Читать книгу Gehirnstation - Marie Louise Fischer - Страница 5

2

Оглавление

Kurz nach vier Uhr landete der viermotorige Clipper auf dem Flugplatz von Helsinki.

Als Professor Hornstein und seine Frau Iris aus der Maschine stiegen, nahm ihnen die eiskalte Winterluft einen Augenblick fast den Atem. Es war bereits dunkel. Die Rollbahn wurde von riesigen Scheinwerfern taghell erleuchtet. Frau Iris kuschelte sich in ihren Nerzmantel, ein Geschenk ihres Mannes zum zwanzigsten Hochzeitstag, und stellte den Kragen auf. Auf dem Dach des Flughafengebäudes lag frischgefallener Schnee.

An der Sperre wurden sie von Dr. Rono Rissanen, einem ehemaligen Schüler des Professors, empfangen. Er führte sie zu seinem Wagen, ließ Frau Iris hinten einsteigen, während der Professor neben ihm auf dem Vordersitz Platz nahm.

Dr. Rissanen war bis vor fünf Jahren Erster Assistent des Professors gewesen. Seit seinem Ausscheiden aus Hornsteins Klinik hatten sich die Männer nicht mehr gesehen.

»Wie geht’s dem kleinen Martin, Herr Professor?«

»Klein ist gut! Der Kerl ist mir bereits über den Kopf gewachsen, in jeder Hinsicht. Macht mir Sorgen.« Martin war sein Sohn, jetzt achtzehn Jahre alt.

»Ist er immer noch so lustig?«

»Lustig — ja. Aber sonst…«

»Du übertreibst«, sagte Frau Iris. »Ein bißchen schwach in der Schule ist er wirklich. Aber ich finde das nicht so furchtbar schlimm.«

»Du nicht«, sagte der Professor. »Du bist ja auch verliebt in den Bengel.«

»Ich muß Ihnen recht geben, gnädige Frau«, lachte Dr. Rissanen. »Wenn ich daran denke, was für Zeugnisse ich nach Hause gebracht habe, puh! Und mein Vater, na — heute noch tun mir gewisse Körperstellen weh in der Erinnerung an die Folgen. Wenn man sich so umsieht — die meisten Mediziner waren keine Vorzugsschüler.«

»Das verlangt ja auch kein Mensch von ihm«, murmelte der Professor unbeteiligt. Wenn nur diese Fahrt endlich zu Ende wäre! Wenn er doch schon im Hotel wäre … diese Kopfschmerzen und wieder der leichte Schwindel, der die Straße vor ihm, die Häuser, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen, die Straßenbahn, die Menschen auf den Gehsteigen, alles, was er sehen konnte, aber auch die eigenen Gedanken mit einem seltsamen, zitternden Nebel umgab. Wie aus weiter Ferne vernahm er die Frage des Dr. Rissanen:

»Darf ich Sie zuerst zu Ihrem Hotel bringen, Herr Professor?«

Professor Hornstein nickte. Und es kostete ihn große Überwindung zu fragen:

»Wie geht es Ihrem Patienten, Kollege?«

Dr. Rissanen schien nur auf diese Frage gewartet zu haben, und dennoch dauerte es einige Sekunden, bevor er antwortete:

»Professor Kueinen, unser Nobelpreisträger, wie wir ihn alle nennen, liegt seit zwei Wochen in meiner Klinik. Sein Befinden ist sehr schlecht.«

Er verstummte. Und sie sprachen nichts mehr, bis sie Dr. Rissanen in einem vornehmen Hotel in der Alexanderstraße absetzte, in dem er ein elegantes Apartment für seine Gaste reserviert hatte.

Professor Hornstein schloß sich sofort ins Bad ein und nahm zwei Tabletten gegen die fast unerträglichen Kopfschmerzen, die ihn kaum einen klaren Gedanken fassen ließen. Wahrscheinlich kann ich das Fliegen nicht mehr vertragen, dachte er, während er im Spiegel sein Gesicht betrachtete, die Schatten unter den Augen, die tiefen Falten um die Mundwinkel. Die schnelle Luftdruckveränderung … schließlich bin ich ja auch nicht mehr der jüngste!

Er zog sich aus und duschte sich. Unter dem eiskalten Wasser schnappte er keuchend nach Luft und prustete laut. Langsam wurde ihm wohler, und als er sich ankleidete, fühlte er sich wie neugeboren.

»Wie gefällt es dir in Helsinki?« fragte er Iris, als er sich draußen die Krawatte umband.

»Himmlisch!«

»Wie leicht du zufriedenzustellen bist. Du hast ja von Helsinki noch gar nichts gesehen.«

»Darauf kommt es auch gar nicht an«, sagte sie lächelnd. »Hauptsache, ich konnte mit dir fliegen. Stell dir vor, ich erzähle Gerda: ›Ja, unlängst habe ich mit August einen kleinen Abstecher gemacht, er mußte zu einem Nobelpreisträger …‹ Bei ihrem Neid … Sag mal, was soll ich anziehen? Wir wollen doch ein bißchen ausgehen?«

»Vorerst nicht«, sagte der Professor. »Es kommt darauf an, wie lange die Konsultation dauert.«

»Konsultation? Jetzt?« Alle Freude wich aus ihrem Gesicht.

»Na, was denn sonst?« Die Stimme des Professors klang gereizt. »Hast du etwa gedacht, wir machen eine Vergnügungsreise?«

»Nein, natürlich nicht. Nur habe ich angenommen …«

»Was denn schon wieder?«

»… daß wir, an unserem ersten Abend hier —«

»Ein Irrtum!« Der Professor fühlte in sich wieder diesen unvermittelten, heißen Zorn aufsteigen, wie am Vormittag, als er seinen Oberarzt Dr. Westhaus abgekanzelt hatte. Er wußte, daß er ungerecht war, daß er gar keine Veranlassung hatte, wütend zu sein, daß ein kleines Wort, ein kurzer, begütigender Satz, die Mißstimmung sogleich wieder beseitigen würde. Aber er konnte es nicht aussprechen. Er war machtlos gegen die Worte, die er hervorstieß, als hätte sich seine Zunge selbständig gemacht, er konnte sie nicht zurückhalten, obwohl er den Schrecken und die Fassungslosigkeit in Iris’ Augen sah. »Hört denn das nie auf!« schrie er. »Muß ich mir von allen und jedem sagen lassen, was ich zu tun habe? Ich bin Arzt, verstehst du? Ich bin kein — kein, zum Teufel! Wenn du für meine Arbeit schon kein Verständnis aufbringst, dann mische dich wenigstens nicht in meine Dispositionen!«

»August — bitte!«

»Ich muß jetzt gehen!«

Grußlos lief er hinaus, knallte die Tür laut hinter sich zu. Doch draußen, auf dem halben Weg zum Lift, blieb er plötzlich stehen, lehnte sich an die Wand und schüttelte verständnislos den Kopf. Was war nur mit ihm los? Warum hatte er Iris so angebrüllt?

Ich müßte zurückgehen und mich entschuldigen, dachte er. Jetzt, sofort. Aber er tat es nicht. Mit den schweren schleppenden Schritten eines alten Mannes ging er zum Lift und fuhr hinunter in die Halle, wo Dr. Rissanen auf ihn wartete.

Dr. Rissanen war nicht allein. Ein älterer Herr hatte sich ihm zugesellt, Dr. Paltkala, der Hausarzt des erkrankten Nobelpreisträgers Professor Kueinen, wie ihn Dr. Rissanen vorstellte.

Die drei Männer verließen das Hotel und traten hinaus in die kalte Winterluft. Professor Hornstein beneidete die beiden finnischen Herren um ihre Pelzmützen, die bis über die Ohren reichten.

»Werde mir auch so ein Pelzding zulegen«, sagte er, als sie zu Rissanens Wagen gingen.

»Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen eine zum Andenken schenken dürfte, Herr Professor«, sagte Dr. Rissanen höflich.

»Sehr gut. Solche Geschenke soll man nie zurückweisen.« Professor Hornstein lachte. »Ihr habt’s ja verdammt kalt hier.«

»Das kommt von unserer Nachbarschaft: Nordpol und Sibirien«, sagte Dr. Paltkala.

»Also — erzählen Sie!« forderte Professor Hornstein Dr. Rissanen auf, als sie im Wagen saßen und zu Rissanens Klinik fuhren.

»Ich schlage vor, zuerst Herrn Kollegen Paltkala berichten zu lassen«, sagte Dr. Rissanen.

Dr. Paltkala nickte. »Herr Kollege Rissanen hat mich als Hausarzt Professor Kueinens vorgestellt. Das stimmt und stimmt wiederum nicht. Der Patient war immer gesund — oder behauptete es zumindest. Ab und zu ein Schnupfen. Hausarzt war ich eigentlich nur für seine Familie. Er selbst hielt sich auch dann noch für gesund, als er es nicht mehr war. Ich durfte ihn erst untersuchen, als seine Kopfschmerzen so stark wurden, daß keine Tabletten mehr helfen wollten.«

»Seit wann litt er an Kopfschmerzen?« fragte Professor Hornstein.

»Seit etwa einem Jahr.«

»Waren dies die einzigen Symptome für die Erkrankung?«

»Nein. Ich habe mit seiner Frau und mit seinen Mitarbeitern gesprochen. Die Ergebnisse sind auch Dr. Rissanen bekannt.«

»Wir haben festgestellt«, begann Dr. Rissanen, »daß der Krankheitsprozeß etwa vor einem Jahr begann — mit dem Auftreten der Kopfschmerzen. Förk Kueinen war bei seinen Mitarbeitern und Studenten sehr beliebt. Seine Vorlesungen waren ein Muster an Systematik. Plötzlich aber begann er vom Hölzchen aufs Stöckchen zu springen, wie man so sagt. Seine Redeweise bekam etwas Ungeordnetes. Er wurde ungeduldig, reizbar, ausfallend und ungerecht. Seine Vorlesungen und Seminare wurden immer schlechter besucht — er hat, wie Sie wissen, den Lehrstuhl für Chemie auf unserer Universität inne. Früher die personifizierte Ordnung, machte er sich jetzt nichts mehr aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten kam er auch nicht mehr weiter. Und dann begann er plötzlich über Kopfschmerzen zu klagen. Sie seien so unerträglich, sagte er, daß er glaube, verrückt werden zu müssen. Und erst da ließ er sich untersuchen. Wir haben alles getan, was notwendig war: Röntgen, EEG, HNO und so weiter. Ich werde Ihnen das Material natürlich gleich zeigen. Obwohl ich Ihrer Diagnose nicht vorgreifen möchte, Herr Professor, glaube ich doch, daß eine Operation unumgänglich ist.«

»Und warum operieren Sie nicht selbst?« fragte Professor Hornstein.

»Ich? Nein!« Dr. Rissanen schüttelte den Kopf. »Ich weiß: Das Leben eines jeden Menschen ist kostbar. Aber hier… ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen werden, Herr Professor, hier handelt es sich um Förk Kueinen …«

Förk Kueinen: Ein knochiges, graues Gesicht unter der hohen Stirn, schütteres Haar, blutleere, schmale Lippen, eine spitze Nase, auf der Bettdecke liegende Hände, grau wie das Gesicht. Teilnahmslos dahindämmernd.

Professor Hornstein hatte es nicht anders erwartet. Das war der typische Zustand der Gehirnkranken, in der Fachsprache als »somnolent« bezeichnet. Der Kranke war ständig in einer Art Halbschlaf befangen.

Dr. Rissanen sprach sehr laut und eindringlich auf den Nobelpreisträger ein.

Offensichtlich bemühte er sich, ihm die Tatsache klarzumachen, daß Professor Hornstein aus Deutschland gekommen war, um ihn zu operieren.

Der Kranke öffnete für einen Augenblick die Augen, blickte die Männer vor seinem Bett verständnislos an, schloß sie wieder.

»Augenspiegel, bitte!« Professor Hornstein setzte sich auf den Bettrand, hob das linke Lid des Patienten hoch, betrachtete aufmerksam den Augenhintergrund.

Die Schwellung der Sehnervenpapille war deutlich sichtbar.

»Hochgradige Stauungspapille. War ja auch nicht anders zu erwarten.«

»Sechs Dioptrien«, sagte Dr. Rissanen.

»Einschränkung des Gesichtsfeldes?«

»Auch das.«

Professor Hornstein betrachtete nachdenklich das teilnahmslose, bleiche Gesicht des Kranken.

»Wie alt?«

»Fünfundvierzig.«

»Herz? Kreislauf?«

»Professor Kueinen hat auf seine Gesundheit nie sehr große Rücksicht genommen.«

Jetzt bewegten sich die Lippen des Kranken plötzlich. Seine Lider zitterten, als gäbe er sich Mühe, die Augen zu öffnen. Dr. Rissanen beugte sich gespannt über das Bett. Er konnte das Flüstern des Kranken kaum verstehen. Schließlich richtete er sich wieder auf und sagte zu Professor Hornstein:

»Er sagt, sein Kopf käme ihm vor wie ein Nest voll bissiger, hungriger Ratten, die nagen, nagen, nagen … Er bittet Sie, die Ratten zu töten, er bittet Sie …« Und dann leiser, nur für Professor Hornstein: »Verstehen Sie nun, warum ich Sie so dringend hierhergebeten hatte? Wenn Sie auch noch die Befunde sehen … Sie sind der einzige, der hier noch helfen kann!«

Auch der Nachmittag hatte einigen Ärger für Oberarzt Dr. Carl Westhaus auf Lager.

Nun, wenigstens schien Eva die Geschichte mit Angelikas Eltern ausgebügelt zu haben, dachte er während der Visite. Er ertappte sich dabei, daß er die junge Ärztin in Gedanken »Eva« nannte, daß er an sie nicht als an irgendeine Kollegin dachte, sondern anders, persönlicher — und voller Dankbarkeit.

»Es ist alles in Ordnung«, hatte sie ihm nach dem Auftritt im Warteraum im Vorbeigehen gesagt. »Es war ein schweres Stück Arbeit, aber Sie brauchen sich keine Gedanken mehr zu machen.« Wie sie es wohl angestellt hatte …

Jetzt, während der Visite, mußte er sich zwingen, bei der Sache zu bleiben — und er war fast dankbar für die Unterbrechung, als Schwester Gerda ins Zimmer gelaufen kam.

»Herr Oberarzt — Sie müssen sofort ins Chefzimmer. Die Labergerin — oh — Fräulein Laberger…« Verwirrt schwieg sie.

»Was will Fräulein Laberger?« half ihr der Oberarzt.

»Frau Viola Römer ist da, die Pianistin und …«

»Um Himmels willen!« Er wandte sich an den Assistenzarzt: »Fröhlich, machen Sie weiter. Da muß ich wohl hin.«

Viola Römer war eine gottbegnadete Pianistin, anfang Dreißig. Wo sie auftrat, wurde sie stürmisch gefeiert. Ihre Launen aber, Stimmungen, Ausbrüche und Szenen, die sie ihrer Umgebung hinlegte, waren nicht minder stürmisch und machten ein Gutteil ihres Ruhmes aus.

Sie war in Begleitung ihres Verlobten erschienen, der zugleich auch ihr Agent war, eines gewissen Dr. Ernest Enders. Mit wilden, weitausgreifenden Schritten rannte sie im Chefzimmer auf und ab, hielt sich mit beiden Händen den Kopf und machte ihrer Empörung mit lauten Worten Luft.

Vergebens versuchte Dr. Enders sie zu beruhigen. »Aber ich bitte dich, Viola! Ja, ja, ich weiß, es ist unverschämt von diesem Professor, einfach abzureisen, obwohl wir uns angemeldet haben, aber es hat keinen Sinn, sich jetzt aufzuregen. Du wirst davon nur Kopfschmerzen bekommen.«

»Bekommen? Ich habe sie, du Esel! Ich werde mich bei der Ärztekammer, oder wie das heißt, beschweren. Ich werde … oh, mein Kopf platzt bald. Und da wagt es dieser Professor … hier muß doch ein Beschwerdebuch …«

»Guten Morgen, gnädige Frau!«

Das war Oberarzt Dr. Westhaus, der von beiden unbemerkt ins Chefzimmer gekommen war. Seine Stimme war tief, wohlklingend, und, wie er glaubte, beruhigend. Aber auf Viola Römer wirkte sie überhaupt nicht, und er mußte wilde Beschimpfungen über sich ergehen lassen, bevor er weitersprechen konnte.

Seine Antwort kam ihr so unerwartet, daß sie die Augen weit aufriß.

»Gnädige Frau — wenn Sie wüßten, welche Ehre es für mich ist, daß ich Sie persönlich begrüßen darf. Vor allem nach Ihrem letzten Konzert in München … ich bin eigens hingefahren, um Sie anzuhören, ein unvergeßliches Erlebnis!«

»Ja? Wirklich?«

»Bestimmt«, log der Oberarzt weiter, »und ich werde keines Ihrer Konzerte versäumen. Das dürfen Sie mir glauben, gnädige Frau.«

»Und du Esel behauptest immer, Ärzte seien unmusische Menschen!« fauchte Viola ihren Verlobten an, der mit unbeweglicher Miene danebenstand. »Ja, ja, ich weiß es besser. Da war doch auch so ein Arzt, der ein Buch geschrieben hat. Ich erinnere mich an den Titel nicht mehr. Aber unvergeßlich. Ein Dichter!«

»Oh, Sie lesen Dichter. Ich bin entzückt, gnädige Frau.«

»Wir verstehen uns, Herr … Herr …«

»Oberarzt Dr. Westhaus …«

»Ja, Herr Oberarzt … Sagen Sie, lieber Doktor, wann kommt der Herr Professor zurück?«

»Das steht leider nicht genau fest — aber wollen wir uns nicht setzen? Bitte, nehmen Sie mit mir vorlieb. Sie können sicher sein, daß ich gerade in Ihrem Fall …«

»Sie sind reizend, Doktor. Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen.«

Dr. Enders verzog mißmutig das Gesicht und setzte sich nur widerwillig. Was glaubte dieser Arzt eigentlich … sah gut aus, und gutaussehende Männer mochte Viola schon immer gerne leiden.

»Bei welchem Arzt waren Sie bisher in Behandlung, gnädige Frau?« fragte Dr. Westhaus.

»Arzt? Fragen Sie lieber, bei wem ich noch nicht war. Seit Monaten ziehe ich von Arzt zu Arzt!«

»Kopfschmerzen?«

»Irrsinnig! Man hat mir alles mögliche verschrieben, die stärksten schmerzstillenden Mittel — nützt nichts … Ich habe sogar verschiedene Konzerte absagen müssen und wurde wegen Starallüren beschimpft, oh, Sie ahnen ja nicht, wie häßlich die Menschen sind, wie böse, böse, böse! Schließlich hat mich ein Doktor — Doktor — wie hieß er schon?«

»Dr. Schildkraut«, sagte Violas Verlobter.

»Der Münchner Augenarzt?« fragte Dr. Westhaus.

»Jawohl. Er hat mich hierhergeschickt. Ich ging zu ihm, weil ich dachte, die Kopfschmerzen könnten vielleicht von einer falschen Brille kommen, ich sehe nicht sehr gut, müssen Sie wissen, und man liest ja manchmal — schlechte Augen, Kopfschmerzen … Aber er behauptete, ich würde — was habe ich, Ernest?«

»Gesichtsfeldausfall.«

»Was soll das sein, Doktor?« fragte Viola.

»Ein Gesichtsfeldausfall kann sehr wohl mit einer Gehirnerkrankung zusammenhängen«, erklärte Dr. Westhaus vorsichtig — aber nicht vorsichtig genug.

Viola Römer sprang auf, ballte die Fäuste, ihre schwarzen Augen sprühten: »Wollen Sie etwa behaupten — ich wäre verrückt?«

»Halt!« Westhaus’ Stimme klang jetzt sehr energisch. »Davon habe ich nichts gesagt, Sie sind völlig normal und werden es auch bleiben. Aber ich rate Ihnen dringend, ein paar Tage hier in der Klinik zu bleiben. Wir würden dann alle notwendigen Untersuchungen vornehmen, und wenn Professor Hornstein zurückkommt…«

»Hier bleiben? Aber ich habe doch Verpfiichtungen!«

»Sie dürfen keine Zeit verlieren, gnädige Frau«, sagte Dr. Westhaus ernst. »Am besten, Sie gehen gleich ins Vorzimmer und lassen Ihre Personalien aufnehmen, bitte!«

Schweigen.

»Gut.« Viola Römer nickte. »Ich bin ein Freund schneller Entscheidungen. Komm, Ernest, sprich du mit der alten Schachtel draußen.«

»Ich komme sofort nach«, sagte Dr. Enders und schob sie sanft durch die Tür.

»Ein — Tumor?« fragte er dann Dr. Westhaus.

»Es ist durchaus möglich. Ein Gesichtsfeldausfall wird meist durch einen Tumor verursacht, der auf den Sehnerv drückt.«

»Das heißt — Operation.«

Dr. Westhaus nickte.

»Können Sie versprechen — falls die Sache mit dem Tumor stimmen sollte —, daß meine Braut durch eine Operation geheilt wird?«

»Nein. Das kann man nie. Es kommt ganz darauf an, wie groß der Tumor ist, ob es sich um einen gutartigen oder bösartigen handelt — aber warten Sie erst die Untersuchung ab.«

Als Dr. Enders gegangen war, atmete der Oberarzt tief auf. Das ist mal eine Frau, dachte er lächelnd. Die hat den Teufel im Leib.

Er wußte noch nicht, wie recht er damit hatte.

Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Hauspsychiaters. Dr. Wolff meldete sich sofort.

»Hast du viel Betrieb?« fragte der Oberarzt.

»Mit anderen Worten — du willst eine Tasse Kaffee?«

»Ich hab’s verdammt nötig.«

»Man hört so was munkeln. Ich stelle schon Wasser auf.«

Als Dr. Westhaus die schmale Hintertreppe hinunterging, begegnete ihm Dr. Eva Hochhoff. Mit geschmeidigen, weit ausgreifenden Schritten lief sie herauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, wie ein junges Mädchen. Etwas außer Atem blieb sie vor ihm stehen.

»War es schlimm mit der Kunst?« Um ihre Mundwinkel zuckte es.

»Kann man wohl sagen! Aber es ist mir gelungen, die Primadonna zu beruhigen. Und jetzt verraten Sie mir eins: Wie sind Sie mit Angelikas Eltern fertig geworden?«

Sie wurde ernst. »Als Sie wütend rausgerannt sind, habe ich mit ihnen wie mit vernünftigen Menschen gesprochen«, sagte sie schlicht. »Ich habe ihnen Bilder gezeigt, das Knochenstück, das Sie entfernt hatten, und ich habe ihnen erzählt, was Angelika zu erwarten gehabt hätte, wenn sie nicht operiert worden wäre.«

»Aber das haben der Professor und ich doch auch schon versucht?«

»Vielleicht haben Sie es falsch angefangen? Die gleiche Sache kann man so oder so erzählen. Und schließlich habe ich …« Sie verstummte, über ihr Gesicht breitete sich zarte Röte aus.

»Was?«

»Ich habe ihnen von Ihnen erzählt… alles, oder fast alles, was mit dieser Operation zusammenhängt. Sie haben verstanden. Und sie danken Ihnen und lassen sich entschuldigen.«

»Mädchen — Mädchen, wie haben Sie das nur angestellt?« Dr. Westhaus schüttelte verwundert den Kopf. »Und ich dachte schon … hören Sie, wollen Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, faßte er sie unter dem Arm und führte sie die Treppe hinunter.

Im Gang im ersten Stock kam ihnen die Stationsschwester Sigrid entgegen.

»Herr Oberarzt …« Schwester Sigrid blieb stehen, ihre Augen streiften Eva mit einem kurzen, mißtrauischen Blick, »ich muß … gut, daß ich Sie treffe …«

»Was ist los?«

»Ich — ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.«

Eva ging langsam weiter.

»Warten Sie bitte einen Augenblick, Kollegin!« rief ihr Dr. Westhaus nach. Und dann zu Sigrid: »Es handelt sich doch um einen Patienten?« Er sagte es leise und eindringlich.

»Ja … natürlich …« Schwester Sigrid stockte.

»Also — was gibt’s?« Jetzt klang seine Stimme scharf. Konnte sie’s denn nicht lassen? Fing das jetzt schon so an?

Sigrid zermarterte ihr Gehirn. Sie hatte nichts weiter vorgehabt als — was eigentlich? Sie wußte es nicht mehr, vielleicht wollte sie ihn von der jungen Ärztin trennen, die jetzt weiter unten stand und wie unbeteiligt durch das Fenster sah. Aber Sigrid wußte genau, daß sie zuhörte, daß sie die Unbeteiligte nur spielte, ihre Gleichgültigkeit war zu offensichtlich, um echt zu sein. Spann sich vielleicht etwas zwischen den beiden an?

»Es ist nur …«, sagte sie tonlos, »die kleine Ursel ist sehr verängstigt.«

»Und da haben Sie es nicht fertiggebracht, sie zu beruhigen?«

»Ich …« Sigrids Gesicht wurde flammend rot. Und fast im nächsten Augenblick sah sie kalkweiß aus. Sie tastete mit der Hand hinter sich, als suchte sie einen Halt. Ihre Augen wurden dunkel; das unheimlich glimmende Leben in ihnen hätte ihn warnen müssen. Aber er bemerkte es nicht.

»Ich bitte Sie, Schwester, mich in Zukunft nicht mit Nebensächlichkeiten zu belästigen«, sagte er bemüht kalt. Dann ging er, griff Dr. Eva Hochhoff am Ellbogen, und seine Stimme wurde wieder, wie gewöhnlich, warm und unbekümmert, die gleiche Stimme, der sie, Sigrid, ehemals, wenn er bei ihr war, so hingerissen gelauscht hatte.

»Kommen Sie, Kollegin, wir müssen uns beeilen. Unser guter Wolff …«

Dr. Rissanens Arbeitszimmer war elegant und außerordentlich modern eingerichtet. Der Arzt hatte die Untersuchungsergebnisse Förk Kueinens auf der schön gemaserten Platte seines Schreibtisches bereit gelegt.

»Hier die HNO-Untersuchung«, sagte er. »Wir können sie außer acht lassen. Wenn Sie jetzt einen Blick auf das EEG werfen wollen, Herr Professor …«

Professor Hornstein betrachtete lange die Kurve des Elektronencephalogramms. Sie zeigte erschreckende Abweichungen von der Normalkurve.

Dr. Rissanen und Dr. Paltkala sahen den Professor gespannt an. Doch er legte die graphischen Darstellungen ohne ein Wort zu sagen beiseite.

»Röntgen?«

Der Reihe nach reichte Dr. Rissanen jetzt die Röntgenbilder. Professor Hornstein hielt jedes einzelne gegen das Licht und betrachtete es lange.

»Vertiefungen der Schädelcalotte …«, murmelte er wie für sich selbst, »typischer Wolkenschädel. Weiter! Sie haben doch punktiert?«

»Ja. Wir haben uns bemüht, eine Darstellung des gesamten Hirnkammersystems zu erreichen. Bin gespannt, was Sie von diesen Aufnahmen halten.«

An den Röntgenaufnahmen war ganz deutlich erkennbar, daß das Hirnkammersystem in einer bestimmten, charakteristischen Weise verlagert war. Bei der Gehirnerkrankung des Nobelpreisträgers handelte es sich ohne Zweifel um einen Tumor, der örtlich genau bestimmbar war.

»Gute Arbeit«, sagte der Professor anerkennend, als er das letzte Bild aus der Hand legte.

»Ihre Diagnose?« fragte Dr. Paltkala.

Professor Hornstein sah den grauhaarigen, zierlichen alten Herrn nachdenklich an.

»Ich nehme an, Kollege Rissanen hatte Ihnen reinen Wein eingeschenkt?«

»Ich hatte gehofft…«

Der Professor schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Ein Tumor. Außerordentlich groß. Sitzt mitten im Stirnhirn.«

»Bösartig?« Die Stimme des alten Arztes zitterte nun kaum merklich.

»Bösartig oder nicht … Eine Geschwulst in der dritten Hirnkammer ist immer bösartig, ich meine gefährlich, leberisbedrohend. Nur sehr schwer zu operieren. Oder besser — aussichtslos. Ob es ein Karzinom ist…« Professor Hornstein zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall scheint mir hier ein Eingriff ohne jede Aussicht auf Erfolg zu sein.«

»Dann ist er so gut wie …«

Professor Hornstein nickte. Alle kannten das Wort, das auszusprechen sich der alte Arzt scheute.

»Aber — aber wir haben alle Hoffnung auf eine Operation gesetzt.« Jetzt zitterte die Stimme des Alten so sehr, daß er kaum sprechen konnte.

»Das tut mir leid.« Professor Hornstein wandte sich an Dr. Rissanen. »Dann kann ich Ihnen, Herr Kollege, den Vorwurf nicht ersparen«, sprach er langsam und sehr betont weiter, »daß Sie eingermaßen leichtfertig waren. Sie haben lange genug mit mir zusammengearbeitet, um zu wissen …«

»Ich weiß alles, was Sie mir jetzt sagen wollen«, begann Dr. Rissanen nach einigen Augenblicken gespannten, unbehaglichen Schweigens. »Ich habe Sie trotzdem gerufen. Ich konnte nicht anders. Es geht jetzt nicht nur darum, was die Wissenschaft mit dem Tode Förk Kueinens verlieren würde. Er — er ist nicht nur ein Wissenschaftler. Seine Bedeutung geht viel tiefer. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Es ist der Mann Förk Kueinen, der für Finnland so viel bedeutet. Und deshalb versuche ich trotz allem, an ein Wunder zu glauben.«

»Es gibt keine Wunder. Das wissen Sie so gut wie ich.«

»Ich glaube doch.« Rissanen sagte dies sehr bestimmt. »Ich selbst habe bei Ihnen einige Operationen gesehen, die ans Wunderbare grenzten. Sie müssen es versuchen, Herr Professor, bitte …!« Und nach einer Weile: »Frau Birke Kueinen wartet im Vorzimmer.«

»Wieso — wer ist das? Seine Frau?«

Dr. Rissanen nickte.

»Und was soll ich dabei?«

»Sie weiß, wie ernst die Erkrankung ihres Mannes ist… aber auch sie hat gehofft, daß durch eine Operation … sie ist eine prächtige, tapfere Frau. Sprechen Sie doch mit ihr, Herr Professor.«

»Das habt ihr euch ja gut ausgedacht!« brauste Professor Hornstein auf. »Ihr laßt mich aus Deutschland kommen, damit ich der Frau sagen soll: Aus, nichts zu machen, Ihr Mann muß sterben. So ist’s doch, nicht wahr? Weil ihr zu feige ward, es ihr selbst zu sagen. Zum Teufel — wohin bin ich geraten!« Während er die letzten Sätze hinausschrie, wußte er, wie sinnlos seine Beschuldigungen waren und wie sehr sie die beiden Männer treffen mußten. Aber er konnte sich nicht helfen, er mußte sie anschreien, er mußte …

»Bitte …!« Das war der alte Arzt. Professor Hornstein sah ihn an, als würde er seine Anwesenheit erst jetzt wieder bemerken, und seine Stimmung schlug um.

»Ach ja«, sagte er müde. »Schon gut. Entschuldigen Sie. Also — in Gottes Namen! Lassen Sie Frau Kueinen herein.«

Birke Kueinen war eine mittelgroße, einfache Frau mit einem klaren, ausdrucksvollen Gesicht und großen, ernsten und sehr hellen Augen, denen man es ansah, wie sehr sie sich bemühte, ruhig zu erscheinen. Ihre Stimme war fest, als sie sagte:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Professor, daß Sie unserer Einladung Folge geleistet haben.« Ihr Deutsch war gut, wenn auch ziemlich hart akzentuiert. Und bevor noch Professor Hornstein etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Bitte, sagen Sie mir ganz ehrlich, was Sie von dem Zustand meines Mannes halten.«

Professor Hornstein zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Leider, gnädige Frau… ich wäre glücklich, wenn ich etwas anderes sagen könnte … muß ich die Diagnose meines Kollegen Rissanen bestätigen. Tumor im Stirnhirn. Und aller Wahrscheinlichkeit nach inoperabel.«

»Sind Sie ganz sicher, Herr Professor?« Das Gesicht der Frau Kueinen war kreideweiß geworden.

Professor Hornstein nickte.

»Sie sagen: aller Wahrscheinlichkeit nach inoperabel. Also — besteht noch eine kleine Möglichkeit?«

»Vielleicht. Aber sie ist winzig klein. Eins zu hundert.«

»Dann…«, sagte die Frau langsam, und so, als wäre sie plötzlich in weite Fernen gerückt, »dann müssen Sie operieren. Selbst die kleinste Möglichkeit … eins zu hundert oder eins zu tausend … wir müssen sie nutzen. Die Argumente, mein Mann müßte der Wissenschaft erhalten werden, ich habe es in der Zeitung gelesen, sind mir gleichgültig. Er — er ist einzig und allein mein Mann. Ich liebe ihn. Wenn Sie nicht operieren, wird er sterben. Vielleicht noch ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate … dahindämmern … er wird mich nicht mehr erkennen … und immer diese Schmerzen, Qualen, immer, immer. Und weil ich ihn liebe, werde ich wünschen: Stirb, bitte stirb, lieber Gott, laß ihn schnell sterben, laß ihn nicht länger diese Schmerzen erleiden, laß ihn sterben …!«

Das letzte flüsterte sie nur noch. In ihren Augen stand eine solch schreckliche Qual, daß es Professor Hornstein nicht mehr ertragen konnte. Er senkte den Blick.

»Bitte, Herr Professor«, sagte Birke Kueinen jetzt mit klarer Stimme, »bitte, operieren Sie. Bitte!«

»Ja«, sagte Professor Hornstein.

»Jetzt gleich. Bitte!«

»Ja.«

Im großen OP-Saal von Dr. Rissanen gleißten die Lampen. Es herrschte eine atemlose, gespannte Stille, in der nichts zu hören war als das überlaute Geräusch des Saugers.

Professor Hornstein hatte die Dura, die Hirnhaut des Patienten Förk Kueinen, freigelegt. Die OP-Schwester, eine kräftige, schweigsam-umsichtige Person, legte die bisher gebrauchten Instrumente — Skalpell, Pinzetten, Haken, Knochenzange und Knochensäge — zur Seite, ordnete die besonders feinen Pinzetten, Hirnspachtel, Duraskalpelle und Scheren auf dem Tisch.

Dr. Rissanen deckte das ganze Operationsgebiet mit gepreßter feuchter Watte ab.

»Ich mache jetzt auf«, sagte Professor Hornstein. »Duraeröffnung.« Seine Stimme klang klar und fest in der Stille. Die Umgebung versank jetzt für ihn, wie stets bei einer Operation. Sein ganzes Wollen, mehr noch, sein ganzes Sein konzentrierte sich auf seine Hände, die zu hochempfindlichen Werkzeugen wurden und die Instrumente mit unvergleichlicher Fertigkeit und Behutsamkeit führten. Jetzt gab es für ihn nicht mehr einen Patienten namens Förk Kueinen, einen Nobelpreisträger, sondern nur noch den offenen Schädel eines Menschen — und ein Problem.

Das Problem war der Tumor und seine Entfernung. Und er, Professor Hornstein, war nur noch dazu da, um dieses Problem zu lösen.

Er machte den ersten kleinen Schnitt in die Hirnhaut.

Der Anästhesist wiederholte: »Duraeröffnung.« Er zeichnete einen Vermerk in sein Tabellenbuch und starrte dann weiter wie gebannt auf Professor Hornsteins Hände.

»Melden Sie!«

Anästhesist: »Kreislauf gut, Blutdruck 120—70, Atmung gut.«

Professor Hornstein: »Gut. Der Blutdruck muß runter, auf etwa neunzig.«

»Blutdruck senken«, wiederholte der Anästhesist. Er versorgte den Patienten über die Dauertropfinfusion mit Medikamenten, die den Blutdruck künstlich senkten. Wenig später konnte er berichten: »Blutdruck jetzt 100—70.«

»Noch weiter runter.«

»Ich versuche es.«

Während der Anästhesist sich bemühte, den Blutdruck noch weiter zu senken — eine knifflige, doch besonders bei Gehirnoperationen unumgängliche Notwendigkeit — reichte die OP-Schwester Professor Hornstein nacheinander Duraskalpell und Duraschere. Einige wenige, mit höchster Präzision ausgeführte Schnitte. Der Professor konnte jetzt die Hirnhaut aufklappen.

Die Hirnwindungen lagen frei.

Dr. Rissanen saugte das ausströmende Blut ab, Professor Hornstein schloß die größeren Blutgefäße mit Silberclips. Dann glitten seine Finger behutsam über das Operationsgebiet. Die Hirnwindungen waren etwas abgeplattet und zeigten deutlich vermehrte Gefäßzeichnung.

»Kanüle!«

Vorsichtig sondierte Hornstein mit der stumpfen Kanüle, die ihm von der OP-Schwester in die geöffhete Handfläche gedrückt wurde, das verdächtige Gebiet.

In etwa zwei Zentimeter Tiefe war ein deutlicher Widerstand zu spüren.

»Stirnlampe!«

Die OP-Schwester setzte sie ihm auf. Die Spannung stieg, wenn dies überhaupt noch möglich war.

Professor Hornstein führte einen behutsamen Schnitt mit dem Diathermiemesser aus, trennte mit Spateln das Gehirngewebe, drückte es zur Seite. Jetzt mußte er mit besonderer Vorsicht zu Werke gehen. Operationsschäden müssen unbedingt vermieden werden. Gehirnzellen wachsen nicht nach, sie erneuern sich nicht wie die Zellen an anderen Körperstellen. Ein kleiner Schnitt zu viel kann unabsehbare Folgen haben.

Endlich wurde ein Stück des Tumors frei. Graurötlich schimmerte es aus dem Gewebe, ein Fremdkörper, die Ursache der tödlichen Krankheit.

Ob es eine Krebsgeschwulst war, ließ sich im Augenblick noch nicht entscheiden.

Professor Hornstein operierte weiter. Sehr langsam und sehr behutsam versuchte er, den Tumor aus seiner Umgebung zu lösen. Gefäße. Blutungen. Perlen roten Blutes, ein dünner Strahl Blut. Sein Rücken begann zu schmerzen. Vor seinen Augen begann es ganz leicht, kaum merklich zu flimmern. Er richtete sich auf, streckte die Schultern, atmete tief ein und wieder aus — und plötzlich, wie mit einem Schlage, war die Angst da: Was dann, wenn mich ausgerechnet jetzt, jetzt in diesem Augenblick, ein Schwindelanfall überrascht? So wie vorhin. So wie immer öfter in der letzten Zeit. Nicht jetzt! Bitte, nicht ausgerechnet jetzt! Großer Gott … nur das nicht!

»Hallo, da bist du ja«, sagte Dr. Egon Wolff, ohne sich umzusehen, als Oberarzt Dr. Westhaus und Dr. Eva Hochhoff in sein Zimmer traten. Er beobachtete aufmerksam das wallende Wasser in der Kaffeemaschine. »Setz dich. Bin gleich soweit.«

Dann sah er auf und lächelte, als er Eva erkannte.

»Na, das nenne ich eine Überraschung! Wie kommt dieser Glanz in meine Hütte?«

»Hütte? Sie haben das gemütlichste Zimmer im ganzen Haus.«

Der Psychiater sah sich zufrieden um. »Hab’ ich mir auch selber eingerichtet. Billig auf Auktionen gekauft, in Trödelläden … kenne ein paar wahre Fundgruben … selber aufpoliert, ein Hobby, sozusagen. Der Alte gab mir keinen Pfennig Zuschuß zu dem Unternehmen ›Zimmereinrichtung‹.«

»Es ist egal, wo man arbeitet. Hauptsache — man arbeitet«, ahmte Dr. Westhaus den Tonfall des Professors nach. »Hör mal, alter Junge, ich bräuchte eigentlich mehr als nur eine Tasse Kaffee.«

»Weiß ich.« Dr. Wolff holte eine Flasche Kognak aus dem Wandschrank, drei Gläser und schenkte ein. Sie tranken.

»Also — was war eigentlich los?« fragte Wolff etwas später den Oberarzt. »Sie müssen wissen …«, setzte er für Eva erklärend hinzu, »ich bin so etwas wie ein Beichtvater. Carl und ich kennen uns schon sehr, sehr lange.«

Dr. Westhaus erzählte kurz, was sich ereignet hatte. Der Ausbruch des Professors, der Entschluß Angelika zu operieren, der Zusammenstoß mit Angelikas Eltern. Als er fertig war, sagte Dr. Wolff nach einer Weile dumpfen Schweigens: »Da hast du dir ja was geleistet, mein Junge. Ich verstehe nur nicht, wie …«

Dr. Westhaus winkte ungeduldig ab. »Es ist passiert. Gut, der Alte wird mich natürlich vor die Tür setzen — so wie er augenblicklich in Stimmung ist. Und es hilft nichts zu sagen, wenn und wieso und warum.«

»Also nun: Was jetzt?« sagte Dr. Wolff.

Dr. Westhaus nickte nachdenklich. »In Deutschland werde ich kaum bleiben können. Und vielleicht soll man sich wirklich ein bißchen Luft um die Nase wehen lassen. Ein alter Freund schreibt mir immer wieder, ich soll zu ihm nach Teheran kommen … warum eigentlich nicht?«

»Teheran?«

Dr. Eva Hochhoff sah den Oberarzt aus weit aufgerissenen Augen an. »Aber — das ist doch … ist das wirklich notwendig? Vielleicht wird der Professor — nein — ganz bestimmt wird er mit sich reden lassen. Es ist doch alles gutgegangen. Soll ich … ich kenne ihn ja schon sehr lange und …«

»Es wird kaum etwas nützen«, sagte der Oberarzt mit einem gequälten Lächeln. Und dann sehr leise, während er Eva ansah: »Schade — ich — fühle mich eigentlich verflucht wohl hier.«

Doktor Wolff trank seinen Kaffee aus und drehte die leere Tasse nachdenklich zwischen den Fingern. »Vielleicht siehst du alles zu schwarz, Carl. Der Alte ist in der letzten Zeit wirklich ein bißchen — sagen wir — merkwürdig geworden. Aber er ist keiner von den anmaßenden, rechthaberischen Leuten, die wir auch kennen. Es gibt einige davon in unseren Krankenhäusern. Man konnte immer gut reden mit ihm. Was er nicht ausstehen kann, ist Dummheit und Verantwortungslosigkeit…«

»Und was ich getan habe, war dumm und verantwortungslos«, sagte Oberarzt Dr. Westhaus.

»Aber nur vom Standpunkt der Leute aus, die allein ihre Karriere vor Augen haben«, sagte Dr. Eva Hochhoff. »Wenn Sie mich fragen: Es war, weiß Gott — verantwortungsbewußt. Ich glaube nicht, daß ich es wagen würde, mir etwas Ähnliches aufzuladen.«

»Immerhin — ein Trost.« Dr. Westhaus lachte. »Na ja. Lassen wir es auf uns zukommen. Das Donnerwetter bricht noch früh genug über mich herein …«

»Er war schon immer ein leichtsinniger Kerl«, sagte Dr. Wolff zu Eva. »Na ja, als Junggeselle kann man sich’s leisten … Aber was ich sagen wollte …« Er hatte den Oberarzt und Eva mit seinen klugen, dunklen Augen schon eine ganze Zeitlang nachdenklich angesehen. Jetzt lächelte er: »Wißt ihr eigentlich, was eine Fügung des Himmels ist?«

»Dein Kognak und dein Kaffee«, sagte Dr. Westhaus.

»Das sowieso. Außerdem aber auch…« Dr. Wolff trat an seinen Schreibtisch, machte eine Schublade auf und zog ein Kuvert heraus. »Gerade bevor ihr kamt, versuchte ich, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß ich zwei Theaterkarten für heute abend verfallen lassen muß, dazu noch Karten für eine Premiere. Hier sind sie. Schaut euch das Stück mal an.

›Ein Duell‹ heißt es, und die Hauptrolle spielt ein gewisser Frank Ehrenfeld. Hoffentlich vergeßt ihr darüber die trüben Gedanken — wenigstens für zwei Stunden. Gemacht?«

»Und ob! Sie kommen doch mit, Eva?« fragte Dr. Westhaus, und erst nach einigen Augenblicken wurde er sich bewußt, daß er sie nur beim Vornamen genannt hatte …

Gehirnstation

Подняться наверх