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II.

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Es war kurz nach Mittag.

Der junge Wilhelm Holzboer hatte sich umgezogen. Er trabte in Skihosen, schweren Schuhen und Rollkragenpullover, die Schlittschuhe an einem Riemen über die Schulter gehängt, zum „Großen Loch“ hinaus, dem Weiher vor der Stadt, auf dem die Schuljugend von Leuchtenberg im Winter Schlittschuh zu laufen pflegte. Seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, waren vor Kälte gerötet, sein blonder Schopf leuchtete.

„Kaum, daß die Mutter unter der Erde ist …“sagte Frau Willkommner, die gerade eine Kundin aus dem Geschäft gelassen hatte und dabei einen Blick auf die Straße warf.

„Wer?“ fragte Zenzi, das Ladenmädchen, neugierig.

„Wer schon! Der junge Holzboer natürlich.“

Zenzi zuckte die Achseln und machte sich weiter daran, Konservendosen auf dem Bord einzuräumen. „Die sind halt so …“

Der junge Wilhelm hatte keine Ahnung, von der Mißbilligung, mit der man sein, Tun und Lassen in der kleinen Stadt beobachtete. Wenn er es gewußt hätte, wäre es ihm gleichgültig gewesen. Er war überzeugt, daß er schon so genug Probleme hatte, ohne daß er sich um das Gerede der Leute kümmerte.

Auf dem „Großen Loch“ herrschte buntes Treiben. Das Eis war grau und weich, von flachen Pfützen bedeckt, die sich langsam aber ständig vergrößerten. Jeder wollte diesen Tag, der vielleicht der letzte Eislauf des Jahres war, bis zur Neige genießen. Die Oberprimaner, Wilhelms Klassenkameraden, die sich mit betontem Hochmut von den Jüngeren zurückhielten, johlten Wilhelm nicht wie gewöhnlich zu. Er war drei Tage nicht in der Schule gewesen, und der Tod seiner Mutter machte sie befangen. Sie wußten nicht, ob sie über diese Tatsache einfach zur Tagesordnung übergehen könnten, oder ob Wilhelm von ihnen erwartete, daß sie ihm kondulierten.

Er half ihnen. „Der Wetterbericht meldete einen neuen Kälteeinbruch“, sagte er beiläufig, während er sich in der Nähe von Sepp und Toni, die am Rande des Weihers eine Zigarette rauchten, seine Schlittschuhe anschnallte.

„I glaub a, ’s wird heut nacht schneien“, stimmte Toni ihm sofort erleichtert zu.

„Du kannst meine Hefte einsehen, wannst willst“, erbot sich Sepp.

„Hast du sie bei dir?“

„Na … z’haus.“

„Ich komm heute abend vorbei.“

Sepp hielt Wilhelm seine Zigarette hin, er tat zwei Züge und reichte sie zurück.

„Dann, bis nachher.“

Wilhelm stieß sich mit ein paar kleinen Stößen ab, dann sauste er in die Mitte des Eislaufplatzes, daß das Wasser vor seinen Schlittschuhen aufspritzte. Er hatte Erika Bogdan längst entdeckt, ihr brauner, lockiger Pferdeschwanz wehte aus ihrer korallenroten Strickmütze heraus, während sie Hand in Hand mit ihrer Freundin Anni Kreise und Bogen auf dem grauen Eis zog. Er wußte, daß auch sie ihn längst bemerkt hatte, aber einem ungeschriebenen Gesetz unter der Jugend Leuchtenbergs folgend, wartete sie ab, daß er zu ihr kam. Ein Mädchen, das sich einem Jungen näherte, auch wenn die beiden noch so gut befreundet waren, galt als „aufdringlich“.

Er war den beiden Freundinnen bis auf wenige Schritte nahe gekommen, als Anni plötzlich Erikas Hand los ließ, ihr einen Stoß von hinten gab, so daß sie gegen Wilhelm prallte. Lachend stob Anni davon.

„Erika “, sagte er und hielt sie an den Schultern fest, „Erika.“

In ihren braunen, runden Augen blitzten nicht wie sonst die goldenen Fünkchen auf, wenn sie ihn ansah. Sie schlug die Wimpern nieder, ihre Lippen bebten.

„Was ist?“ fragte er erstaunt.

„Ach, nichts …“

Er zog seinen Arm unter ihren, ihre Hände klammerten sich ineinander, und sie begannen im gleichen Rhythmus über das Eis zu gleiten.

„Hat dich Dr. Werner wieder gepiesackt?“ fragte er.

„Nein …“

„Ach so, du bist mir böse, daß ich gestern und vorgestern nicht gekommen bin. Aber du weißt doch genau …“

„Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.“

„Ich konnte nicht kommen, das hättest du wissen müssen“, sagte er ärgerlich.

„Ich … ich habe so auf dich gewartet.“

„Das war schön dumm von dir.“

„Ich weiß, daß ich sehr dumm bin …“ sagte sie leise.

Eine Weile glitten sie schweigend über das Eis. Der Weiher war nicht sehr groß, und es wimmelte nur so von Kindern. Immer wieder mußten sie ausweichen. Die Luft war erfüllt von Schreien, Lachen, Johlen und Schimpfen. Und dennoch hatte Wilhelm plötzlich das Gefühl, als wenn er und Erika ganz alleine auf der Welt wären, als wenn sie in einer wunderbaren unendlichen Einsamkeit durch weite Räume schwebten.

„Ich kann wirklich nichts dafür, Erika“, sagte er.

„Das weiß ich doch …“

„Warum bist du dann so?“

„Ich … du verstehst mich nicht, ich wollte dir nur sagen, wie es war … ich will dir doch keinen Vorwurf machen.“

„Du bist mir also nicht böse?“

„Nein …“

„Dann ist ja alles gut.“

Sie blieb mit einer so scharfen Wendung stehen, daß ihre Schlittschuhe hart über das Eis kratzten.

„Nichts ist gut.“

Er starrte sie verständnislos an.

„Ich … ich hatte dir etwas sagen wollen … aber es hat ja doch keinen Zweck. Wir wollen Schluß machen, ja? Das ist bestimmt das Vernünftigste.“

„Erika! Bist du verrückt geworden?“

„Nein, ich bin ganz vernünftig.“

„Wenn du mir nicht sofort sagst, was los ist …“

„Ich kann nicht …“

„Du mußt. Denk an unseren Schwur.“

„Das ist etwas ganz anderes. Ich muß allein damit fertig werden.“

„Na schön. Aufdrängen will ich mich nicht. Vielleicht hast du jemand anderen gefunden, der dir besser gefällt, dann … viel Glück!“ Er bohrte seinen Schlittschuh ins Eis und schwang sich herum.

„Helm!“ rief sie, schoß hinter ihm her und klammerte sich an seinen Arm. „Helm, du kannst mich doch nicht einfach stehenlassen.“

„Wer hat denn wen stehenlassen?“

„Ich bin so verzweifelt.“

Große, helle Tränen begannen neben ihrer Stupsnase herabzulaufen.

„Mach bloß kein Theater hier. Oder willst du, daß alle uns auslachen?“

„Ich glaube, ich bekomme ein Kind, Helm.“

Es war Wilhelm, als wenn das Eis unter seinen Füßen auseinanderbräche und er in einen dunklen, eisigen Abgrund geschleudert würde. Er stand da, die Lippen aufeinandergepreßt, die Augenbrauen zusammengezogen und starrte Erika Bogdan an.

„Dann werden sie uns erst auslachen“, sagte sie.

„Nein!“ brüllte er. „Nein!“ – Er achtete nicht darauf, daß neugierige Blicke sich auf sie richteten.

„Was soll ich nur tun, Helm?“

„Ist es wahr? Bist du sicher, daß es wahr ist?“

„Ich glaube …“

„Warst du bei einem Arzt?“

„Bei wem?“

„Ja, ich weiß … natürlich nicht … Erika, mein Gott, es ist … entschuldige, nur … es kommt so schrecklich überraschend.“

„Für mich auch, Helm.“

„Ich weiß, natürlich. Ich muß nachdenken. Wem hast du davon erzählt?“

„Niemanden.“

„Auch deiner Mutter nicht?“

„Mutter? Die würde … ich weiß nicht, was die tun würde.“

„Und Anni?“

„Natürlich nicht.“

„Sie ist doch deine Freundin … und ich dachte, Freundinnen erzählen sich alles.“

„So was nicht, Helm.“

In sein Gesicht, das vor Schreck kalkweiß geworden war, war das Blut wieder zurückgekehrt. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. „Komm, wir müssen hier weg, irgendwohin, wo wir allein sind … wo wir über alles reden können.“

„Was soll das für einen Sinn haben?“

„Wir müssen nachdenken.“

„Ich habe nachgedacht, Helm … Tag und Nacht.“

„Und?“

„Es gibt keinen Ausweg.“

„Unsinn. Es gibt immer einen Ausweg. Verflucht noch mal, wenn wir bloß Geld in der Hand hätten.“

„Wir hätten, das eben nicht tun dürfen …“

„Ich hätte es nicht tun dürfen, willst du wohl sagen.“

„Es ist meine Schuld … und ich wollte dir doch nur zeigen, wie sehr ich dich liebe. Und jetzt …“

„Jetzt bekommen wir ein Kind. Vor allen Dingen mußt du jetzt sehr vorsichtig sein, Erika … nicht mehr Schlittschuhlaufen und so etwas. Ich habe gelesen, das soll nicht gut sein, in deinem Zustand.“

„Helm!“

„Was starrst du mich so an?“

„Du bist mir nicht … böse?“

„Wir werden heiraten, Erika. Nicht jetzt gleich, das werden sie uns nicht erlauben. Aber wir werden heiraten, eines Tages. Ich habe dich immer heiraten wollen. Ich habe es bloß nicht gesagt, weil es albern war. Aber ich werde dich heiraten … das schwöre ich dir.“

*

Wilhelm Holzboer und Juliane durchschritten nebeneinander mit den gleichen kurzen, zielbewußten Schritten den Fabrikhof, in dem schmutzige, trübe Schneepfützen standen.

Das Versandhaus „Jedermann“ war in einer alten Holzverarbeitungsfabrik untergebracht, deren altmodische und weitläufige Gebäude als Konkursmasse an die Stadt gefallen waren. Der alte Holzboer hatte sie vor sieben Jahren, als er für sein Warenversandhaus einen größeren Raum brauchte, für wenig Geld von der Stadt gepachtet. Damals hatte es noch bei weitem ausgereicht, allen Angestellten und Arbeitern einen Arbeitsplatz zu bieten. Im Laufe der Zeit aber war es, im gleichen Maße, wie sich der Vertriebsbereich des Geschäftes und das Warenangebot vergrößerte, der Raum immer knapper und knapper geworden. Jetzt glich das alte Gebäude, dessen hygienische Einrichtungen von Anfang an unzulänglich gewesen waren und an dem im Laufe der Jahre nur die notwendigsten Reparaturen durchgeführt worden waren – Wilhelm Holzboer behauptete, daß es Pflicht der Stadt als Vermieter sei, es in Stand zu halten – mehr und mehr einem „Ameisenbau“, wie Christiane einmal gesagt hatte.

Nur ein Eingeweihter fand sich noch darin zurecht. Die einzelnen Abteilungen waren ineinandergeschachtelt, die Büroräume waren nur durch die Packräume zu erreichen, die Werbeabteilung befand sich hoch unter dem Dach, wo es im Sommer glühend heiß war, im Winter durch alle Fugen zog. Die Waren mußten mit Handkarren von einer Abteilung zur anderen gebracht werden, die breiten Treppen waren zur Hälfte auszementiert, so daß diese Karren hinauf- und hinuntergeschoben werden konnten, eine mühselige Arbeit, unter der die Männer keuchten und die viel Zeit verschlang.

All diese Unzulänglichkeiten hätten Wilhelm Holzboer jedoch nicht gestört, wenn die Last und Unbequemlichkeit von seinen Arbeitnehmern hätte getragen werden müssen, tatsächlich verteuerten sich dadurch zwar nicht die Herstellungskosten – außer dem Ressort Bekleidung wurden alle Waren vom Großeinkauf fertig bezogen – aber doch die Auslieferung. Was ihn am meisten störte, war die Unübersichtlichkeit des alten Gebäudes, in dem es Faulenzern leicht gelang, sich in Ecken, Winkeln und Nischen eine Zigarettenpause zu verschaffen oder die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Tratsch. Die Unruhe, daß die Leute sich für „sein Geld“ eine angenehme Zeit machten, trieb ihn oft zehnmal am Tag durch alle Abteilungen, und wehe dem, den er nicht an seinem Arbeitsplatz vorfand.

Die Arbeiterinnen sahen nicht auf, als Wilhelm Holzboer, gefolgt von Juliane, in den Packraum stampfte. Er hatte es streng verboten, ihn zu begrüßen, weil er darin nichts als einen Zeit- und Arbeitsverlust sah.

„Na, Bogdan“, sagte er zu dem älteren Expedient, der das Umladen der Waren überwachte, „alles in Ordnung?“

„Jawohl, Chef!“ Bogdan hob salutierend die Hand zur Mütze. „Bloß …“

„Na, reden Sie schon!“

„Ich weiß ja nich, ob Sie det jern hören, Chef … aber det neue Verpackungsmaterial is unter aller Kanone!“ – Bogdan war seinerzeit mit den Holzboers aus Berlin nach Leuchtenberg gekommen. Er hatte schon im alten Kaufhaus „Jedermann“ gearbeitet, und er war einer der wenigen, von denen Wilhelm Holzboer ein offenes Wort vertrug.

„Sie geben sich keine Mühe, Bogdan!“

„Wir tun, wat mir können, Chef … aber, wenn ick Ihnen sage, det jeht nich. Det Zeugs reißt einem zwischen die Finger kaputt!“

„Ich habe dir ja gesagt, Vater …“ mischte sich Juliane ein.

„Wat hast du mir jesagt?“

„Es hat keinen Zweck, am Verpackungsmaterial zu sparen. Wenn die Ware nicht unbeschädigt an den Empfänger kommt, haben wir nur Ärger und Verluste, die in keinem Verhältnis zu dem gesparten Geld stehen.“

„Is doch schön, Bogdan, wenn man ’ne Tochter hat, die allet besser weiß, wat?“

„In diesem Punkt, Chef, muß ich dem Fräulein Juliane recht jeben!“

„Und wat würden Sie sagen, Wenn Ihre Tochter so ’n jroßes Maul hätte?“

„Det hat unsere Erika auch, Chef … det is eben so bei die jungen Leute, da muß man sich dran jewöhnen!“

„Na, Juliane, dann schreib mal an die Firma Tingelmann und sieh zu, wie du die Sache in Ordnung bringst! Ist schon alles von dem neuen Verpackungsmaterial ausjeliefert?“

„Nein, Vater … bis gestern abend jedenfalls noch nicht.“

„Dann telejrafier am besten gleich und stopp den Auftrag, verstanden?“

„Ja, Vater …“

„Machen Se et jut, Bogdan“, rief er dem alten Expedienten zu, der sich schon wieder seiner Arbeit zugewandt hatte.

„Immer, Chef!“

Wilhelm Holzboer hatte sich schon abgewandt. Er stapfte, gefolgt von Juliane, in die Büroräume hinauf.

*

Gleich von der Beerdigung aus war Philipp Wispert in sein Büro geeilt. Er hatte weder zu Mittag gegessen noch sich umgezogen, sondern er hatte sich gleich wieder in die Arbeit gestürzt, um die Zeit einzuholen, die er durch die Beerdigung verloren hatte.

Das Zimmer, in dem Philipp Wispert von morgens sieben Uhr bis nachmittags um fünf als Prokurist des Versandhauses „Jedermann“ tätig war, glich einem dreckigen, unfreundlichen Loch. Das Fenster, das aus vielen winzig kleinen Scheiben zusammengesetzt war, bot genügend Licht, um den kleinen Raum zu erhellen, aber es war seit langem verklemmt und ließ sich nicht mehr öffnen, so daß Wispert die Tür aufmachen mußte, wenn er frische Luft hereinlassen wollte.

Er tat das nur sehr selten, denn er liebte es, allein zu sein.

Nicht, daß er die Einsamkeit benutzte, um zu träumen oder zu faulenzen – beides lag nicht in seiner Natur – aber er war glücklich, wenn er den Umgang mit seinen Arbeitskollegen auf das Notwendigste beschränken konnte, weil er sie alle für kleine Geister, „für durch und durch medioker“, um seinen Lieblingsausdruck zu gebrauchen, hielt. Sie kamen fast alle aus kleinen oder bürgerlichen, die meisten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und hatten sich in den Bürodienst hinaufgearbeitet, während für Philipp Wispert die Stellung eines Prokuristen fast eine Erniedrigung bedeutete. Er war in dem Glauben aufgewachsen und erzogen worden, die angesehene Firma seines Vaters zu erben, aber bevor es noch soweit war, ging sie in Konkurs. Philipp hatte gewußt, daß der alte Holzboer an dieser Entwicklung der Dinge nicht unschuldig war, trotzdem hatte er die Möglichkeit, in seinen Betrieb einzutreten, mit beiden Händen ergriffen. Schon hundertmal hatte er diesen Sichritt bereut, aber immer dann, wenn er soweit war, zu kündigen, hatte Wilhelm Holzboer es verstanden, ihn mit unverbindlichen Versprechungen, angedeuteten Aussichten und betonter Herzlichkeit wieder dorthin zu bringen, wo er ihn haben wollte.

Jetzt war Wispert sehr konzentriert dabei, die Posteingänge des heutigen Tages zu prüfen – er führte die verzweigte Korrespondenz mit den Lieferanten der Firma „Jedermann“, als sich die Tür öffnete und Christiane hereinschlüpfte.

„Philipp!“ rief sie.

Noch ehe er sich erheben konnte, war sie bei ihm, schlang ihren Arm um seinen Nacken und bot ihm die Lippen.

Er küßte sie flüchtig, schob sie dann gleich wieder von sich. „Wie unvorsichtig, Christiane!“

„Ach, bist du langweilig.“

„Ich bin nicht langweilig, Christiane, ich bin nur vorsichtig.“

„Ein Feigling bist du!“

Er begann sich nervös die Ärmelschoner abzuziehen, die er über seinen guten, schwarzen Anzug gezogen hatte. „Wenn du nur gekommen bist, um mich zu beschimpfen …“

„Aber, Philipp! Den ganzen Tag habe ich mich nach dir gesehnt … das kannst du dir doch denken … den ganzen Vormittag und die ganze Nacht. Ich eile auf Flügeln der Liebe zu dir, um dich mit der freudigen Uberraschung zu beglücken, daß wir am Wochenende zusammen nach München können … ich habe Vater weisgemacht, d^ß ich mir noch Trauerkleidung besorgen muß … ich freu mich wie ein Kind … und dann bist du so!“

„Ich bin nicht so, Liebling …“

Sie lachte. „Wenigstens dein Liebling bin ich noch … das ist doch etwas.“

„Es tut mir leid, daß du mich für einen Feigling hältst. Christiane.“

„Nein. Dafür halte ich dich doch gar nicht.“

„Du hast es aber selber eben gesagt.“

„Ach, sei doch nicht so schrecklich pedantisch. Wenn man sich ärgert, sagt man eine Menge Dinge, die man gar nicht so meint.“

„Du weißt genau, wie vorsichtig wir sein müssen, Liebling. Stell dir vor, wenn dein Vater jetzt plötzlich hereinkäme.“

„Er kommt aber nicht.“

„Weißt du das ganz genau?“

„Natürlich. Er klettert mal wieder mit Juliane in dem langweiligen alten Neubau herum, und das arme Ding zittert natürlich die ganze Zeit, daß sie ins Stolpern gerät.“

„Das klingt ein bißchen herzlos.“

„So? Findest du? Dir tut Juliane wohl leid?“

„Ja … dir etwa nicht?“

„Kein bißchen. Wie man sich bettet, so liegt man … das solltest du doch am besten wissen!“

„Was willst du damit sagen?“

„Oh, nichts, gar nichts!“

„Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Christiane, aber manchmal …“

Sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte strahlend und verlockend zu ihm auf. „Liebst du mich wirklich?“

„Natürlich.“

„Natürlich ist keine Antwort. Sag ja oder nein!“

„Ja oder nein.“

„Du bist wirklich gräßlich.“ Sie legte ihren kleinen blonden Kopf wie schutzsuchend an Philipps Schulter. „Sag, daß du mich liebst … sag, daß du dich auf Samstag freust.“

„Du weißt doch genau, daß ich dich liebe, Christiane, nicht wahr? Aber grade, weil ich dich liebe, muß ich dir immer wieder sagen, du mußt vorsichtiger sein. Wenn dein Vater irgend etwas von linserer … nun ja, von unserer Liebe merkt, dann …“ Er stockte.

Sie blickte ihn an. „Was ist dann?“

„Das weißt du selber ganz genau.“

„Du meinst, er wird dich rauswerfen?“

„Wahrscheinlich.“

„Wäre das so schlimm? Du könntest doch irgendwo anders auch eine Stellung bekommen. Ich würde mit dir kommen und wir würden heiraten.“

„Du redest wie ein Kind.“

„Ich rede wie eine Frau, Philipp.“

„Es ist ja auch gut möglich, daß er sich etwas anderes ausdenkt … er könnte zum Beispiel dich fortschicken, Christiane, hast du daran noch nie gedacht?“

„Mich?“

„Ja. Nach München … oder zu euren Verwandten ins Rheinland. Oder zu irgendeinem Geschäftsfreund …“

„Und du meinst, davor soll ich mich fürchten? Philipp, was bist du doch für ein Esel. Ich wäre ja heilfroh, wenn ich endlich von hier wegkäme.“

„Und ich?“

„Du gehörst nicht zu Wilhelm Holzboers Familie, du kannst sowieso tun und lassen, was du willst. Du kannst mit mir kommen, du kannst aber auch bleiben. Du bist ein freier Mensch, Philipp.“

„Ein freier Mensch – zunächst ohne Stellung, wenn dein Vater mich rauswirft.“

„Aber das kann doch nicht so weitergehen mit unserer blödsinnigen Heimlichtuerei! Philipp, ich bitte dich … wir können doch nicht bis ans Ende unserer Tage ein heimliches Liebespaar bleiben.“

„Nicht bis ans Ende unserer Tage, aber vorläufig. Was bleibt uns denn sonst übrig?“

„Das fragst du? Du könntest doch zum Beispiel zu Vater hingehen und ihm sagen, wie es um uns steht und daß du mich heiraten willst.“

„Christiane!“

„Was ist denn schon dabei? Millionen junge Männer haben Millionen Väter schon gefragt, ob sie ihre Tochter heiraten dürfen. Den Kopf wird es dich nicht kosten.“

„Ich bitte dich, Christiane. Du weißt genauso gut wie ich, daß das Wahnsinn wäre.“

„Das weiß ich nicht“, sagte sie verstockt.

„Du kennst doch, deinen Vater. Du hast mir doch selber erzählt, wie es Juliane ergangen ist. Es hat doch auch Männer gegeben, die um ihre Hand angehalten haben, nicht wahr? Und was hat dein Vater dazu gesagt … was hat er getan?“

„Ich bin nicht Juliane.“

„Nein, aber du bist genau wie sie seine Tochter … eine Tochter Wilhelm Holzboers …“

„Aber du bist Philipp Wispert, das scheinst du gar zu vergessen … kein Zeitungsschreiber und kein akademischer Maler. Du bist Prokurist unserer Firma. Vielleicht wird Vater sich sogar freuen, wenn du ihm sagst, daß wir heiraten wollen.“

„Glaubst du das wirklich?“

Sie schwieg einen Augenblick. Dann senkte sie den Kopf. „Nein“, sagte sie leise.

Sie fuhren auseinander, als die Tür aufgerissen wurde, Wilhelm Holzboer stampfte herein, gefolgt von Juliane. In seiner Verwirrung stieß Philipp Wispert gegen die schwere Unterschriftenmappe, die polternd zu Boden schlug.

„Wie oft han ich Ihnen jesagt, Wispert, dat Se nich aufspringen solln wie ’n Hampelmann, wenn ich reinkomme?“ dröhnte Wilhelm Holzboer.

„Bitte, entschuldigen Sie, Herr Holzboer … ich war so in die Arbeit vertieft, daß ich …“

Juliane versuchte, die Tür hinter sich zuzumachen, aber der Raum war so klein, daß die vier Menschen darin keinen Platz fanden. Christiane wäre gerne hinausgeschlüpft, aber der Vater versperrte ihr den Durchgang.

„Worauf warten Se noch, Wispert? Heben Sie dat Buch schleunigst auf … oder soll ich etwa ..?“

„Entschuldigen Sie, Herr Holzboer … ich dachte nur..“ Philipp Wispert, der sich gescheut hatte, sich zu bücken, um keine komische Figur zu machen, beugte sich rasch nieder und legte die Unterschriftenmappe wieder auf den Schreibtisch.

„Dat is es jrade, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollt, Wispert. Sie denken zuviel! Wat haben Se sich zum Beispiel dabei jedacht, dat Se heute morjen auf dem Friedhof erschienen sind?“

„Ich hielt es für meine selbstverständliche Pflicht’ …“

„Ihre Pflicht ist es, hier zu arbeiten, Wispert, dat Se es nur wissen. Ich bezahle Se nich, damit Se Ihre Zeit auf dem Friedhof vertrödeln.“

„Ich wollte, Herr Holzboer … die verstorbene Frau Holzboer …“

„Ich weiß, ich weiß. Sie han se karessiert. Dat war jut und schön, soweit Se dabei jearbeitet haben. Aber Trödelei während der Arbeitszeit dulde ich in meinem Betrieb nicht, verstanden?“

„Jawohl, Herr Holzboer!“

„Dat Se heute abend Überstunden machen, dat is Ihnen doch klar? Oder wollen Se, dat wir et Ihnen vom Gehalt abschreiben?“

„Nein, nein, Herr Holzboer, natürlich hatte ich sowieso vor, die verlorenen Stunden einzuholen.“

„Dat freut mich. Damit nur keine Mißverständnisse entstehen … Sie sind zwar der Sohn meines juten Freundes Wispert, aber zu unserer Familie gehören Se nicht … auch wenn Se mit die Mädchens schön tun.“

„Ich hätte nie gewagt …“

„Dann is et ja jut.“ Wilhelm Holzboer wandte sich Christiane zu. „Und du? Wat hast du hier zu suchen, Kind?“

„Ich … ich wollte mit Wispert sprechen“, stotterte Christiane, dann fügte sie rasch hinzu: „Wegen der Expreßgutabteilung für Trauerfälle, Vater.“

„Wat du nich sagst. Nu passe mal auf, Kind … ein für allemal … wenn du schon selber nicht arbeiten willst ..“

„Vater!“ protestierte Christiane.

„… dann halt wenigstens die anderen nicht auf. Schreib dir das hinter die Ohren, sonst kannste mal wat von deinem alten Papa erleben!“

„Ich habe bestimmt nicht, Vater …“

„Stehst du noch immer da rum? Du jlaubst wohl, du kannst für mein jutes Jeld die Zeit totschlagen, wat?“ Die Zornesader auf Wilhelm Holzboers Stirn schwoll bedrohlich an.

„Komm schon, Christiane!“ Juliane faßte ihre Schwester bei der Hand und zog sie mit hinaus auf den Flur.

„Hierbleiben!“ donnerte Wilhelm Holzboer.

Erschrocken blieben die beiden Mädchen stehen.

„Dich mein ich, Hinkebein! Du wolltest doch mit dem Wispert sprechen, oder … ?“

Juliane errötete. „Ja, Vater“, sagte sie leise.

„Na also … Verstand wie ’n Huhn!“ – Genauso abrupt wie er gekommen war, wollte Holzboer hinausstapfen.

„Herr Holzboer!“ rief Wispert.

„Noch etwas?“ Wilhelm Holzboer wandte sich ärgerlich um.

„Ein Zufallj Herr Holzboer, man hat mir eine kleine Münze in die Hände gespielt … und ich dachte … wenn Sie sich vielleicht dafür interessieren …“

„Lassen Sie sehen!“

Philipp Wispert zog aus seiner Hosentasche ein kleines Kästchen, klappte es auf, eine goldene Münze glänzte auf schwarzem Samt.

Wilhelm Holzboer beugte sich darüber, in seinen Augen stand unverhohlene Gier. „Janz schön“, sagte er gleichgültig.

„Siebzehntes Jahrhundert, Herr Holzboer.“

„Dat brauchen Se mir nicht zu sagen, dat sehe ich selber. Und wat wollen Se mit dem Ding?“

„Ich dachte, Herr Holzboer, wenn diese Münze vielleicht zufällig in Ihrer Sammlung fehlte …“

Wilhelm Holzboer nahm die Münze aus dem Kästchen, wog sie in der Hand, warf sie in die Luft und ließ sie auf die andere Seite fallen. „Wat soll dat Ding kosten?“

„Dreihundertachtzig.“

„Mann! Sind Sie wahnsinnig? Mehr als dreihundert is et bestimmt nich wert.“

„Der Händler verlangt dreihundertachtzig.“

„Dat kann ich nicht zahlen … dreihundertfünfzig und keinen Pfennig mehr. Für dreihundertfünfzig nehm’ ich sie.“

Er nahm Philipp Wispert das Kästchen aus der Hand, legte die Münze behutsam hinein, schloß es und steckte es in die Hosentasche.

„Aber, Herr Holzboer … sie gehört ja noch gar nicht mir … ich habe sie Ihnen nur mal zeigen wollen … und der Händler verlangt dreihundertachtzig.“

„Dann bestellen Sie ihm ’nen schönen Gruß von mir, mehr als dreihundertfünfzig is dat Ding janz bestimmt nicht wert … und die kann er von mir kriegen …“

Wilhelm Holzboer zückte seine Brieftasche, blätterte sieben zerknitterte Fünfzigmarkscheine heraus, legte sie auf den Schreibtisch. „Hier nehmen Se dat und bringen Se die Sache in Ordnung. Sie sind doch ein Kaufmann, wat? Dann müssen Se auch handeln können. Oder …“

„Jawohl, Herr Holzboer.“

„Und wenn Se nochmals so ’n Ding finden, dann bringen Se es ruhig mir. Ich zahl jute Preise.“ Er schob zur Tür. „Mahlzeit!“

Juliane und Philipp Wispert sahen sich an.

*

Die Morgensonne war dunstig verhangen. Schneewasser tropfte von den Dächern.

Frau Bärlein aß gedankenverloren ihr Butterbrot, während sie einen Brief las, der neben ihrem Teller auf dem Küchentisch lag. Sie hob nur kurz den Kopf, als die Tante das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr hereinbrachte. Dann las sie weiter.

„Ach je …“ stöhnte die Tante, „ach je …“ Sie setzte das Tablett neben dem Spülstein ab.

„Mir platzt der Kopf“, fuhr sie fort, als sie sah, daß die Haushälterin nicht reagierte.

„Wir haben Föhn“, murmelte Frau Bärlein, ohne von ihrem Brief aufzusehen.

„Wenn et bloß dat wär!“ Die Tante ließ sich aufseufzend auf einen Küchenstuhl fallen. „Mein Jott … mein Jott …“

„Hat es wieder Ärger gegeben?“

„Dat kann man wohl sagen. Von all die leckren Sächelchen, die wir für ihn jemacht haben, hat er nich ’nen Fitz anjerührt. Kuchen wollt er essen … Marmelade.“

Frau Bärlein lachte. „Das hätte ich Ihnen gleich sagen können.“

„Ich han et Juliane doch auch jesagt … aber dat Kind will und will nich auf mich hören. Sie bildet sich glatt ein, sie weiß allet besser!“

„Sie meint eben, weil der Arzt Herrn Holzboer Diät verschrieben hat …“

„Ja, hat er … aber Willem kümmert sich nich ’nen Deut darum.“

„Ich finde auch eigentlich gar nicht, daß er aussieht wie ein Mann, der Diät leben muß.“

„Doktor Vogelsang …“

„Ich will Ihnen mal was sagen, Tante“ – wie alle hier im Haus, gebrauchte auch Frau Bärlein für die Cousine der verstorbenen Frau Holzboer diese familiäre Anrede – „die Ärzte verschreiben vieles, besonders, wenn es ein Patient ist, der Geld hat. All die verschiedenen Fläschchen und Döschen, die er auf dem Nachttisch stehen hat. Ich muß manchmal lachen, wenn ich da aufräume. Und die Ampullen. Benutzen tut er das Zeug ja doch nur, wenn es ihm gerade einfällt. Wenn unsereiner krank wird, dann heißt es …’, stecken Sie Ihre Füße in kaltes Wasser, teure Medikamente kann die Krankenkasse nicht bezahlen.“

„Ja, ja, das ist schon wahr …“

„An Ihrer Stelle würde ich mir bestimmt keine Sorgen um Herrn Holzboer machen. Der wird hundert Jahre alt, sage ich Ihnen, der überlebt uns alle.“

„Erzählen Sie das mal der Juliane. Das Kind ist ja rein verrückt mit seiner Diät für den Papa. Als ob so ’n bisken Zucker ’nen Mann wie Willem umkippen könnte.“

„Fräulein Juliane ist überhaupt reichlich nervös, nicht wahr?“

Frau Bärlein schob ihren leeren Teller von sich und stand auf. „Ich würde mir von meinem Vater bestimmt nicht soviel gefallen lassen!“

„Das kommt ganz auf den Vater an, Frau Bärlein.“

„Kann schon sein.“

„Jedenfalls wird er es mit der Christiane nicht so leicht haben. Die kommt ganz auf seine selige Mutter – dat war en As auf der Baßjeije!“

„Wie meinen Sie das?“

„Nur so. Man darf doch wohl noch reden?“

„Vielleicht heiratet der Prokurist sie ja.“

„Das wissen Sie auch?“

„Mein Gott, Tante … regen Sie sich doch nicht auf. In so einem kleinen Nest wie Leuchtenberg hört man natürlich allerhand munkeln,“

„Wenn das der Willem erfährt. Gott sei uns allen gnädig.“

Frau Bärlein lachte. „Aber Tante … so schlimm wird’s doch nicht gleich werden. Es ist doch ganz normal, daß ein junges Mädchen …“

„Erzählen Sie das dem Willem. Wenn Sie Mut haben … erzählen Sie das dem Wilhelm.“

Frau Bärlein zuckte mit den Achseln. „Mich geht es ja schließlich nichts an. Wenn ich in alles meine Nase stekken wollte, was in diesem Hause passiert …“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Sie wissen doch genauso gut Bescheid wie ich … oder?“

„Wollen Sie damit auf die Pakete anspielen, die Christiane …“

„Mich geht’s nichts an, ich sagte es ja schon. Aber ich sehe, was ich sehe, und ich weiß, was ich weiß!“

„Mein Gott … der arme Willem. Wenn der wüßte ..!“ Die Tante schlug die Hände zusammen.

„Mir tut er nicht leid, daß Sie es nur wissen. Wenn ich das Geld von Herrn Holzboer hätte, ich wüßte mir eine bessere Beschäftigung, als meine Familie zu tyrannisieren. Sie sehen ja, was er davon hat … betrogen und belogen wird er von allen Seiten. Aber mich geht’s ja nichts an.“

Mit einem Knall stellte Frau Bärlein ihren leeren Teller zu den anderen, sie wollte heißes Wasser in das Spülbecken gießen.

„Nee, lassen Sie das … auf den Schreck muß ich mir erst eine Tasse Kaffee genehmigen.“

„Wenn Sie wollen …“ Frau Bärlein nahm die große Blechkanne, die ständig mit heißem Kaffee gefüllt war, vom Herd.

„Nicht von dem Muckefuck … nee, ich habe mir gedacht, wir machen uns ’ne Tasse guten.“

Frau Bärlein zögerte einen Augenblick. „Ich weiß nicht …“

„Es wär’ ja noch schöner, wenn ich mir nicht mal ’ne Tasse guten Kaffee gönnen könnt. Und überhaupt, sie sind ja alle fort.“

Frau Bärlein holte eine Blechdose aus dem Küchenschrank, schüttete eine Händvoll Kaffeebohnen in die elektrische Mühle und stellte sie an. Die Kaffeemühle surrte los, und die beiden Frauen schwiegen, weil man bei diesem Geräusch hätte schreien müssen, um sich gegenseitig zu verständigen.

Die Küche war groß, düster und altmodisch. Die Möbel, teils alt gekauft, teils aus billigem Holz schnell zusammengeschlagen, waren schäbig. Der blitzblanke Eisschrank, Marke „Jedermann“, das Mixgerät, Marke „Jedermann“, zu dem auch die Kaffeemühle gehörte, und der kleine elektrische Herd, der ebenfalls zum Einkaufspreis aus der Firma „Jedermann“ bezogen war, hatten die optische Wirkung, die Küche wie eine alte Rumpelkammer erscheinen zu lassen, übrigens wurde der elektrische Herd fast nie benutzt, weil hohe elektrische Rechnungen Wilhelm Holzboer immer ein Dorn im Auge waren. Morgen für Morgen mußte Frau Bärlein sich bemühen, in dem großen altmodischen Kohlenherd ein Feuer zu entfachen und während der Hausarbéit alle halbe Stunde in die Küche laufen, um ein paar Holzstücke nachzuschieben, damit das Essen auch am Kochen blieb.

Das veränderte Geräusch in der Kaffeemühle zeigte an, daß die Bohnen durchgemahlen waren. Frau Bärlein stellte die Mühle ab, schüttete das Mehl in eine Steingutkanne, die sie inzwischen vorgewärmt hatte, goß Wasser auf. Sie stellte Untertassen und zwei Tassen auf den Tisch, legte zwei Blechlöffel aus der Küchenschublade dazu, brachte eine angebrochene Büchse Kondensmilch und eine Dose Zucker. Dann schüttete sie sich und der Tante durch ein Sieb Kaffee ein.

Die Tante bediente sich mit Milch und Zucker, dann tat sie einen kleinen, vorsichtigen Schluck und sagte seufzend: „Dat is jut.“

Frau Bärlein nahm ihren alten Platz wieder ein, zog aus ihrer Schürzentasche eine Zigarettenschachtel und zündete sich eine Zigarette an.

Die Tante sah auf. „Daß Ihnen so was schmeckt?“ sagte sie mißbilligend.

„Es schmeckt mir eben“, sagte Frau Bärlein kurz und begann ihren Brief noch einmal von Anfang an zu lesen.

In der Küche war es still. Man hörte nichts weiter als das laute Ticken des großen Weckers. Die Tante schlürfte ihren Kaffee und betrachtete Frau Bärlein mit kaum verhohlener Neugier.

Endlich konnte sie es nicht länger aushalten. „Was schreibt er denn?“ fragte sie.

Frau Bärlein sah hoch. „Der Brief ist nicht von meinem Mann.“

„Nicht?“

„Nein.“ Und nach einer Pause, die der Tante eine Ewigkeit dünkte, fügte sie hinzu: „Er ist von meiner Schwiegermutter.“

„Ach so … und was schreibt sie denn?“

„Sie war wieder mal beim Wohnungsamt, und anscheinend hat sie diesmal Erfolg gehabt. Man hat ihr ganz fest eine Dreizimmerwohnung für uns versprochen. Es soll ein ganzer Häuserblock für Flüchtlinge gebaut werden, die Wohnungen sollen im nächsten Herbst beziehbar sein.“

„Die vom Wohnungsamt versprechen viel“, sagte die Tante. „Willem sagt immer: Wer sich auf die Ämter verläßt, der ist verlassen.“

„Diesmal aber scheint es doch zu klappen.“

„Sie sagen das, als wenn Sie nicht früh genug von uns fortkommen könnten. Ihnen geht et doch ganz gut hier, war? Und ein schönes Geld verdienen Se auch.“

„Ich will gewiß nicht undankbar sein …“

„Das scheint mir aber doch so.“

„Nein, ganz bestimmt nicht. Aber verstehen Sie das denn nicht, daß ich auch mal wieder mit meinem Mann zusammenleben möchte? Mit unserem Kind? Eine richtige Ehe führen?“

„Sie sind doch noch jung …“

„Ich bin seit acht Jahren verheiratet, und die Tage, an denen ich wirklich mit meinem Mann zusammengelebt habe, kann ich mir an den Fingern abzählen. Seit wir in den Westen gekommen sind, ist alles noch schlimmer.“

„Vielleicht wären Sie besser drüben geblieben.“

„Das weiß ich jetzt auch, aber was nutzt mir das? Für uns gibt es kein Zurück mehr.“

Plötzlich zuckte die Tante zusammen. „Still!“ sagte sie, „ganz still!“

Die beiden Frauen lauschten angespannt, Schritte waren auf der Treppe zu hören, kamen näher – dann fiel die Haustür ins Schloß.

„Gott sei Dank“, sagte die Tante aufatmend, „es war nur der Junge.“

„Ach so. Ich dachte, Wilhelm wäre schon längst in der Schule.“

Das goldene Kalb

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