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Oberarzt Dr. Carl Westhaus trat lautlos ins Zimmer. Angelika schlief tief, fest, mit leicht geöffnetem Mund. Ein rundes, gelöstes Kindergesichtchen, warm vom Schlaf, mit verwuschelten, dunklen Haaren. Die Hände mit den halbgeschlossenen Fäusten auf dem Kopfkissen — wie ein Baby.

Angelika sollte noch an diesem Vormittag operiert werden. Der Oberarzt beugte sich über sie und schob das linke Augenlid sachte zurück. Die Kleine rührte sich nicht. Das Schlafmittel, das man ihr schon am gestrigen Abend gegeben hatte, wirkte immer noch. Sie würde nichts davon merken, wenn man sie in den Operationssaal bringt. Sie ahnte nicht einmal, was ihr bevorstand.

Lange blickte Dr. Westhaus auf Angelika. Selber so ein kleines Mädchen haben … ein Kind, das ihm allein gehörte, sein Kind … oder vielleicht einen Jungen … frech, ein bißchen vorlaut … Er, Carl Westhaus, könnte ihm zeigen, wie man auf die Bäume klettert oder mit einem Bogen schießt….. er müßte sich natürlich beeilen … immerhin, mit seinen achtunddreißig Jahren …

Dann dachte er unvermittelt: Hoffentlich klappt bei Angelikas Operation alles!

Die aufgehende Tür riß Dr. Carl Westhaus aus seinen Gedanken. Er richtete sich auf und drehte sich um.

Schwester Sigrid, die Stationsschwester, die hübsche blonde Sigrid mit den braunen Augen, der ihre weiße Arbeitstracht wie ein Modellkleid stand, trat ein. Frisch, adrett wie immer, ein Lichtblick in diesem Haus der kranken Menschen.

Das war es ja auch gewesen, was ihn damals an ihr so angezogen hatte.

Dennoch dachte er jetzt: Ausgerechnet…

»Carl!« Ihre Augen leuchteten freudig auf. Sie zog die Tür rasch hinter sich zu.

Dr. Westhaus legte den Finger auf die Lippen, obwohl er wußte, kein Lärm der Welt hätte Angelika aufwecken können. Sigrids Begrüßung bereitete ihm Unbehagen. Es war ihm nicht recht, daß er ihr hier begegnete. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

»Wie hat die Kleine die Nacht verbracht?« fragte er.

»Gut«, sagte Sigrid schnell. »Hör mal, Carl, ich muß unbedingt mit dir sprechen.«

»Aber doch nicht jetzt!«

»Wann denn? Wann sonst?« Ihre Stimme bekam einen unangenehmen Beiklang, wie immer, wenn sie erregt war. »Du hast ja nie Zeit für mich. Nie mehr. Früher …«

»Schrei nicht so!«

»Das ist alles, was du sagen kannst: Schrei nicht so!« Sie trat zu ihm hin, faßte ihn an den Kittelaufschlägen, ihre Augen baten. »Bitte, Carl — was ist nur los mit dir? Ich — ich habe heute abend frei. Könnten wir nicht … Kann ich nicht zu dir kommen?«

Langsam, mit Nachdruck, löste er ihre Hände. Er sah über sie hinweg, hatte ein schlechtes Gewissen, er wußte, daß er ihr weh tat, daß er im Unrecht war. Und dennoch sagte er:

»Nein. Es geht nicht. Ich bin mit eine paar Kollegen verabredet.«

Er log. Es stimmte nicht, was er sagte — und er schämte sich seiner Lüge. Doch wie hätte er ihr sagen können, daß ihn nichts mehr an sie band als die Erinnerung an eine Leidenschaft, die in sich zusammengefallen war, wie ausgebranntes Feuer … Sie war ihm gleichgültig, sie war ihm in den letzten Wochen immer fremder geworden, obwohl er sich gegen dieses Gefühl gewehrt hatte. Er hatte ihr nichts mehr zu sagen, und als er ihr jetzt gegenüberstand, fragte er sich verwundert, ob es wirklich einmal eine Zeit gegeben hatte, in der er glücklich war in ihren Umarmungen, in der er ihr zärtliche Torheiten zugeflüstert hatte und ihr seine Liebe beteuerte, drängend, hungrig nach ihrer Liebe und Hingabe.

Sie trat zwei Schritte zurück. Ihre Augen wurden böse.

»Kollegen —!« sagte sie spöttisch. »Sag doch lieber gleich — Skat klopfen!«

»Genau. Skat klopfen.«

»Früher —«, begann sie wieder, doch er hob beschwörend die Hände.

»Um Himmels willen — du hast eine seltene Begabung, ein Gespräch zur unrechten Zeit am unrechten Ort anzufangen. Ich muß mich jetzt vorbereiten. Der Professor ist sicher schon hier, und wir wollten Angelika um neun operieren.« Er trat an sie heran, hob mit der Hand ihr Gesicht hoch, und seine Stimme wurde weicher, begütigend. Er wollte Zeit gewinnen, in der Hoffnung, daß sich alles von selbst lösen würde. Und einmal auch mit ihr sprechen, versuchen, ihr alles zu erklären, wenigstens versuchen, obwohl er keine Hoffnung hatte, sie würde es verstehen. »Wir wollen uns in den nächsten Tagen einmal aussprechen. Bestimmt. Du kommst zu mir, und wir wollen in aller Ruhe … sei bitte nicht so ungeduldig. Ich muß jetzt gehen. Es wird vielleicht nicht einfach sein mit der Kleinen.« Er blickte kurz zu Angelika hinüber, die im Schlaf den Daumen in den Mund gesteckt hatte.

»Du brauchst dich gar nicht vorzubereiten.« In Sigrids Stimme schwang leise Schadenfreude mit. »Es wird nicht operiert.«

Dr. Westhaus starrte sie an. »Aber wieso denn? Was ist los?«

»Abgeblasen. Vor einer halben Stunde.«

»Warum, um Himmels willen?«

Schwester Sigrid zuckte mit den Schultern. »Soviel ich weiß, ist der Alte plötzlich abberufen worden. Jedenfalls hat es geheißen, Angelika wird operiert, wenn er zurückkommt.«

»Wo muß er denn hin?«

Sigrid zuckte mit den Schultern.

»Aber — das ist doch kein Grund«, sagte Dr. Westhaus. »Ich selber könnte …«

»Natürlich kannst du das genausogut wie der Professor. Aber er will das nicht. Er läßt keinen anderen ran. Er ist ein bißchen komisch geworden in der letzten Zeit. Vielleicht hat er Angst, du könntest ihm die Privatpatienten abspenstig machen. Alles schon dagewesen.«

»Unsinn! An so was denkt der Alte nicht mal im Schlaf. Ist er noch im Hause?«

»Weiß ich nicht.« Und wieder versuchte sie: »Könntest du deine Freunde heute abend nicht mal versetzen, Carl? Ich wäre so furchtbar glücklich …«

Sie verstummte, als sie in seine Augen sah. Sein Blick war abwesend, nachdenklich, er sah sie gar nicht mehr, und sicher hatte er auch nicht gehört, was sie gesagt hatte. Heiße Bitterkeit stieg in ihr hoch, verschloß ihr den Mund, ließ ihr Gesicht brennen. Wie konnte er sich nur so verändert haben. Was war nur los mit ihm? Hatte er sie — satt? Wie konnte das ausgerechnet ihr passieren? Warum hatte sie sich so besinnungslos verliebt, obwohl sie früher immer einen klaren Kopf behalten hatte. Vielleicht war es das, vielleicht hatte er sie deswegen über? Nein, er war nicht der erste, doch hatte sie früher stets nach ihrem eigenen Willen gehandelt. Es gab genug junge — und ältere Ärzte, die ihr für einen Blick, für eine kleine Zärtlichkeit das Blaue vom Himmel versprachen. Sie konnte ihre Gunst demjenigen geben, den sie sich selbst aussuchte. Und nun — das!

Zorn, Scham, Wut über sich selbst ließen ihre Hände zittern. Sie wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sah. Er war ihr aber schon zuvorgekommen. Überdeutlich hörte sie Carls Schritte zur Tür, hörte sie die Tür aufgehen und dann wieder zuklappen.

Sie war allein.

Zwischen ihren Fingern liefen Tränen und hinterließen nasse Spuren auf den Handrücken. Sie mußte etwas tun, irgend etwas. Sie wußte nicht was, aber alles war besser, als dieses langsame Sichentfremden, als zuzusehen, wie er ihr langsam entglitt, immer mehr, sie mußte etwas unternehmen, schnell, sie mußte sich beeilen, damit es nicht zu spät wurde.

Oberarzt Dr. Westhaus stürmte in das Vorzimmer des Chefarztes Professor Hornstein.

»Morgen —!« grüßte er die Sekretärin, die noch nicht richtig wach hinter ihrem Schreibtisch saß und Karteikarten sortierte. »Ich muß mit dem Alten sprechen. Sofort!«

»Na, na, nur mit der Ruhe!« Die Sekretärin, Fräulein Laberger oder »Labergerin«, wie man sie nannte, sah den Oberarzt über ihre runde Brille mißmutig an. Sie konnte es sich erlauben, seit etwa dreißig Jahren saß sie bereits an diesem Schreibtisch, hatte im Laufe der Zeit recht diktatorische Eigenschaften entwickelt, und es war ein offenes Geheimnis, daß selbst der Chef sie nur mit Samthandschuhen anzufassen wagte. Doch genausogut wußte man auch, daß sie bereit war, nächtelang für »ihre« Klinik zu arbeiten, die zum einzigen Inhalt ihres Lebens geworden war.

»Er ist doch hier?« fragte der Oberarzt.

»Der Herr Professor muß gleich wieder fort«, sagte die Labergerin.

»Wohin?«

»Nach Helsinki.«

»Helsinki? Und — was ist mit Angelika?«

»Sie können ihn ja selbst fragen. Er wollte Sie sowieso sprechen. Gehen Sie nur rein.«

Das Chefzimmer war spartanisch eingerichtet. Ein alter, großer Schreibtisch, ein paar unansehnliche Sessel, ein abgetretener Teppich, ein abgewetztes Ledersofa und ein riesiger Bücherschrank, der eine ganze Wand einnahm, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände.

Professor Hornstein hatte um diesen Raum viele Kämpfe mit seiner Frau Iris ausgefochten. Iris Hornstein vertrat die Ansicht, daß ein vornehm eingerichtetes, sehr modernes Arbeitszimmer den Patienten weit mehr imponieren würde. Aber in dem einen Punkt war Professor Hornstein nicht von seiner Meinung abzubringen: »Die Patienten kommen nicht zu mir, um mich in Glanz und Schönheit zu bewundern, sondern weil sie kuriert werden wollen. Wenn ich das nicht mehr schaffe, dann nützt auch das feudalste Chefzimmer nichts.«

Der Professor ging nervös auf und ab, als der Oberarzt eintrat.

»Gut, daß Sie gekommen sind, Westhaus«, begann er ohne Einleitung. »Muß dringend weg. Zwei, drei Tage. Vielleicht vier. Meine Maschine fliegt in zwei Stunden. In der Zwischenzeit schmeißen Sie den Laden hier. Rissanen in Helsinki braucht mich, habe gestern abend mit ihm telefoniert. Sie erinnern sich an ihn?« Er sprach abgehackt, stieß die Worte und die Sätze aus, als hätte er es sehr eilig und als wäre er außerdem nicht ganz bei der Sache.

Dr. Westhaus nickte. Wie merkwürdig der Professor geworden war. Er hätte nicht sagen können, was an dem »Alten« so anders war als früher. Es schien, als jage er plötzlich einem nur ihm bekannten Ziel entgegen, alles andere außer acht lassend, ungeduldig, unwirsch, unberechenbar …

»Es handelt sich um Nobelpreisträger Kueinen. Ein großes Tier in Helsinki — und überhaupt. Ganz dringend, sagt Rissanen, und auf sein Urteil kann man sich verlassen.« Verständliche Genugtuung schwang jetzt in seinen Worten mit. Und Dr. Westhaus konnte es verstehen: Auch er wäre stolz gewesen, hätte man ihn ans Krankenbett eines Mannes wie Kueinen gerufen.

»Ein Tumor«, sagte der Professor. »Sitzt im Stirnhirn. Rissanen meint …« Der Professor beendete den Satz nicht. Mitten im Zimmer blieb er stehen, sah einige Sekunden vor sich hin auf den Boden, drehte sich dann abrupt um, sah Dr. Westhaus an — und es schien, als würde er erst jetzt seine Anwesenheit richtig bemerken. »Also — passen Sie auf, Westhaus. Mit dem alten Schreiber auf Zimmer zwölf bin ich nicht ganz zufrieden. Es wird am besten sein, wir machen noch eine Röntgenaufnahme, damit wir’s ganz genau wissen, bevor wir seinen Schädel aufmachen. Wenn ich zurück bin, müssen wir etwas ausklügeln, bei ihm werden wir mit den alten Methoden kaum etwas erreichen. Weiter: Die kleine Frau auf Zimmer fünfundzwanzig kann nach Hause gehen — ich meine die nette, hübsche, die so gerne lacht.«

Es folgte eine Reihe von Routineanweisungen, klar, präzise, wie in den alten Tagen. Westhaus atmete auf. Hoffentlich konnte er den Chef bewegen, seine Reise um einige Stunden zu verschieben. So sagte er, als der Professor fertig war:

»Eine Sache liegt mir besonders am Herzen, Herr Professor.«

»Ja?«

»Die kleine Angelika.«

»Wird nach meiner Rückkehr operiert.« Die Stimme des Professors klang wieder barsch, endgültig. Er nahm seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer von neuem auf, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den mächtigen, ausdrucksvollen Kopf mit dem eisgrauen, kurz geschnittenen Haar gesenkt.

Aber Westhaus ließ nicht nach.

Er hatte sich stets bemüht, dem Grundsatz gerecht zu werden, alle Patienten völlig gleich zu behandeln. Angelika war keine Ausnahme. Und dennoch geschah es hin und wieder, daß ihm ein Patient besonders am Herzen lag; Sympathie, Zuneigung, besondere Anteilnahme verstärkten noch die Fäden, die ihn an »seine« Kranken banden. Jedem Arzt geht es so.

Angelika war ein fünfjähriges, aufgewecktes, hübsches und zierliches Mädchen mit schwarzen Kulleraugen, die ungemein ausdrucksvoll blicken konnten. Seit dem ersten Tage ihres Aufenthaltes in der Klinik hatte sie alle Herzen erobert, und besonders stark hatte sie sich an ihn, den Oberarzt, angeschlossen. Immer wenn er in ihr Zimmer kam, empfing sie ihn mit vor Freude glänzenden Augen, schwatzte, lachte, fragte ihn aus.

Ihre Eltern hatten nur widerwillig die Einwilligung zu dem Eingriff gegeben, von dessen Notwendigkeit sie nach wie vor nicht überzeugt waren. Sie konnten und wollten einfach nicht glauben, daß dieses lebhafte, scheinbar kerngesunde Kind in ständiger Lebensgefahr schwebte.

Vor einigen Monaten war Angelika aus dem Fenster des elterlichen Hauses gestürzt — aus dem ersten Stock. Schädelbruch. Schon nach einigen Wochen schien sie ganz geheilt. Bis plötzlich Krampfanfälle auftraten, die große Ähnlichkeit mit epileptischen Anfällen hatten. Angelika fiel unvermittelt zu Boden, verlor das Bewußtsein, verdrehte die Augen, biß sich die Lippen und die Zunge blutig. Wenn sie aufwachte, wußte sie nicht, was mit ihr geschehen war, und sie war munter wie zuvor.

Der Hausarzt wies sie in die neuro-chirurgische Klinik von Professor Hornstein ein. Die Diagnose stand bald fest: Ein Knochenstück mußte sich bei dem Sturz aus dem Fenster gelöst haben und drückte jetzt auf das Gehirn. Davon die Anfälle. Helfen konnte nur eine Operation.

Er selbst, Oberarzt Dr. Westhaus, hatte diese Diagnose gestellt. Aber wie sehr er auch von der Dringlichkeit einer baldigen Operation überzeugt war, konnte er andererseits Angelikas Eltern verstehen. Wie die meisten Menschen, waren sie von einer fast abergläubischen Furcht vor einer Schädeloperation besessen, gegen die Vernunftgründe nichts auszurichten vermochten.

Professor Hornstein hatte ihm das einmal erklärt. »Beobachten Sie Menschen, die sich in Gefahr befinden. Jeder greift sich an den Kopf oder bedeckt ihn mit den Händen, um ihn zu schützen — selbst wenn diese Geste völlig nutzlos ist. Einmal habe ich bei einem Bombenangriff einen Mann gesehen, der mit einer Zeitung auf dem Kopf durch die Straßen lief. Das Papier schien ihm besser als nichts. Und dann kommen wir und sagen: Wir müssen deinen Kopf aufmeißeln, es hilft nichts, sonst gehen die Schmerzen nicht weg — die Schmerzen, durch die sein Kopf nur noch empfindlicher, seine Furcht größer geworden ist. Es gehört schon eine Menge Mut dazu, sich auf den Operationstisch zu legen, und vielleicht noch mehr, zu sagen: Operieren Sie dieses Kind, das mir alles bedeutet. Sie wissen ja, wie der gute Mann in seine Kleine vernarrt ist.«

Dieses Gespräch mit Professor Hornstein griff Dr. Westhaus jetzt auf: »Könnten Sie Ihre Reise nicht um einige Stunden aufschieben, Herr Professor?« Und er sprach schnell weiter, als Hornstein mit einem Ruck stehen blieb und ihn von der Seite her ansah. »Das Kind hat bereits Schlafmittel bekommen, es ist alles bereit. Und das Wichtigste — die Eltern rechnen fest damit, daß heute die Operation stattfindet. Wenn wir die Sache verschieben …. Morgen schon können sie ihre Einwilligung zurückziehen … ich habe das so im Gefühl … und dann kann sie keine Macht der Welt mehr dazu bewegen, ihre Zustimmung noch einmal zu geben. Und — das wäre für die Kleine ein Todesurteil. Wir wissen es.«

»Und Sie meinen also, es sei meine Pflicht, die Reise aufzuschieben, ja?« Die Stimme des Professors war gefährlich leise.

»Es handelt sich ja nur um eine Stunde, Herr Professor!«

»Nein. Um einen ganzen Tag. Die nächste Maschine fliegt erst morgen. Aber — vielleicht können Sie die Flugpläne der Gesellschaft ändern. Können Sie das?«

»Aber Herr Professor —!« Dr. Westhaus sah seinen Chefarzt verwundert an.

»Sie unterstellen mir, daß ich nicht abwägen kann«, sprach der Professor mit erhobener Stimme weiter, »welcher Fall dringlicher ist: dieser oder jener. Sie sind der Meinung, daß mit meiner Urteilsfähigkeit nicht mehr alles stimmt, nicht wahr? Sie wollen mir Vorschriften machen, was ich zu tun und was ich zu lassen habe. Hier in meinem eigenen Haus!« Das schrie er laut, sein Gesicht war hochrot.

Dr. Westhaus sah ihn erschrocken an, unfähig, ein Wort der Erwiderung zu finden.

»Ich weigere mich, da mitzumachen!« schrie der Professor. »Ich weigere mich, diesen neuen Ton zu akzeptieren, der seit einiger Zeit in meiner Klinik herrscht. Ich weigere mich, von Ihnen Verhaltensmaßregeln entgegenzunehmen, Herr Oberarzt!« Seine Stimme kippte um, er stieß beide Hände empor, als müßte er einen unsichtbaren Gegner abwehren, seine Lippen zitterten. »Ich werde — werde — stammelte er, und Dr. Westhaus sah, wie sich sein Körper anspannte in der Anstrengung, sich selbst wieder in Gewalt zu bekommen. Als er schließlich weitersprach, klang seine Stimme fast normal, wenn auch ungewohnt scharf: »Ich fliege nach Helsinki. Die Kleine wird operiert, wenn ich zurückkomme. Sonst noch was, Herr — Oberarzt?«

»Nein«, sagte Dr. Westhaus. »Nichts mehr.«

»Es gibt Tage, an denen von Anfang an alles schiefgeht«, sinnierte etwas später der Oberarzt niedergeschlagen, als er der jungen Ärztin Dr. Eva Hochhoff auf dem langen Gang begegnete. Er wüßte, daß es eigentlich verkehrt war, seine Sorgen und Nöte vor einer Kollegin auszubreiten, die auf der niedrigsten Sprosse der ärztlichen Laufbahn stand — das jedenfalls war ihm immer gepredigt worden, und das hatte er in den langen, schweren Jahren seines eigenen Aufstiegs immer wieder erfahren müssen.

Nun, Oberarzt Dr. Westhaus war der Meinung, daß diese hierarchische Ordnung der Vergangenheit angehörte. Eine Ansicht, die Dr. Eva Hochhoff mit ihm teilte.

Die junge Ärztin war eine entfernte Verwandte von Professor Hornstein. Nach ihrem Praktikum war sie sofort in diese Klinik gekommen und wohnte in der Hornsteinschen Villa. Sie hatte kastanienbraunes Haar, ein eigenwilliges, interessantes Gesicht, weit auseinanderstehende, etwas schräggeschnittene grüne Augen und einen vollen Mund mit aufwärts gebogenen, lachbereiten Mundwinkeln. An ihrer Figur konnten selbst zynische Kollegen nichts aussetzen.

»Was war denn eigentlich los?« fragte sie Westhaus.

»Wenn ich das nur wüßte!« Der Oberarzt zuckte mit den Schultern. »Der Aufwand — auch der Stimmaufwand — stand in keinem Verhältnis zu der Ursache. Himmel, hat er mich angebrüllt! Und ich weiß nicht einmal, warum. So kenne ich ihn gar nicht. Früher —«

»Stimmt. Er hat sich unheimlich verändert«, sagte Eva Hochhoff. »Allein in der kurzen Zeit, seit ich hier bin. Ich werde nicht klug aus ihm.«

»Er hat mir da Sachen unterstellt…« Der Oberarzt winkte ab, als wollte er nicht mehr über dieses unerquickliche Thema sprechen. »Wahrscheinlich ist er überarbeitet.«

»Glauben Sie?« Eva sah nachdenklich durch das Fenster in den Klinikgarten. »Ich weiß nicht, ob man das damit erklären kann. Ich kenne ihn schon lange — seit ich mich erinnern kann. Mein Bruder und ich kamen früher immer auf Ferien hierher in sein Haus. Und ich habe eher das Empfinden, irgend etwas bedrückt ihn. Als würde er etwas mit sich schleppen, womit er nicht fertig wird.«

»Und ich weiß nicht, wie ich mit Angelikas Eltern fertig werde«, sagte der Oberarzt nachdenklich. »Sie warten unten. Ich habe das Gefühl, daß sie sich über den Aufschub der Operation sehr freuen werden. So sehr, daß sie ihre Einwilligung zurückziehen. Einmal konnten wir sie überrumpeln. Ein zweites Mal wird das nicht mehr gehen.«

»Aber das ist doch —«

»Sie können dazu alles sagen. Unverantwortlich, blind, dumm … was weiß ich. Aber wissen wir, wie es in dem Herzen einer Mutter, eines Vaters aussieht, deren Kind … Hoffentlich kann ich sie überzeugen, hoffentlich!«

Doch als der Oberarzt unten im Warteraum Angelikas Eltern gegenüberstand, wußte er, daß sich seine Befürchtungen bewahrheiten würden, hätte er ihnen gesagt, daß die Operation aufgeschoben worden sei.

»Haben Sie — ist Angelika schon —«, begann Angelikas Vater, ohne den Gruß des Oberarztes zu erwidern, als dieser in das Wartezimmer trat. Herr Bergner, ein Bäcker, war ein großer, schwerer Mann, seine Hände schlossen und öffneten sich immer wieder.

»Nein — noch nicht«, sagte Dr. Westhaus.

»Herr Doktor —«, begann Frau Bergner, und in ihren Augen stand stumme Verzweiflung. Aber ihr Mann unterbrach sie.

»Wir hätten es nicht zulassen dürfen!« sagte er. »Nein. Nie hätten wir … diese kleinen Anfälle … sie war ein gesundes Kind, lustig … bestimmt wäre es von selbst besser geworden … ich kenne einen Heilpraktiker …«

»Nein«, sagte Dr. Westhaus hart. »Es wäre nicht von allein besser geworden. Und kein Heilpraktiker der Welt könnte hier helfen.«

Doch Bergner hörte ihm gar nicht zu. Im wirren Knäuel seiner Gedanken, Ängste, Befürchtungen, Selbstvorwürfe eingefangen, voller Vorurteile, spann er seinen Faden weiter, das Bild seiner Kleinen vor den Augen, wie sie auf dem Operationstisch lag, umgeben von schrecklichen, blitzenden Instrumenten, wehrlos ausgeliefert. »Niemals«, sagte er, »hätten wir zulassen dürfen, daß Sie ihr das Köpfchen … mein Gott, wenn ich daran denke …!«

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Dr. Westhaus eindringlich. Daß die Operation aufgeschoben worden war, verschwieg er. Er hätte es jetzt sagen müssen. Aber irgend etwas verschloß ihm den Mund ….

Angelikas Vater beugte sich vor. »Bitte, Herr Doktor«, flüsterte er heiser, »bitte, geben Sie acht, wenn die Kleine operiert wird, bitte! Sie ist unser … Angelika ist… bitte…!«

»Ja, ich verspreche es ihnen«, sagte Dr. Westhaus. Er drehte sich um und ging hinaus. Was er eben unterlassen hatte, konnte ihn seine Laufbahn kosten, und was er zu tun im Begriff war, erst recht. Er wußte es und hatte Angst. Aber blieb ihm eine andere Entscheidung? Ihm nicht…

Oben suchte er Olga, die Operationsschwester, auf.

»Bereiten Sie alles vor für den Eingriff an Angelika«, sagte er, und seiner Stimme war nicht anzumerken, wie schwer ihm diese Worte fielen.

»Aber — ich dachte, daß …« Die OP-Schwester sah ihn überrascht an.

»Es ist gleichgültig, was Sie gedacht haben!« fuhr der Oberarzt sie an. »Klar?«

»Ja, Herr Oberarzt…«

Eine Stunde später.

Alles war zur Operation bereit.

Dr. Eva Hochhoff hatte als Narkoseärztin Angelika eine Dauertropfinfusion angelegt. So konnten dem Kind während des Eingriffes selbst noch zusätzliche etwa notwendig werdende Medikamente direkt zugeführt werden.

Anschließend hatte sie Angelika eine kleine Dosis Curare eingespritzt, um eine vorübergehende, völlige Erschlaffung der gesamten Muskulatur zu bewirken. Nur so war es möglich, den Trachealkatheter einzuführen. Mit Hilfe des Laryngoskops sah sie genau den Eingang zur Luftröhre, schob den Trachealkatheter durch die erschlafften Stimmbänder sehr vorsichtig vor und preßte ihn dann von außen her mit Hilfe eines aufblasbaren Gummiballes so gegen die Wände der Luftröhre, daß ein Verschieben oder Verrutschen unmöglich war. Das andere Ende des Katheters verband sie außerhalb des Mundes über ein Ventil mit dem gasführenden Schlauch des Narkoseapperates.

»Fertig!«

Angelika, die im Vorraum bereits ausgezogen worden war, lag mit weißen Tüchern bedeckt auf dem Operationstisch. Ihr sorgfältig rasiertes Köpfchen wirkte winzig klein. Ihre Atmung setzte nicht eine Sekunde aus. Die Ärztin konnte sich den Druck auf den Atembeutel sparen. Die Mischung als Lachgas und Sauerstoff drang in die Lunge der kleinen Patientin und hielt sie in tiefem Schlaf umfangen, der keine Schmerzen kannte.

Eva Hochhoff war zufrieden. Jetzt blieb ihr nur noch übrig, die Sauerstoff- und Lachgaszufuhr dauernd zu überprüfen und Angelikas Körperfunktionen zu überwachen. Puls und Blutdruck waren in Ordnung — und blieben es hoffentlich während der ganzen Operation.

Während Eva auf das Gesichtchen des schlafenden Kindes niedersah, dachte sie an das kurze Gespräch mit dem Oberarzt, als er ihr gesagt hatte, er hätte sich doch entschlossen, Angelika zu operieren — gegen den Willen des Professors.

»Die Eltern hätten ihre Einwilligung nicht ein zweites Mal gegeben«, hatte er gesagt. »Ich weiß es genau. Und dann gnade Gott der Kleinen.«

»Sind Sie sich über die Folgen im klaren, Herr Oberarzt?« hatte sie, Eva, daraufhin gefragt.

Er hatte sie lange angesehen, bleich und grübelnd, so wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Schließlich hatte er langsam gesagt, Worte, die sie immer im Gedächtnis behalten würde:

»Irgendwann einmal wird jeder vor eine Entscheidung gestellt. Und dann muß man das tun, was man selbst für richtig hält, auch wenn die Konsequenzen schwer zu tragen sind. Schließlich muß ich ja noch ein ganzes Leben lang mit mir selbst auskommen …«

Olga, die Operationsschwester, überprüfte noch einmal Angelikas Lage. Das Kind durfte während der Operation keinerlei Druck ausgesetzt sein. Das Köpfchen lag locker in der Kopfstütze.

»Ein hübsches Kind«, sagte die Operationsschwester leise, während sie die Kopfhaut der Kleinen noch einmal mit Jod anstrich. Ihr strenges Gesicht war seltsam weich, ihr Mund lächelte. So war es immer gewesen, wenn ein Kind auf dem Operationstisch lag. Sie beugte sich tief über das Gesichtchen und machte mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes über die Stirn. »Gott behüte dich —!« flüsterte sie, »dich und — ihn.« Dann richtete sie sich wieder auf und war wieder so wie stets: Nüchtern, streng und sachlich, eine Operationsschwester, die jeden Handgriff im Schlaf beherrschte und ihn mit der Präzision einer Maschine ausführte.

»Fertig!«

Jetzt kam Oberarzt Dr. Carl Westhaus aus dem Waschraum, gefolgt von seinem Assistenten Dr. Fröhlich. Sein Gesicht war bleich, ruhig, gesammelt. Er lächelte Dr. Eva Hochhoff kurz zu, ließ sich dann auf dem verstellbaren Drehstuhl hinter dem Kinderkopf nieder. Rechts neben ihm stand Schwester Olga, links Dr. Fröhlich, im Hintergrund Schwester Gerda, bereit, auf den leisesten Wink zu Hilfe zu kommen.

Der Oberarzt sah Dr. Eva Hochhoff und Schwester Olga fragend an. Sie nickten.

»Also —!«

Bedachtsam führte er den ersten, halbkreisförmigen Schnitt über die Kopfhaut des Kindes, schlug den Hautlappen zurück.

Die große Wunde blutete kaum. Dr. Fröhlich betätigte den Sauger. Das Gefäß wurde sichtbar. Dr. Westhaus ergriff es mit den Klemmen.

»Strom!«

Der Assistent legte die Diathermienadel an, trat auf das Kontaktpedal. In wenigen Sekunden war die Blutung gestillt, das Gefäßende verschmort.

Der Schädelknochen lag frei. Die Spuren des überstandenen Fenstersturzes waren deutlich erkennbar. Dr. Westhaus ergriff den elektrischen Bohrer und legte nacheinander mehrere Bohrlöcher in einem Viereck an.

Dann reichte ihm die OP-Schwester die feine Gigli-Säge. Mit der Hand sägte Dr. Westhaus von Bohrloch zu Bohrloch die Knochendecke durch.

»Gerda!«

Schwester Gerda sprang hinzu und wischte dem Oberarzt mit einem sterilen Tuch den Schweiß von der Stirn.

Dr. Westhaus hob das herausgesägte Knochenstück vorsichtig ab, reichte es Schwester Olga. Die OP-Schwester legte es sofort in die bereitgehaltene physiologische Kochsalzlösung.

Die Hirnhaut lag frei.

Im kleinen, mit altertümlichen Sesseln und Tischchen vollgestopften Warteraum der Klinik lief der Bäcker Bergner unruhig auf und ab, blieb vor dem Fenster stehen, trommelte mit den Fingern auf die Fensterscheibe, nahm seine Wanderung wieder auf. Auf seinem runden, geröteten Gesicht standen Schweißperlen.

Was machen sie jetzt mit ihr, fragte er sich immer wieder, was machten sie mit Angelika, seiner Kleinen …

»Setz dich endlich hin!« sagte seine Frau nervös. »Du machst einen ja ganz verrückt, mit deiner Hinundherlauferei!« Sie selbst saß auf der Kante eines hohen, unbequemen Stuhls, die Handtasche auf den Knien, den Oberkörper steif aufgerichtet.

Aber Bergner kümmerte sich nicht um sie. Er hörte nicht einmal, was sie sagte. Seine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. Es gab kein Entrinnen vor dieser Angst, er konnte nichts tun, gar nichts. Angelika …

Die Kleine war ihr einziges Kind. Sie kam nach langen, langen Jahren vergeblichen Wartens zur Welt, als sie, Anni und er, schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, je ein Kind zu bekommen. Und sie würde ihr einziges Kind bleiben, die Kleine mit den großen Kulleraugen, sein quecksilbriges Mädchen, das jeden Morgen noch vor dem Frühstück zu ihm in die Backstube kam, um ihm zu helfen, wie sie sagte, backe, backe Kuchen, der Papi hat gerufen …

Gequält preßte er die Fäuste auf die Schläfen. »Wir hätten es nicht zulassen sollen!« sagte er heiser. »Die Anfälle waren nicht das Schlimmste. Jetzt, das ist …«

»Vielleicht könnten wir es noch … vielleicht ist es noch nicht so weit …«, sagte Frau Bergner. Ihre Lippen zitterten. Ihre Augen verfolgten unablässig den auf und ab gehenden Mann.

Er hat Angst um das Kind, dachte sie, seine Angst ist nicht kleiner als meine, Gott im Himmel, warum nur mußte ich damals aus dem Zimmer gehen! Ich war nur ein paar Sekunden draußen, die Tür war offengeblieben, und unten haben die Nachbarskinder nach Angelika gerufen … sie kletterte auf den Stuhl und beugte sich aus dem Fenster, und dann fiel sie, und unten schrien die Kinder auf, und die Leute liefen zusammen, und einer ging in den Laden und rief: »Herr Bergner — Herr Bergner, Ihre Kleine ist aus dem Fenster gefallen, schnell!«

Aber er hat mir nie ein böses Wort gesagt, dachte sie. Er ist ein guter Mann, du hättest keinen besseren bekommen können. Damals hat er mich nur angesehen, mein Gott, wie er mich angesehen hat, als er die Kleine die Treppe rauftrug, ich werde diesen Blick nie im Leben vergessen.

»Der Herr Professor hat gemeint, daß es eine ganz einfache Operation werden wird«, sagte sie leise, als wollte sie sich selbst und ihm Mut geben. »Er ist ein geschickter Mann, man hört es immer wieder. Und er operiert ja selber, er hat schon sehr viele berühmte Menschen operiert, wir müssen ihm vertrauen.«

Dr. Westhaus atmete auf, als er die Diagnose bestätigt sah: Ein etwa zwei Zentimeter langer, von der Schädeldecke gelöster Splitter hatte auf die Dura, die Gehirnhaut, gedrückt.

Er entfernte den Knochensplitter sehr behutsam, während der Assistent die offenliegende Dura unentwegt spülte. Dann untersuchte er die Gehirnhaut, Zentimeter um Zentimeter. Sie zeigte eine deutliche Druckstelle, war aber sonst unverletzt.

Dr. Westhaus warf einen fragenden Blick hinüber zu Eva.

Ihre Augen lächelten befreit über der Gesichtsmaske. »Alles in Ordnung.«

Dr. Westhaus fügte das herausgesägte Knochenstück wieder ein, klammerte es fest und schlug die Hautlappen darüber.

Dann erst fiel ihm ein, daß dies die Arbeit des Assistenten war. So stand er auf und nickte Dr. Fröhlich zu: »Jetzt sind Sie dran.« Er wäre zwar gerne bis zu Ende dageblieben — doch hätte Dr. Fröhlich, der ein fähiger und geschickter Mann war und das Zeug zu einem ausgezeichneten Chirurgen hatte, viel Fantasie und Fingerspitzengefühl, das sehr wahrscheinlich als Bevormundung aufgefaßt.

Nachdem ihn Schwester Gerda draußen im Waschraum von der Schürze, dem Kittel und der Gesichtsmaske befreit hatte, sah er auf die Uhr. Die Operation hatte nur etwa zwanzig Minuten gedauert. Er konnte mit sich selbst und mit seiner Arbeit zufrieden sein. Alles war glatt verlaufen, keine Komplikationen.

Trotz allem war er niedergeschlagen. Keine Komplikationen bei dem Patienten, aber eine ganze Menge davon beim Arzt. Wahrscheinlich fingen sie schon in der nächsten Viertelstunde mit der Frage an, wie er den Leuten beibrachte, daß ihre Kleine von ihm und nicht vom Alten operiert worden war…

Nachdem Dr. Fröhlich die Kopfhaut genäht hatte, war für die Anästhesistin Dr. Eva Hochhoff die Arbeit noch nicht zu Ende. Sie hatte die Lachgasmenge, die dem Kind in die Luftröhre geführt worden war, immer mehr verringert und durch Sauerstoff ersetzt.

Als Schwester Olga den Kopf verbunden hatte, schaltete Dr. Eva Hochhoff das Kind für einige Minuten ganz vom Narkoseapparat ab und gab ihm die Möglichkeit, normale Luft zu atmen. Dann führte sie durch den Trachealkatheter einen Absaugschlauch in die Luftröhre, um sie vom Schleim frei zu machen. Während des Absaugens entfernte sie den Trachealkatheter aus der Luftröhre, gab dem immer noch narkotisierten Kind reinen Sauerstoff und überprüfte anschließend Blutdruck und Puls.

Es war alles in Ordnung. Eva entschloß sich dennoch, über Dauertropfinfusion dem Körper Blut zuzuführen, wobei sie aufpassen mußte, daß Blutgruppe, Rhesusfaktor und Kreuzprobe der Blutkonserve mit Angelikas Blut genau übereinstimmten.

Erst als die Blutkonserve leer war, entfernte sie die Dauertropfinfusion.

Eva begleitete Angelika, als sie aus dem OP-Raum ins Wachzimmer gebracht wurde, und gab Resi, der Wachschwester, genaue Anordnungen.

»Ich glaube«, sagte sie abschließend, »alle anderen Medikamente können wir uns sparen. Die Narkose war nur leicht und kurz. Das Herz hat wunderbar durchgehalten.«

»Wie war der Herr Oberarzt?« fragte die Schwester. Schon fast sechzig Jahre alt, gehörte sie genauso wie Fräulein Laberger, die Sekretärin, zum lebenden Inventar der Klinik und interessierte sich immer für jede Kleinigkeit, die im Hause passierte.

»Großartig!« sagte die junge Ärztin.

»Na, na —«, brummte die Alte und sah Eva mißtrauisch an.

»Sie haben doch nichts gegen ihn, Resi?« lächelte Eva.

»I wo. Warum auch? Wissen Sie, wenn er will, hat er so etwas an sich wie ein unglücklicher junger Hund. Man muß ihm einfach über den Kopf streicheln, es geht nicht anders. Sie fallen hoffentlich nicht darauf rein …«

»Aber Resi!«

»Sagen Sie, Fräulein Doktor, stimmt das mit der Operation? Hat er die Kleine wirklich gegen den Willen des Herrn Professor … Ich meine, wenn das stimmt, dann … na, ich möcht’ nicht in seiner Haut stecken.«

»Was meinen Sie, Resi, was kann ihm passieren?«

»Ich kenne Herrn Professor schon bald fünfundzwanzig Jahre — genauso lange wie ich Sie kenne, Fräulein Doktor. Sie waren noch ganz klein, ja … aber wenn das so ist, dann kann der Herr Oberarzt gleich seine Koffer packen, das sag ich Ihnen. Wie hat er das bloß tun können! Und dabei hat er’s bestimmt nicht leicht gehabt. Sein Studium hat er selber verdienen müssen, kein Mensch hat ihm je geholfen … Aber andererseits …« Sie sagte nichts weiter, und als Eva hinaus auf den Gang trat, war sie sehr nachdenklich geworden. Koffer packen … Was aber dann? Sie wußte, wie man einem Arzt den Weg verbauen konnte, wenn er sich gegen die ungeschriebenen Gesetze und Regeln vergangen hatte. Überall verschlossene Türen, abweisende Gesichter, eine trübe, ungewisse Zukunft.

Und mit einemmal wurde sie sich mit überraschender Klarheit bewußt, was für eine schmerzliche Leere der Weggang des Oberarztes auch in ihr zurücklassen würde.

Als Dr. Carl Westhaus den Warteraum der Klinik betrat, hatte er ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Fast wie früher vor einem Examen. Und genauso, wie es früher nur wenig geholfen hatte, wenn er sich sagte, er wäre ja gut vorbereitet und es könne nichts schiefgehen, half auch jetzt nichts, daß er sich vor Augen hielt, die Operation an Angelika wäre ja völlig harmlos gewesen und so gut gelungen, wie man es nur erwarten konnte.

»So, das hätten wir jetzt hinter uns«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit, als er den Raum betrat. Frau Bergner war aufgesprungen, ihr Mann war mit einem Ruck stehengeblieben, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt, und beide sahen ihn mit geweiteten Augen an, aus denen nur langsam die überstandene Angst um ihr Kind wich.

»Das — das ist ja …« Der große Mann schluckte. »Das ging ja sehr schnell.«

»Ich habe es Ihnen ja gesagt, Herr Bergner. Ich kann Sie verstehen, aber Ihre Angst war umsonst. Die Operation ist prächtig gelungen. Wir haben den Knochensplitter entfernt … Angelika bekommt ihn mit, als Andenken. Sie wird ganz gesund werden, so gesund wie vor diesem unglückseligen Sturz aus dem Fenster.«

»Vielen Dank — ich — vielen Dank«, stammelte Herr Bergner. In seine Augen traten Tränen.

»Schon gut, Herr Bergner.«

»Können wir sie sehen?« fragte Frau Bergner.

»Noch nicht«, sagte der Oberarzt. »Sie liegt jetzt im Wachzimmer unter der Obhut von Schwester Resi. Sie wird zwar bald zu sich kommen, aber warten Sie lieber ein paar Stunden, bis sie wieder ganz wach ist.«

»Wir warten hier«, sagte der Mann.

»Ich schlage Ihnen vor, gehen Sie einstweilen nach Hause. Sie sehen ja recht mitgenommen aus.«

»Wir warten hier!« wiederholte der Mann eigensinnig.

»Wie Sie wollen. Ich muß Sie nur auf eines aufmerksam machen: Es liegt an Ihnen, wie schnell Angelika wieder gesund wird. Auch — zuviel Liebe und Fürsorge kann schaden.« Er fuhr schnell fort, als er sah, wie die beiden zusammenzuckten. »Sie verstehen mich recht: Angelika braucht jetzt vor allem Ruhe. Nun, Sie sind ja ein vernünftiger Mann, Herr Bergner … auf jeden Fall wird es gut sein, wenn Angelika noch etwa vierzehn Tage bei uns bleibt. Bis dahin —«, er lächelte flüchtig, »— werden ihr auch die Haare ein bißchen gewachsen sein, und für eine kleine Dame wie sie ist das doch wichtig!«

Der große Mann nickte und sagte dann wieder: »Vielen Dank — ich — sagen Sie Herrn Professor, daß wir — wir sind sehr glücklich, daß er selbst — und …« Verwirrt verstummte er.

»Professor Hornstein mußte überraschend weg«, sagte Dr. Westhaus wie nebenbei. »Er hat Angelika nicht operiert.«

Betroffenes Schweigen. Bergner beugte sich vor, in seine Augen kam Mißtrauen.

»Wer sonst?« fragte er nach einer Weile.

»Ich.«

»Sie?«

»Ja.«

»Aber der Herr Professor … wir haben unsere Zustimmung nur gegeben, weil wir dachten, Herr Professor selbst würde Angelika operieren, und er hat ja auch gesagt … wieso mußte er weg — und warum haben Sie — von Ihnen war keine Rede, wie erlauben Sie sich …«

»Aber Mann!« Die Frau trat schnell hinzu, griff Bergner am Arm, versuchte ihn zu beruhigen, aber er schüttelte ihre Hand ab, sein Gesicht war hochrot geworden.

»Bitte!« Der Oberarzt hob den Arm. »Ich kann verstehen, wenn Ihre Nerven durchdrehen, aber …«

»Nichts durchdrehen!« schrie Bergner. »Was heißt hier durchdrehen! Wer hat Ihnen die Erlaubnis gegeben, wer? Wie können Sie sich anmaßen — eine Eigenmächtigkeit — ich will das Kind sehen, sofort, ich will mein Kind sehen —!«

Er lief zur Tür, wollte hinaus, doch der Oberarzt vertrat ihm den Weg. Es war zuviel gewesen. Er hatte genug. Zuerst die Szene mit dem Professor. Dann die Entscheidung. Und nun das.

»Sie — Sie Idiot!« sagte er langsam und deutlich. »Durch Ihre Dummheit hatten Sie Ihr eigenes Kind beinahe zum Tode verurteilt. Wollen Sie das jetzt wirklich fertigbringen? Ich habe die Operation auf mich genommen, weil ich Leute wie Sie kenne, dumm, vernagelt, ein Brett vor dem Kopf. Anstatt zu helfen, brüllen Sie hier herum … Dankbarkeit erwarte ich gar nicht — danken Sie Gott, daß alles gutgegangen ist … gehen Sie! Gehen Sie jetzt! Los, gehen Sie!«

Die letzten Worte schrie er dem erschrocken zurückweichenden Mann ins Gesicht, am ganzen Körper zitternd, und er hörte nur, wie durch einen Nebel, den anderen sagen:

»Schon gut. Sie haben sich da ja was geleistet. Sie haben eigenmächtig … ich kenne die Gesetze! Wir werden uns noch sprechen. Aber nicht hier, das sage ich Ihnen!«

»Gehen Sie!«

In diesem Augenblick trat Dr. Eva Hochhoff ins Zimmer.

Gehirnstation

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