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III.

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Als der junge Wilhelm Holzboer atemlos das graue Schulgebäude betrat, läutete die Glocke schon zum Beginn des Unterrichts. Es gelang ihm gerade noch, hinter Oberstudienrat Dr. Elegius Werner in die Klasse zu schlüpfen, dann wurde die Tür geschlossen.

Die Jungen und Mädchen waren aufgestanden, um ihren Klassenlehrer zu begrüßen. So rasch und unauffällig wie möglich nahm Wilhelm seinen gewohnten Platz ein, verstaute seine Mappe unter der Bank und versuchte dann sofort einen Blick mit Erika Bogdan zu tauschen, die in der Reihe hinter ihm auf der anderen Seite des Ganges saß. Aber Erika blickte starr geradeaus, er sah nur das Profiel ihres kleinen, stupsnäsigen Gesichtes.

„Guten Morgen, meine jungen Freunde!“ – Dr. Elegius Werner legte seine Aktentasche auf das Katheder, dann wandte er sich wieder der Klasse zu: „Setzen!“

Polternd ließen sich die Oberprimaner und Oberprimanerinnen auf ihren Bänken nieder. Der junge Wilhelm beeilte sich, dem Beispiel seiner Klassenkameraden zu folgen und „Goethes Faust, erster Teil“ vor sich auf sein Pult zu legen.

„Wo sind wir dran?“ fragte er flüsternd.

„Kerkerszene“, raunte Sepp, sein Banknachbar, zurück.

„Meine lieben, jungen Freunde“, begann Dr. Werner händereibend, „zum Schluß der vorigen Stunde hat einer von Ihnen … ich glaube, es war Bergner … die Frage aufgeworfen, warum Gretchen sterben muß, das heißt, warum Goethe sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen läßt, mit ihrem Geliebten zu fliehen. Ich glaube, diese Frage ist interessant genug, daß wir uns ein wenig ausführlicher darüber unterhalten sollten. Wer hat etwas dazu zu sagen?“

Sofort meldete sich Anni Knott, Erikas Freundin.

„Ich freue mich, Knott“, sagte Dr. Werner – er hatte die Angewohnheit, seine Schüler, ob sie nun Jungen oder Mädchen waren, immer nur mit dem Nachnamen anzureden, als wenn er damit seine völlige Unvoreingenommenheit gegenüber der Mädcheninvasion auf das ursprünglich als reine Jungenschule gedachte Gymnasium dokumentieren wollte –, „ich freue mich, Knott, daß Sie über das Problem nachgedacht haben.“

„Natürlich muß Gretchen sterben“, sagte Anni überzeugt, „schließlich ist sie ja eine Mörderin. Sie hat ihre Mutter umgebracht … und ihr Kind doch auch. Und außerdem … Valentin …“

„Das stimmt doch gar nicht!“ rief Toni Bergner dazwischen.

„Immer erst ausreden lassen, Bergner“, rügte Dr. Werner. „Was wollten Sie noch sagen, Knott?“

„Das war alles.“

„Gretchen hat ihre Mutter ja gar nicht umbringen wollen“, sagte Toni, „sie hat ihr das Pulver ja nur gegeben, weil sie es für ein harmloses Schlafmittel gehalten hat. Und ob sie ihr Kind wirklich getötet hat, steht ja gar nicht fest. Wir erfahren es bloß von Mephisto und …“

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Bergner, aber daß Gretchen ihr Kind getötet hat, dürfen wir doch wohl als Tatsache unterstellen. Es handelt sich bei Goethes Faust um ein Drama, aber nicht um einen Kriminalreißer.“

Die Klasse lachte.

„Und wenn. Sie hat es ja bestimmt nur getan, weil sie völlig verzweifelt war und keinen anderen Ausweg sah.“

„Das ist sicherlich ein Milderungsgrund, aber keinesfalls eine Entschuldigung.“

„Für eine Kindestötung würde sie heutzutage höchstens ein paar Jahre Gefängnis kriegen, niemals aber sterben müssen.“

„Das Stück spielt im Mittelalter“, warf einer aus den hinteren Reihen dazwischen.

„Schön und gut, aber Goethe ist doch ein humaner Mensch … und selber Jurist … und da sollte man doch annehmen, daß er sich für Gretchens Verbrechen eine Strafe hätte ausdenken können, die ihrer tatsächlichen Schuld entspricht“, nahm eines von den Mädchen Tonis Partei.

„Wurden zu Goethes Zeiten Kindsmörderinnen nicht tatsächlich noch geköpft?“ wollte einer der Jungen wissen.

„Meine lieben, jungen Freunde“, sagte Doktor Werner, „ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie die Sache von einer falschen Seite her anpacken. Vom Juristischen ist diesem Problem natürlich nicht beizukommen, sondern nur vom Moralischen her. Margarete hat schon in dem Augenblick Schuld auf sich geladen, als sie dem Werben Faustens und ihrer eigenen Leidenschaft nachgab. All die anderen fahrlässigen oder bewußten Verbrechen, die sie späterhin noch auf sich lädt, entspringen lediglich dieser ersten Schuld, die ich als eine Urschuld des Weibes bezeichnen möchte. Sie selber sagt: ,Doch alles, was mich dazu trieb, ach, war so gut, ach, war so lieb!’ – Tatsächlich, aber hat sie schon vom ersten Moment an das Vertrauen ihrer Mutter enttäuscht, hat sie gegen ihr eigenes besseres Wissen und Gewissen gehandelt … ja, Bogdan, was wollen Sie sagen?“

Erika war aufgesprungen. Alle starrten sie an. Ihr Gesicht war totenbleich, dunkle Ringe lagerten um ihre Augen. Es sah aus, als ob sie sprechen wollte, dann aber schlug sie ihre Hand vor den Mund und stürzte blindlings aus der Klasse hinaus.

„Was hat denn Bogdan?“ fragte Dr. Werner erstaunt.

„Ihr ist schlecht geworden, Herr Oberstudienrat“, sagte Anni.

„Ist sie krank?“

„Ich weiß nicht …“

„Woher wissen Sie dann, daß ihr schlecht geworden ist?“

„Sie hat so was in letzter Zeit schon öfters gehabt“, sagte ein anderes Mädchen.

„So? Und warum wird mir das nicht gemeldet? Warum geht sie nicht zum Arzt?“

„Sie sagt, es ist nicht so schlimm.“

„Ich glaube, es ist schlimm genug. Warum stehen Sie, Holzboer? Haben Sie mir etwas zu sagen?“

Unwillkürlich war Wilhelm Holzboer aufgesprungen, er hatte sich beherrschen müssen, um nicht Erika nachzulaufen.

„Nein, Herr Oberstudienrat.“

„Dann setzen Sie sich gefälligst. Und Sie, Knott, packen Sie Bogdans Sachen zusammen und bringen Sie ihr alles nach … schauen Sie, was sie macht und sagen Sie ihr, daß sie sofort zum Arzt gehen soll. Wenn ihr noch nicht besser ist, begleiten Sie sie. Haben Sie mich verstanden?“

„Jawohl, Herr Oberstudienrat.“

*

Anni fand Erika im Vorraum der Toilette. Sie hatte sich grade das Gesicht gewaschen und war nun dabei, es sich mit ihrem Taschentuch abzutrocknen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren verschwunden, ihre Wangen hatten schon wieder Farbe, die Augen Glanz bekommen.

„Mensch, Erika … du hast uns ja einen schönen Schrecken eingejagt“, sagte Anni erleichtert. „Was ist bloß los mit dir?“

„Was soll denn mit mir los sein?“ Erika löste die Spange aus ihrem Pferdeschwanz und begann sich ihr Haar zu kämmen. „Ich bin vollkommen in Ordnung.“

„In Ordnung? Wo dir alle naselang schlecht wird?“

„Mir bekommt bloß das Frühstück nicht. Ich hätte besser gar nichts gegessen, aber ich hatte einen Mordshunger.“

„Und dann wird dir nachher schlecht?“

„Hast du vielleicht was dagegen?“

„Ich glaube, du bist krank, Erika.“

„Ach wo! Großer Unsinn!“

„Doktor Werner sagt es auch.“

Erika fuhr herum. „Hat er geschimpft?“

„Nö … geschimpft eigentlich nicht …“

„Was denn?“

„Er hat gesagt, daß du zum Arzt gehen sollst. Und ich soll dich begleiten.“

„Danke, ich brauche keinen Aufpasser.“

„Erika!“

„Ist doch wahr. Ich weiß schon, was du willst … mir nachspionieren, sonst nichts!“

„Na, bitte … dann geh’ ich eben zurück und sage Doktor Werner, daß du nicht zum Arzt gehen willst.“

„Mach dir keine Mühe, das kann ich auch selber sagen.“ Erika wollte an Anni vorbei zur Tür.

„Erika!“

„Ja … was noch?“

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.“

„Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Du kennst doch Doktor Werner.“

Erika seufzte. „Stimmt. Wenn der sich in was verbissen hat, dann steigt er nicht mehr runter.“

„Eben.“

„Na schön. Dann geh du zurück und sag … ich bin zum Arzt.“

„Deine Mappe liegt oben bei der Garderobe.“

„Danke.“

„Mach’s gut.“

Erika reichte der Freundin zum Abschied die Hand.

„Willst du mir nicht doch sagen, was mir dir los ist, Erika?“

„Nichts … das habe ich doch schon gesagt.“

„Ich meine nicht wegen dem Schlechtwerden, sondern überhaupt … irgend etwas ist doch los mit dir. Du bist so anders in letzter Zeit, ganz fremd. Hast du dich mit Helm gezankt? Sag’s mir doch, vielleicht kann ich dir helfen.“

„Menschenkind … du hast eine Phantasie“, sagte Erika, aber Anni entging nicht, daß ihre Lippen zitterten.

„Ich war doch immer deine beste Freundin“, drängte sie weiter.

„Bist und bleibst du, Anni … und wenn ich jemals Hilfe brauchen sollte, bist du der erste Mensch, an den ich mich wenden würde. Aber vorläufig ist es noch nicht soweit, glaub mir. Das einzige, was ich von dir verlange … laß mich doch mit deiner blöden Fragerei in Ruhe. Du kannst mich sonst noch zur Verzweiflung …“

Erika sprach den Satz nicht zu Ende, sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz um und stürzte hinaus. Anni sollte nicht erleben, daß sie in Tränen ausbrach. – –

Als Erika auf der Straße stand, kam ihr das Verzweifelte ihrer Situation erst voll zum Bewußtsein.

In die Klasse konnte sie nach dem, was vorgefallen war, heute nicht mehr zurück. Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Mußte sie nicht Verdacht schöpfen, wenn sie jetzt, plötzlich, mitten in der Schulzeit nach Hause kam? Vielleicht ahnte die Mutter sogar schon etwas. Sie hatte in der letzten Zeit häufig so merkwürdige Fragen gestellt, hatte sie oft, wenn sie glauben konnte, daß sie es nicht merkte, mißtrauisch beobachtet. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Erika wußte selber, daß sie überempfindlich geworden war. Trotzdem – nach Hause konnte sie jetzt nicht. Sie schluchzte trocken auf, holte tief Atem, um sich zu beruhigen.

Von der Kirchturmuhr schlug es neun.

Was konnte sie, eine Schülerin des Städtischen Gymnasiums, an einem Alltag um neun Uhr in der Frühe in Leuchtenberg tun? Wohin sie auch ging, würde sie auffallen. Jeder, der ihr begegnete, würde ihr nachschauen, vielleicht sogar Fragen stellen.

Fragen, Fragen, Fragen – wie sie das haßte. Warum nur konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Aber mehr noch als die Fragen haßte sie die Antworten, die sie selber geben mußte, diese verlogenen, gleichgültigen, ausweichenden Antworten. Früher hatte sie nie gelogen, höchstens einmal geschwindelt, aber jetzt – es war alles so fürchterlich.

Wenn es doch einen Menschen gäbe, dem sie sich anvertrauen könnte. Nur einen einzigen Menschen auf der Welt. Aber es gab niemanden. Außer Helm. Und Helm konnte ihr auch nicht helfen.

Vielleicht, wenn sie tatsächlich zu Doktor Vogelsang ginge und ihm alles erklären würde, überlegte Erika. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sie, wußte, daß es für Ärzte ein Berufsgeheimnis gab, aber das galt sicher nicht für sie, sie war ja noch unmündig, alle hielten sie für ein Kind – ein Kind, das jetzft selbst ein Kind bekam. Es war schrecklich, unausdenkbar schrecklich.

Zwei Frauen mit Einkaufstaschen näherten sich, Nachbarinnen. Erika drückte sich tief in den Torweg. Unwillkürlich faltete sie die Hände und betete: „Lieber Gott, hilf mir! Laß sie vorüber gehen. Hilf mir, daß sie mich nicht sehen.“

Die beiden Frauen waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, einen Blick in den dunklen Torweg zu werfen.

Gott sei Dank! Diese Gefahr war vorüber. Aber noch einmal konnte sie so etwas nicht riskieren. Sie mußte handeln, rasche Plötzlich wußte sie, es gab nur eine Chance für sie. Sie mußte so schnell wie möglich nach Hause laufen und versuchen, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen. Mutter hatte heute Waschtag. Vielleicht würde es ihr gelingen, Mutters Blicken zu entgehen. Dann war sie gerettet.

Morgen früh in der Schule würde sie dann erzählen, daß sie bei Dr. Vogelsang gewesen war und er eine leichte Magenverstimmung konstatiert hätte. Niemand würde sich dann mehr Gedanken machen, wenn es ihr noch ein paarmal schlecht würde. Es dauerte ja nicht mehr lange. In sechs Wochen war das Abitur, bis dahin mußte sie durchhalten.

Das Abitur, das war das einzige Ziel, das Erika sich gesetzt hatte, weiter dachte sie nicht. Was nachher geschehen sollte mit ihr und dem Kind, darüber machte sie sich keine Gedanken. Helm hatte versprochen, sie zu heiraten, irgendwie würde sich alles ordnen lassen. Nur das Abitur mußte sie erst machen. Solange mußte sie durchhalten, um jeden Preis.

Die Hände tief in die Taschen ihres Wintermantels gebohrt, die Schulmappe unter den Arm geklemmt, eilte Erika mit raschen Schritten nach Hause. Am liebsten wäre sie gelaufen, aber sie wagte es nicht, um nicht aufzufallen. Den Kragen ihres Wintermantels hatte sie hochgeschlagen, als wenn sie sich dahinter verstecken könnte. Sie hielt die Augen zu Boden gesenkt, in der Hoffnung, sich dadurch so unauffällig wie möglich zu machen. Trotzdem glaubte sie sich von tausend Blicken durchbohrt, hatte sie das Gefühl, daß hinter ihrem Rücken schon über sie getuschelt und geraunt wurde. Gegen ihren Willen verfiel sie in einen leichten Trab und war heilfroh, als sie endlich aus der Stadt heraus war und die ersten Häuser der neuen Siedlung auf tauchten.

Aber hier, wo ihre Eltern – der Expedient Bogdan und seine Frau Agathe – sich vor zwei Jahren mit wenig Geld, schwerer Arbeit und einer kleinen Hypothek ein Häuschen errichtet hatten, wurde es erst wirklich gefährlich, denn hier kannte sie jedes Kind.

Erika mußte grüßen, ob sie wollte oder nicht, aber sie ging so schnell und zielbewußt, daß niemand es wagte, sie aufzuhalten Die Wege hier draußen waren schlecht, der Schneematsch bespritzte ihre Beine bis zum Knie, aber sie achtete nicht darauf. In ihr war nur ein Gedanke, ein Ziel – ungesehen in ihr Zimmer zu kommen. Vorsichtig und lautlos öffnete sie die Gartenpforte, vorsichtig und lautlos schloß sie sie wieder, war mit drei Schritten bei der kleinen Treppe, die zur Haustür hinaufführte, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn behutsam, öffnete die Tür, drückte sie hinter sich zu. Sie atmete auf, sie glaubte sich schon gerettet.

Sie zog die Luft ein, ja, sie hatte recht gehabt – es roch nach großer Wäsche, Mutter war ganz sicher in der Waschküche. Trotzdem streifte sie sich vorsichtig die Schuhe von den Füßen, nahm sie in die Hand und schlich lautlos auf ihren Wollstrümpfen zur Treppe hin, nahm die erste Stufe, die zweite, die dritte, versuchte die vierte, die immer so abscheulich knarrte, zu überspringen und – erstarrte.

Sie hatte ihre Mutter in der Küche rumoren gehört.

Einen Augenblick war sie keines Gedankens fähig, stand steif und still da, während sie fühlte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Dann, als sie sich grade entschlossen hatte, weiter hinaufzuschleichen, öffnete sich die Küchentür, und die Mutter trat in die kleine Diele.

Einen Augenblick starrten sich die beiden Frauen an, Mutter und Tochter. Keine sagte ein Wort. Erika versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme versagte.

Es war wie eine Erlösung, als Frau Bogdan sich endlich rührte. „Erika … du hier? Hast du etwas verjessen?“ Sie tat einen Schritt auf die Treppe zu.

„Ja, Mutter“, sagte Erika mühsam.

„Wat? Wat hast du verjessen?“

„Mutter … ich …“

„Warum haste dir die Schuhe ausjezogen?“

Auf diese Frage wußte Erika eine Antwort. „Sie waren so schmutzig, Mutter …“

„Deshalb brauchste sie doch nicht bis hinauf in dein Zimmer zu nehmen.“

Erika schwieg.

„Komm sofort runter, Erika … komm her zu mir, janz nah!“

Erika ging langsam und zögernd die vier Stufen zurück, die sie so vorsichtig hinaufgeschlichen war.

„Sieh mir in die Augen, Kind … hast du mir nichts zu sagen?“

„Was denn, Mutter?“

„Warum siehst du mir nicht an? Hast du ein schlechtes Gewissen?“

Erika versuchte, dem Blick ihrer Mutter zu begegnen. „Nein“, sagte sie.

„Warum biste um diese Zeit nicht in der Schule?“

„Ich hab’ dir doch schon gesagt … ich habe etwas vergessen.“

„Du lügst!“

In diesem Augenblick kam ein zischendes Geräusch aus der Küche, die Aufmerksamkeit der Mutter wurde für eine Sekunde abgelenkt. Erika machte eine unwillkürliche Bewegung, als wenn sie davonlaufen wollte.

Frau Bogdan wandte sich ihrer Tochter sofort wieder zu. „Du kommst mit“, sagte sie und packte das Mädchen hart am Handgelenk. Sie zerrte sie in die Wohnküche, warf die Tür zu und eilte an den Herd, um den Topf mit der Kartoffelsuppe, die sprudelnd kochte, von der Mitte der Platte wegzuschieben. Sie öffnete den Deckel, der Geruch warmen Essens erfüllte die kleine Küche, und Erika wurde es wieder schlecht.

Sie stürzte zum Ausguß, von Übelkeit geschüttelt, mußte sie würgend erbrechen. Aber ihr Magen hatte nichts mehr herzugeben als grüne Galle.

Frau Bogdan kam ihrer Tochter nicht zur Hilfe, sie starrte sie nur an, die kräftigen, nackten Arme, die von der Arbeit in der Waschküche gerötet waren, in die Hüften gestemmt. „So ist det also“, sagte sie tonlos, „so ist det also … unser einziget Kind!“

Erika drehte den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über das glühende Gesicht sprudeln.

Die Mutter riß sie zu sich. „Willst du mich immer noch anlügen?“

„Ich bin krank, Mutter“, schrie Erika in höchster Verzweiflung. „Krank!“

„Eine schöne Krankheit is det! Weißte, wie ich diese Krankheit nenne? Hurerei nenne ich sie … ja, du brauchst gar nicht so ein Jesicht zu machen! Hurerei! Du, mein einziget Kind, bist eine Hure! Lüg mich nicht noch mehr an! Meinst du denn, ich habe keene Augen im Kopf? Meinst du, ick habe nicht längst bemerkt, wat mit dir los ist? Mit wem hast du dir herum jetrieben? Antworte! Hörst du, antworte! Ich will et wissen!“

Sie packte Erika bei den Schultern und schüttelte sie. Erika schwieg verbissen, die Lippen eng aufeinandergepreßt.

Die Mutter ließ sie los. „Du brauchst mir nichts zu sagen. Ick weiß schon, wer et war … der junge Holzboer! Mit dem hast du et doch immer so wichtig jehabt. Mathematik mußtest du mit ihm zusammen lernen, Aljebra. Eine schöne Aljebra! Mein Jott, mein Jott, wenn det der Vater erfährt. Ich sage dir, er schlägt dich tot, er jagt dich aus dem Hause!“ Plötzlich ließ Frau Bogdan sich, überwältigt von der entsetzlichen Erkenntnis, die ihr jetzt erst voll zu Bewußtsein gelangte, auf einen Stuhl sinken. „Mein Jott, mein Jott … diese Schande! Unser einziget Kind. Womit haben wir det verdient! Lieber Jott … ich frage dich, womit haben wir det verdient? Haben wir nicht allet für dich jetan … allet, allet, allet? Haben wir dich nicht studieren lassen? Haben wir dir nicht jeden Wunsch erfüllt? Und du … du jehst hin und … et ist entsetzlich, lieber Jott, et ist entsetzlich! Was sollen wir nun tun, was sollen wir bloß tun? Lieber Jott, die Leute werden mit Fingern auf uns zeigen. Wir werden nicht mehr aus dem Haus gehen können, ohne daß sie über uns lachen. Diese Schande, mein Jott, diese Schande. Und du stehst da und machst ein Jesicht, als ob alles jar nicht so schlimm wäre. Red doch, verteidige dich, sag etwat, irgendwat!“

„Mutter“, brachte Erika mühsam hervor, „Mutter … es tut mir so schrecklich leid.“

„Leid tut et dir?“

„Ja, Mutter … wir haben das nicht mit Absicht getan, ganz bestimmt nicht. Mutter, du mußt mir helfen.“

„Helfen?“

„Ja, Mutter … in sechs Wochen habe ich Abitur. Wenn ich bis dahin durchhalte …“

„Abitur! Dieset Mädchen bekommt ein Kind und denkt an ihr Abitur. Glaubst du, dein Abitur kann dir helfen, wenn die janze Stadt mit Fingern auf dich zeigt? Glaubst du, du wirst ’ne Stellung hier bekommen, wenn alle wissen, wat du für eine bist?“

„Bitte, Mutter, versuch doch, mir zu helfen … ich verlange ja gar nichts weiter von dir, als daß du schweigst. Bitte, bitte, Mutter, sag Vater kein Wort davon. Ich bitte dich, Mutter.“

„Ja, jetzt kriegst du Angst, wat? Jetzt soll ich dir helfen? Jetzt, wo et zu spät ist. Hättest du früher auf deine Mutter jehört. Hab’ ick nicht immer versucht, einen anständigen Menschen aus dir zu machen? Haben wir nicht allet für dich jetan, dein Vater und ich? Und du, du jehst hin und läßt dich mit einem Kerl ein. Noch nicht aus der Schule und schon eine Hure! Mein Jott, mein Jott, was wird der Vater sajen. Er wird dich totschlagen, dat sage ich dir!“

„Mutter …“

„Sei still! Ich will kein Wort mehr von dir hören!“

„Mutter … Helm wird mich ja heiraten.“

Frau Bogdan sah auf. „Heiraten?“

„Ja. Er hat es mir fest versprochen.“

Plötzlich warf Frau Bogdan ihre Arme über den Küchentisch und begann hemmungslos zu weinen. – –

Am nächsten Tag kam Erika nicht in die Schule und auch am übernächsten nicht. Vielleicht hatte Dr. Werner einen Entschuldigungsbrief von ihren Eltern bekommen, aber er sprach nicht darüber.

Wilhelm wußte nicht mehr ein noch aus. Hundertmal am Tage war er nahe daran, sie zu besuchen, aber im nächsten Augenblick verwarf er diesen Gedanken wieder. Er wagte es nicht. Er hatte Angst, ihr durch seinen Besuch mehr zu schaden als zu nützen.

Er spürte deutlich, daß Erika etwas geschehen war – aber was? Er wäre froh gewesen, wenn er etwas hätte unternehmen können, um ihr zu helfen, aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Sie hatten sich fest versprochen, keiner Menschenseele ihr Geheimnis zu verraten, bis zum Abitur. Wenn er jetzt mit seinem Vater sprach oder mit Frau Bogdan, war es vielleicht ganz falsch. Er durfte nicht handeln, bevor er nicht sicher wußte, wie es um Erika stand. Er mußte sich unbedingt mit ihr in Verbindung setzen. Offiziell ging es nicht, also mußte er einen anderen Weg suchen.

Er wartete, bis die Nacht hereinbrach, dann schlich er sich aus dem Haus. Die fernen Berge waren noch mit Schnee bedeckt, der im ungewissen Mondlicht schimmerte; sie schienen sehr nahe. Föhnige Wolken trieben über den Himmel, hüllten den Mond in milchige Schleier, um ihn gleich darauf wieder strahlend aufscheinen zu lassen.

Wilhelm winkelte die Arme an und setzte sich in Trab.

Die gleichmäßige Bewegung des Dauerlaufs tat ihm gut, er lief durch enge Gassen dem Stadtrand zu.

Dann hörten die gepflasterten Straßen auf, Wilhelm hatte die breiten, schmutzigen Wege der neuen Siedlung erreicht. Er war am Ziel. Aufatmend blieb er stehen, hob den Kopf. Der Mond war jetzt vollkommen hinter Wolken verschwunden. Es war sehr dunkel, nur die Umrisse der gleichförmigen Siedlungshäuser waren zu erkennen, viele Fenster waren noch hell erleuchtet und warfen ihr Licht in die Gärten.

Wilhelm Holzboer kannte das Haus der Bogdans gut.

In der Wohnküche brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, aber die Fensterläden nicht geschlossen. Er konnte den hin und her eilenden Schatten von Frau Bogdan beobachten. Ein heißer Schrecken durchfuhr sein Herz. Was sollte er tun, wenn Erika mit ihren Eltern zusammen in der Küche saß? Dann gab es keine Möglichkeit, sich mit ihr zu verständigen.

Vorsichtig sah Wilhelm sich nach links und rechts um, die Straße war wie ausgestorben. Mit einem Satz sprang er über den hölzernen Zaun in Bogdans Garten.

Ein Hund in der Nachbarschaft schlug an, ein anderer stimmte ein.

Wilhelm stand wie erstarrt. Das Bellen wollte kein Ende nehmen. Stimmen wurden laut, die die Hunde zurechtwiesen, dann endlich war wieder alles ruhig.

Wilhelm war bei dem Sprung in weicher Gartenerde gelandet. Jetzt tastete er sich auf den Weg. Zweige knackten unter seinen Schritten, seine Hosen streiften niedrige Obststräucher. Plötzlich brach der Mond wieder durch die Wolken, und Wilhelm duckte sich. Die Gärten in der neuen Siedlung waren winterlich kahl, es gab keinen starken Baum, keinen kräftigen Strauch, hinter dem er sich hätte verbergen können. Eine endlose Minute lang blieb Wilhelm zusammengekauert hocken, dann war der Mond wieder verschwunden.

Halb geduckt, in langen Sätzen, schnellte er voran, bis er die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Er wußte, daß Erikas Zimmer gleich unter dem Dach war. Täuschte er sich oder sah er hinter ihrem Fenster wirklich ein kleines Licht?

Wilhelm bückte sich, fand einige kleine Steine, warf sie hoch. Der erste verfehlte sein Ziel, der zweite sprang klirrend gegen die Scheibe, der dritte, der vierte.

Atemlos wartete er. War Erika wirklich in ihrem Zimmer? War sie allein? Hatte sie ihn gehört?

Jetzt war es plötzlich ganz dunkel hinter dem kleinen Fenster geworden. Hatte er sich vorhin getäuscht, oder hatte Erika das Licht gelöscht? Lautlos wurde das Fenster geöffnet, Wilhelm ahnte mehr, daß Erika sich hinausbeugte, als daß er sie wirklich sah. Er sprang hoch, warf die Arme auseinander, damit sie auf ihn aufmerksam wurde. Einen Augenblick blieb das Fenster geöffnet, dann wurde es wieder geschlossen.

Hatte Erika ihn bemerkt? War es wirklich Erika gewesen?

Wilhelm kauerte sich wieder auf den Boden, wartete. Er starrte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Eine Minute verging, noch eine.

Wilhelm lauschte angespannt. In Bogdans Haus blieb alles ruhig. Er wartete. Seine Wadenmuskeln begannen sich zu verkrampfen. Er richtete sich auf, entspannte die Muskeln. Wie ein heller Schatten fiel Mondlicht über den Garten, sofort kauerte er sich wieder zusammen. Dann herrschte Dunkelheit wie zuvor.

Er glaubte, Erikas Fenster keine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben, aber dann hatte es sich doch geöffnet, ohne daß er es bemerkt hätte. Ein kleiner Gegenstand fiel in seiner Nähe auf den Boden. Das Fenster wurde wieder geschlossen.

Wilhelm konnte nicht beobachten, was Erika geworfen hatte – denn das sie es gewesen war, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr – noch wohin es gefallen war.

„Verdammt!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Wenn er doch seine Taschenlampe mitgenommen hätte.

Er tastete sich zu der Stelle, von wo der Laut des Aufpralls gekommen war, suchte vorsichtig mit den Fingerspitzen die Erde ab. Er fand nichts, suchte fieberhaft weiter.

Er schrak zusammen, als heller Lichtschein in den Garjten fiel. Bogdans hatten im Schlafzimmer Licht angeknipst. Wilhelm wandte sich zur Flucht – da sah er es. Mitten in dem hellen Viereck, das das Licht aus dem Schlafzimmer auf dem Gartenboden bildete, lag etwas Weißes. Das mußte es sein.

Einen Augenblick zögerte er, dann sprang er mit einem Satz vor, griff zu, sprang zurück und rannte davon.

Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein, ungesehen zu bleiben, er rannte, als wenn es um sein Leben ginge.

Wieder schlugen die Hunde an. Wilhelm kümmerte es nicht. Er hörte noch, wie ein Fenster aufgerissen wurde und Herr Bogdan in die Nacht hinaus rief: „Ist da jemand?“ – Aber da war er schon mit einem Satz über den Zaun.

Er gönnte sich keine Atempause, sondern lief weiter, bis er die Hauptstraße von Leuchtenberg, die breite Max-Josef-Straße, erreicht hatte.

Jetzt erst wagte er einen Blick auf das zu werfen, was er in Bogdans Garten aufgehoben hatte und was seine Hand noch immer umkrampft hielt. Es war eine Dose mit Hautkreme, an die mit einem doppelten Nähfaden ein zusammengeklapptes Blatt Papier gebunden war – Erikas Botschaft.

Unter einer Laterne löste er mit zitternden Händen den Zettel, steckte die Cremedose in die Hosentasche, warf den Faden fort.

Dann las er, was Erika in flüchtiger Schrift, offensichtlich in höchster Eile, auf das Papier – es war ein Blatt aus dem Mathematikheft – gekritzelt hatte: „Lieber Helm, sie lassen mich nicht mehr zur Schule. Ich bin in meinem Zimmer eingesperrt. Mutter hat alles entdeckt, sie hat es auch Vater gesagt. Ich weiß, daß Anni da war, aber sie lassen sie nicht zu mir. Ich bin furchtbar verzweifelt. Niemand spricht ein Wort mit mir. Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Ich glaube, Vater würde nicht so sein, aber Mutter –! Am liebsten würde ich sterben. Du kannst mir nicht helfen, Helm, niemand kann mir helfen. Bitte, sei mir nicht böse. Habt ihr die Mathematikarbeiten zurückbekommen? Mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, ich war schuld. Ich liebe Dich, Erika.“

Und darunter stand noch eine Nachschrift, kaum leserlich: „Ich könnte vielleicht aus dem Fenster klettern; aber wo soll ich hin?“ – –

Der nächste Tag war ein Freitag.

Wilhelm kehrte aus der Schule nicht nach Hause zurück, sondern ging geradewegs zum Versandhaus „Jedermann“. Die Pförtner, die die Aufgabe hatten, das Kommen und Gehen der Arbeiter und Angestellten zu kontrollieren – nach einem undurchsichtigen System wurden auch Körper- und Taschenuntersuchung derjenigen gemacht, die das Werk verließen – grüßten devot. Jeder, der dem jungen Wilhelm Holzboer in der Firma begegnete, grüßte in ihm den künftigen Herrn des Versandhauses. Wilhelm gab diese Grüße nur flüchtig zurück, er eilte vorwärts, mit zusammengebissenen Lippen, leicht vorgebeugtem Kopf, wie ein junger Stier, der entschlossen ist, seinen Feind auf die Hörner zu nehmen.

Er wollte sofort vom Gang aus in das Arbeitszimmer seines Vaters eindringen, aber die Tür war verschlossen. So blieb ihm nur der Weg über das Vorzimmer.

Irene Xantner, die Sekretärin seines Vaters, eine schlanke, fast hagere, junge Frau mit mausgrauen Augen und mausgrauem zerzaustem Haar, empfing ihn freundlich. „Der junge Herr Holzboer“, sagte sie, „das ist aber mal eine Überraschung!“

„Ich möchte meinen Vater sprechen.“

„Tut mir leid …“

„Bitte, melden Sie mich … es ist dringend“, unterbrach Wilhelm.

„Herr Holzboer ist gar nicht hier, er ist vor zehn Minuten zum Arzt gegangen.“

„Ist das wahr?“

„Aber, Wilhelm … warum sollte ich Sie denn belügen?“

Irene Xantner war schon seit mehr als zehn Jahren in der Firma tätig. Sie war schon in Berlin als Lehrmädchen bei Wilhelm Holzboer eingetreten, und sie kannte den jungen Wilhelm, als er noch ein kleiner Stöpsel war. Bis vor wenigen Jahren hatte sie ihn und seine Schwestern heimlich gegenüber dem Vater in Schutz genommen.

Plötzlich schämte sich Wilhelm. „Tut mir leid, Irene“, sagte er, „ich bin ziemlich nervös.“

„Das macht der Föhn, ich spür’ ihn auch!“

„Kommt Vater noch zurück?“

„Sicher. Er muß noch Post unterschreiben.“

„Dann werde ich warten.“

Wilhelm wollte an Irene vorbei in das Arbeitszimmer seines Vater.

Sie trat ihm in den Weg. „Lieber nicht, Wilhelm … Sie wissen, Ihr Vater hat das nicht gern …“

„Ich möchte wissen, was dabei ist.“

„Nichts … natürlich nichts. Aber ich habe Anweisung …“

„Von mir aus. Dann warte ich eben drüben!“ Wilhelm drehte sich auf dem Absatz um und öffnete die Tür zum Wartezimmer.

„Sie können sich ein paar Illustrierte anschauen, wenn Sie wollen“, sagte Irene Xantner noch, die ihm nachgekommen war, „ich werde Ihnen Bescheid geben, sobald Ihr Vater zurück ist.“

Wilhelm murmelte etwas, und Irene schloß die Tür.

Das goldene Kalb

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