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Mondscheinpartie

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Tessie hatte ihren Elefantenaufsatz gerade mühsam zusammengestoppelt, als die Mutter ins Zimmer trat. „Hör mal, Tessie“, sagte sie freundlich, „Vater will uns alle morgen früh zum See hinausfahren. Wenn sich das Wetter hält, natürlich nur … ist das nicht fein?“

„Ja!“ sagte Tessie zögernd, denn sie wußte aus Erfahrung, daß eine gute Nachricht meist mit einer schlechten gekoppelt war.

„Da mußt du natürlich heute früh zu Bett“, sagte die Mutter.

„Und ihr?“

„Vater und ich sind eingeladen … zu Krügers. Wir werden aber sehen, daß wir so bald wie möglich nach Hause kommen.“

„Das kenne ich“, sagte Tessie.

„Nun erlaube mal, Kind, schließlich sind wir erwachsene Menschen und können mal abends ausgehen!“

„Ich hab ja gar nichts gesagt. Was macht Ruth?“

„Die ist schon fort. Mit dem jungen Herrn Tillmann. Ich glaube, die beiden wollen erst ins Kino und nachher zum Tanzen gehen.“

„Ich soll also wieder mal allein zu Hause bleiben?“ Tessie sprang auf.

Die Mutter lachte. „Hast du etwa erwartet, Ruth und Heino würden dich mitnehmen? Oder möchtest du mit uns zu Krügers? Ich wette, du würdest dich zu Tode langweilen.“

„Ich möchte bloß einmal erleben, daß ihr wie andere vernünftige Leute am Samstagabend zu Hause bleibt!“

„Tessie,Tessie! Sei doch nicht so schrecklich egoistisch. Gönn uns doch auch mal eine kleine Abwechslung.“

Tessie wußte, daß nichts zu machen war, aber sie war wütend. „Da hat man nun die ganze Woche gebüffelt“, sagte sie böse, „und zum Lohn dafür sitzt man am Samstagabend mutterseelenallein zu Hause.“

„Du kannst es dir doch gemütlich machen, Tessie“, sagte die Mutter tröstend, „bestimmt hast du was zu lesen. Guter Kuchen ist auch noch da. Aber spätestens Punkt neun Uhr wird das Licht ausgemacht und geschlafen, ja? Sonst kommst du morgen früh wieder nicht aus den Federn.“

Tessie seufzte. Sie fühlte sich wie das allerärmste Aschenputtel.

Später hockte sie im Eltern-Schlafzimmer und sah zu, wie die Mutter sich schön machte. Sie durfte ihr den Reißverschluß des blauen, enganliegenden Samtkleides schließen und das Perlenkollier umlegen. Sie kam sich neben ihrer schönen strahlenden Mutter sehr schäbig vor.

„Manchmal möchte ich wissen, ob ihr mich überhaupt liebhabt!“ sagte sie, und schon stiegen ihr die Tränen in die Augen.

Die Mutter sah sie erstaunt an. „Was redest du dir da schon wieder ein, Tessie?“

„ Ist doch wahr. Ich bin euch einfach nicht hübsch genug! “

Der Vater kam pfeifend aus dem Badezimmer. „Wart es nur ab, Entlein“, sagte er vergnügt und strich seiner Jüngsten zärtlich über das krause Haar, „eines Tages wird aus dir auch noch mal ein schöner Schwan. Fertig, Irene?“

„Sofort, Liebling!“

Kurz nach acht Uhr verließen die Eltern die Wohnung. Tessie brachte sie ans Auto, schlug die Wagentür hinter der Mutter zu und winkte ihnen nach. Aber sie blickten nicht zurück. Seufzend schlich Tessie ins Haus. Sie hatte keine Angst, allein in der Wohnung zu sein, aber sie fühlte sich unverstanden und zurüdegestoßen.

Ganz allmählich kehrten ihre gute Laune und ihre Unternehmungslust zurück. Sie entschloß sich, ein heißes Bad zu nehmen, duschte sich nachher eiskalt ab, zog sich einen frischen Schlafanzug an und fühlte sich großartig. In Pantoffeln und Morgenrock startete sie zu einer Entdeckungsfahrt durch die ganze Wohnung.

In der Küche fand sie noch einen Teller mit Kuchen, aber der konnte sie nicht reizen. Sie hatte schon fünf Stück davon vertilgt und war, was selten bei ihr vorkam, wirklich plumpsatt. Sie hätte gerne eine saure Gurke gegessen, aber als sie feststellen mußte, daß kein Glas offen war, verzichtete sie auf diesen Genuß. Ins Wohnzimmer warf sie nur einen kurzen Blick. Es war tadellos aufgeräumt, und sie kannte es bis in den letzten Winkel.

Die Eltern hatten ihr Schlafzimmer in Eile verlassen, Tessie machte sich daran, es aufzuräumen. Sie hatte dabei das erhebende Gefühl, eine gute Tat zu tun. Bestimmt würden sich die Eltern freuen, wenn sie nach Hause kamen. Sie hängte das Kleid, das ihre Mutter am Nachmittag getragen hatte, in den Schrank, legte die Unterwäsche fein sorgfältig auf einen Stuhl, ja, sie wusch sogar die Strümpfe aus und hängte sie im Badezimmer auf.

Dann ging sie, mit sich selber sehr zufrieden, auf die Dachterrasse, setzte sich in die Hollywood-Schaukel, wiegte sich vor und zurück, sah auf die aufflammenden Lichter der Stadt hinunter, starrte eine Weile zu dem klaren runden Mond hinauf. Dann aber wurde das Gefühl in ihr immer stärker, daß sie etwas vergessen hatte. Was nur? Ruths Zimmer.

Wie von der Tarantel gestochen sprang Tessie auf und rannte in die Wohnung zurück. Ruth war furchtbar eigen mit ihren Sachen. Wenn Tessie nur einmal die Nasenspitze in ihre Tür steckte, hieß es gleich: „raus! Was willst du hier?“ Heute würde sie endlich Gelegenheit haben, Ruths Reich einmal gründlich zu durchstöbern.

Aber sie hatte sich geirrt. Die Tür zu Ruths Zimmer war verschlossen.

„So eine Gemeinheit!“ sagte Tessie laut. Sie suchte alle Schlüssel zusammen, die in der Wohnung zu finden waren, probierte jeden einzelnen an der verschlossenen Tür aus. Keiner paßte. Nachher hatte sie Mühe, die Schlüssel wieder an die richtigen Türen zu verteilen.

Sie ärgerte sich maßlos. Wie konnte Ruth auch nur so kleinlich sein, ihr diesen kleinen Spaß zu verderben! Aber sie sollte sich geschnitten haben. Irgendwie mußte es ihr gelingen, in das Zimmer hineinzukommen. Aber wie?

Von der Dachterrasse aus konnte man bequem das Fenster von Ruths Zimmer erreichen. Es lag genau über dem Balkongeländer. Tessie drückte gegen die Fensterscheiben und konnte feststellen, daß Ruths Fenster offenstand. Kurz entschlossen schlüpfte Tessie aus ihrem Morgenrock und den Pantoffeln, stieg mit nackten Füßen auf den Balkonrand und sprang mit einem Satz in Ruths Zimmer.

Ruths Zimmer selber war eine Enttäuschung. Als sie sämtliche Schubläden und Fächer aufgezogen und durchstöbert hatte, begriff sie nicht mehr, warum Ruth überhaupt ihre Tür abgeschlossen hatte.

Das Interessanteste war noch eine alte Pralinenschachtel, in der Ruth die Bilder ihrer verflossenen Verehrer gesammelt hatte. Tessie grinste ein bißchen über die blöden Widmungen, die hinten drauf standen. Was für ein Spaß würde es sein, wenn sie alle die Bilder in Umschläge verteilen und an ihre Klassenkameradinnen schicken würde! Aber Tessie ließ die Idee einstweilen fallen. Jetzt wußte sie, daß Ruth diese Bilder besaß; die konnte sie sich jederzeit holen. Sie schob die Schachtel wieder in die Schublade zurück.

Dann setzte sie sich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, auf den Hocker vor dem großen Frisierspiegel und starrte sich an. Wie immer war sie mit ihrem Äußeren ausgesprochen unzufrieden. Ihre Zöpfe hatten sich nach dem Baden gelöst, aber sie sah trotzdem keineswegs wie ein Engel aus, ganz im Gegenteil, eher wie ein wildgewordener Handfeger, urteilte sie ehrlich. Das Haar stand dick und drahtig nach allen Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab. Ihr Mund war viel zu groß. Wenn sie lachte – sie tat es –, reichte er fast von einem Ohr bis zum anderen, ihre Eckzähne waren spitz und standen etwas vor. „Freche Eckzähne“, pflegte Ruth von ihnen zu sagen, und tatsächlich gaben sie ihrem Gesicht etwas Freches, selbst wenn sie es gar nicht so meinte. Ihre Nasenspitze war wie ein runder Knopf, und zu allem Überfluß war der Nasenrücken dicht besetzt von kräftigen braunen Sommersprossen.

Tessie ärgerte sich darüber. Sie begriff gar nicht, wie sie dazu kam. Wenn sie noch blond und blaß gewesen wäre, würde sie es verstanden haben. Aber ihre Haut war doch ganz braun und gar nicht lichtempfindlich. Wieso hatte der Himmel dann ausgerechnet sie mit Sommersprossen bedacht? Die großen blauen Augen waren hübsch, besonders wenn sie sie weit aufriß. Tessie probierte ihren berühmten Unschuldsblick vor dem Spiegel und freute sich, als er ihr vollendet gelang. Bloß die Wimpern – warum waren sie so kurz und gerade? Ruths Wimpern waren lang und nach oben gebogen. Ob sie wohl etwas daran tat? Ganz bestimmt. „Kosmetik ist die halbe Schönheit“, hatte Ruth einmal gesagt. Wahrscheinlich hatte sie recht damit. Tessie fand einen alten Lippenstift, überlegte eine Sekunde, ob sie sich den Mund damit anstreichen sollte, dann fiel ihr etwas Besseres ein. Sie schrieb in gewaltigen Buchstaben quer über den Spiegel: „Ziege!“ – streckte sich selber die Zunge heraus und machte sich auf den Rückweg.

Tessie ahnte nicht, daß sie bei ihrer Turnerei einen Zuschauer gehabt hatte, vielmehr eine Zuschauerin. Tobrucks gegenüber wohnte eine ältere Frau, die den ganzen Tag am Fenster hockte. „Die hat nichts anderes im Kopf, als sich den Mund über andere zu zerreißen“, urteilten die Nachbarn.

Diese Frau war noch auf ihrem Posten. War da nicht jemand auf Tobrucks Balkon? Die waren doch weggefahren – natürlich! Sie hatte es genau gesehen: erst war die Älteste losgezogen – die war überhaupt ein Irrwisch, dauernd unterwegs (die Nachbarin kontrollierte das genau), dann waren die Eltern mit Tessie gekommen. Verrückt, solch junges Ding abends noch aus dem Haus zu schleppen! Leider hatte gerade das Telefon geläutet, ehe Tobrucks abgefahren waren …

Aber die Wohnung war jedenfalls leer. Und trotzdem kletterte jemand auf dem Balkon herum. Der Zuschauerin lief es eiskalt über den Rücken! Einbrecher!

Die Frau fühlte sich verantwortlich für Tobrucks Wohnung. Sie rannte zum Telefon und rief die Funkstreife an.

Tessie kletterte unterdessen ahnungslos wieder auf die Terrasse und warf – sie wußte selber nicht, warum – dem runden Mond eine Kußhand zu.

Da hörte sie unten eine Sirene. Die Polizei hielt vor ihrem Haus. Und da zeigte doch jemand zu ihr hinauf? Tessie erschrak bis ins Herz hinein. Unwillkürlich duckte sie sich hinter der Balkonbrüstung. Um Himmels willen, hatte man sie gesehen? Starrten die etwa ihretwegen nach oben?

Tessie sprang ins Bett, zog sich die Decke über beide Ohren. Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

Aber sie hörte doch etwas. An der Wohnungstür wurde laut und anhaltend geklingelt. Tessie blieb stocksteif liegen und rührte sich nicht. Endlich hörte das Klingeln auf. Erleichtert drehte sie sich auf die Seite.

Aber da hörte sie ein seltsames Geräusch. Sie spitzte die Ohren – nein, sie hatte sich nicht getäuscht, die Wohnungstür wurde aufgeschlossen. War es möglich, daß die Eltern schon zurückkamen? Schwere, polternde Schritte näherten sich ihrer Tür. Nein, so gingen Vater und Mutter nicht. Das mußten Fremde sein. Einbrecher? Aber seit wann machten Einbrecher einen solchen Lärm? Ein paar Türen flogen auf, jemand polterte durch die Wohnung. Und da …

Die Tür zu ihrem Zimmer wurde auch aufgestoßen, das Deckenlicht leuchtete auf – Tessie war halbtot vor Schrecken. Krampfhaft hielt sie die Augen geschlossen.

„Nein, nein, dies Zimmer ist es nicht gewesen“, sagte eine rauhe Männerstimme, „drüben, das war’s.“

„Kann schon sein“, sagte ein anderer Mann. „Hallo … da ist jemand.“

„Das wird die Kleine von Tobrucks sein“, sagte die erste Stimme wieder. „Tessie heißt sie! Ich denke, die sind weg?“

Tessie erkannte die Stimme des Hausmeisters. Mit einem Ruck fuhr sie hoch. „Was ist – was wollen Sie hier?“ rief sie und riß die Augen auf.

Der Hausmeister und ein Polizist standen am Fußende ihres Bettes und starrten sie an.

„Hast du denn nichts gemerkt, Kleine?“

„Was denn? Ich habe geschlafen!“

„Es muß jemand durch die Wohnung gegangen sein.“

„Nein!“

„Doch. Jemand ist vom Balkon in das Fenster daneben geklettert.“

„Einbrecher?!“ rief Tessie.

„Schon möglich.“

„Ich glaube eher, daß sie es selber war“, sagte der Hausmeister. „Sie hätte doch gemerkt, wenn jemand draußen herumturnte.“

„Aber die Frau redete von einem jungen Burschen im dunkeln Anzug.“

„Steh doch mal auf, Tessie“, sagte der Hausmeister, „laß dich anschauen.“

„Wozu?“

„Mach schon! Oder sollen wir warten, bis deine Eltern nach Hause kommen?“

Zögernd schwang sie ihre Beine aus dem Bett.

„Natürlich war sie es“, sagte der Hausmeister. „Ein dunkelblauer Schlafanzug – im Mondlicht hat die Alte von drüben sich ein bißchen verguckt, aber sie war es bestimmt.“

„Was soll ich gewesen sein?“ rief Tessie frech. „Wollen Sie mir nicht endlich erklären?“

„Hör mal, Kleine“, sagte der Polizist. „Du hast gar keinen Grund, wild zu werden. Wissen deine Eltern, daß du nachts herumkletterst?“

„Das ist nicht wahr!“

„Du bist aber dabei gesehen worden. Willst du immer noch leugnen?“

„Ich bin’s nicht gewesen! Ganz bestimmt nicht! Ich hab ja geschlafen.“

Der Polizist und der Hausmeister sahen sich an. „Hör mal, Tessie“, sagte der Hausmeister dann, „bist du vielleicht Schlafwandlerin?“

„Woher soll ich das wissen?“

„So was weiß man doch“, sagte der Polizist.

Tessie kroch wieder in ihr Bett zurück und legte nachdenklich den Finger an die Nase. „Ja, stimmt“, sagte sie, „kann sein.“ Sie beugte sich vor und sah die beiden Männer mit ihrem berühmten Unschuldsblick an. „Wissen Sie, als wir im vorigen Winter zum Skifahren fort waren, Vater, Mutter, meine Schwester Ruth und ich … da soll ich auch mal eines Nachts auf dem Dach von unserem Hotel herumgeklettert sein. Ich selber weiß aber gar nichts davon. Es war Vollmond … wie heute.“

„Na, dann hätten wir’s“, sagte der Polizist und steckte sein Notizbuch ein. „Es ist aber sehr unvorsichtig von deinen Eltern, daß sie dich in der Nacht allein lassen, wenn sie wissen … Hoffentlich war es für heute das letzte Mal.“

„Ganz bestimmt.“

„Am besten stellst du dir einen Kübel mit Wasser vors Bett. Wenn du dann wieder aufstehen willst, trittst du da rein und wirst wach.“

„Das ist eine prima Idee“, sagte Tessie.

„Also dann, entschuldige die Störung, Tessie“, sagte der Hausmeister, „und schlaf weiter!“

„Werden Sie es meinen Eltern sagen?“ fragte Tessie ängstlich. Der Hausmeister zögerte. „Na ja … eigentlich gehťs mich ja nichts an.“

„Ich muß auf jeden Fall Meldung machen“, erklärte der Polizist, „das gehört zu meinen Pflichten.“

Dann endlich zogen sie ab. Tessie blieb noch lange wach, nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war. Verdammt, dachte sie, hätte ich bloß nichts an den Spiegel geschmiert! Scheußlich! Warum habe immer ich so ein Pech?

Im Schwindeln eine Eins

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