mit dir sprechen …«
»Über alles, was du willst, mein Herz … nur nicht gerade über den Prozeß!«
Sie sah sein Gesicht vor sich im Spiegel. Sein Mund lächelte, aber seine grauen Augen hatten einen verschlossenen, ja düsteren Ausdruck.
»Warum nicht?« fragte sie und nahm all ihren Mut zusammen. »Ich könnte mir vorstellen, daß dich der Fortgang des Prozesses brennend interessiert.«
»Irrtum«, erwiderte er, immer noch dasselbe verkrampfte Lächeln um die Lippen, »ich bin alles andere als sensationshungrig.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Peter«, sagte sie, »heute beschrieb eine Zeugin einen Mann, den sie in Annabelle Müllers Begleitung gesehen hat …«
»Wann?«
Sie beantwortete diese Frage nicht, sondern fuhr fort: »Die Beschreibung traf auf dich zu, Peter!«
Er lachte, aber es klang keineswegs fröhlich. »Groß, breitschultrig, blond, wie? Eine Beschreibung, die auf Tausende von Männern allein hier in München paßt!«
»Aber nicht diese Tausende, sondern du hast Annabelle Müller gekannt!« Nun war es heraus, und sie fühlte sich fast erleichtert.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er eine Antwort fand, »Was für ein Unsinn, Ellen«, sagte er rauh, »du siehst Gespenster!«
Sie trat auf ihn zu. »Peter, du weißt, wie sehr ich dich liebe! Bitte, sag mir die Wahrheit! Es ist so wichtig für mich … und auch für dich, für uns beide!«
»Was, in Dreiteufelsnamen, willst du von mir wissen?«
»Peter, heute haben wir noch einmal Glück gehabt. Die Zeugin kannte deinen Namen nicht. Aber schon morgen kann jemand auftauchen, der dich identifiziert. Was dann? Du wirst als Zeuge geladen, du hast dich durch dein Schweigen verdächtig gemacht, der Verteidiger wird alles daransetzen, dich vor dem ganzen Gerichtssaal als möglichen Täter hinzustellen! Und ich, ich muß dann aufstehen und sagen, daß du mein Mann bist… daß ich mein Amt als Geschworene wegen Befangenheit niederlege! Willst du es wirklich dazu kommen lassen? Wir beide wären durch einen solchen Auftritt gebrandmarkt, auch wenn man dir nichts beweisen kann!«
Eine Sekunde lang sah es so aus, als habe dieser Appell ihn erschüttert. Dann aber sagte er: »Ich war von Anfang an dagegen, daß du an diesem Mordprozeß teilnimmst. Es geht über deine Kräfte. Ich bin dir nicht böse, Ellen, aber …«
»Böse!« rief sie. »Welches Recht hättest du, mir böse zu sein? Weil ich deine Lügen durchschaut habe?«
»Ellen, bitte …«
»Ich weiß, daß du Annabelle Müller gekannt hast, daß du sie sogar gut gekannt haben mußt! Ich habe ein Foto von euch gefunden!«
»Das Foto!« Er lachte auf. »Herrgott, daran hätte ich wirklich denken sollen!« Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
Dann erst schien er sich wieder der Anwesenheit seiner Frau bewußt zu werden. »Komm, Ellen«, sagte er, »seifriedlich! Du hast natürlich recht, ich hätte dir diese Sache nicht verschweigen sollen. Jetzt machen wir uns erst einmal eine Tasse Kaffee, und dann werde ich dir alles erklären …« Er wollte ihren Arm nehmen.
Aber sie riß sich los. »Nein, jetzt!« verlangte sie. »Jetzt sofort! Du hast Zeit genug gehabt, dir alles zurechtzulegen! Was war mit dir und Annabelle Müller? Hast du etwas mit ihrem Tod zu tun?«
»Natürlich nicht«, erklärte er ruhig. »Ob du mir nun glaubst oder nicht: Tatsache ist, ich habe sie ein gutes Jahr vor ihrem Tod zum letztenmal gesehen.«
»Warum hast du denn nichts davon erzählt?«
»Alle Welt redet über Annabelle Müller, schnüffelt in ihrem Leben, stellt Vermutungen an. Und da hätte ich sagen sollen: Ich weiß, was für eine Frau sie war, ich habe sie persönlich gekannt! Das konnte ich einfach nicht.«
»Aber mir, wenigstens mir hättest du das doch sagen müssen!«
»Gerade dir nicht. Wenn sie nicht auf diese Weise umgekommen wäre, dann hätte ich dir bestimmt von dieser Freundschaft erzählt. Es war ja nichts dabei. Sie war eine sehr gut aussehende und auch sehr charmante Frau, wir haben uns ein paarmal getroffen … Aber sie hat mir nichts bedeutet, und ich ihr noch weniger. Sobald ein zahlungskräftiger Kavalier auftauchte … ich nehme an, es war dieser Heinrich Groß … ließ sie mich fallen wie eine heiße Kartoffel. Du siehst, ich habe eine ziemlich schäbige Rolle in diesem Drama gespielt.«
Ellen Krone war schon fast überzeugt, daß er die Wahrheit sprach, sie sehnte sich danach, ihm glauben zu können, dennoch sagte sie zögernd: »Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Was?«
»Daß eine Frau dich wegen eines Heinrich Groß verläßt!«
»Du darfst Annabelle Müller nicht mit dir vergleichen«, sagte er ernst. »Sie war eine Goldgräberin. Sie suchte nicht nach Liebe und war weit davon entfernt, Liebe zu geben. Sie war eine Spielerin, ihre Hingabe war der Einsatz, und es kam darauf an, viel zu gewinnen!«
»Und wann, sagst du, hast du sie zum letztenmal gesehen?«
»Wir waren für Silvester verabredet. Aber da hatte sie wahrscheinlich schon den anderen kennengelernt, denn sie sagte in letzter Minute ab. Ich hatte schon einen Tisch für uns reservieren lassen und war ziemlich böse über ihre Absage. Trotzdem rief ich noch einmal an, und da erklärte sie mir klipp und klar, daß alles zwischen uns aus sei. Das muß in der ersten Januarwoche gewesen sein, und im September darauf ist sie ermordet worden. Du siehst also …«
»Trotzdem hättest du dich als Zeuge melden sollen«, sagte sie schwach.
»Aber Ellen! Damit hätte ich mich doch nur lächerlich gemacht! Ich habe während der kurzen Zeit unserer Beziehungen sehr wenig über sie gewußt und dann jeden Kontakt mit ihr verloren. Wie hätte ich denn der Polizei helfen können!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie aufatmend.
»Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt! Glaub mir, Ellen, diese Frau hat mir wirklich nichts bedeutet! Hätte ich denn sonst vollkommen vergessen, daß ich ein Foto von ihr habe? Hätte ich es achtlos herumliegen lassen?«
Sie lächelte unter Tränen zu ihm auf. »Es ist nicht herumgelegen, es steckte hinten in deinem Fotoalbum!«
»Und als du es entdeckt hast, bist du natürlich eifersüchtig geworden.
Meine arme kleine Ellen!« Er nahm sie in die Arme, und diesmal wehrte sie sich nicht, sondern schmiegte sich eng an seine Brust. »Wie mußt du dich gequält haben! Aber nun ist alles gut, ja? Nun vertraust du mir wieder?«
Ohne es selber zu merken, seufzte sie tief und erleichtert. »Von ganzem Herzen!«
»Bitte, schelten Sie mich nicht!« flehte Carola Groß. »Ich habe es ja nicht gewußt! Ich war wirklich überzeugt, daß niemand gehört hatte, wann ich nach Hause gekommen war. Wie konnte ich denn ahnen …« Ihre Stimme versagte, sie schluchzte verzweifelt auf.
»Mit dieser Lüge haben Sie meine ganze Verteidigung sabotiert«, rief Rechtsanwalt Dr. Suttermann und fuhr sich nervös über sein dichtes, graumeliertes Haar. »Sie sind mir in den Rücken gefallen! Das war unverantwortlich … einfach unverantwortlich von Ihnen!«
Der wachhabende Justizbeamte im kleinen Zimmer des Justizgebäudes gab sich alle Mühe, ein teilnahmsloses Gesicht zu zeigen, aber der Ausdruck seiner Augen verriet sein waches Interesse.
»Wie oft habe ich Ihnen ans Herz gelegt«, sagte Dr. Suttermann, »die ganze Wahrheit zu sagen! Wie oft habe ich mich bemüht, Ihnen klarzumachen, daß wir nur durch die völlige Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage das Urteil beeinflussen können! Ich war so sicher, Sie hätten mich verstanden. Aber nein! Da gehen Sie hin und erzählen dumme Lügen! Daß Sie bis neun bei der Ermordeten gewesen und dann gleich nach Hause gefahren wären. Es ist wirklich zum Wahnsinnigwerden!«
»Aber … begreifen Sie denn nicht … ich hatte einfach nicht den Mut, zuzugeben, daß ich nicht sofort nach Hause gefahren bin! Wer hätte mir denn geglaubt? Alle, auch Sie, Herr Rechtsanwalt, hätten doch angenommen, daß ich länger bei der Ermordeten war. Daß ich die Flasche Cognac vielleicht geleert, das Gift ins Glas geschüttet hätte. Dabei bin ich wirklich nur so durch die Straßen gefahren … um mich abzureagieren, um meine Gedanken zu ordnen … mir zu überlegen, wie ich nach diesem Gespräch meinem Mann gegenübertreten sollte!«
»Sie können nicht erwarten, daß Ihnen das jetzt … nachdem Sie sich erst in ein ganzes Lügennetz eingewickelt haben … noch einer der Geschworenen abnimmt!«
»Ich weiß«, sagte Carola Groß mit erstickter Stimme, »ich weiß ja, daß ich einen Fehler gemacht habe!« Mit einem plötzlichen Aufbegehren fügte sie hinzu: »Aber geglaubt hätte mir niemand, auch wenn ich von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte! Alle halten mich für die Mörderin … auch Sie, Dr. Suttermann!«
Der Rechtsanwalt erhob sich, griff nach seiner Aktentasche. »Wenn Sie dieser Überzeugung sind, Frau Groß, dann ist es wohl besser, ich lege die Verteidigung nieder!«
Carola Groß starrte ihn mit halb offenem Mund und von Tränen geröteten Augen an, ein Bild des Jammers. »Sie wollen mich im Stich lassen?« fragte sie fassungslos. »In dieser Situation?«
»Ich sehe keine Möglichkeit, Sie weiter zu verteidigen. Ich kann Ihrem Wort nicht mehr vertrauen, und Sie …«
»Ich kann Sie nicht zwingen, mich weiter zu verteidigen«, erklärte Carola Groß mit überraschender Würde, »Sie müssen selber wissen, was Sie tun. Aber wenn Sie mich jetzt verlassen, werden Sie mit dafür verantwortlich sein, wenn ein Fehlurteil gefällt wird. Jeder wird den Schluß ziehen, daß Sie die Verteidigung deshalb niederlegen, weil Sie von meiner Schuld überzeugt sind.«
Rechtsanwalt Dr. Suttermann zögerte. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich mir keine Skrupel mache …«
»Sie und Ihre Skrupel!« rief Carola Groß empört. »Gehen Sie, gehen Sie! Worauf warten Sie denn noch? Ich habe gelogen, ja! Ist das denn ein Verbrechen? Sind Sie sicher, daß Sie selber nicht auch lügen, zu jedem Mittel greifen würden, wenn Sie sich eingekreist, zu Tode gehetzt fühlten? Sie mögen ein guter Anwalt sein, aber Sie haben keinen Funken menschlichen Verständnisses, genausowenig wie der bösartige Staatsanwalt!«
»Nun erlauben Sie aber mal, Frau Groß …«
»Nein, nichts gar nichts erlaube ich! Ich habe nichts mehr zu verlieren, und deshalb darf und will ich so sprechen, wie es mir ums Herz ist! Sie haben mich bisher verteidigt, stimmt … aber warum haben Sie es getan? Weil es Ihr Beruf ist, weil ein Freispruch Ihr Ansehen hebt, weil Sie dafür bezahlt werden! Aber nicht eine Sekunde konnten Sie nachfühlen, wie mir zumute ist… was ein Mensch fühlt, der unschuldig auf der Anklagebank sitzt, dem ein gemeines Verbrechen, ein Giftmord, zur Last gelegt wird und der keine, aber auch keine Möglichkeit hat, seine Unschuld zu beweisen!«
»Wenn Sie sich wenigstens an die Wahrheit gehalten hätten!«
»Wenn, ja wenn! Wer glaubt mir denn die Wahrheit? Alles, was ich über meinen Besuch bei Annabelle Müller gesagt habe, ist die Wahrheit … und wollen Sie mir einreden, daß mir irgend jemand im Gerichtssaal, ein einziger Mensch … von den Richtern und Geschworenen … auch nur ein Wort geglaubt hat? Sie alle haben ebenso wie die ganze Öffentlichkeit ihr Urteil schon über mich gefällt, längst bevor es zu diesem Prozeß kam!« Carola Groß schwieg erschöpft. Ihre Schultern sanken vor, sie preßte, um ihre Beherrschung zurückzugewinnen, die Handflächen gegeneinander.
»Ich habe niemals behauptet«, sagte Dr. Suttermann, einigermaßen aus der Fassung gebracht, »daß es leicht sein wird, einen Freispruch zu erzielen.«
»Ja, aber jetzt haben Sie eingesehen, daß es unmöglich ist – und für aussichtslose Sachen sind Sie nicht … nicht wahr, Dr. Suttermann? Sie haben schon recht, legen Sie die Verteidigung nieder, und waschen Sie Ihre Hände in Unschuld. Vielleicht werden Sie das nächstemal einen Halbstarken verteidigen, der einen alten Mann über den Kopf geschlagen hat und ihn ausraubte – dem man aber nichts nachweisen kann. Das sind Fälle, die sich lohnen.«
Dr. Suttermann straffte die Schultern. »Sie steigern sich da in eine Verbitterung hinein, die zwar menschlich verständlich, aber, was mich betrifft, geradezu beleidigend ist! Wenn Sie auf meinen Rat gehört hätten, wäre es niemals zu diesem Eklat gekommen.«
»… und Sie wären nicht blamiert gewesen! Ja, ich weiß, ich habe mich falsch verhalten, und es tut mir leid. Was wollen Sie sonst noch von mir hören?«
»Können Sie mir schwören, daß es keinen anderen dunklen Punkt gibt, den Sie mir verschwiegen haben?«
»Können Sie mir schwören, daß Sie an meine Schuldlosigkeit glauben?«
Der Rechtsanwalt und seine Klientin sahen sich sekundenlang starr in die Augen.
Dann sagte Dr. Suttermann: »Ich werde mein Mandat nicht niederlegen!«
»Und ich versichere Ihnen, daß ich nie mehr versuchen werde, die Tatsachen zu verschleiern«, versprach Frau Groß, »aber davon, daß mein Mann versucht hat, Kathi zu beeinflussen, habe ich wirklich nichts gewußt …«
»Darüber werde ich noch persönlich mit Ihrem Gatten reden müssen!«