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II

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Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. Bleigrau verhangen lastete der wolkenschwere Himmel über der Stadt.

Als Verena in ihr Büro kam, war es noch so düster, daß sie die Deckenbeleuchtung einschalten mußte. Das warme, goldene Licht verwandelte den Raum von einer Sekunde zur anderen. Der leuchtend blaue Teppichboden strahlte, die Stahlrohrmöbel schimmerten silbrig.

Verena freute sich immer wieder aufs neue, wenn sie dieses Zimmer betrat, das in nichts an die hohen unfreundlichen Räume erinnerte, in denen sie ihre Tätigkeit als Lektorin für die literarische Agentur Albert Neuhausen begonnen hatte.

Sie spannte ihren Regenschirm in dem kleinen Waschraum auf, hängte ihren Trenchcoat fort, schlüpfte aus ihren völlig durchnäßten Schuhen und Strümpfen, wusch sich die Beine unter dem warmen Wasser und rieb sie mit dem Handtuch ab. Nachdem sie ihre Strümpfe zum Trocknen aufgehängt hatte, zog sie ein Paar Sandalen an, die sie für solche Zwecke im Büro hatte, und stellte die elektrische Heizsonne dicht neben ihren Schreibtisch. Sie starrte unlustig auf den Stapel neu eingegangener Manuskripte, der auf der linken Ecke des Schreibtisches auf sie wartete.

Das Rauschen des Regens vor dem Fenster wirkte einschläfernd wie ein Wiegenlied.

Verena gab sich einen Ruck und nahm den Telefonhörer auf. »Guten Morgen, Frau Heinzelmann«, sagte sie, »würden Sie wohl so lieb sein und uns eine Tasse Kaffee machen? Ja, bitte, ich erwarte Sie.«

Verena legte den Hörer auf, seufzte leicht und zog die Manuskripte zu sich heran. Es war nicht ganz einfach, Frau Heinzelmann gegenüber den richtigen Ton zu treffen. Sie war eine zuverlässige Kraft, intelligent und tüchtig, und wenn sich die beiden Frauen in einer privaten Sphäre begegnet wären, hätten sie sich ganz gewiß großartig verstanden. So aber hatte sich die Tatsache in das Bewußtsein beider eingegraben, daß Frau Heinzelmann zehn Jahre älter war als Verena und nicht halb soviel verdiente, und diese Tatsache stand wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen.

Verena zog die Begleitbriefe aus den Manuskripten, las sie durch und faltete sie zusammen. Sie schaute in die einzelnen Manuskripte hinein, schrieb die Namen bestimmter Lektoren auf kleine Zettel und heftete diese an die Umschläge.

Frau Heinzelmann klopfte an und balancierte ein Tablett mit einer Tasse Kaffee, einer Dose Zucker und einem Kännchen Milch auf den Schreibtisch.

»Schönen Dank, Frau Heinzelmann«, sagte Verena, »scheußliches Wetter, was?«

»Ich sag’s ja, man muß aufpassen, daß man sich keinen Schnupfen holt!« Frau Heinzelmann warf einen Blick auf die Manuskripte.

»Ja, die können Sie mitnehmen«, sagte Verena. Frau Heinzelmann kannte ihre Arbeit, es wäre ganz unnötig gewesen, ihr zu erklären, daß der Empfang den Autoren bestätigt werden mußte, daß die einzelnen Manuskripte an die Lektoren verteilt werden sollten, die außer Haus für die Agentur arbeiteten.

Frau Heinzelmann nahm Briefe und Manuskripte unter den Arm und wollte das Zimmer verlassen.

»Sie haben sich doch auch Kaffee gemacht?« fragte Verena.

»Ach nein, lieber nicht. Heute nacht hatte ich es mal wieder mit dem Herzen!«

»Das tut mir leid.«

»Ich sag’s ja … über vierzig taugt der Mensch nichts mehr, da können sie so viel reden und schreiben wie sie wollen. Das richtige ist es nicht mehr!«

»Unsinn!« rief Verena und lachte. »Ich bin sicher, ich komme dann erst richtig in Form!«

»Na, Sie werden’s noch erleben!« orakelte Frau Heinzelmann düster.

»Wir können dann gleich anfangen!« rief Verena ihr nach, als sie schon die Türklinke in der Hand hatte.

Der Kaffee war gut, heiß und stark. Verena ärgerte sich, daß sie trotzdem wieder gähnen mußte. Wie konnte sie nur so müde sein! War es gestern abend denn so spät geworden?

Sie stand auf, holte einen Stoß Manuskripte aus dem Regal und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Jedes dieser Manuskripte war von den Lektoren gelesen worden, in jedem lagen kurze Gutachten, in jedem ein Zettel von Verenas Hand mit dem kleinen Wort »Zurück«.

Obwohl Verena durch ihre jahrelange Tätigkeit als Lektorin hätte abgebrüht sein müssen, berührte sie der Anblick der zur Rücksendung bestimmten Manuskripte immer noch ausgesprochen unangenehm. Sie wußte, das war eine dumme Sentimentalität von ihr, über die Neuhausen mit Recht gespottet hätte, aber sie empfand so stark, wieviel Arbeit in jedem dieser Romane, selbst dem schlechtesten und dilettantischsten steckte, mit wieviel Hoffnungen er in die Welt geschickt worden war … Hoffnungen, die sie nun zerstören mußte.

Aber es half nichts. Kein Mensch konnte ihr einen Vorwurf machen. Sie gehörte nicht zu jenen Lektoren, die drei Seiten am Anfang, eine in der Mitte und dann noch – vielleicht – den Schluß überfliegen; aus Albert Neuhausens Agentur ging kein Manuskript zurück, das nicht gründlich und gewissenhaft geprüft worden war. Nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen; sie hätte sich ihr Gehalt Wesentlich einfacher verdienen können und wäre dennoch nicht zu tadeln gewesen.

Frau Heinzelmann kam herein, mit Stenoblock und gespitztem Bleistift. Sie setzte sich an ihr Tischchen und schaute Verena erwartungsvoll an.

»Na, dann los«, sagte Verena und stürzte sich, gleichsam mit geschlossenen Augen, in die Arbeit.

Sie hatten noch nicht die Hälfte der Post erledigt, als sich die Tür öffnete – es war kurz nach zehn – und Albert Neuhausen seinen viereckigen, blanken Schädel hereinstreckte.

»Hallo, Verenchen«, sagte er. Er trug seine dunkle Brille, ein Zeichen, daß er Kopfschmerzen hatte und daß heute noch weniger als sonst mit ihm zu spaßen war.

»Hallo, Chef«, antwortete Verena.

»Morgen, Heinzelmännchen«, sagte Neuhausen und zeigte die Zähne mit einer Freundlichkeit, die benso falsch war wie sein Gebiß.

»Guten Morgen, Herr Neuhausen!« echote Frau Heinzelmann beflissen.

»Ich sehe, ihr seid fleißig«, stellte er in einem Ton fest, als ob es ihn wundere, in seinem Betrieb mal einen anderen Zustand als Müßiggang und Faulenzerei zu erleben.

Die beiden sahen ihn schweigend an, zur Verteidigung bereit; denn irgendein Angriff würde jetzt kommen, das war sicher.

Neuhausen trat ins Zimmer, er war noch im Mantel, der vor Nässe glänzte. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Frau van den Berg … Nein, bleiben Sie ruhig, Heinzelmännchen, ich werd’s kurz machen.«

Er ging im Zimmer auf und ab und rieb sich die Hände, die in hellen Schweinslederhandschuhen steckten.

Verena sah in an.

»Sie haben mir da gestern ein Manuskript hereinreichen lassen … bitte, unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre … aber ich hatte nach dem beiliegenden Gutachten den Eindruck, daß Sie dieses Manuskript für druckreif halten …« Er machte eine Pause.

»Ich halte alle Manuskripte für druckreif, die ich Ihnen vorlege«, sagte Verena und war froh, daß ihre Stimme klar und fest klang.

Er blieb stehen. »Ist das Ihr Ernst?«

Sie sagte nichts und sah ihre Hände an. Ihre langen Nägel waren mattrot lackiert. Eine hübsche Farbe, dachte sie, entschlossen, sich nicht reizen zu lassen.

»Nun, ich dachte, Sie hätten einen Witz mit mir machen wollen«, fuhr Neuhausen fort, »es wäre zwar ein schlechter Witz gewesen, aber immerhin …«

Er machte wieder eine Pause, aber Verena schwieg beharrlich weiter.

»Sie wagen es, mir ein Manuskript unter die Nase zu legen, das in der Zeit vor der Währungsreform spielt?« brüllte er plötzlich los.

Verena sah nicht hoch. Sie wußte, daß sein kahler Schädel jetzt rot anlief.

»Nach all den Jahren, in denen ich mir Mühe gegeben habe, Sie hier einzuarbeiten! Es ist doch wahrhaftig zum …« Er schlug sich klatschend vor die Stirn und rannte im Zimmer auf und ab.

Dann blieb er unvermittelt stehen und sagte mit mühsam beherrschter Stimme: »Bitte, vielleicht sind Sie so gut mir zu erklären, was Sie sich dabei gedacht haben. Frau van den Berg, bitte, erklären Sie es mir, ich bin ein alter Mann, es ist ja gut möglich, daß ich nichts mehr von meinem Beruf verstehe …« Seine Stimme erstarb.

»Ich habe in meinem Gutachten ausdrücklich betont, daß es wahrscheinlich eine gewisse Schwierigkeit beim Verkauf geben wird, weil …«

»Eine gewisse Schwierigkeit!« Er lachte hysterisch auf. »Eine gewisse Schwierigkeit! Frau van den Berg, bitte, seien Sie doch so gut und teilen Sie mir mit, wem ich einen solchen Roman verkaufen soll! Sie wissen es, nicht wahr, ich bin sicher, daß Sie es wissen! Also, sagen Sie es mir!«

Verena schwieg.

»Nun, Sie schweigen – auch eine Antwort! Dann will ich es Ihnen sagen. Ein Roman, der in der Zeit vor der Währungsreform spielt, läßt sich überhaupt nicht verkaufen! Hören Sie gut zu, Frau van den Berg … läßt – sich – überhaupt – nicht – verkaufen! Nirgendwo! An niemanden! Kein Verleger auf der ganzen Welt wird einen solchen Roman drukken, verstanden?«

Verena blickte auf. Neuhausen war stehengeblieben, rang nach Luft und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Die Story ist gut, Chef, und der Roman ist wirklich glänzend geschrieben, das werden Sie doch auch festgestellt haben!« sagte sie.

Ihre Stimme klang ruhig, aber Zorn brannte in ihrem Inneren. Verdammt will ich sein, dachte sie wütend, wenn du auch nur einen Blick in das Manuskript getan hast, du ekelhafter alter Idiot! Sie senkte rasch die Augen, aus Angst, er vermöchte ihre Gedanken zu lesen.

»Meinen Sie, daß sich die Story auch in eine andere Zeit transponieren ließe?«

»Sicher«, sagte Verena, »obwohl …«

»Danke! Dann schreiben Sie das dem Autor gefälligst! Schreiben Sie ihm, er soll’s transponieren. Oder er soll seinen Roman die nächsten zehn Jahre in der Schublade liegen lassen, aber in der hintersten! Vielleicht nimmt ihn später mal jemand ab. Jetzt nicht … jetzt kriegt er ihn nirgends unter, auf keinen Fall!«

»Jawohl, Chef!«

»Schreiben Sie ihm am besten, er soll das ganze in … na, sagen wir mal, ins Elisabethanische England transponieren. Oder auch nach Frankreich in die Zeit der Französischen Revolution. Historische Schinken ziehen immer! Sagen Sie mal, was schauen Sie mich denn so an, Frau Heinzelmann?«

»Ich … nicht daß ich wüßte …« Frau Heinzelmann senkte erschrocken den Blick.

»Los! Sie haben mich angesehen, als ob Sie was sagen wollten!«

»Nein, wirklich nicht.«

»Raus mit der Sprache!« brüllte er.

»Ich … ich wollte nur sagen. Ich dachte nur … zwischen der Zeit vor der Währungsreform bei uns und dem Elisabethanischen England … da gibt es doch gar keine Ähnlichkeit!«

»So? Sie wissen also genau, wie es im Elisabethanischen England zugegangen ist? Interessant, sehr interessant! Dann erzählen Sie mir doch, bitte, was darüber. Seien Sie so gut!«

»Nein, ich – ich weiß natürlich nicht …«

»Und wer, glauben Sie, weiß es?«

Frau Heinzeimann schwieg und wagte nicht aufzusehen.

»Niemand, sage ich Ihnen! Man braucht den Leuten nur zu erzählen, im Himmel ist Jahrmarkt, und sie glauben es, da können Sie sicher sein. Und warum auch nicht? Ich frage Sie!«

Frau Heinzelmann wußte nichts zu antworten.

»Also, Verena, Sie wissen, was Sie dem Autor zu schreiben haben! Er soll die Sache ins Elisabethanische England transponieren, seien Sie so gut, ja?«

»Ja, Chef!«

Einen Augenblick noch blieb er mitten im Raum stehen und starrte die beiden Frauen durch seine dunklen Brillengläser an, dann ging er zur Tür. »Ich werde Ihnen das Manuskript gleich rüberschicken«, meinte er noch; dann war er gegangen.

»Na, ich hoffe nur, jetzt ist ihm wohler«, sagte Verena nach einem kurzen Schweigen.

»Ich sag’s ja immer«, murmelte Frau Heinzelmann.

Wo sind wir stehengeblieben?«

»Es tut mir so leid, Frau van den Berg.«

»Was denn?« fragte Verena leicht gereizt.

»Daß ich das gesagt habe! Jetzt hat er sich nur noch mehr in sein Elisabethanisches England verbissen.«

»Unsinn! Bis der Autor das Manuskript überarbeitet hat – falls er sich überhaupt darauf einläßt – hat Neuhausen das längst vergessen, das sollten Sie doch wissen.«

»Manchmal wundere ich mich wirklich …«, sagte Frau Heinzelmann, stockte mitten im Satz und fügte hinzu: »Aber so was soll man wohl besser gar nicht aussprechen!«

Verena spielte mit ihrem Bleistift; sie hatte gute Lust, ihn in der Mitte durchzubrechen.

»Daß ein Mann wie Neuhausen sich überhaupt halten kann«, platzte Frau Heinzelmann heraus. »Lesen tut er nie etwas, das weiß doch jeder hier, und …«

»Dafür hat er ja uns!«

»Das sag ich ja.«

»Frau Heinzelmann, Sie sehen das falsch!« Verena versuchte Neuhausen mehr noch vor sich selbst als vor ihrer Sekretärin zu verteidigen. »Neuhausen ist Geschäftsmann, ein tüchtiger Geschäftsmann. Er versteht es, mit den Autoren Verträge zu machen, bei denen er so viel wie möglich für die Agentur rausholt – und sie lassen sich das gefallen, weil er in seinen Verträgen mit den Verlagen so viel wie möglich für die Autoren rausholt. Machen Sie ihm das mal nach, wenn Sie können! Ich kann es nicht!«

»Aber, trotzdem, er …«

»Er ist krank, Frau Heinzelmann, seine Nerven sind kaputt. Drei Jahre KZ sind kein Kinderspiel. Und wo soll er sich denn abreagieren, wenn nicht bei uns?«

»Wenn Sie das so sehen …«

»Ja, so sehe ich das! Wo waren wir stehengeblieben?«

Kaum eine halbe Stunde später läutete das Telefon. Frau Heinzelmann warf Verena einen fragenden Blick zu, dann nahm sie den Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr.

»Der Chef!« sagte sie, als sie wieder aufgelegt hatte. »Sie möchten bitte ins Konferenzzimmer kommen!«

»Was ist denn nun schon wieder los?«

»Ein Autor – soviel ich verstanden habe.«

Verena unterdrückte einen Fluch und erhob sich. »Na schön!« Sie öffnete die Tür zum Waschraum. »Meine Schuhe sind noch klitschnaß«, stellte sie fest.

»Haben Sie kein Zeitungspapier hineingestopft?«

»Ich hab’nicht dran gedacht.«

»Ziehen Sie doch einfach Ihre Strümpfe an und dann nehmen Sie wieder die Sandalen.«

»Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.«

Als Verena wenige Minuten später ins Konferenzzimmer trat, sah sie Neuhausen im Gespräch mit einem rothaarigen Mann, der ihr den Rücken zukehrte, stehen.

»Da bist du ja endlich, Verenchen!« rief er und zeigte seine falschen Zähne. »Ich möchte dir Herrn Schmitz vorstellen, einen hoffnungsvollen jungen Autor …«

Der junge Mann hatte sich Verena, die durch das Zimmer ging, zugewandt. »Schmidt«, berichtigte er ernsthaft, »Jochen Schmidt!«

Neuhausen ließ sich nicht beirren, er streckte den Arm aus und zog Verena an seine Brust; sie wurde steif wie eine Puppe.

»Herr Schmidt«, sagte er feierlich, »dieses ist Verena van den Berg, meine bildschöne Cheflektorin und – nebenbei gesagt –, eine der intelligentesten Frauen Europas! Halten Sie sich an Verenchen, Herr Schmidt, und Sie sind ein gemachter Mann!«

Verena versuchte sich loszuwinden, aber seine Hand umklammerte ihren Oberarm mit eisernem Griff. Sie warf ihm einen Blick zu, der jeden anderen Mann zumindest in Verlegenheit versetzt hätte; Neuhausen entlockte er nur ein amüsiertes Grinsen.

Jochen Schmidt verzog keine Miene, er beobachtete die beiden mit höflichem Ernst.

Ganz plötzlich gab Neuhausen Verena frei. »Na, dann überlasse ich euch also eurem literarischen Gespräch«, sagte er, »sei so gut und berichte mir nachher, Verenchen …« Mit hölzernen Schritten stolzierte er hinaus.

Verena und Jochen Schmidt standen sich gegenüber. Sie sah ihn an, ohne mehr als einen blassen Schatten seiner Persönlichkeit wahrzunehmen. Sie hätte weinen mögen vor Wut.

Erst als Jochen Schmidt irgend etwas sagte, fand sie in die Situation zurück.

»Entschuldigen Sie, bitte«, murmelte sie.

»Ich sagte, Herr Neuhausen scheint bis heute keine blasse Ahnung von meiner Existenz gehabt zu haben«, wiederholte er seinen Satz.

»Woher auch?« fragte sie.

»Aber …«

»Wollen wir uns nicht setzen?«

Sie setzten sich an das äußerste Ende des langen grünen Tisches. Vor den Fenstern strömte immer noch unablässig der Regen, graues Licht fiel in den Raum.

Verena öffnete eine der schweren, eckigen Zigarettendosen und schob sie ihm hin. Er bediente sich, legte seine Zigarette aber gleich aus der Hand, um ihr Feuer zu geben. Erst jetzt bemerkte sie, daß er nur einen Arm hatte, sein linker Ärmel baumelte schlaff und leer in der Jackentasche.

»Aber Sie sind doch wohl im Bilde?« fragte er.

»Wenn ich ehrlich sein soll …«, meinte sie zögernd und sah ihn an. Seine Haut wirkte verwittert und fahl unter dem roten Schopf, die Augen, von zahlreichen feinen Fältchen umgeben, waren von einem sehr hellen Blau, das durch die langen roten Wimpern noch heller wirkte, sein Alter war schwer zu schätzen.

Jochen Schmidt, dachte sie, natürlich, Jochen Schmidt … irgendein Manuskript. Wenn ich mich nur erinnern könnte!

Er lachte plötzlich und zeigte gesunde weiße Zähne. »Ich komme Ihnen wohl sehr albern vor, was?«

»Natürlich nicht, aber Sie müssen das verstehen. Ich hatte keine Gelegenheit, mich vor diesem Gespräch zu informieren«

»Ich kann Ihnen nur versichern«, sagte er, wieder lachend, »es kommt nicht allzuoft vor, daß ich meine Bedeutung überschätze. Aber Sie hatten mir einen so ausführlichen und interessanten Brief geschrieben …«

»Dann ist Ihr Manuskript sicher nicht schlecht!«

»So habe ich es jedenfalls aufgefaßt. Ich habe mich unbändig über Ihren Brief gefreut. Das heißt, im Grunde habe ich mich maßlos geärgert. Aber es ist ja klar, daß Sie das nicht begreifen können.«

»Lieber Herr Schmidt«, sagte Verena und biß sich auf die Unterlippe, »ich bin sicher, wir würden uns leichter verständigen, wenn Sie sich nicht so sehr als Einzelfall betrachten würden.«

»Tue ich das?« Er hob in übertriebenem Erstaunen die rötlichen Augenbrauen.

»Es scheint so«, entgegnete sie kühl, »Ihre Reaktion auf meinen Brief war jedenfalls nicht um ein Jota anders als die eines jeden anderen noch unbekannten Autoren. Sie haben sich gefreut, daß sich jemand überhaupt ernsthaft mit Ihrem Werk befaßt hat, und Sie haben sich geärgert, weil Sie die Notwendigkeit einer Umarbeitung natürlich nicht einsehen wollen!«

»Sie geben es mir ja ganz schön!« sagte er, und die Fältchen um seine Augen vertieften sich.

Sie fühlte sich elend, weil sie ihre Gereiztheit an ihm ausließ. »Wahrscheinlich haben Sie ihr Manuskript schon von mehr als einem Verlag ohne ein Wort der Erklärung zurückerhalten«, sagte sie.

»Stimmt haargenau«, gab er zu, ohne sich im geringsten verletzt zu zeigen.

Verena versuchte, sich zu einem sachlich freundlichen Ton zu zwingen. »Wann haben Sie Ihr Manuskript eingesandt?« fragte sie.

»Vor zwei Monaten ungefähr.«

»Und wann haben Sie es zurückbekommen?«

»Vor zwei oder drei Wochen.«

»Danke«, sagte Verena und drückte ihre Zigarette aus. Sie stand auf, ging zum Telefon hinüber und wählte eine Nummer. »Frau Heinzelmann«, sagte sie, »bitte, ich brauche ein paar Unterlagen über den Autor Jochen Schmidt. Er hat uns vor zirka zwei Monaten ein Manuskript eingesandt. Ja, er hat es zurückbekommen … Briefwechsel und Gutachten. Augenblick mal …«

Verena legte die Hand auf den Hörer und wandte sich an Schmidt. »Wie war der Titel?«

»Die Vergessenen.«

»Ach so!« murmelte sie und sah ihn an.

Dann wandte sie sich wieder dem Telefon zu. »Frau Heinzelmann? Ich brauche die Unterlagen nicht mehr. Nein, danke, es hat sich schon erledigt.«

Verena legte den Hörer auf, ging zu ihrem Platz zurück und nahm sich geistesabwesend eine neue Zigarette. Er reichte ihr Feuer.

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie und deutete auf die Dose.

»Danke. Wenn ich mir eine Pfeife anzünden dürfte?«

»Natürlich!«

Er zog eine Pfeife und einen ledernen Tabaksbeutel aus der Hosentasche und begann, sie mit der rechten Hand zu stopfen. Er tat es auf eine Weise, die trotz aller Unbeholfenheit weder rührend noch mitleiderregend wirkte, sondern, wie Verena fand, ausgesprochen arrogant.

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Haben Sie die Umarbeitung vorgenommen?«

»Ja«, sagte er, »ich habe das Manuskript bei mir. Wenn Sie einen Blick hinein tun wollen?« Er hielt sein Feuerzeug an den Pfeifenkopf und begann zu paffen.

»Ich möchte es mir lieber in aller Ruhe vornehmen.«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte sie an. »Ich hoffe, daß es Ihnen jetzt gefällt.«

Sie wich seinen Augen aus und wußte nichts zu sagen.

»Sie werden sich sicher fragen, warum ich persönlich aufgekreuzt bin, was? Ich hätte das Manuskript doch genausogut mit der Post schicken können. Wie das erstemal …« Er zog an seiner Pfeife. »Der Grund ist einfach der, daß ich Sie kennenlernen wollte.«

Sie machte eine fast erschrockene Bewegung.

»Doch«, sagte er, »das ist der Grund! Sie müssen nämlich wissen … Sie sind tatsächlich der erste und einzige Mensch, der für meinen Roman Verständnis gezeigt hat, und Sie wissen sicher, was es für einen Autor bedeutet verstanden zu werden.«

Er schwieg und schaute sie über seine Pfeife hinweg an.

»Ich … ich werde bestimmt alles für Ihren Roman tun, was in meinen Kräften steht«, stotterte sie.

»Das glaube ich, aber das Wichtigste bleibt für mich doch, daß er Ihnen gefallen hat.«

Sie biß sich auf die Unterlippe und erwiderte seinen Blick.

»Herr Schmidt«, sagte sie, »es tut mir leid … aber hier liegt ein Mißverständnis vor …«

»Das ist doch nicht möglich!« sagte er und lächelte immer noch.

»Es tut mir leid«, wiederholte sie, »aber Ihr Manuskript hat mir nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Es wäre das letzte, was mir je gefallen könnte …«

»Ach!« Sein Lächeln erlosch.

»Ja«, meinte sie aufatmend.

Er drückte mit dem Daumen die Pfeifenglut herunter, seine Augen waren niedergeschlagen, seine Stirn zeigte Runzeln; er sah mit einemmal sehr jung aus, wie ein kleiner Junge, dem man sein Lieblingsspiel verboten hat.

»Das soll natürlich nicht heißen, daß ich die neue Fassung nicht mit größter Sorgfalt prüfen werde!«

»Aber das hat doch dann gar keinen Sinn. Ich meine, wenn Sie …«

»Doch. Sehen Sie, Herr Schmidt, ich habe ja nicht gesagt, daß Die Vergessenen ein schlechter Roman wäre … Das ist er gewiß nicht, ganz im Gegenteil. Er ist gut gebaut und gut geschrieben … daß er mir persönlich nicht gefallen hat, besagt doch nicht viel!«

»Bitte, Sie brauchen mich nicht zu trösten!«

»Das habe ich auch nicht vor! Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, warum mein persönlicher Geschmack nur sehr wenig besagt.«

»Aber Sie sind doch hier Cheflektorin, oder?«

»Sicher. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich die Manuskripte nach meinem Geschmack beurteile. Das wäre doch ganz dumm!«

»Ich verstehe nicht …«

»Wir haben Verbindungen zu den verschiedensten Verlagen, Herr Schmidt, und es kommt oft genug vor, daß ein Manuskript mit einer glänzenden Beurteilung von mir auf Herrn Neuhausens Schreibtisch gelegt wird. Ein Roman, den ich nie im Leben aus freien Stücken lesen würde. Das heißt aber nicht, daß er nicht durchaus seinen Verlag und seine Leserschaft finden wird.«

»Klingt ganz nett«, murmelte er über seine Pfeife hinweg.

»Natürlich, ich könnte es verstehen, wenn Sie mir unter diesen Umständen Ihr Werk nicht anvertrauen möchten«, sagte sie und erhob sich.

»Was bleibt mir schon anderes übrig?« Er stand ebenfalls auf. »Sie wissen genau …«

»Danke«, sagte sie und nahm das Manuskript entgegen.

»Aber ich, ich meine doch … Ich möchte einfach wissen, was Ihnen an meiner Arbeit nicht gefallen hat! Könnten wir nicht …«

»Sehen Sie, Sie haben eine bestimmte Anschauung vom Leben. Ich habe eine andere. Das ist alles.«

»Aber, könnten wir nicht …«

»Hören Sie mal, Herr Schmidt!« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Nicht hier und nicht jetzt, natürlich«, sagte er rasch, »Sie haben eine Menge zu tun, ist mir klar. Aber vielleicht mal abends. Oder… Sie gehen doch sicher mittags essen …«

»Tut mir leid, Herr Schmidt … aber das … prinzipiell nicht!«

»Und warum?«

»Ein persönlicher Kontakt mit einem Autor würde, fürchte ich, meiner Objektivität schaden. Das müssen Sie verstehen!«

»Trotzdem, ich …«

»Und außerdem«, unterbrach sie ihn, »in Ihrem eigenen Interesse! Es wäre schlecht, wenn Herr Neuhausen den Eindruck bekäme, Sie wären ein besonderer Protegé von mir.« Sie reichte ihm die Hand und lächelte ihm zu. »Also, machen Sie sich nichts draus, Herr Schmidt. Ich werde Ihr Manuskript bestimmt mit ganz besonderem Interesse lesen, und Sie werden so bald wie möglich von mir Bescheid bekommen!«

»Danke«, sagte er. Er hatte die Pfeife weglegen müssen, um ihr die Hand zu reichen. Jetzt nahm er sie wieder auf und wandte sich zum Gehen.

»Herr Schmidt!« rief Verena ihm plötzlich nach.

Er drehte sich halb um.

»Entschuldigen Sie, bitte … aber … wie alt sind Sie eigentlich?« fragte sie, ohne recht zu wissen, weshalb.

»Warum interessiert Sie das?« Er hob seine Augenbrauen.

»Nur so …«

»Sechsundzwanzig«, sagte er kurz und verließ endgültig den Raum.

Sechsundzwanzig! dachte Verena. Verflucht noch mal, ich hätte ihn netter behandeln sollen! Aber daran ist nur Neuhausen, dieses Ekel, schuld mit seinem albernen Getue, obwohl ich daran mittlerweile schon gewöhnt sein könnte, aber es reißt mir immer wieder an den Nerven.

Sechsundzwanzig! Trotzdem … der Roman ist gräßlich. Immerhin, er ist ja auch noch hundejung, ein halbes Kind noch. Er wird mich für ein Scheusal halten, na wenn schon, ich kann es nicht ändern.

Der Regen hämmerte gegen die Fensterscheiben.

Eine Frau von dreißig Jahren

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