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III

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Ina Bongard war an diesem Morgen mit einem frohen Gefühl aufgewacht. Noch ehe sie klar denken konnte, noch ehe das Trommeln des Regens in ihr Bewußtsein drang, spürte sie, daß etwas Neues und Schönes begonnen hatte. Dann wachte sie vollends auf und wußte es … Heinrich!

Sie, die sonst nur ungern und unlustig aufzustehen pflegte, war heute mit einem Satz aus dem Bett gewesen, noch vor Verena. Sie hatte sich mit äußerster Sorgfalt angezogen, hatte ein Kleid gewählt, das ihr bisher noch zu schade für den Laden erschienen war. Sie fühlte den inneren Drang, während des Ankleidens zu singen, unterließ es nur mit Mühe, weil sie Verenas Spott und Argwohn fürchtete.

Von dem Augenblick an, da sie die Ladentür aufgeschlossen hatte, erwartete sie, Heinrich eintreten zu sehen. Er war zwar sonst meist erst um die Mittagszeit gekommen, aber das hatte ja nichts zu sagen, heute war doch ein besonderer Tag, heute würde er sich bestimmt genauso wie sie nach einer Begegnung mit ihr sehnen.

Aber die Stunden verrannen, ohne daß Heinrich erschienen wäre. Inas Lächeln, das am frühen Morgen strahlend und voll glücklicher Erwartung gewesen war, begann sich zu verzerren, begann einzufrieren.

Alle paar Minuten blickte sie auf ihre Armbanduhr, gab ihren Kunden zerstreut und abwesend Bescheid, starrte, während sie bediente, voller Spannung auf die Tür, und jedesmal, wenn diese sich öffnete, gab es ihr einen kleinen Stich ins Herz – wieder nicht Heinrich!

Es wurde ein Uhr und damit Zeit, den Laden über Mittag zu schließen, doch während Ina sonst immer voll Ungeduld auf diesen Moment zu warten pflegte, zögerte sie ihn heute so lange wie möglich hinaus. Es konnte ja sein, daß er sich verspätet hatte …

Ehe sie endgültig abschloß, trat sie auf die Straße hinaus und blickte nach allen Seiten. Viele Wagen fuhren vorüber, kamen von rechts und kamen von links, einmal glaubte sie sogar, Heinrichs Auto erblickt zu haben, aber es fuhr vorüber, und Heinrich saß nicht am Steuer.

Sie ging nach oben, aß ein paar belegte Brote, machte sich einen starken Kaffee. Der Kaffee tat ihr gut, neue Hoffnung erwachte in ihr. Jetzt konnte sie fast über sich lachen. Wie man nur so dumm sein konnte!

Mehr als einmal war Heinrich doch erst am frühen Nachmittag erschienen, ja, es war eigentlich die Regel, und nur um sie zu sehen, konnte er doch schließlich nicht seinen ganzen Tagesplan über den Haufen werfen. War es denn wichtig, ob er eine Stunde früher oder später kam? Kommen würde er bestimmt, und das war doch die Hauptsache.

Heinrich kam nicht. Es wurde drei, es wurde vier Uhr, die Ladentür ging auf und zu, die Leihbücherei war voller Menschen, aber Heinrich war nicht unter ihnen.

Inas erwartungsvolle Spannung steigerte sich fast zur Hysterie. Ihr war, als müßte sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen, nur um diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu machen. Plötzlich fiel ihr ein, daß er vielleicht anrufen würde. Er hatte noch nie angerufen, aber vielleicht heute. War das Telefon umgeschaltet? Sie ließ die Kunden allein im Laden und rannte die Treppe hinauf.

Es war alles in Ordnung. Wenn jemand anrief, mußte das Telefon im Laden klingeln. Natürlich, wie konnte es anders sein, sie hatte das noch nie vergessen.

Sie blickte im Vorübergehen in den Spiegel und stellte fest, daß sie gehetzt und gequält aussah. So durfte sie Heinrich nicht begegnen! Sie zwang sich zur Ruhe, zu einem Lächeln. Sie hätte weinen mögen.

Als das Telefon klingelte – wirklich und wahrhaftig klingelte – schoß Farbe in ihre Wangen. Das mußte Heinrich sein, anders war es ja gar nicht möglich. Er rief an, weil er nicht kommen konnte, vielleicht rief er sogar an, um sich mit ihr zu verabreden.

Sie nahm den Hörer nicht gleich ab, bediente weiter, versuchte sich zu sammeln.

Erst als es das drittemal klingelte, hob sie ab und sagte mit bewußt tiefer Stimme: »Hallo!« in den Apparat.

»Hallo, Ina! Entschuldige bitte, ich habe doch wahrhaftig ganz vergessen, dir zu sagen …« Es war Verena.

Ina ließ den Hörer sinken, ihr Mund verzog sich. Verenas Stimme quäkte unverständlich aus dem Telefon.

Ina sah die Blicke der Kunden auf sich gerichtet und riß sich zusammen. »Ja, Verena …«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Bist du mir böse?«

»Nein, natürlich nicht …«

»Ich komme so früh wie möglich nach Hause!«

Plötzlich war Ina bei der Sache. »Wieso? Wo gehst du hin?«

»Aber das habe ich dir doch gerade eben lang und breit erklärt!«

»Ich habe kein Wort verstanden!«

»Ich gehe zu Bri-git-te! Hörst du? Brigitte hatte mich gestern …«

»Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«

»Weil ich es vergessen habe!«

»Du wolltest es mir nicht sagen!«

»Nun hör mal, Ina … jetzt spinnst du wirklich!«

»Ach, es ist dir ja ganz egal, was ich denke …«

»Ina, bitte!«

»Warum hat mich Brigitte nicht auch eingeladen?«

»Aber, Ina! Du kannst Brigitte doch nicht leiden!«

»Das ist kein Grund. Wenn du es ihr nicht erzählt hast …« Ein kleines Schluchzen stieg in Inas Kehle, sie schwieg, weil sie nicht gut hier im Laden vor allen Leuten in Tränen ausbrechen konnte.

Auch am anderen Ende der Leitung blieb es still. Dann sagte Verena tastend: »Hör mal, Ina … hast du vielleicht schlechte Nachrichten … von deinem Heinrich?«

Ina warf den Hörer auf die Gabel und putzte sich heftig die Nase.

Die Kunden blätterten mit scheinbar größtem Interesse in den ausgelegten Büchern.

Der Regen strömte unablässig.

Verena stand, schon im Trenchcoat, am Fenster und schaute zum Himmel empor. Es sah nicht aus, als ob es jemals wieder aufhören wollte.

Sie hörte, daß die Tür hinter ihr geöffnet wurde und fuhr herum. Neuhausen steckte den Kopf ins Zimmer.

»Verenchen, gut, daß ich Sie noch treffe …«

Sie sah ihn schweigend an.

»Ich wollte nur fragen, ob ich Sie in meinem Wagen mitnehmen kann bei dem Sauwetter.«

»Das ist nicht nötig«, entgegnete sie steif.

»Nur im Geschäftsinteresse, Verenchen!« Er zeigte sein Gebiß. »Eine erkältete Cheflektorin scheint mir nicht wünschenswert!«

»Bitte«, sagte sie kühl, »aber ich muß in die Betunienallee …«

»Um so besser, das ist ja ganz in meiner Nähe!« Er öffnete ihr die Tür und ließ sie vorausgehen. »Nicht, daß ich Sie nicht liebend gern bis ans Ende der Welt bringen würde, Verenchen!«

Im Wagen war es feucht und kühl. Neuhausen stellte die Heizung an.

Verena behielt die Hände in den Taschen, die Aktenmappe unter den Arm gepreßt und starrte geradeaus. Der Scheibenwischer bewegte sich hin und her, geräuschlos und unermüdlich, und bei jeder Bewegung schuf er ein blankes Halbrund auf der beschlagenen Scheibe.

»Übrigens«, begann Neuhausen, ohne Verena anzusehen, »ich habe mir das überlegt – mit dem Vorwährungsreformmanuskript …«

Sie schwieg beharrlich.

»Man könnte es vielleicht doch mal damit versuchen.«

Er machte eine Pause, als wartete er auf Verenas Reaktion, aber sie rührte sich nicht.

»Ich denke da an Gatze und Co … Der alte Gatze hat sein Geld im Zuckergeschäft gemacht und der Junior bringt es jetzt mit seinem Verlag durch, der liebt solche Sachen, wie Sie wissen. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, denen das Manuskript anzudrehen, damit wir auch noch was von dem Segen abbekommen, bevor sie bankrott sind.«

»Das müssen Sie wissen, Chef«, sagte Verena endlich.

Eine Weile fuhren sie schweigend.

»Was für einen Eindruck hat denn dieser junge Mann auf Sie gemacht«, begann Neuhausen dann wieder, »dieser … Jochen Schmitz?«

»Er heißt Schmidt«, sagte Verena, »und im übrigen ist er sechsundzwanzig Jahre alt.«

»Zu jung für Sie, Verenchen … viel zu jung«, sagte Neuhausen und schnitt eine Kurve.

»Das sollten Sie nicht tun, Chef!« entfuhr es Verena.

»Was?«

»Kurven schneiden … noch dazu bei dem Wetter!«

Er grinste. »Ich bin schon gefahren, als Sie noch nicht auf der Welt waren, Verenchen! Sie haben doch keine Angst um mich?«

»Nein, aber um mich!« erwiderte sie böse.

»Ihre Ehrlichkeit wirkt auf mich immer wieder erschütternd!«

Sie merkte, daß sie ihn jetzt ernstlich verletzt hatte. »Ach«, sagte sie wütend, »das ist doch zu dumm! Sie wissen ganz genau, wie aufgeschmissen ich wäre … wir alle … wenn Ihnen etwas zustieße! Was sollte dann aus der Agentur werden? Also, bitte, fahren Sie vorsichtig … oder wenigstens vernünftig, zum Teufel!«

»Sie sind heute ordentlich geladen, wie?« Er grinste schon wieder.

Sie schwieg.

»So, hier sind wir«, stellte er fest, »Betunienalle … welche Nummer wohnt Ihr Freund?«

»Siebenundvierzig! Und zu Ihrer Beruhigung … es ist eine Freundin!«

»Sie machen mir Sorgen, Verenchen, wollen Sie denn nicht endlich heiraten?«

»Ich wüßte nicht, warum … und auch nicht, wieso Sie ein Interesse daran haben könnten!«

Der Wagen hielt.

»Verena«, sagte er mit übertriebener Feierlichkeit, »Sie wollen mich doch nicht zwingen, wieder einmal um Ihre Hand anzuhalten?«

»Du lieber Himmel!« Sie mußte lachen.

»Sie würden mich zum glücklichsten aller Sterblichen machen, glauben Sie mir!«

»Also, wissen Sie, Chef, das ist nicht fair. Ich finde, mein Gehalt kann die Firma gerade noch tragen!«

»Bis morgen, Verenchen!«

»Bis morgen, Chef! Und schönen Dank!«

Er winkte ihr durchs Wagenfenster zu, als sie schon im Hauseingang stand. Dann fuhr der Wagen davon.

Verena lächelte noch immer. Sie wußte, daß er erleichtert war, sie mit seinem alten Witz zum Lachen gebracht zu haben. Das war so seine Art, sich für schlechtes Benehmen zu entschuldigen. Wenigstens war er nicht ohne Einsicht, bestimmt gab es viel schlimmere Vorgesetzte.

Zehn Jahre arbeitete sie jetzt bei Neuhausen, und trotz aller Reibereien war es noch nie zu einem ernsthaften Krach gekommen. Im Grunde genommen verstanden sie sich doch recht gut, und die nächsten Tage würde er bestimmt besonders zahm sein, wie stets nach solchen Ausfällen. Es war töricht von ihr, sich immer wieder ins Bockshorn jagen zu lassen. Man mußte ihn einfach nehmen, wie er war, ändern können würde ihn niemand mehr.

Die Haustür wurde aufgedrückt, und Verena stieg zum zweiten Stock hinauf. Ein nettes Mädchen in schwarzem Kunstseidenkleid, weißer Schürze und weißem Häubchen erwartete sie an der Wohnungstür.

»Fräulein van den Berg?«

»Ja.«

»Die gnädige Frau erwartet Sie!«

Sie half Verena aus dem Trenchcoat.

»Sie sind noch nicht lange hier, nicht wahr?« fragte Verena.

»Seit zwei Monaten, gnädiges Fräulein!«

Aber schon gut dressiert, hätte Verena beinahe gesagt, aber verschluckte noch rechtzeitig diese Bemerkung.

So was! dachte sie. Das wird ja immer toller. Ein Mädchen mit Spitzenhäubchen! Nächstens wird Georg ihr noch einen Swimming-pool auf dem Balkon anlegen!

Das Mädchen öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ließ Verena eintreten.

Ihr erster Blick fiel auf Georg, der, noch ohne aufzuschauen, im Sessel saß, die Beine weit von sich gestreckt und in der Zeitung las.

Es gab ihr einen Schlag, fast prallte sie zurück. Dann zwang sie sich, weiterzugehen, setzte einen Fuß vor den anderen, lächelte Brigitte zu und sagte mit einer fröhlichen Stimme, die ihr selber fremd und unnatürlich klang: »’n Abend, Brigitte! Ich bin pünktlich, was? Mein Chef hat mich mit seinem Auto gebracht!«

Brigitte sah sie an, Spott in den schläfrigen Augen. »Fein, daß du gekommen bis … Ich war gar nicht sicher, ob du mich nicht wieder versetzen würdest!«

»Unsinn!« Verena gelang es, zu lachen.

Georg war aufgestanden, die zusammengelegte Zeitung in der Linken. Sie mußte ihn begrüßen.

Sein warmer, fester Händedruck tat ihr fast unerträglich wohl. Ohne ihn anzusehen, spürte sie doch seine braunen, ernsten Augen auf ihr Gesicht gerichtet. Ein, zwei Sekunden, dann war es überstanden.

»Setz dich doch, Verena«, sagte Brigitte, »wie geht’s dir denn?«

»Oh, danke, alles beim alten!« Verena redete nervös drauflos. »Ärger mit Neuhausen wie immer, und Ina scheint sich wieder mal verliebt zu haben.«

»Und du?«

»Ich?«

»Na, ich meine nur. Willst du deine Tugend weiterhin eisern verteidigen?«

»Ihr entschuldigt mich wohl«, sagte Georg, der stehen geblieben war, »es wird Zeit für mich!«

»Geh nur, Liebling, wir halten dich gewiß nicht!« sagte Brigitte süß.

Verena blickte in Georgs Richtung. Er verbeugte sich knapp, sah sie mit traurigen Augen an, und dann hatte er das Zimmer verlassen.

Die Atmosphäre war mit einem Schlag verändert, die gefährliche Spannung, die Verena fast körperlich gespürt hatte, war in ein Nichts zerronnen; jetzt war sie mit Brigitte allein, eine Plauderstunde zwischen alten Freundinnen sollte beginnen, kein Grund mehr zu irgendeiner Beklemmung.

Verena zündete sich eine Zigarette an und überließ sich einen wohligen Augenblick lang ihrem Entspanntsein.

»Warum kannst du Georg eigentlich nicht leiden?« fragte Brigitte unvermittelt und ohne Verena anzusehen. Sie hatte den Kopf über eine Strickarbeit gebeugt. Jetzt stellte Verena fest, daß sie ihre Haarfarbe wieder einmal gewechselt hatte. Ihre kurzgeschnittene, künstlich verstrubbelte Frisur leuchtete kupferrot im Licht der Stehlampe.

»Die neue Frisur steht dir gut«, meinte Verena.

Brigitte sah auf. Ihre Haut wirkte sehr weiß gegen das rotglänzende Haar, ihre Augen sehr grün. »Weich mir nicht aus!«

»Aber wieso denn? Ich überlege mir nur gerade …«

»Das mußt du doch wissen!«

»… was für eine Haarfarbe du eigentlich ursprünglich hattest!«

»Aber wer spricht denn davon, Verena! Das ist doch gänzlich uninteressant!«

»Mich interessiert’s nun mal gerade!«

»Ich weiß, daß du Georg nicht leiden kannst. Ich habe es von Anfang an gemerkt. Und das ist auch der Grund, warum du immer seltener zu mir kommst!«

»Du redest dir das ein, Brigitte, wirklich …«

»Stört es dich, daß er … nun … nicht sehr klug ist?«

»Nicht?« Verena war ehrlich erstaunt.

»Ach, tu doch nicht so! Das weißt du ganz genau!«

»Ich … du kannst mich totschlagen, Brigitte, aber darüber habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht!«

Brigitte zuckte mit den Schultern. »Nun, dann habe ich dich eben überschätzt. Ich hätte gedacht, du wärst längst dahintergekommen. Daß ausgerechnet du dich von seinem gutem Aussehen blenden lassen würdest …«

»Na hör mal, Brigitte, das ist doch Unsinn, was du da redest! Er ist Rechtsanwalt, hat eine gutgehende Praxis, verdient ’ne Menge Geld, da kann er doch nicht … Nein, Brigitte, das wirst du mir nicht einreden!«

»Er kann nicht nur … er ist!«

»Was?«

»Dumm! Wenn du es genau wissen willst!«

Verena drückte ihre Zigarette aus. »Jedenfalls hast du eine höchst eigentümliche Art, über deinen Mann herzuziehen!«

»Findest du?« Brigittes grüne Augen funkelten.

»Ja.«

»Nun, ich dachte, du wärst meine Freundin.«

»Was hat das damit zu tun?«

»… und ich könnte ein offenes Wort mit dir reden!«

»Ich finde dieses ganze Thema zum Kotzen!« sagte Verena wütend und sprang auf.

»Meinst du, daß es mir angenehm ist, über diese Dinge zu reden?«

»Warum tust du es dann? Warum in Dreiteufelsnamen tust du es?«

»Weil ich Klarheit schaffen möchte. Klarheit zwischen dir und mir. Du kannst doch nicht leugnen, daß du dich immer mehr von mir zurückziehst. Bitte, sag jetzt nicht, ich bilde mir das ein. Ich weiß es. Und der Grund kann nur Georg sein; ich habe mir dein ganzes Verhalten immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Es handelt sich um ihn. Was also ist los?«

Nur einen winzigen Augenblick geriet Verena in Versuchung, Brigitte alles zu erzählen, aber ebenso schnell, wie dieser Gedanke in ihr aufgetaucht war, verwarf sie ihn wieder. Wozu? Es hätte ja doch keinen Zweck. Es hätte höchstens bewirken können, eine so schon unangenehme Situation ganz und gar unmöglich zu machen. Manigfaltige Gedanken wirbelten durch Verenas Kopf; sie sah Brigitte gerade in die spöttischen Augen, sagte aber kein Wort.

»Oder stört es dich, daß Georg mich betrügt?« fragte Brigitte mit samtweicher Stimme.

Das Blut stieg Verena in den Kopf. »Davon habe ich keine Ahnung!«

»So? Wirklich nicht?«

»Nein!«

»Das wundert mich aber«, äußerte Brigitte und nahm gleichmütig ihre Strickarbeit wieder auf.

Verena setzte sich. »Wahrscheinlich bildest du dir das nur ein«, murmelte sie.

»Du weißt also wirklich nichts?«

»Nein. Und ich glaube es auch nicht!«

»Ich habe Beweise.«

Verena nahm sich eine neue Zigarette; ihre Hand zitterte leicht. »Wirklich?« fragte sie. Ihre Stimme klang höchst gelassen.

»Ja.«

»Das tut mir leid …«

»Ich habe dir das nicht erzählt, um dein Mitleid zu erwecken!«

»Entschuldige, bitte.«

»Ich kann dir versichern, mich stört’s überhaupt nicht.«

»Um so besser!«

»Er hat … es handelt sich nicht um eine bestimmte Frau. Es sind immer andere, verstehst du?« begann Brigitte. »Augenblicklich …«

»Hör mal, Brigitte«, unterbrach Verena sie schroff, »hast du mich eigentlich nur eingeladen, um mir diese Dinge zu erzählen?«

»Ach, natürlich! Du möchtest sicher was zu trinken haben, nicht wahr?« rief Brigitte.

»Ja. Was zu trinken und ein anderes Thema, wenn es dir irgend möglich ist! Wann wollte Ellen denn kommen?«

»Überhaupt nicht«, sagte Brigitte, die aufgestanden war, »trinkst du lieber pur … oder soll ich dir was mixen?«

»Hast du sie nicht erreicht?«

»Doch, aber heute ist Premiere im Stadttheater! Darf ich dir was mixen? Ich habe ein ganz neues Rezept!«

»Nur los … zeig, was du kannst!«

An diesem Abend wurde Georg nicht mehr erwähnt. Bis zum Essen bot ihre gemeinsame Freundin Ellen ein neutrales und ausgiebiges Gesprächsthema.

»Es hat mir auch leid getan, daß sie nicht kommen konnte«, erklärte Brigitte, als sie, einen blitzenden Mixbecher auf und nieder schüttelnd, wieder ins Zimmer kam.

»Daß du noch keine Hausbar hast!« meinte Verena.

»Mir gefällt’s besser so«, antwortete Brigitte, »ich habe es nicht gern, wenn einem beim Mixen alle Leute auf die Finger schaun!«

»Aha! Du meinst, so kommt man dir nicht so leicht auf die Schliche …?«

»Eben!«

»Hast du Ellen wenigstens gefragt, wie es mit ihrem Hans Ludwig steht?«

»Bestens! Aber das hätte ich dir auch so sagen können!«

»Wieso denn?«

»Wenn sie nicht bis über beide Ohren verliebt wäre, würde sie sich nicht so rar machen.«

»Du glaubst … deshalb? Ich dachte, sie hätte soviel zu tun?«

»Ein bißchen Freizeit hat doch jeder Mensch, selbst eine noch so überbeanspruchte Kostümbildnerin! Daran liegt’s nicht. Aber sie hat in ihrer Freizeit was Besseres vor!«

»Na hör mal! Schließlich steckt sie doch auch im Theater dauernd mit ihm zusammen. Er ist doch auch was da – oder?«

»Bühnenbildner!«

»Na, siehst du! Sie arbeiten doch sicher Hand in Hand. So stell ich mir das wenigstens vor!«

»Hand in Hand! Da würde nicht viel bei herauskommen!«

»Sei nicht albern, Brigitte. Du weißt genau, wie ich es meine. Sag mal, findest du nicht, daß du inzwischen genug geschüttelt hast?«

»Armer Schatz … du sollst nicht länger dursten!« Brigitte stellte den Mixbecher aus der Hand und holte zwei Gläser aus dem Schrank.

»Wie gefällt er dir eigentlich, der Hans Ludwig?« fragte Verena.

»Soweit ganz gut. Sehr imposant, möchte ich sagen. Aber viel los sein kann ja nicht mit ihm!«

»Nicht?! Auf mich hat er einen ausgezeichneten Eindruck gemacht!«

»Auf Ellen auch!« Brigitte schenkte ein und hob ihr Glas. »Nun trink mal. Ich bin gespannt!«

Verena nahm vorsichtig einen ganz kleinen Schluck, dann gleich einen größeren. »Schauderhaft!« sagte sie und schüttelte sich.

»Im Ernst?«

»Schauderhaft schön!« erklärte Verena vergnügt. »Nun beichte mal. Was ist da alles drin?« Sie nahm wieder einen Schluck. »Völlig undefinierbar!«

»Geheimrezept, Verena, wird nicht verraten!«

»Erst schmeckt es sanft wie ein Jünglingskuß – und nachher brennt’s wie die Sünde.«

»Dann ist es richtig!«

»Ein Teufelszeug!«

»So heißt es auch. Cocktail diabolo!«

»Werde ich mir merken! Aber jetzt sag mir mal, was hast du gegen Ellens Hans Ludwig?«

»Ich? Gar nichts!«

»Aber du hast doch eben gesagt, es wäre nicht viel mit ihm los!«

»Ist auch nicht, Verena, denk doch mal nach! Glaubst du, daß ein wirklich begabter Bühnenbildner – ein Mann von fünfundvierzig Jahren, so alt ist er, Ellen hat es mir selbst gesagt —, daß ein wirklicher Könner ausgerechnet an unserem Stadttheater gelandet wäre?«

»Na ja … aber du mußt die Zeit bedenken! Den Krieg und …«

»Der ist längst vorbei!« unterbrach Brigitte sie. »Nein, mach dir keine Mühe, Verena. Wie er als Mensch ist, kann ich nicht beurteilen, als Künstler jedenfalls ist er nicht viel wert! Ellen ist tausendmal begabter.«

»Schade«, sagte Verena. Sie zündete sich eine neue Zigarette an.

»Wir können gleich essen«, mahnte Brigitte.

»Schon passiert!« sagte Verena und rauchte. »Meinst du, daß Ellen das weiß?«

»Bestimmt nicht! Wenn man so verliebt ist, dann ist man mit Blindheit geschlagen.«

»Man kann doch nicht drei Jahre lang von morgens bis abends verliebt sein – und mit Blindheit geschlagen!«

»Anscheinend doch!«

»Das nehme ich dir nicht ab, Brigitte! Dann hätte sie ihn doch längst heiraten können!«

»Er ist verheiratet, wußtest du das nicht?«

»Auch das noch!«

»Ich finde, es ist ein Glück – für Ellen.«

»Und seine Frau? Wie stellt sich seine Frau zu dem Ganzen? Sie muß es doch wissen, oder?«

»Sie leben getrennt, schon wer weiß wie lange. Sie wohnt in Hamburg.«

»Ellen tut mir leid«, sagte Verena nachdenklich.

»Aber warum denn?«

»Das fragst du? Nach allem, was du mir erzählt hast?«

»Das spielt doch für Ellen keine Rolle! Sie ist glücklich mit ihm. Was willst du mehr?

»Ich weiß nicht …«

»Nur kein Neid … wer hat, der hat!«

»Aber, Brigitte, rede doch keinen Unsinn! Du weißt genau …«

»… daß es jetzt was zu essen gibt!« ergänzte Brigitte, denn in diesem Augenblick war das Mädchen in der Tür des Zimmers erschienen.

Beim Abendessen gab es dann einen kleinen Zwischenfall, den Brigitte sofort zu überspielen verstand, der sich aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen tief in Verenas Gedächtnis einprägte.

»Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn Michaela mit uns ißt …«, hatte Brigitte gefragt, als sie aufstanden.

»Aber nein, natürlich nicht«, hatte Verena sofort versichert.

»Weißt du, ich möchte, daß sie möglichst bald gute Tischmanieren …«

Michaela, Brigittes kleine Tochter, hatte die ernsten braunen Augen ihres Vaters und die unscheinbare Haarfarbe ihrer Mutter geerbt, ihr Gesichtchen war blaß und spitz. Sie begrüßte Verena artig, doch ohne Fröhlichkeit, aß appetitlich, die Augen auf ihren Teller gesenkt, und versuchte in keiner Weise, sich in die Unterhaltung der Freundinnen zu mischen.

Verena erzählte auf Brigittes Fragen von ihrer Arbeit in der Agentur, von Jochen Schmidts heutigem Besuch, den sie drollig ausschmückte, als sie Michaelas große Augen plötzlich auf sich gerichtet sah.

»Na, Michaela«, fragte sie, »das interessiert dich wohl?« Michaela nickte stumm und eifrig.

»Tu den Mund auf, wenn du gefragt wirst!« mahnte Brigitte.

Michaela errötete.

»Hast du dir denn schon überlegt, was du später einmal werden willst?« fragte Verena.

Michaela schluckte. »Nein, noch nicht, Tante Verena.«

»Oder willst du lieber heiraten?«

»Nein, heiraten bestimmt nicht!« erklärte Michaela rasch und bestimmt.

»Warum denn nicht?«

»Verheiratet sein ist …«

Hier riß Brigitte die Unterhaltung an sich, so daß Verena Michaelas letzte Worte nicht mehr verstehen konnte.

»Diesen jungen Mann kenne ich, glaube ich«, sagte Brigitte, »aber ich wußte nicht, daß er Bücher schreibt!«

Das Abendessen war ausgezeichnet: es gab mehrere Gänge, sie tranken eine gute Flasche Wein; das Mädchen im Spitzenhäubchen servierte rasch und geschickt. Es war ein richtiges kleines Festmahl, und Verena war der Ehrengast, wie Brigitte ihr mit jeder Geste zu verstehen gab. Wenn Verena dies alles auch ein wenig übertrieben, wenn nicht gar protzig fand, so vergaß sie doch unmerklich immer mehr ihre Alltagssorgen und fühlte sich gehoben und festlich beschwingt.

Gleich nach dem Essen verabschiedete sich Michaela – mit einem artigen Knicks von Verena, einem flüchtigen Kuß von ihrer Mutter – und die beiden Damen gingen ins Wohnzimmer zurück, um dort eine Tasse Kaffee und einen Likör zu trinken. Verena fühlte sich satt und ein wenig faul, die Unterhaltung kam ins Stocken.

»Sag mal, Verena«, begann Brigitte, »hast du nicht vorhin erzählt, daß Ina wieder mal läufig ist?«

»Brigitte!« Verena richtete sich so rasch in ihrem Sessel auf, daß ihr Kaffee auf die Untertasse schwappte. »Wie kannst du …?«

Brigitte lachte. »Nun … Ich finde das sehr treffend ausgedrückt.«

»Ich möchte nur wissen, was du gegen Ina hast!«

»Nichts … nicht das geringste!«

»Warum redest du dann so über sie?«

»War doch nur Spaß!«

»Und warum lädst du sie nie ein?«

Brigitte zuckte mit den Schultern. »Sie interessiert mich nicht, das ist alles.«

»So? Und gerade hast du mich nach ihr gefragt!«

»Deinetwegen, mein Schatz, nur deinetwegen!«

»Reizend von dir«, entgegnete Verena, »klingt nur nicht ganz überzeugend.«

»Ina ist für mich uninteressant!« erklärte Brigitte mit Nachdruck. »Sie gehört meines Erachtens nach zu den Frauen, die man nur akzeptiert, wenn sie im Schlepptau eines bedeutenden Mannes segeln!«

»Natürlich, ich verstehe. Und der fehlt Ina. Ich will dir mal was sagen, Brigitte …du bist ein gräßlicher Snob!«

»Ina war mal ein reizendes junges Mädchen, das will ich gar nicht leugnen«, fuhr Brigitte nachdenklieh fort, »aber sie hat es nicht verstanden, aus ihrem Leben etwas zu machen … und jetzt ist sie einfach passé!«

»Wie kannst du nur so hart sein!«

»Ich habe nie begriffen, wieso du dich ausgerechnet mit Ina zusammentun konntest!«

»Ich mag Ina …«

»Wird mir ewig unbegreiflich bleiben … Ich bewundere es restlos, wie du es fertigbringst, ihre ewigen unglückseligen Verliebtheiten zu ertragen!«

»Sei doch gerecht, Brigitte! Für eine Frau unseres Alters ist es doch nur natürlich, sich nach Liebe zu sehnen!«

»Natürlich wäre es für uns, nackt in Höhlen zu hausen und auf allen vieren zu kriechen!«

»Du lieber Himmel!«

»Nun mach nicht so ein Gesicht, Verena. Du brauchst dich doch nicht verletzt zu fühlen!«

»Ich bin der Ansicht, du hast kein Recht, über Ina den Stab zu brechen«, antwortete Verena böse. »Daß du eine verheiratete Frau bist, gibt dir nicht das Recht …«

»Verzeih, Verena«, sagte Brigitte rasch, »bitte, verzeih! So habe ich das alles nicht gemeint, ich habe nur so dahergeredet!«

»Na schön.«

»Wirklich. Es ist doch zu blöd, daß wir beide uns jetzt ausgerechnet Inas wegen streiten müssen!«

»Du hast angefangen …«

»Mea culpa, ich weiß … Sei nicht mehr böse, Verena, ja?«

»Bin ich doch gar nicht!« murrte Verena, schon wieder besänftigt.

»Weißt du, was?« rief Brigitte. »Ich habe eine Idee! Wollen wir nicht eine Partie Schach miteinander spielen? Wie in alten Zeiten?«

»Nur zu! Los, hol das Brett! Verlaß dich drauf, ich werde dir deinen Hochmut bald ausgetrieben haben!«

Je weiter der Abend fortschritt, desto unruhiger wurde Verena. Es drängte sie aufzubrechen, noch bevor Georg kam. Sie fürchtete, daß er sich anbieten würde, sie nach Hause zu bringen; und eine Fahrt durch die nächtlichen Straßen, allein mit Georg in der intimen Enge seines Wagens war mehr, als Verena ihren Nerven heute noch zumuten mochte.

Vergebens versuchte Brigitte sie zu halten.

Als sie dann endlich auf der Straße stand, fühlte sie sich befreit, wie einer tatsächlichen Gefahr entronnen, obwohl sie sich gleichzeitig darüber klar war, daß ihr diese Gefahr nicht von Georg drohte, nicht aus äußeren Umständen erwuchs, sondern einzig und allein in ihren eigenen Gefühlen bestand, die sie nicht abzuschütteln vermochte wie man ein abgetragenes Kleid weglegt.

Es hatte aufgehört zu regnen, noch stand kein Stern am Himmel, aber die Luft war von seltener Reinheit. Das nasse Pflaster schimmerte im Schein der Straßenlaternen, und Verena war froh, daß sie zu Fuß nach Hause gehen konnte. Sie fühlte sich auf diesem einsamen nächtlichen Gang glücklich und ängstlich zugleich, wie ein Kind, das die Schule schwänzt.

Ina schlief schon, als sie ins Schlafzimmer kam, ihre blonden Löckchen waren zerzaust, ihr rundes Gesicht wirkte auf eine merkwürdige Weise kindlich und doch welk. Verena zog sich rasch und lautlos aus und versank, ehe sie noch die Erlebnisse des Tages überdenken konnte, in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen kam es zu keinem Gespräch zwischen den beiden Freundinnen; sie hatten das Klingeln des Weckers überhört und mußten sich, endlich erwacht, sehr beeilen, um rechtzeitig an ihren Arbeitsplätzen zu sein.

Verena stürzte sich mit geradezu hitzigem Eifer in ihre Aufgaben, bewußt verdrängte sie alle Gedanken an Georg und Brigitte. Sie war überzeugt, daß Grübeln und Bohren ihr nicht weiterhelfen konnten, sondern daß sie die Tatsachen so hinnehmen mußte, wie sie waren: der Mann, den sie liebte, war mit ihrer Freundin verheiratet, ob glücklich oder unglücklich, sie konnte daran nichts ändern.

Eine Frau von dreißig Jahren

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