Читать книгу Im Schwindeln eine Eins - Marie Louise Fischer - Страница 6
Ein junger Mann namens Heino
ОглавлениеMittags gab es Kirschknödel, und Tessie gelang es, zwölf Stück zu verschlingen. Das war ein Rekord, und sie war sehr stolz darauf. Als Ruth „Vielfraß!“ zu ihr sagte, zuckte sie nur verächtlich die Schultern. Solche ungerechtfertigte Beleidigungen waren wirklich nicht einer Antwort wert.
„Na, wie war’s denn in der Sule?“ fragte Herr Tobruck.
„Wie immer“, behauptete Tessie.
„Bist du noch pünktlich gekommen?“
Tessie war selber überrascht, als sie sich sagen hörte: „Natürlich. Ich bin gerannt.“
„Um so besser für dich“, sagte der Vater. „Du kennst ja unsere Abmachung. Wenn du eine gute Note in Betragen mit heimbringst, kriegst du ein Fahrrad, sonst nicht.“
„Ich benehme mich immer gut“, murmelte Tessie, „nur, ich habe einfach mehr Pech als andere. “
„Mir passieren auch immer die merkwürdigsten Dinge“, sagte die Mutter. „Stellt euch vor, gestern habe ich fünf Rollen Schrankpapier gekauft. Ich könnte schwören, daß es fünf waren. Heute morgen, als ich die Schränke neu auslegen wollte, waren es nur noch vier. Könnt ihr das verstehen?“
Sie sah Tessie scharf an.
Tessie erwiderte den Blick ihrer Mutter mit unschuldsvollem Augenaufschlag. „Nö“, sagte sie, „hast du dich vielleicht verzählt?“
„Ganz bestimmt nicht. Hast du keine Ahnung, wohin die fünfte Rolle verschwunden sein könnte, Tessie?“
„Ich? Woher soll ich das denn nun wieder wissen?“
„Ich dachte nur. Weil die Schere aus dem Apothekerschrank heute morgen in deinem Zimmer war.“
„Die Schere?“ Tessie dachte nach. Plötzlich strahlte ihr Gesicht auf. „Natürlich, die Schere! Die habe ich mir gestern abend genommen. Wir haben nämlich in Physik Hebel durchgenommen – die Wirkung einer Schere beruht nämlich auch auf dem Hebelprinzip, habt ihr das gewußt? Dr. Hiltermann hat es jedenfalls behauptet. Deshalb habe ich die Schere genommen und es mal ausprobiert.“
„Du hast dabei nicht zufällig die Rolle Schrankpapier zerschnitten? Beim Ausprobieren, meine ich?“
„Immer werde ich verdächtigt! Warum denn immer ich? Frag doch mal Ruth! Oder Vater!“
„Na, na, na“, sagte Herr Tobruck, „wozu sollte ich denn wohl Schrankpapier gebrauchen?“
„Weiß ich doch nicht.“
Tobrucks hatten wie immer, wenn schönes Wetter war, auf der Dachterrasse gegessen. Hier oben hatte man das Gefühl, direkt unter dem Himmel zu sein, man konnte weit über die ganze Stadt hinwegsehen, und ein großer farbiger Schirm spendete Schatten. Tessie und Ruth halfen der Mutter nach dem Essen abräumen.
Als sie das Geschirr in den Spülstein gestellt hatten, sagte die Mutter: „Tessie, du bist so lieb und trocknest ab, ja?“
„Nein – warum denn, Mutter!?“ rief Ruth. „Das kann ich doch machen!“
„Du? Natürlich, Ruth. Wenn du unbedingt willst.“
„Na, ich möchte mich nicht aufdrängen“, sagte Tessie und schlenderte aus der Küche.
Ruth holte sie ein, als sie gerade in ihr Zimmer gehen wollte. „Sag mal, Tessie, hast du was vor heute nachmittag?“
„Warum?“
„Sei doch nicht so patzig. Du kannst mir doch anständig antworten, wenn ich dich anständig frage.“
„Ich habe nichts vor“, sagte Tessie mit Nachdruck.
„Im ,Odeon’ läuft ein feiner Film. Möchtest du ihn dir nicht ansehen? Ich geb dir auch das Geld dazu.“
„Du … mir?“
„Du hörst es ja.“
Tessie überlegte haarscharf. Ins Kino gehen war nicht schlecht, aber hinter ein Geheimnis zu kommen, war noch besser. Es war ihr sonnenklar, daß Ruth einen Grund für ihre ungewohnte Freundlichkeit hatte.
„Keine Lust“, sagte sie.
„Was willst du denn machen?“
„Nichts.“
„Nun hör mal, Tessie, es kann dir doch gar nichts ausmachen, ins Kino zu gehen! Du gehst doch sonst immer so gern – warum willst du ausgerechnet heute zu Hause bleiben?“
„Warum willst du mich forthaben, Ruth?“
„Ich will dich nicht forthaben – ich will nur …“
„ Aha. Du erwartest wieder mal einen Verehrer, wie?“
„Tessie, du bist abscheulich!“
„Aber wieso denn? Ich hab dir doch gar nichts getan!“
„Otto hast du Schauermärchen über mich erzählt, Georg hast du mit deiner blöden weißen Maus zu Tode erschreckt und …“
„Na, wenn schon. Du hast dir aus ihm ja doch nichts gemacht, wie? Jedenfalls hast du das nachher behauptet.“
„Tessie, ich will nicht, daß du mir Heino auch wieder verscheuchst.“
„Aha. Heino heißt er.“
„Ja. Er heißt Heino, und er ist wirklich sehr nett. Glaub mir doch, Tessie.“
„Interessiert mich gar nicht. Schließlich ist er ja dein Verehrer und nicht meiner.“
„Bitte, Tessie, liebe, liebe Tessie … tu mir den einen Gefallen und geh heute nachmittag ins Kino.“
„Ich denke nicht daran. Nun gerade nicht.“
„Dann kannst du aber auch gefälligst selber das Geschirr abtrocknen.“
„Du wirst lachen“, sagte Tessie, „das tu ich auch.“ Sie ging in die Küche und nahm sich ein Handtuch. „Ruth hat sich’s anders überlegt“, sagte sie, „ihr sind ihre Hände zu schade – weil sie doch heute Besuch bekommt.“
„Hast du das auch schon wieder heraus?“
„Sie haťs mir ja selber gesagt.“
Die Mutter sah Tessie an. „Du bist doch jetzt schon ein großes Mädchen, Tessie – bitte, benimm dich anständig, es hängt für Ruth so viel davon ab.“
„Kann ich gar nicht verstehen.“
„Sie ist jetzt schon zwanzig, Tessie – das ist eine Zeit, weißt du, wo ein junges Mädchen anfängt, ans Heiraten zu denken.“
„Anfängt? Ruth denkt doch schon dauernd daran. Warum eigentlich? Sie haťs doch gut bei uns zu Hause, und Vater braucht sie im Büro. Sie verdient genug, sie hat anzuziehen, was sie will … sie kriegt alles erlaubt. Warum will sie dann unbedingt heiraten?“
„Das verstehst du nicht, Tessie.“
„Hätte ich mir denken können.“
Als die Küche aufgeräumt war, zog Tessie sich in ihr Zimmer zurück und machte sich an die Schulaufgaben. Das Lernen fiel ihr nicht schwer, wenn sie wollte. In knapp zwei Stunden war sie mit allem fertig, außer dem Aufsatz über die Elefanten. Sie sah auf ihre Armbanduhr und ärgerte sich selbst, daß sie Ruths Angebot nicht angenommen hatte.
Warum war sie nicht ins Kino gegangen? Ruths Verehrer waren immer langweilig und zimperlich, der neue würde auch nicht besser sein. Was hatte sie hier zu Hause verloren? Am besten wäre es, sie fragte mal nach, ob Ruth ihr Angebot aufrechterhielt.
Tessie schlenderte über den Flur, schaute im Vorbeigehen in die Küche, wo die Mutter damit beschäftigt war, Kaffee zu kochen, öffnete die Tür zu Ruths Zimmer – die große Schwester war nirgends zu finden. Auch im Wohnzimmer war niemand, die Türen zur Dachterrasse standen weit offen.
Tessie hörte Ruths Stimme, in jenem, wie ihr schien, affektierten Ton, in dem sie immer zu ihren Verehrern sprach: „Ach, Heino“, sagte sie gerade, „ich versteh dich gar nicht. Moderne Malerei ist doch furchtbar interessant. Natürlich muß man sich ein bißchen damit beschäftigen. Aber glaub mir, es lohnt sich wirklich. Picasso zum Beispiel …“
Tessie nahm einen Tennisball, der – sie wußte selber nicht wie – in den großen kupfernen Aschenbecher auf den Rauchtisch geraten war, ließ ihn hüpfen und trat auf die Terrasse hinaus. Sie ging, den Tennisball immer wieder zu Boden schlagend, bis zur Brüstung und wieder zurück und tat so, als wenn sie weder Ruth noch ihren Freund bemerkte. Dabei beobachtete sie die beiden scharf aus den Augenwinkeln. Sie saßen nebeneinander in der HollywoodSchaukel – Tessie fand das kitschig –, und Ruth redete auf den jungen Mann ein, der eine Zigarette rauchte und dabei Ringe in die Luft blies.
„Hallo, junge Dame“, rief der junge Mann plötzlich.
Tessie fuhr herum und starrte ihn an. Sie ärgerte sich, weil sie über und über rot wurde.
„Das ist nur meine kleine Schwester“, sagte Ruth herablassend. „Ein schreckliches Kind. Am besten, du läßt dich gar nicht erst mit ihr ein.“
Tessie konnte sich nicht mehr halten. Sie wies mit ihrem nicht mehr sehr sauberen Zeigefinger auf Ruth und sagte: „Das ist meine große Schwester – mit der würde ich mich an Ihrer Stelle auch nicht einlassen, sie ist nämlich eine furchtbar alberne Ziege!“
„Tessie!“ Ruth war mit einem Satz auf beiden Beinen.
In diesem Augenblick trat Frau Tobruck mit dem Kaffeetablett auf die Terrasse. „Mutter!“ sagte Ruth, „du mußt Tessie unbedingt mal verhauen. Sie benimmt sich dermaßen unverschämt, es ist nicht zu beschreiben! “
„Du hast angefangen!“ trompete Tessie. „Ich habe dir überhaupt nichts getan, da hast du gesagt …“
„Tessie!“ sagte die Mutter ärgerlich. „Was hast du überhaupt hier zu suchen? Du weißt doch, daß Ruth Besuch hat.“
„Natürlich weiß ich das. Warum darf ich mir den jungen Mann nicht mal ansehen? Ich denke, sie hat ihn eingeladen, um ihn der Familie vorzustellen?“
„Dir doch nicht!“ rief Ruth. „Den Eltern!“
„Hör mal, Ruth“, sagte Heino, „ich finde, Tessie hat ganz recht. Sie hat dir ja gar nichts getan, sondern bloß mit dem Ball gespielt.“ Der junge Mann stand auf und trat auf Tessie zu. „Tag, Tessie“, sagte er und reichte ihr die Hand. „Ich bin Heino Tillmann, stud. med. im neunten Semester.“
„Neun Semester!“ Tessie riß die Augen auf. „Wieviel müssen Sie denn da noch?“
„Na, mehr als die Hälfte habe ich jedenfalls überstanden.“
„Dann können Sie wohl bald heiraten, wie?“
„Tessie!“ rief Ruth dazwischen. „Du benimmst dich unmöglich!“
„Na, ich werd doch wohl fragen dürfen.“
„Natürlich darfst du das“, sagte Heino und grinste. „Und um dir eine klare Antwort zu geben – mit dem Heiraten werde ich noch ein paar Jahre warten müssen, denn wenn ich meine Prüfungen gemacht habe, muß ich erst noch als Assistenzarzt arbeiten und so weiter. Es wird einige Zeit dauern, bis ich eine eigene Praxis aufmachen kann.“
„Gott sei Dank“, sagte Tessie.
„Wieso freut dich das denn?“
Tessie wollte schon antworten, da sah sie, daß Ruth vor Verzweiflung den Tränen nahe war. Sie verkniff sich ihre freche Bemerkung und sagte statt dessen: „Wenn Sie soviel studiert haben …“
„Du kannst ruhig,du’zu mir sagen!“
„Wirklich? Fein. Also, Heino, kannst du mir zufällig etwas über Elefanten erzählen?“
„Ich will ja nicht Tierarzt werden. Wozu brauchst du denn das?“
„Aufsatz.’’
„Dann wirst du die Elefanten doch sicher vorher durchgenommen haben.“
„Nö. Überhaupt nicht. Ich muß den Aufsatz ja auch für Mathematik schreiben.“
„Bitte, Heino, komm jetzt“, drängte Ruth. „Der Kaffee wird sonst kalt.“ Sie faßte Heino unter den Arm und zog ihn zu dem gedeckten Tisch. „Es hat wirklich keinen Sinn, sich mit Tessie zu unterhalten“, sagte sie leise, „sie ist ein gräßliches Kind. So was von verlogen kannst du dir nicht vorstellen.“
„Du brauchst gar nicht zu flüstern, Ruth“, rief Tessie böse, „ich verstehe trotzdem, was du sagst! Daß du es nur weißt, ich lüge nicht. Ich muß einen Aufsatz über Elefanten in Mathematik schreiben. Was kann ich denn dafür?“
„So was gibt’s doch gar nicht“, sagte die Mutter.
„Bitte, dann frag den Hiltermann. Ja, bitte, fragt ihn doch, wenn ihr es nicht glauben wollt! Ihr seid alle so gemein! Ihr könnt immer nur auf mir herumhacken, anstatt mir zu helfen.“ Tessie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, sagte Ruth ungerührt.
„Paß mal auf, Tessie, ich will dir einen Tip geben“, versuchte Heino Tessie zu helfen. „Ihr habt dich sicher ein Lexikon oder Brehms Tierleben – schau doch da mal nach unter Elefanten. Bestimmt steht da ’ne Menge drin, was du brauchen kannst. Willst du das nicht versuchen?“
„Auf alle Fälle verschwinde jetzt hier!“ sagte Ruth wütend. „Wir haben genug von deiner Unterhaltung.“
„Ja, Tessie … bitte, hol den Vater!“ sagte die Mutter. „Und sei nicht traurig, wir lassen dir bestimmt noch Kuchen übrig.“
Tessie wandte sich um und ging hocherhobenen Hauptes davon, jeder Zoll eine beleidigte Schönheit. Sie knallte die Wohnzimmertür hinter sich zu, daß es nur so schepperte. Aber auch das war nur ein geringer Trost für die Demütigung, die ihre Familie ihr wieder einmal zugefügt hatte.