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Das Bleigießen verlief harmlos und heiter und ohne jeden Zwischenfall. Florian hatte sich wieder gefaßt, er bedachte jeden bei jeder Gelegenheit mit einem seiner charmanten Komplimente, und doch erschien mir seine gute Laune ein wenig unnatürlich, ja krampfhaft. Je übermütiger Florian wurde, desto mehr zog Robby sich in sich selbst zurück und wurde einsilbig.

Nach dem Bleigießen hatten sich Szene und Stimmung im Raum völlig verändert. Der starke Punsch hatte in jeder Beziehung anregend gewirkt, man lief hinaus und wieder herein. Dr. Sintesius und Marjorie verschwanden für kurze Zeit gemeinsam, niemand blieb mehr ruhig sitzen. Es wurde getanzt, jeder tanzte mit jedem, aber ich tanzte meistens mit Florian. Robby war der einzige, der sich abseits von der allgemeinen Fröhlichkeit hielt, aber niemand achtete auf ihn.

Als er plötzlich zu jammern und laut und wehleidig über Herzschmerzen und Atemnot zu klagen anfing, war wahrscheinlich nicht nur ich der Meinung, daß es sich dabei um einen Versuch handelte, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.

»Helm …«, stöhnte er, »Helm, bitte, bring mich nach Hause! Ich kann nicht mehr!«

Helm sah nicht einmal zu ihm hin; er tanzte, Lisa im Arm.

»Ich will nach Hause …«, stöhnte Robby.

Cleo, die mit Jan Guntram getanzt hatte, machte sich frei und ging zu ihm hinüber.

»Robby!« bat sie. »Du kannst uns doch jetzt nicht im Stich lassen!«

»Schmerzen …«, stöhnte Robby.

»So schlimm?«

»Helm soll zu mir kommen …!«

»Laß Helm doch tanzen! Paß auf, Robby, wir bringen dich jetzt nach nebenan«, versuchte Ftatateta, die herangetreten war, ihn zu beruhigen.

»Ich will nach Hause!« forderte er kläglich.

»Nebenan liegst du viel besser als zu Hause, und wir können uns um dich kümmern. Lisa«, rief Cleo, »holen Sie doch bitte die Silberdose aus dem Badezimmer!«

»Laß mich lieber«, warf Ftatateta ein.

Lisa war schon in der Tür. »Ich weiß …!« – Sie lief hinaus.

Robby wurde nebenan im Schlafzimmer auf eines der Betten, die rechtwinklig zueinander standen, gelegt. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte, die Hand auf dem Herzen. Wenn er wirklich beabsichtigt hatte, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, so war ihm das glänzend gelungen: alle, auch Helm, waren ins Schlafzimmer gekommen und standen um ihn herum. Lisa kam mit der Silberdose und einem Glas Wasser. Helm nahm ihr die Dose aus der Hand, eine Tablette heraus und reichte sie Robby. Er steckte die Tablette in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

Einen Augenblick sah es so aus, als ob die Tablette eine beruhigende Wirkung gehabt hätte, dann plötzlich versuchte Robby sich aufzurichten, sein Gesicht wurde sehr rot, er rang schwer nach Luft, dann fiel er zurück. Er war wachsbleich geworden, die Augen starrten blicklos zur Decke, sein Arm sank schlaff über die Bettkante hinunter.

Wir alle standen sprachlos um das Bett herum. Dr. Sintesius faßte sich als erster, ergriff Robbys jetzt noch zerbrechlicher wirkendes Handgelenk und fühlte den Puls.

»Exitus …«, sagte er dann.

In diesem Moment begannen von allen Kirchen die Glocken zu läuten, auf der Straße brannten mit lautem Knallen, Pfeifen und Zischen Raketen ab. Prost-Neujahr-Rufe und übermütiges Grölen drangen in das stille Zimmer.

Es war zwölf Uhr. Ein neues Jahr hatte begonnen.

Niemand von uns hatte sich bis jetzt gerührt; ich glaube, niemand von uns hatte überhaupt begriffen, was in den letzten Minuten geschehen war.

Dann plötzlich brach Marjorie in ein wildes, hysterisches Schluchzen aus und rannte hinaus.

Jan Guntram trat zu Robby und fühlte, wie um sich noch einmal zu vergewissern, seinen Puls. »Tot«, bestätigte er leise, und sein gesundes Gesicht war ganz fahl geworden.

Helm Ritter ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett sinken und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Lisa sah verstört von einem zu anderen. »Ich … ich begreife es nicht!«

Ftatateta hatte sich als erste gefaßt. »Man müßte einen Arzt anrufen«, schlug sie vor.

»Ja, einen Arzt«, wiederholte Florian; um seinen Mund zuckte es nervös.

»Bitte, Heiner«, wandte sich Ftatateta entschlossen an Dr. Sintesius, »ich glaube, es ist das Richtigste, wenn du das übernimmst!«

»Dr. Schäffer hat Robby behandelt«, murmelte Helm Ritter, ohne aufzublicken.

Dr. Sintesius nickte und ging wortlos hinaus. Wir hörten ihn nebenan telefonieren.

Dann kam Dr. Sintesius zurück, er brachte Marjorie mit, die sich wieder gefaßt hatte, aber deren Augen vom Weinen rot und verschwollen waren.

»Dr. Schäffer kommt sofort«, berichtete Dr. Sintesius. Er knipste sein Zigarettenetui auf und bot mir, als er meinen Blick auffing, eine Zigarette an. »Er war zu Hause, aber er hat Gäste!«

Meine Zigarette brannte, ich tat einen tiefen Zug. Albernerweise war das Einzige, was ich denken konnte, daß es für Dr. Schäffer doch sehr unangenehm sein mußte, mitten aus der Silvesterfeier zu einem Toten geholt zu werden.

Dr. Schäffer war ein netter alter Herr mit gütigen Augen und einem gepflegten kleinen Schnurrbart. Merkwürdigerweise wirkte er nicht wie ein Arzt, sondern wie ein Schauspieler, dessen besondere Spezialität die Darstellung von Ärzten ist. Vielleicht kam das daher, daß er seit Jahrzehnten als Theaterarzt tätig war.

»Exitus«, bestätigte er. Er sah sich suchend im Kreise um, als ob er nach dem Hauptleidtragenden Ausschau hielte. »Mein allerherzlichstes Beileid«, murmelte er dann etwas allgemein, weil niemand sich rührte. Er nahm einen Schein aus der Tasche und schraubte seinen Füllfederhalter auf. »Hm … Er hatte Herzbeschwerden, nicht wahr?«

»Ja«, meldete sich Ftatateta, »vor einer Weile … Etwa zehn Minuten vor seinem … Tod klagte er über Herzbeschwerden!«

»Und Atemnot?«

»Ja, auch über Atemnot.«

»Und … was geschah daraufhin?«

»Wir hielten es für das Beste, daß er sich ruhig hinlegte.«

»Tat er das?«

»Ja. Wir brachten ihn hier ins Schlafzimmer«, berichtete Cleo, »dabei fiel mir ein, daß ihm vielleicht eine meiner Tabletten helfen könnte …«

»Was für eine Tablette?« unterbrach Dr. Schäffer.

»Die Sie mir verschrieben haben, Herr Doktor, für mein Herz. Sie waren dort in der silbernen Dose.«

Dr. Schäffer öffnete die Silberdose. Sie war leer.

»Ftatateta«, bat Cleo, »hol doch mal die Tabletten!«

»Nicht nötig«, wehrte Dr. Schäffer ab, »ich weiß schon Bescheid. Ein harmloses Beruhigungsmittel.«

Ftatateta war schon aus dem Zimmer geeilt.

»Sie sagten mir, die Tabletten Seihen sehr … sehr wirksam«, sagte Cleo.

»Natürlich, mein liebes Schäflein, natürlich.«

Ftatateta kam mit einer runden Apothekerschachtel zurück und zeigte sie Dr. Schäffer. »Meine Freundin füllt die Tabletten immer in diese kleine Silberdose, weil sie sie in der Handtasche mit sich führt!«

»Sie – ich meine die Tabletten -, sie haben ihm doch nicht geschadet?« fragte Cleo erschrocken.

»Nein, nein, natürlich nicht, mein liebes Schäflein«, beruhigte Dr. Schäffer.

»Gott sei Dank!«

»Hatte der Verstorbene irgendwelche … hm … Aufregungen heute abend?« wollte Dr. Schäffer wissen.

Wir sahen uns an.

»Ich meine nur, Sie haben doch gefeiert, nicht wahr?«

»Robby … Herr Benett … war ungewöhnlich ausgelassen und … und aufgeregt«, behauptete Ftatateta.

»Und dann kam plötzlich die Reaktion, dann kamen die Herzbeschwerden, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Cleo, »genau so war es.«

»Hm«, machte Dr. Schäffer. »Wann ungefähr ist der Tod eingetreten?«

»Es muß kurz vor zwölf gewesen sein«, erinnerte ich mich, »gleich darauf begannen die Neujahrsglocken zu läuten.«

Dr. Schäffer machte einige Eintragungen auf seinem Schein. »Geben Sie mir doch bitte die Daten des Verstorbenen!«

»Bitte, Herr Doktor, wie konnte das so … so plötzlich geschehen?« erkundigte sich Cleo.

»Hm, ich möchte Sie nicht mit Fachausdrücken belasten, mein liebes Schäflein, aber Sie wissen doch sicher selber, daß sein Herz nicht gesund war.«

»Ja, aber daß es so schlimm war …!«

»Das ist das Eigenartige mancher Herzkrankheiten«, meinte Dr. Schäffer, »es ist schwer vorauszusehen, wann das Ende kommt.«

»Der arme Robby«, seufzte Lisa.

»Er hätte mit derselben Konstitution auch hundert Jahre alt werden können«, stellte Dr. Schäffer fest.

»Net auszudenken!« ließ sich Florian vernehmen, und es war seinem Gesicht anzusehen, wie er das meinte.

»Ein warnendes Beispiel für Sie, mein liebes Schäflein«, wandte sich Dr. Schäffer Cleo zu. »Was macht denn Ihr Herzchen?«

»Ganz in Ordnung!«

»Wir wollen es nicht berufen! Es wäre gut, wenn Sie mich bald einmal in meiner Sprechstunde aufsuchen würden, Vorsicht ist immer am Platze!«

»Bevor ich nach Amerika fahre, bestimmt noch einmal«, versprach Cleo.

»Oh«, staunte Dr. Schäffer, »höre ich recht…?«

»Ich habe ein Engagement nach Hollywood!«

»Sie sind wirklich ein Goldkind, mein liebes Schäflein! Alles, was Sie anfassen, wird zu Gold!«

Dr. Schäffer stand auf und verließ, begleitet von Ftatateta, das Zimmer. Ich trottete hinterher. Obwohl ich verwirrt und wie betäubt war, hatte ich doch das Gefühl, irgend etwas unternehmen zu müssen.

Dr. Schäffer steuerte ins Badezimmer.

»Herr Doktor …«, begann ich, als er sich den Rock auszog und die Hemdsärmel aufkrempelte.

»Sind Sie sicher, Herr Doktor, daß das ein … ein natürlicher Tod war?«

»Sind Sie anderer Meinung?« Er schäumte sich die Hände unter dem fließenden Wasser ein.

Ftatateta stand daneben. Sie hatte ein frisches Handtuch geholt und hielt es über dem Arm.

»Ich bin ja nicht der Arzt«, erklärte ich.

»Die Bantu-Neger behaupten, jeder Tod sei natürlich«, wich Dr. Schäffer aus.

»Wir leben in Europa!«

Dr. Schäffer schwenkte die nassen Hände über dem Becken ab. »Ich begreife nicht, worauf Sie hinauswollen, mein liebes Schäflein!«

»Nun, vielleicht werden Sie mich auslachen, aber ich hatte unbedingt den Eindruck, als wenn Robbys Tod in Zusammenhang mit der Tablette gestanden hätte!«

»Die Tabletten sind völlig harmlos«, behauptete Dr. Schäffer und trocknete sich die Hände an dem Handtuch ab, das Ftatateta ihm hinhielt.

»Die Tabletten, die Sie Cleo verschrieben haben, bestimmt.«

»Na also.«

»Aber ist es denn ganz sicher, daß eine dieser Tabletten in der silbernen Dose war?«

»Ja, Monte«, mischte sich Ftatateta plötzlich in unsere Auseinandersetzung, »ja, das ist ganz sicher!«

»Haben Sie vielleicht noch andere Tabletten im Haus, mein liebes Schäflein?« wandte sich Dr. Schäffer an Ftatateta.

Ftatateta öffnete ein weißes Apothekerschränkchen, das links neben dem Waschtisch aufgehängt war. »Ja«, gab sie zu, »Aspirin … Melabon … Chinosol, nein, das Röhrchen ist leer …«

»Aber vielleicht sollte man …«, versuchte ich noch einmal.

»Mein liebes Schäflein«, mahnte Dr. Schäffer lehrhaft und schlüpfte mit Ftatatetas Hilfe in seinen Rock, »ich glaube, wir sollten doch den Toten ihren Frieden lassen.«

»Ich glaube«, widersprach ich böse, »es ist wichtiger, die Lebenden zu schützen!«

Dr. Schäffer verließ ohne ein weiteres Wort das Badezimmer und ließ mich einfach stehen.

Die silberne Dose

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