Читать книгу Schwester Daniela - Liebesroman - Marie Louise Fischer - Страница 5

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Wenn Schwester Daniela später an jene schicksalhafte nächtliche Begegnung im Krankenhaus zurückdachte, dann war sie niemals imstande zu begreifen, wie sie alles hatte ertragen können, ohne ohnmächtig zu werden, ohne zu schreien, ohne in Tränen auszubrechen.

Der Schmerz, das Entsetzen, die Qual waren so groß, daß sie nicht in der Lage war, ein Wort hervorzubringen. Sie stand wie versteinert und starrte ihn an.

»Du?« sagte er töricht. »Aber ich dachte ...«

Er schien nichts von ihrem Entsetzen zu spüren. Sein Gesicht wirkte verblüfft, nicht verstört — eher wie das eines ertappten Schuljungen. Er strich sich mit einer verlegenen Geste über das widerspenstige Haar. »Wie geht es ihr?«

Schwester Daniela war immer noch unfähig, sich zu rühren. Sie starrte ihn nur an, klammerte sich innerlich an die verzweifelt winzige Hoffnung, daß alles ein Irrtum sein möge, ein Trug.

»Hör mal«, sagte er, »nun red schon! Was ist los mit ihr?« Mühsam gelang es ihr, ihre Lippen zu bewegen. »Harald ...«, sagte sie und noch einmal: »Harald.«

»Tut mir leid«, sagte er nervös, »ich kann mir vorstellen, es war ein Schock für dich ... aber schließlich ... ich habe es dir ja nur nicht erzählt, um dich zu schonen. Was hätte es für einen Sinn gehabt, dich zu beunruhigen.«

»Sie ... ist ... also ... deine Frau?« — Jedes Wort war wie ein Stein, der in einen Tümpel fiel und einen Ring nach dem anderen kreisen ließ.

»Ja«, sagte er gedehnt, dann fügte er rasch hinzu: »Aber ich liebe sie nicht, Daniela. Du darfst nicht glauben, daß ich sie liebe. Sie ist mir längst gleichgültig geworden. Ich habe mir niemals etwas aus ihr gemacht.«

»Sie ist verunglückt ...«, sagte Daniela und begriff es erst ganz, als sie es aussprach, »sie ist verunglückt, während du bei mir warst!«

»Na also. Du siehst, ich hatte nicht das geringste damit zu tun.«

Wie sinnlos das alles ist, dachte Daniela, wie sinnlos jedes Wort, das wir miteinander wechseln. »Ich muß zurück«, sagte sie laut.

»Wie geht es ihr?« fragte er noch einmal.

»Schlecht. Sehr schlecht.«

»Wird sie ...« Er hielt Daniela am Arm fest.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«

»Daniela, bitte, sei doch ehrlich, du hast viel Erfahrung, du hast mir selbst oft gesagt, wieviel Erfahrung du hast! Du wirst feststellen können, ob jemand ... oder nicht ...«

»Man muß warten!«

»Verdammt!« Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche, zog sie mit einem Päckchen Zigaretten zurück. »Darf man hier ...?«

Sie deutete stumm auf einen der großen Aschenbecher, die den Gang entlang verteilt waren.

Er zündete sich eine Zigarette an. »Also hör mal, Daniela«, sagte er, »nun laß uns doch mal ganz vernünftig ...«

Sie unterbrach ihn. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Harald.« Sie holte Luft. »Als Krankenschwester möchte ich dir mitteilen, daß deine Frau operiert worden ist, aber das weißt du wohl schon. Sie ist noch nicht aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Wahrscheinlich wird sie’s auch nicht so bald. Du kannst warten oder nach Hause gehen, ganz wie du willst. Auf alle Fälle wird man dich benachrichtigen, sobald sich eine entscheidende Veränderung im Krankheitsbild der Patientin ergibt.«

Ohne seine Reaktion abzuwarten, öffnete sie die Tür und ging ins Krankenzimmer zurück. Sie wunderte sich darüber, daß sie so flüssig und mit fester Stimme hatte reden können. Routine war das einzige, an das man sich klammern konnte, wenn alles andere schwankte.

Erst als sie wieder am Bett der Schwerverletzten stand, spürte sie die übermenschliche Anstrengung, die sie die letzten Minuten gekostet hatten.

Ihre Knie zitterten vor Schwäche. Sie mußte sich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht zu stürzen.

»Da sind Sie ja«, sagte Dr. Wörgel, der der Kranken die Sauerstoffmaske inzwischen wieder abgenommen und den Apparat ausgeschaltet hatte. »Was war los?«

»Ein ... Angehöriger«, sagte Daniela mit steifen Lippen.

Dr. Wörgel sah sie an, war mit wenigen Schritten bei ihr, packte sie von hinten bei den Schultern. »Schwester ... was haben Sie? Sie wollen doch nicht etwa schlappmachen, wie?«

Schwester Daniela schüttelte den Kopf.

»Na, sehen Sie. Ich hab’s doch gewußt. Übermüdet, wie? Das kommt davon, wenn man Nachtschwestern unausgeschlafen zum Dienst zitiert. Warten Sie mal, ich gebe Ihnen was, das wird Ihnen auf die Beine helfen!« Er holte eine Medizinpackung aus der Tasche seines weißen Kittels und drückte sie Daniela in die Hand. »Ein stärkendes Präparat ... ausgezeichnet ... Sie werden sehen ...«

»Danke«, sagte Schwester Daniela und lächelte mühsam, »vielen Dank, Herr Doktor!«

»Angehörige«, sagte Dr. Wörgel, »das kennen wir. Wahrscheinlich der Gatte, wie? Hat verrückt gespielt, ich kann es mir vorstellen. So sind die Menschen. Solange alles gut geht, fühlen sie sich stark ... sind sie sicher, daß es ihr Verdienst ist. Aber wenn das Schicksal mal zuschlägt... dann geraten sie gleich aus der Fassung. Dann sind sie sicher, daß sie das, gerade das nicht verdient haben!«

Schwester Daniela schwieg. Sie genoß die Fürsorge des Arztes, war dankbar, daß er keine Erklärung oder Entschuldigung von ihr erwartet hatte. Er redete noch eine ganze Weile, und sie begriff, daß er sie ablenken, ihr Zeit geben wollte, sich zu erholen.

»So, jetzt haben Sie wieder Farbe in die Wangen bekommen!« sagte er endlich. »Ich glaube, jetzt kann ich Sie wohl allein lassen, wie? Wenn irgend etwas sein sollte, Sie wissen, ich bin im Haus.«

Als die Glocken des Münsters den ersten Weihnachtsfeiertag einläuteten, als die fahle Dämmerung eines schneeigen Wintertages das kleine Krankenzimmer erfüllte und Schwester Daniela das Licht löschen konnte, spürte sie, daß sie in dieser Nacht um Jahre gealtert, ja, um Jahre gereift war. Selbst ihr Gesicht schien ihr verändert; es hatte die weichen Rundungen verloren, war härter geworden, die Augen schienen größer, wissender.

Als Schwester Lucie, ihre Ablösung, mollig und vergnügt, in Wäsche, die vor Stärke knisterte, ins Zimmer rauschte, hatte Daniela sich wieder ganz gefangen. Sie konnte sachlich den Bericht über die Nacht geben, sie konnte sogar lächeln, fröhliche Weihnachten wünschen.

Dennoch war sie froh, als niemand im Schwesternzimmer war. Mit raschen Händen packte sie die Weihnachtspäckchen in ihre Tasche. Der Weg aus dem Krankenhaus glich fast einer Flucht.

Dann war alles wie immer, nur ein wenig schwieriger. Der Kindergarten fiel aus, und Eva mußte zu Hause spielen. Daniela machte rasch ein weihnachtliches Frühstück für sich und die Kleine, brachte das Schlafzimmer in Ordnung. Dann legte sie sich, in eine weiche wollene Decke gepackt, auf die Couch, sah zu, wie Eva ihrer Babypuppe Fläschchen gab, sie wickelte, ihr Schlaflieder sang.

Die liebevolle Mütterlichkeit des Kindes rührte sie sehr. Zärtlichkeit für dieses kleine Wesen, das ganz und gar und ohne Falsch zu ihr gehörte, löste den Krampf des Herzens.

Sie weinte.

Sie bemühte sich lange, die Tränen zurückzuhalten, ihr Schluchzen zu dämpfen, um das Kind nicht zu beunruhigen. Aber Eva warf ihr nur einen Blick zu, fragend und wissend zugleich, wandte sich dann wieder ihrem Spiel zu.

Daniela schluchzte hemmungslos, und mit jeder Träne wurde ihr Herz leichter.

»Willst du, bitte, ein Taschentuch?« fragte Eva und stand plötzlich neben ihr. Daniela nickte, schluckte, rieb sich mit der Hand über die Augen.

Eva kam mit einer Puppenwindel an. »Da, nimm!«

Daniela schneuzte sich und wischte sich das Gesicht ab. »Es tut mir so leid, Liebling«, sagte sie.

»Warum?«

»Am ersten Weihnachtsfeiertag sollte man nicht weinen.«

»Och, ich habe gedacht, es ist dir was kaputtgegangen. Oder hat der Onkel Doktor mit dir geschimpft?«

»Ja, so ähnlich!«

»Und jetzt ist alles wieder gut, nicht wahr?«

Sie zog das Kind in ihre Arme. »Richtig, Liebling. Woher weißt du das?«

»Wenn man erst tüchtig geweint hat, ist nachher immer alles gut, das weiß ich doch schon.«

»Mein kluger Schatz. Ich habe dich sehr, sehr lieb, weißt du das?«

»Lieber als Onkel Harald?«

»Viel, viel lieber.«

»Das ist gut«, sagte Eva unbekümmert. »Ich habe dich auch viel lieber... noch lieber als meine neue Puppe!«

»Das ist wunderbar von dir. Hör mal, Eva ... meinst du, daß du jetzt mal eine Zeitlang ganz still spielen kannst? Ich will nämlich versuchen, ein bißchen zu schlafen. Wenn die beiden Uhrzeiger dann auf zwölf stehen, dann weckst du mich, ja?«

»Ich weiß schon Bescheid, Mutti!«

Daniela drehte sich zur Wand hin. Sie versuchte an alles andere zu denken, nur nicht an Harald. Sie bemühte sich, ihre Gedanken auf Eva zu konzentrieren, auf den Augenblick, wo sie zum erstenmal in ihrem Arm gelegen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie später, erst wenige Monate alt, ihren ersten Schnupfen gehabt hatte. Kindliche, spaßhafte Bemerkungen fielen ihr ein, alles, was mit Eva zusammenhing. Wie immer hatten diese Erinnerungen ihre tröstlichen Wirkungen. Sie schlief ein.

Schon bei ihrem Eintritt hatte Schwester Daniela einen scheuen Blick zum Krankenbett hingeworfen. Die Schwerverletzte lag, wie sie sie heute morgen verlassen hatte, mit geschlossenen Augen und offenem Mund.

»Schläft sie?« fragte sie wider ihr besseres Wissen.

»Nein. Sie ist noch immer ohne Bewußtsein. Wir haben ihr vor zwei Stunden eine Infusion gegeben. Doktor Wörgel hat übrigens versprochen, einmal hereinzuschauen. Stellen Sie sich vor, er hat sich den Dienst für die ganzen Feiertage andrehen lassen! Manchmal ist es doch ein Glück, daß es Junggesellen gibt.«

Daniela mußte fast lächeln. Jeder im Krankenhaus wußte, wie gern Schwester Lucie die Schwesterntracht mit dem Ehering vertauscht hätte. Sie pflegte jedem Junggesellen, der ihr über den Weg lief, schöne Augen zu machen und begriff nicht, warum man sie nicht ernst nahm.

Der Zustand der Patientin besserte sich nicht. Stunde um Stunde verging. Selbst wenn Daniela die Augen schloß, sah sie das blasse, zerquälte Gesicht der Kranken vor sich. Der geöffnete Mund schien eine Anklage auszustoßen, die doch nur in Danielas Herzen hörbar wurde.

Kurz vor Mitternacht kam Dr. Wörgel, besuchte die Patientin, gab ihr eine Spritze mit einem herzstärkenden Mittel.

»Bitte, Herr Doktor«, sagte Daniela, als er aufstand, »sagen Sie mir ganz ehrlich ... was denken Sie?«

»Ist schwer zu sagen!«

»War die Hirnhaut verletzt?«

»Nein, das nicht. Nur eingedrückt. Auch kein Hämatom. Professor Kortner ist nicht Gehirnchirurg im eigentlichen Sinne, aber er war drei Jahre Assistent an einer neurochirurgischen Klinik, und er hat Gehirnoperationen selbständig durchgeführt. Mit Erfolg. Gerade weil er kein Routinier ist, ist er besonders gewissenhaft.«

»Ja ... aber dann ...«

»Nach allen menschlichen und ärztlichen Erfahrungen müßte die Patientin schon aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht sein. Aber Sie sind lange genug Krankenschwester, Daniela. Unsere menschlichen und unsere ärztlichen Erfahrungen werden nie ausreichen.«

»Das habe ich auch gedacht. Gerade vorhin.«

Er sah sie an. »Sie denken ein bißchen zuviel, scheint mir. Sie dürfen sich nicht jedes einzelne Schicksal ihrer Patienten so ... zu Herzen gehen lassen.«

»Ich weiß wohl, aber gerade in diesem Fall...«

Dr. Wörgel sah sie mit einem merkwürdigen Blick an, es schien, als wenn er noch etwas dazu sagen wollte.

In diesem Augenblick stöhnte die Kranke tief. Sie fuhren beide herum und sahen, wie Irene Spielmann die Augen aufschlug — große, braune, glanzlose Augen mit einem seltsam stumpfen Blick. Sie benetzte die Lippen, schluckte trocken.

»Zu trinken!« sagte Dr. Wörgel kurz.

Daniela stützte den Rücken der Kranken, flößte ihr aus der Schnabeltasse vorsichtig Flüssigkeit ein.

»Na, wie fühlen wir uns?« fragte Dr. Wörgel aufmunternd.

Die Patientin schwieg.

»Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht, liebe Frau Spielmann«, fuhr der Arzt in dem gleichen freundlichen Onkel-Doktor-Ton fort. »Sie waren ziemlich lange ohne Bewußtsein. Jetzt fühlen Sie sich schon besser, nicht wahr?«

Die Patientin sprach immer noch kein Wort. Selbst ihre Augen blieben ganz und gar ausdruckslos. Möglicherweise war sie nicht imstande, ein Wort von dem, was Dr. Wörgel ihr sagte, tatsächlich zu begreifen.

»Haben Sie irgendeinen Wunsch, Frau Spielmann?« versuchte Daniela es.

Jetzt wandte der Blick der stumpfen Augen sich ihr zu.

»Das Gehör ist jedenfalls in Ordnung«, sagte Dr. Wörgel. Er beugte sich zu der Patientin, nahm ihre beiden Hände. »Bitte, Frau Spielmann, sagen Sie doch ein Wort! Oder ... nicken Sie wenigstens, damit ich weiß, ob Sie mich verstehen!«

Nach einer kleinen Pause:

»Haben Sie Schmerzen?«

Keine Antwort.

»Na, immerhin ist sie bei Bewußtsein, damit sind wir einen großen Schritt weiter. Möglich, daß sie immer noch unter den Nachwirkungen des Unfallschocks steht. Wir können jetzt sowieso nichts machen. Ich werde ihr eine Spritze geben, damit sie schläft ... Ruhe ist oft das beste Heilmittel!«

Schwester Daniela wollte etwas einwenden, aber noch rechtzeitig besann sie sich darauf, daß es ihr als Schwester nicht zustand, einem Arzt Ratschläge zu geben.

Die Kranke zuckte leicht zusammen, als ihr Dr. Wörgel die Nadel in ihre Vene schob.

»Na also ...«, sagte der Arzt befriedigt. »Es wird schon wieder werden.« Er stand auf. »In ein paar Minuten wird die Patientin eingeschlafen sein. Eigentlich könnten Sie ja jetzt nach Hause gehen ...«

»O nein«, sagte Daniela spontan. »Ich möchte doch ...«

»Es war mir auch nicht ernst damit. Ich wäre Ihnen ganz im Gegenteil dankbar, wenn Sie sich wachhalten könnten, Schwester. Vielleicht... es ist immerhin eine Möglichkeit... spricht die Patientin im Schlaf. Eine solche Feststellung wäre für die Diagnose sehr bedeutsam. Sie werden aufpassen?«

»Selbstverständlich, Herr Doktor!«

Stunde um Stunde lauschte Daniela mit fast fieberhafter Aufmerksamkeit. Vergebens. Kein Ton kam über die Lippen der Kranken.

Schwester Daniela - Liebesroman

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