Читать книгу Ahoi, liebes Hausgespenst - Marie Louise Fischer - Страница 4
Nächtlicher Zwischenfall
ОглавлениеMonika erwachte mitten in der Nacht.
Das war für sie nichts Ungewöhnliches, denn allzuoft pflegte ihr Freund Amadeus sie aus dem Schlaf zu reißen. Sie war also nicht weiter erstaunt.
Aber heute war alles anders als sonst. Erstens lag sie nicht in ihrem eigenen Zimmer, sondern, wie sie feststellte, als sie sich die Augen gerieben hatte, in einer Kabine. Zweitens war sie nicht allein, denn im Bett auf der anderen Seite des kleinen Klapptisches schlief Ingrid, ihre beste Freundin. Durch das Bullauge fiel weißes Mondlicht und ließ Monika jede Einzelheit erkennen.
Schlagartig fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte bei einem Preisausschreiben der Abendzeitung eine Kreuzfahrt für zwei Personen in die Karibik gewonnen. Da Ingrid ihr beim Lösen des Rätsels geholfen hatte, war es auch Ingrid, die sie mitgenommen hatte. Aber eigentlich war das nur ein Vorwand gewesen, denn sie hatte eben lieber mit Ingrid verreisen wollen als mit ihrer Mutter oder gar Liane, ihrer großen Schwester. Da sie doch nicht ganz allein fuhren – Norbert Stein, ihr Freund und Klassenkamerad, und seine Eltern waren mit von der Partie–, hatte Monika ihren Willen durchsetzen können.
Das einzige Problem war Amadeus gewesen. Amadeus war nämlich kein gewöhnlicher Junge, sondern ein Gespenst, das im Haus am Seerosenteich, das Monika mit ihren Eltern bewohnte, zu spuken pflegte. Als sie dort eingezogen waren, hatte er sich so wild gebärdet, soviel Krach und dumme Streiche gemacht, daß die Familie fast wahnsinnig geworden war. Besonders die Mutter, die sich morgens allein im Haus aufhielt, hatte geglaubt, es nicht länger aushalten zu können. Aber Monika war es gelungen, die Freundschaft des Gespenstes zu gewinnen und es zu bändigen.
Aber sie hatte nicht gewagt, Amadeus zu Hause zu lassen, während sie verreiste – wer wußte, was er bei der Gelegenheit wieder alles anstellen würde! So hatte sie ihn überredet, mitzukommen, und es war ihr auch gelungen, ihn in einem gut verschlossenen Katzenkörbchen, auf das sie und ihre Freunde mit unsichtbarer Tinte Hunderte von frommen Sprüchen angebracht hatten, aus dem Bannkreis des Hauses zu bringen.
Jetzt war Amadeus mit ihr hier auf dem Schiff.
Aber wo war er? In der Kabine sicher nicht, denn es war sehr heiß hier drinnen, und wo Amadeus auftauchte, pflegte es kühl Zu werden. Der Deckel des Katzenkorbes stand offen; er war leer.
Monika sah auf ihren kleinen Reisewecker; es war zwölf Uhr. Geisterstunde. Sie erschrak. Vielleicht war Amadeus gerade im Begriff, etwas Furchtbares anzustellen!
Aber sofort beruhigte sie sich wieder. Amadeus hatte sich bestimmt nicht so schnell an die veränderte Uhrzeit gewöhnt. Er wußte sicher gar nicht, daß es Mitternacht war.
Rasch rechnete sie nach. Zu Hause war es jetzt sechs Uhr früh. Deshalb war sie wahrscheinlich wach geworden. Sie war es gewohnt, um diese Zeit aufzustehen, um noch vor dem Frühstück Bodo, ihr altes Pferd, zu versorgen und Kaspar, den großen, bernhardinerartigen Hund, der eigentlich ihrem Bruder Peter gehörte.
Als sie sich vorstellte, daß in Oberbayern, ihrer Heimat, jetzt schon die Sonne aufgegangen war und die Vögel um das Haus zwitscherten, hielt sie es nicht länger im Bett. Sie warf die dünne Decke ab, stand auf und überschritt die hohe Schwelle zum Waschraum, um sich frisch zu machen. Die Gummibänder, mit denen sie nachts ihr glattes rotes Haar bändigte, damit es sich nicht zu sehr verwirrte, löste sie und kämmte das Haar durch. Es fiel ihr bis auf die Schultern. Sie schlüpfte in ihre Jeans und einen Pulli und verließ lautlos und barfuß die Kabine.
Wenn sie gedacht hatte, daß alle auf der Wassermann, so hieß der Kreuzer, schon schliefen. – außer den Wachhabenden natürlich –, so hatte sie sich geirrt. Der Speisesaal lag zwar im Dunklen, aber aus dem Bauch des Schiffes klang Musik und Gelächter herauf. Dort lag die Diskothek, in der es anscheinend hoch herging.
Monika aber lief nach oben. Auch im sogenannten Constellation-Room, dem großen, eleganten Aufenthaltsraum, saßen noch Gäste und ließen sich von den Stewards bedienen. Allerdings hatte die Kapelle, die hier abends aufspielte, ihre Instrumente schon eingepackt. Wer nach zehn Uhr noch tanzen wollte, erfuhr Monika in den nächsten Tagen, mußte sich hinunter in die Diskothek begeben.
Die meisten Passagiere, teils elegant, teils salopp gekleidet, drängten sich auf dem Patio, einem zum Deck mit dem Schwimmbecken weit geöffneten Raum. Monika fiel ein, daß hier jetzt das Mitternachtsbüfett geöffnet war. Sie schlüpfte an den Erwachsenen vorbei, schnappte sich eine gebratene Hühnerkeule und kletterte weiter zum Oberdeck hinauf. Ganz vorn am Bug, neben der Brücke, das wußte sie, würde sie die schönste Aussicht haben.
So war es auch. Das Meer, der Atlantische Ozean, dehnte sich endlos weit vor ihr aus. Die Wellen waren so regelmäßig, daß sie im Mondlicht wie gegossenes Metall wirkten. Noch nie hatte sie die Sterne so groß und nah gesehen.
Das Gefühl der Freude und der Freiheit war so stark, daß es fast schmerzhaft war. Sie fürchtete, es könnte ihr die Brust sprengen.
Als jemand sie von der Seite ansprach, schrak sie zusammen. Sie hatte geglaubt, allein zu sein – bis auf den Zweiten Kapitän und einen Matrosen, die auf der verglasten Brücke navigierten, natürlich.
Neben Monika stand ein großer Junge, dessen Gesicht im Mondlicht sehr weiß wirkte; seine Augen und sein Haar waren schwarz. „Don’t you understand?“ fragte er.
„Nein!“ Monika warf ihr abgenagtes Hühnerbein über Bord. „Ich kriege erst nächstes Jahr Englisch.“
„Macht nichts, dann sprechen wir eben Deutsch.“
„Wenn du Deutsch kannst, warum hast du mich dann auf englisch angequatscht?“
„Ich dachte, du wärst Irin. Du siehst nämlich so aus.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich bin Ire.“
„Und woher sprichst du dann Deutsch?“
„Ich gehe auf ein deutsches Internat.“
„Und warum? Warum nicht auf ein englisches College? Die sollen doch so gut sein.“
„Mein Vater mag die Engländer nicht besonders.“
„Ach so.“
„Ich heiße übrigens Brian!“ Als er es aussprach, klang es wie „Breien“, er fügte aber gleich hinzu: „Wird Brian buchstabiert.“
„Ich heiße Monika.“
„Nett, dich zu treffen. Ich dachte schon, es wären lauter alte Leute auf dem Kahn.“
„Meine Freunde sind auch mit. Ingrid und Norbert.“
„Und wo sind sie jetzt?“
„Sie schlafen.“
„Zu dumm.“
„Nicht, wenn man so lange unterwegs war.“ Monika war zu faul, auszurechnen, wie lange sie tatsächlich geflogen und wann sie ins Bett gekommen waren.
„Aber du bist wach“, stellte er fest.
„Ich brauche nicht so viel Schlaf.“
Eine Pause entstand.
„Wollen wir nicht runter in die Disko?“ fragte Brian dann.
„Darf man das denn? Ich meine, dürfen wir …?“
„O ja. Mein Vater hat sich extra erkundigt. Auf dem Schiff dürfen junge Leute alles.“
„Warum bist du dann nicht unten?“
„Ich war. Aber da sind lauter Große. Also komm!“
„Lieber nicht.“
„Aber hier ist doch nichts los.“
„Erstens finde ich es wunderschön hier, und zweitens möchte ich nicht ohne meine Freunde in die Disko.“
„Du bist langweilig.“
„Für dich vielleicht. Aber ich selber langweile mich nie. Ich könnte hier stundenlang stehen, ohne mich eine Sekunde zu langweilen.“ Sie fröstelte leicht. O weh! dachte sie. Amadeus! „Du bist ein sonderbares Mädchen!“
„Überhaupt nicht“, widersprach sie.
Aber er hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Die Mütze flog ihm vom Kopf und im hohen Bogen durch die Luft. „Meine Mütze!“ schrie er und beugte sich über die Reeling, um sie zu fangen.
Sie hielt ihn fest. „Bist du verrückt?!“
„Meine Mütze! Sie fällt ins Wasser!“
„Wird sie schon nicht.“
„Aber siehst du denn nicht!? Und sie ist ganz neu!“
„Sie kommt zurück.“
Und da kam sie auch schon, in einem weiten Bogen wie ein Bumerang, und setzte sich wieder auf Brians Kopf.
„Was war das?!“ fragte er verdattert.
„Ein Windstoß. Eine kleine Brise. So was soll auf See Vorkommen.“
„Unglaublich!“
„Glaubst du nicht mal, was du siehst?“
Brian riß sich die Mütze vom Kopf, drehte sie zwischen den Fingern und betrachtete sie mißtrauisch. „Ich kann nicht glauben, was ich nicht verstehen kann.“
Monika lachte. „Dann ist dein Gesichtskreis aber ziemlich beschränkt.“
„Wie meinst du das?“
„Na, allzu viel wirst du ja noch nicht verstehen. Wie alt bist du eigentlich?“
„Zwölf.“
„Ich bin zehn. Aber ich bilde mir nicht ein, schon viel von der Welt zu wissen.“
„Ich auch nicht. Aber soviel, daß dies eine ganz gewöhnliche Mütze und kein Bumerang ist, weiß ich doch.“
„Vielleicht war cs ein Zufall.“
„Solche Zufälle gibt es nicht.“
Monika gab ihm einen Rippenstoß. „Ach, komm, Brian, sei nicht stur! Wechseln wir das Thema!“
„Du meinst, ich könnte nach einem so unheimlichen Zwischenfall einfach zur Tagesordnung übergehen?!“
„Unheimlich war das doch gar nicht. Höchstens witzig. Norbert und Ingrid werden sich vor Lachen die Bäuche halten, wenn ich ihnen das erzähle!“
„Ihr habt einen seltsamen Humor!“
„Und du anscheinend gar keinen.“
Brian hatte sich inzwischen vergewissert, daß die Mütze ein ganz gewöhnliches lebloses Ding war; er wollte sie sich gerade wieder auf die schwarzen Locken stülpen. Plötzlich war es ihm, als wollte sie ihm jemand aus der Hand reißen. Die Mütze zerrte an seinen Fingern und blähte sich auf. „Da! Da!“ schrie er entsetzt. „Sie will sich selbständig machen!“
Monika wußte natürlich, daß Amadeus am Werk war, aber das mochte sie einem Jungen, den sie gerade erst kennengelernt hatte, nicht verraten. „Mir scheint, du arbeitest mit Tricks und doppeltem Boden!“
„Was heißt das?!“ rief Brian und hielt verzweifelt die Mütze fest, die ihn über die Reling hinauszuziehen drohte.
„Die Mütze macht sich nicht selbständig, sondern du machst mir was vor!“
„Aber bestimmt nicht! Sieh doch! Sie hebt mich hoch!“ Tatsächlich schwebten Brians Füße schon einige Zentimeter über den Planken.
„Laß los!“ rief Monika erschrocken. „Loslassen, hörst du!“
„Das kann ich nicht! Sie war teuer!“
„Laß sie los! Sie kommt schon zurück.“
„Nein, ich denke nicht daran! Ich halte sie fest!“
Ehe Monika es noch verhindern konnte, geschah es: Brian flog, seine Mütze fest umklammernd, über die Reling und schwebte in hohem Bogen wie ein seltsamer Vogel über dem Meer.
Gerade als er den höchsten Punkt erreicht hatte, verließ ihn der Mut, und er tat das Dümmste, was er tun konnte: er ließ die Mütze los.
So flog die Mütze ohne Brian wieder auf das Oberdeck zurück, und Brian pumpste in die Tiefe.
„Amadeus!“ schrie Monika. „Willst du wohl! Aber sofort!“ Jetzt galt es nicht mehr, das Geheimnis zu hüten, sondern Brians Leben zu retten!
Das Gespenst fing ihn gerade noch auf, bevor er auf das Wasser schlug, flog mit ihm an Bord zurück und setzte ihn zu Monikas Füßen nieder.
„Was war das?!“ fragte Brian verdutzt, als er endlich die Sprache wiederfand.
„Warum fragst du immer mich? Woher soll ich denn wissen, was mit dir los ist?“
„Fast wäre ich ins Meer gefallen. Ich habe schon die Gischt gespürt. Sieh mal, ich bin sogar naß geworden.“
„Sonderbar!“ sagte Monika. „Höchst sonderbar.“
„Das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen.“
„Vielleicht steckt der Klabautermann dahinter. Jedes Schiff soll doch einen Klabautermann haben. Frag mal den Kapitän … oder Simon, den Zweiten Zahlmeister, der ist nett.“
„Quatsch, Klabautermann! Meinst du, ich will mich zu allem Überfluß noch auslachen lassen?“
„Ja“, sagte Monika und strich sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, „das wird man bestimmt tun, wenn du davon erzählst.“
Brian rappelte sich hoch. „Jetzt weiß ich es … du steckst dahinter! Du hast dir diesen faulen Zauber ausgedacht!“
„Du mußt verrückt sein, so was zu behaupten!“
„Aber du hast geschrien, als ich runterstürzte … und daraufhin hat mich etwas aufgefangen.“
„Ein glatter Trugschluß, Brian! Ich habe geschrien, weil ich erschrocken war.“
„Tu bloß nicht so unschuldig! Jetzt weiß ich es genau! Du bist eine Hexe.“
„Na schön“, sagte Monika sehr von oben herab, „wenn du davon überzeugt bist, wirst du mich in Zukunft wohl in Ruhe lassen.“ Hocherhobenen Hauptes marschierte sie ab, wohl wissend, daß Brian ihr mit offenem Mund nachstarrte; innerlich mußte sie lachen.