Читать книгу Das Geheimnis des Medaillons - Marie Louise Fischer - Страница 4

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Das Unwetter dauerte schon drei Tage. Unaufhörlich schlugen die gelbgrauen Wellen die Deiche hinauf. Vom Festland war nichts zu sehen. Rings um die Insel herrschte eine eigenartige Dämmerung, die Himmel, Erde und Meer nicht unterscheiden ließ. Der Sturm jagte Wolkenfetzen, riß an den niedrigen strohgedeckten Dächern des Fischerdorfes.

Drinnen in der Wirtsstube des Deichkruges brannte ein Torffeuer. Der große holzgetäfelte Raum mit der tiefen Decke war warm erleuchtet. Wiebke Jans, die Wirtin, stand rund und prall hinter dem Schanktisch und bereitete dampfenden Teepunsch.

Die Burschen hockten mit mürrischen Gesichtern beieinander, wußten nichts Rechtes mit sich anzufangen. Ole Peters klapperte mit den Würfeln in der Tasche, versuchte seine Freunde zu einem Spiel zu ermuntern; aber niemand zeigte Lust.

»Tranfunzeln seid ihr, alle miteinander«, sagte er ärgerlich. »He, Frau Wirtin, noch eine Runde! Auf meine Rechnung – aber tu mehr Rum als Wasser in den Punsch, du weißt: Wasser ist nicht gesund für die Nieren.«

Das Gelächter seiner Freunde klang schwach.

Ole Peters drehte sich um und sah einen der beiden Männer an, die im Hintergrund des Raumes dicht beim Feuer saßen. »Wie ist es, Jakobus Schwenzen«, sagte er herausfordernd, »jetzt kannst du mal zeigen, ob du bist, was du vorgibst. Mach uns ein besseres Wetter, dann will ich auch an deine Kunst glauben.«

Seine Freunde lachten, verstummten aber sofort, als Jakobus Schwenzen seinen stechenden Blick auf sie richtete. »Du redest, wie du’s verstehst«, sagte er langsam, »aber ich versichere dir: Schon mancher hat Jakobus Schwenzen verspottet und ist vierundzwanzig Stunden später angekrochen gekommen, ihn um Hilfe zu bitten.«

Ole Peters wollte eine trotzige Antwort geben, aber Wiebke Jans, die die Gläser mit Punsch auf den Tisch setzte, ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Sei still«, sagte sie, »versündige dich nicht …«

Frank Ostwald, der junge Mann neben Jakobus Schwenzen, warf eine Geldmünze auf den Tisch. »Zahlen!« Auf seiner Stirn zeigte sich eine steile Falte.

Jakobus Schwenzen beugte sich vor. »Sie wollen doch nicht im Ernst – bei dem Wetter?«

»Mein Vater erwartet mich.«

Die Wirtin kam näher, strich die Münze ein. »Versucht’s nur«, sagte sie, »aber Ihr werdet es nicht schaffen. Beide Fähren sind seit drei Tagen eingestellt – bis zum Harmshof kommt Ihr nie.«

»Ich werde mir ein Boot leihen.«

Die Wirtin warf einen bewundernden Blick auf seine hohe Gestalt, die breiten, kräftigen Schultern. »Euch trau’ ich es zu«, sagte sie, »Euch und sonst niemand. Aber«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, »ob es Antje Nyhuus recht ist, wenn Ihr das Leben wegen nichts und wieder nichts aufs Spiel setzt?«

»Seid vernünftig, Herr«, sagte Jakobus Schwenzen, »trinkt lieber noch einen mit mir. Es ist besser, bei diesem Wetter unterm Dach zu bleiben. Ich weiß wohl, Ihr glaubt nicht an irgendwelchen Spuk. Aber ich sage Euch, in einer Nacht wie dieser, wo die Elemente sich gegen die Ordnung aufbäumen, in die sie gebannt sind, da gehen auch böse Geister um. Sie liegen auf der Lauer und wollen ihr Opfer haben. Hört nur, wie sie wimmern und ächzen, die verfluchten …«

Er hob die Hand, legte den Kopf mit halbgeschlossenen Augen in den Nacken.

Unwillkürlich lauschten alle – die jungen Burschen mit weit aufgerissenen Augen, die Wirtin schaudernd und Frank Ostwald mit ärgerlicher Ungeduld aber auch er konnte sich der Faszination, die von den Worten und Gebärden dieses seltsamen Mannes ausging, nicht ganz entziehen.

In diesem Augenblick fegte eine besonders starke Sturmbö heran. Das alte Haus, das Hunderte von Unwettern und Springfluten überstanden hatte, schien in seinen Grundfesten zu beben.

Dann flog die Tür zur Wirtsstube mit so gewaltigem Schwung auf, daß sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Ein Strom eiskalter Luft drang in den Raum. Die Burschen waren aufgesprungen. Jakobus Schwenzen machte eine beschwörende Geste zur Tür hin. In dieser Sekunde hatte jeder das Gefühl, daß etwas Ungeahntes geschehen müßte.

Frank Ostwald hatte sich als erster gefaßt. Er ging mit großen Schritten zur Tür, wollte sie schließen – da taumelte ein junges Mädchen herein, wankte zum Schanktisch, brach fast zusammen.

Die jungen Burschen wichen zurück. Wiebke Jans preßte erschrokken die Hand vor den Mund.

»Das hätte ich mir denken können!« murmelte Jakobus Schwenzen vernehmlich.

Frank Ostwald drückte die Tür ins Schloß. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen, bis sie eingeschnappt war.

»Undine Carstens«, sagte die Wirtin, »was suchst du hier? In dieser Nacht?«

»Mein Vater«, stammelte das junge Mädchen mit zitternden Lippen, »es geht ihm sehr schlecht – einen Arzt …«

Die Stille draußen löste sich, der Sturm setzte in gewohnter Stärke ein. Die Burschen begannen, als ob ein Bann gebrochen wäre, albern zu lachen.

»Du hast uns schön erschreckt, Jakobus Schwenzen«, rief Ole Peters, der am lautesten lachte. »Spuk und Geisterkram – und das alles wegen einer kleinen Dirn. Mit so einer lütten Hexe werden wir noch allemal fertig.«

»Der Doktor ist selber krank, weißt du das nicht?« sagte die Wirtin zu dem Mädchen. »Er wird deinem Pflegevater nicht helfen können.«

»Aber er muß!« rief Undine verzweifelt und warf ihr einen flammenden Blick zu. »Lassen Sie mich mit ihm telefonieren. Er muß kommen.«

Die Wirtin zuckte die Schultern, drehte die Scheibe des Telefons, das hinter dem Schanktisch stand, stellte eine Verbindung zu dem alten Doktor her, gab Undine den Hörer. »Hier hast du ihn, aber du wirst schon sehen …«

Undine nahm den Hörer, gab Wiebke Jans ein Geldstück, begann aufgeregt zu sprechen.

Die Wirtin ließ das Geld in die Schublade des Schanktisches verschwinden.

»Sehr unvorsichtig!« raunte Jakobus Schwenzen kopfschüttelnd. »Wiebke Jans hätte besser daran getan, sich da nicht einzumischen. Wer von einer Hexe was annimmt, gerät in ihre Gewalt.«

Frank Ostwald starrte den anderen an. »Sie wollen doch nicht behaupten, dieses hübsche junge Mädchen wäre eine Hexe?«

»Sie sind fremd hier, Herr, deshalb wissen Sie’s vielleicht nicht. Aber glauben Sie mir, es ist, wie ich es sage. Sie ist eine Hexe, eine wahre Teufelsbraut. Fragen Sie, wen Sie wollen. Fragen Sie das Mädchen selber. Sie leugnet es ja gar nicht.«

Frank Ostwald holte tief Atem. »Das ist wirklich der verdammteste Unsinn, den ich je gehört habe«, sagte er schroff.

Undine hatte aufgelegt. »Danke, Wiebke Jans«, sagte sie.

»Na, hat es geklappt?« fragte die Wirtin gutmütig.

»Er wird den Badearzt verständigen.«

»Wenn der man kommt.«

»Er muß«, sagte Undine und warf ihr langes schwarzes Haar mit einem Ruck in den Nacken. Sie war sehr schön, wie sie so dastand, rank und schlank und hochaufgerichtet, die roten, geschwungenen Lippen leicht geöffnet, die schwarzen, großen Augen voller Glut.

Die Burschen standen dicht beieinander und starrten sie an. Jeden gelüstete es, das Mädchen in die Arme zu nehmen.

Ole Peters, der Kühnste von ihnen, hatte ein Geldstück in die Musikbox geworfen. Der Automat dudelte los. Ein wilder Cha-Cha-Cha peitschte den Burschen Mut ein.

Undine wollte zur Tür.

John Manners, Ole Peters’ bester Freund, vertrat ihr den Weg. »Na, wie wär’s, schöne Hexe?« sagte er. »Ein Tänzchen gefällig?« Er faßte sie bei den Handgelenken.

Sie versuchte sich loszureißen, aber der Griff seiner Hände war eisern.

»Nicht doch, nicht doch«, spottete er, »wir können’s wie der Teufel, du wirst sehen!« Er drehte sie ein paarmal, schleuderte sie dann mit heftigem Schwung einem seiner Kumpane zu, die sich in weitem Kreis um ihn und das Mädchen gestellt hatten.

Undine wäre fast gefallen, aber einer riß sie hoch und schleuderte sie fort – direkt in die Arme von Ole Peters. Der preßte sie an sich, wollte seine Lippen auf ihren atemlos geöffneten Mund drükken, aber sie wandte blitzschnell den Kopf zur Seite, und er traf nur ihre Wange. Sie versuchte ihn von sich zu stoßen, doch er dachte nicht daran, nachzugeben, packte sie noch fester.

»Laß das, Ole Peters! Ausgerechnet, wo ihr Vater krank ist!« rief die Wirtin ärgerlich, aber nicht gerade mit großem Nachdruck.

Undines dunkle Augen schweiften hilfesuchend durch den Raum, blieben an Frank Ostwalds ruhigem Blick haften. Ohne sich über seine Beweggründe Rechenschaft zu geben, stand er auf, ging auf die Kämpfenden zu.

»He, laß sie los, du!« rief er energisch.

Unwillkürlich lockerte Ole Peters seinen Griff, wandte sich Ostwald zu. »Kümmere dich um deinen eigenen Mist …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.

Undine hatte die Sekunde der Unaufmerksamkeit genützt, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Jetzt schlug sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. »Du wirst noch an mich denken!« schrie sie außer sich vor Zorn. Dann bückte sie sich geschmeidig, hob ihr Schultertuch auf und hatte die Tür schon aufgerissen, ehe die anderen sich von ihrer Überraschung erholt hatten.

Ole Peters rieb sich verdutzt die schmerzende Wange, seine Freunde lachten schadenfroh. Er wurde rot vor Wut, holte aus und traf seinen Freund John Manners mit der Faust aufs Ohr.

Frank Ostwald riß ihn am Kragen zurück. »Genug. Du bist ja betrunken.«

Ole Peters fuhr herum, wollte auf Frank Ostwald losgehen, aber der war zehn Jahre älter als er, größer und stärker. Trotz seines Zorns begriff er, daß es nicht klug war, sich mit diesem Riesen anzulegen.

»Mach dich nicht unglücklich, Ole Peters«, sagte die Wirtin, »Herr Ostwald hat ganz recht. Du hast zuviel getrunken. Ich will keinen Ärger wegen euch Kroppzeug haben. Macht, daß ihr nach Hause kommt. Von mir kriegt ihr jedenfalls keinen Tropfen mehr.«

Die Burschen schoben, leicht schwankend, die Hände in den Hosentaschen, zur Tür.

Jakobus Schwenzen war nach vom gekommen. »Warte, Ole Peters«, rief er, »warte, bis ich dir das Mittel gebe! Ich würde an deiner Stelle nicht nach draußen gehen, ehe der Fluch der Hexe gebrochen ist.«

»Dummes Zeug«, knurrte Ole Peters, ohne sich umzusehen, und ging stur zur Tür.

»Also wirklich, Ole Peters«, sagte die Wirtin. »Wie kann man nur so sein. Sei doch froh, daß Herr Schwenzen gerade hier ist. Du hast selber gehört, wie sie dir geflucht hat. ›Du wirst an mich denken‹, hat sie gesagt, und das bedeutet etwas.«

Die anderen stießen Ole Peters an, wollten ihn bewegen, zurückzugehen. Aber er dachte nicht daran. Er war zu sehr in seiner männlichen Eitelkeit verletzt, fühlte sich lächerlich gemacht. Um keinen Preis der Welt hätte er zugegeben, daß er sich fürchtete. Er stieß die Tür auf, trat ins Freie.

Jakobus Schwenzen hob die Hände, ließ sie resigniert wieder sinken. »Ich denke, ich gehe ihm doch lieber nach, daß kein Unglück geschieht«, sagte er und tauschte einen Blick des Einverständnisses mit der Wirtin. »Nichts für ungut, mein Herr.« Er nahm Hut und Wettermantel und verließ die Wirtsstube.

Undine rannte, den Kopf geduckt, das Schultertuch fest über der Brust zusammengezogen, keuchend den Deich entlang. Ihr Ziel war das alte Leuchtfeuergebäude, in dem ihr Pflegevater Tede Carstens lebte. Zu normalen Zeiten konnte man das einsame Haus vom Fischerdorf aus sehen, aber jetzt war vor und hinter ihr nichts als das rasende Unwetter.

Nur hin und wieder gab eine treibende Wolkenschicht den Mond frei, gleich darauf wurde es wieder pechschwarz. Heulende Böen drohten das Mädchen vom Deich herunterzudrängen; sie schluchzte laut.

Der Mann auf dem Kraftrad hatte Undine schon fast erreicht, als sie den Lärm des Motors unterscheiden konnte. Sie glaubte, entfliehen zu können, und schritt rascher voran. Aber das Motorgeräusch kam näher und näher, und sie begriff, daß Flucht aussichtslos war.

Sie blieb stehen, sah den Scheinwerfer dicht hinter sich, wich unwillkürlich zur Seite und merkte zu spät, daß sie in eine Falle geraten war; sie stand zwischen dem Motorrad und dem Meer.

Sie zitterte am ganzen Körper. Gischt spritzte gegen ihre nackten Beine, durchnäßte ihren Rücken. Es war eiskalt. Ihre Finger klammerten sich krampfhaft um die Stablampe, die sie aus der Tasche ihres Rockes gezogen hatte.

»Sitz auf!« sagte der Mann auf dem Motorrad.

Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil der Scheinwerfer sie blendete, aber sie erkannte an der Stimme, daß es nicht Frank Ostwald war, der sie verteidigt, und auch nicht Ole Peters, der sie belästigt hatte.

Unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen, schüttelte sie stumm den Kopf.

»Na, komm schon!« sagte der Fremde mit erhobener Stimme, um das Gebrüll von Wogen und Sturm zu übertönen. »Brauchst keine Angst zu haben. Ich meine es gut mit dir. Sitz auf, und ich bring’ dich nach Hause.«

Die Stimme des Fremden hatte gutmütig geklungen, um Vertrauen werbend. Dennoch erkannte sie instinktiv, daß er ein Feind war.

Sie nahm allen Mut zusammen. »Nein«, rief sie, »nein!«

»Na, was ist denn? Du wirst mich doch nicht fürchten?« Er streckte die Hand nach ihr aus.

Sie zuckte zurück, wäre beinahe auf dem lehmigen Grund ausgeglitten und den Deich hinuntergestützt. »Laß mich in Ruhe!« schrie sie. »Fahr weiter – laß mich in Frieden!«

»Sieh einmal an!« Die Stimme des Fremden hatte plötzlich ihren gutmütigen Klang verloren, war höhnisch und böse. »Die Hexe fürchtet sich vor ihrem Meister.«

Jetzt wußte Undine, wer der Mann war, der sie verfolgte: Jakobus Schwenzen, den man den »Hexenbanner« nannte! Mit dieser Erkenntnis kam seltsamerweise ihr Selbstvertrauen zurück. Jetzt, da sie die Absicht des anderen zu ahnen begann, schien er ihr nicht mehr so gefährlich.

»Laß mich vorbei, Jakobus Schwenzen«, sagte sie und hatte ihre Stimme fast wieder in der Gewalt, »ich muß zu meinem Vater. Du weißt, er ist sehr krank. Willst du seinen Tod auf dein Gewissen laden?«

»Ich muß mit dir sprechen, Undine«, drängte Jakobus Schwenzen, »hier, wo uns niemand hört und sieht.«

»Ein andermal!«

»Nein. Hier und jetzt. Ich brauche dich, verstehst du? Ich brauche dich, weil du eine Hexe bist.«

»Nein!« schrie sie gequält. Der Sturm riß ihr das Wort aus dem Mund.

»Du weißt es selber, es hat gar keinen Zweck, wenn du dich verstellst. Aber mir bist du gerade recht, so wie du bist. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Hör mich an: Du und ich, wir beide sollten zusammenarbeiten. Das würde ein Geschäft! Natürlich laß ich dich mitverdienen. Es soll dein Schaden nicht sein. Sieh dich doch nur einmal im Spiegel an. Ein Mädchen wie du! Was könntest du aus dir machen mit ein bißchen Geld.«

Er hatte den Motor abgestellt, rutschte vom Sattel und stand jetzt dicht bei ihr. Der Scheinwerfer war erloschen, es war dunkel um sie.

»Schöne Kleider«, fuhr er fort, »Schuhe mit so hohen Absätzen, Pelze, Schmuck, seidene Strümpfe. Wenn du schon eine Hexe bist, warum profitierst du nicht von deinen Künsten? Warum läßt du dich von den Dummköpfen verspotten? Zeig ihnen, wer du bist. Wenn wir zusammenarbeiten, sind sie verloren. Wir werden alles haben – Reichtum, Macht. Du kannst dich rächen! Hast du dir das nicht oft gewünscht? Rache?«

Machten seine Worte Eindruck? Kamen sie Undines geheimen Gedanken entgegen? Undine sagte weder ja noch nein. »Mein Vater«, stieß sie hervor, »er wartet auf mich. Ich muß …«

»Laß ihn warten! Was kümmert er dich? Ein alter Mann. Du weißt genau, er ist nicht dein Vater, er ist nicht einmal mit dir verwandt …« Jakobus Schwenzen hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da brach er ab, denn er spürte, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Aber es war schon zu spät.

»Geh!« schrie sie und stieß ihm heftig mit der Faust vor die Brust. »Laß mich gehen – du!«

Sie wollte an ihm vorbei, aber er ließ sein Motorrad fallen, packte zu und hielt sie mit beiden Armen fest. Sie warf den Kopf zurück, um sich zu befreien. Aber er umklammerte sie um so fester, zwang sie in die Knie, warf sie zu Boden.

Sie schrie wild wie ein gepeinigtes Tier. Aber ihr Schrei ging unter im Lärm der Sturmnacht. Ihre Abwehr, die nicht einen Atemzug lang erlahmte, steigerte nur noch seine Zudringlichkeit. Er preßte ihre Schultern gegen den Boden.

Da ertastete ihre Hand etwas Metallisches. Es war die Stablampe, die ihr bei Beginn des Kampfes entfallen war. Sie hatte eine Waffe.

Sie entspannte sich, machte sich schlaff in seinen Armen. Und als er glaubte, ihren Widerstand gebrochen zu haben, da riß sie die Hand hoch und schlug die Stablampe mit aller Kraft auf seinen Schädel.

Es gab ein hartes, häßliches Geräusch. Er stöhnte dumpf und ließ von ihr ab.

Sie sprang auf die Füße und rannte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. »Vater«, rief sie schluchzend, »Vater …!«

Die Wirtin Wiebke Jans lauschte auf das Toben des Sturms. »Das Wetter wird heute nacht umschlagen«, sagte sie, »ich spüre es in meinen Knochen. Morgen früh ist es ganz klar.«

»Hoffen wir’s«, sagte Frank Ostwalď gelassen, »es würde auch langsam Zeit. Seit drei Tagen bin ich nun schon vom Harmshof fort. Mein Vater wird sich Gedanken machen.« Er war nun doch als einziger Gast geblieben und hatte sich ein Buch aus seinem Zimmer geholt.

Wiebke Jans kam näher, beugte sich über seine Schultern. »Daß Ihr das alles in Eurem Kopf behalten könnt«, sagte sie, als sie die physikalischen Formeln und Zeichnungen sah, »so ein Kram. Für was soll denn das gut sein?«

»Wenn ich es schon im Kopf hätte, brauchte ich es nicht mehr zu lesen«, sagte er mit einem Lächeln, »aber lernen muß ich es wohl, sonst lassen mich meine Professoren durch die Prüfung fallen. Das wäre schlecht.«

»Ich an Eurer Stelle«, sagte die Wirtin, »ich würde mir nicht den Kopf heiß machen lassen. Ich würde möglichst bald die Antje Nyhuus heiraten und …«

»Soweit ist es noch nicht«, unterbrach er sie, »und was für Achtung sollte ein Mädchen vor einem Mann haben, der sich auf ihren Hof setzt und es sich gutgehen läßt? Vielleicht mögen andere anders denken, aber unsere Art ist das nicht.«

»Man sagt …« Wiebke Jans beobachtete den jungen Mann wohlgefällig, »Ihr hättet oben in Ostpreußen eigenen Grund und Boden gehabt, und wenn ich Euch so ansehe, dann möchte ich es glauben.«

»Das ist vorbei!« sagte Frank Ostwald. »Mein Vater kommt wohl noch manchmal ins Sinnieren, wenn er daran denkt, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern – außer an die Pferde, ja, an die schönen wilden Pferde, aber an mehr nicht. Nein, es hat keinen Zweck, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Wir leben hier und jetzt, und damit müssen wir uns abfinden.«

Er beugte seinen Kopf wieder über das Lehrbuch, um der Wirtin zu zeigen, daß für ihn das Gespräch beendet sei.

Aber Wiebke Jans war nicht so leicht abzuschütteln. »Und der Harmshof?« bohrte sie weiter. »Glaubt Ihr nicht, daß Ihr den einmal übernehmen könnt? Die Bauersleute sind doch schon alt, und seit ihnen der einzige Sohn davongelaufen ist … Oder warten die Alten immer noch auf ihn?«

Frank Ostwald zuckte die Achseln. »Wer will wissen, was in so alten Leuten vor sich geht. Eines steht aber fest: Mein Vater und ich, der ich auf dem Harmshof aufgewachsen bin, wir sind für den Bauern und seine Frau immer noch Fremde. Obwohl mein Vater seit Kriegsende den Hof für sie verwaltet, obwohl sie nie unfreundlich zu uns sind. Als Fremde sind wir gekommen, und Fremde bleiben wir wohl auch – bis wir sterben. Da ist es gut«, er klopfte auf sein Buch, »wenn man sich sein eigenes Lebensziel steckt und sich nicht von allerlei Hoffnungen und Berechnungen verwirren läßt«.

Der Sturm heulte mit neuer Kraft um das Haus im Deichwinkel. Die Wirtin schauderte. »Grad’ so eine Nacht war es, als mein Uwe ertrank, mein Uwe und Peer Peters, Ole Peters Vater. Anno dreiundvierzig war es und eine Nacht wie heute. Damals«, sagte sie und rieb sich die Hände nahe beim Feuer, »damals ist auch Undine zu uns gekommen, die Hexe, wie sie genannt wird …«

Er hob den Kopf. »Ach«, sagte er, »Sie können sich noch daran erinnern?«

»Als wenn ich je vergessen könnte! So eine Nacht, und alle saßen sie hier beieinander im Deichkrug und tranken und ahnten nichts Böses. Bis die Tür aufgerissen wurde und Tede Carstens, der Leuchtturmwärter, hereinkam. Damals wurde das alte Leuchtfeuer noch benutzt. Tede Carstens sagte, ein Schiff hätte ein Rettungsboot ausgesetzt, und das käme geradewegs auf die Insel zu.« Wiebke Jans machte eine Kunstpause.

»In solch einer Nacht?« fragte er. »Ein Rettungsboot? Ja, hatte es denn Schiffbruch gegeben?«

Die Wirtin steckte sich eine Nadel fester in ihr üppiges blondes Haar. »Ja, wer das wüßte«, sagte sie, »darüber ist später noch viel gesprochen worden. Die einen haben gesagt, das Schiff wäre ein Schmugglerboot gewesen, und andere wieder haben es für einen Dänen gehalten, der sich verirrt hatte. Niemand hat es je erfahren. Denn die Menschen in dem Rettungsboot …«, sie senkte ihre Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern, »sind nicht an die Küste gekommen. Keiner von ihnen. Ertrunken sind sie alle. Und mein Uwe und Peer Peters dazu – weil die Männer nämlich die Boote losgemacht hatten, um denen da draußen zu helfen, und dabei ist’s passiert. Und jetzt wißt Ihr auch, warum die Undine eine Hexe ist. Sagt selber, wie könnte es sonst möglich sein, daß so ein winziges Ding heil an Land kommt, während alle, die bei ihr waren, und zwei dazu, die helfen wollten, ertrunken sind?«

»Ihr habt sie in jener Nacht gefunden?«

»Ja. Tede Carstens hat sie aus dem Wasser gefischt. Ein winziges Ding soll sie damals gewesen sein, und in einer Schwimmweste soll sie gesteckt haben. Aber es ist niemand dabeigewesen. Tede Carstens hat sie ganz allein an Land gezogen. Er und seine Frau haben sie mit zu sich auf den Leuchtturm genommen und keiner Menschenseele ein Wort davon gesagt. Versteht Ihr das?«

»Nein.«

»Ja, damals wart Ihr noch zu klein, das habt Ihr nicht richtig miterlebt. Aber Tede Carstens sagt, er hat Angst um das Kind gehabt, weil es so fremdartig aussah mit seinen schwarzen Funkelaugen und seinen schwarzen Locken. Anders als die Kinder hier – eben wie kein Christenmensch aussieht, und das war damals gefährlich. Gemeldet hat Tede Carstens es erst, als der Krieg aus war, und sie haben Nachforschungen angestellt nach den Eltern. Aber alles vergeblich. Und so ist sie denn im Leuchtturmhaus geblieben, und den seltsamen Namen hat sie auch behalten, den ihr Tede Carstens gegeben hat: Undine! Carstens hat eben selber gleich gemerkt, daß es anders mit dem Kind war, als es hätte sein sollen.«

Frank Ostwald klappte sein Buch zu und sah die Wirtin mit einem Lächeln in den Augenwinkeln an. »Nun, das war eine interessante Geschichte«, sagte er, »aber überzeugend war sie nicht. Jedenfalls was die Hexennatur der Undine betrifft. Denn daß die anderen ertrunken sind in jener Nacht, das kann man doch wohl nicht ihr anrechnen. Und was ihre schwarzen Locken und schwarzen Funkelaugen betrifft – nun, Ihr wißt selber, daß sie auf einem Schiff gewesen ist, das vielleicht von weit her kam.«

»Ihr wollt mich nicht verstehen«, sagte die Wirtin gekränkt.

»Doch. Aber wenn Ihr keine besseren Beweise habt.«

»Die habe ich wohl. Aber gerade Euch möchte ich sie nicht erzählen. Ihr lacht mich nachher nur aus.«

»Das kommt drauf an, Wiebke Jans.« Frank Ostwald nahm den letzten Schluck aus seinem Punschglas. »Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie. Wenn Sie uns beiden vorher noch einen heißen Punsch bereiten möchten, könnte es gewiß nicht schaden.«

Während die Wirtin sein Glas nahm und sich am Schanktisch zu schaffen machte, betrachtete er sie aufmerksam aus seinen kühlen grauen Augen.

»Mich wundert nur eines«, sagte er, »Sie sprechen schlecht über das Mädchen und waren vorhin doch ganz freundlich zu ihr.«

»Legt Ihr Euch mit Hexen an, wenn Ihr mögt«, antwortete die Wirtin achselzuckend, »und dann – mir hat sie ja nie was getan, außer daß sie mir meinen Uwe genommen hat.« Sie stellte die dampfenden Gläser auf den Tisch, setzte sich und sagte nachdenklich: »Wenn sie auch eine Hexe ist, so tut sie mir leid, ich weiß selber nicht warum. Aber immer, wenn ich sie sehe, packt mich ein großes Erbarmen.«

»Sie sind eine gute Frau, Wiebke Jans«, sagte Frank Ostwald ernsthaft.

»Nun, vielleicht kommt es daher, daß der Herrgott mir selber keine Kinder gelassen hat, deshalb kann ich verstehen, wie es für Tede Carstens Frau war, als er ihr das Hexenkind brachte. Rein außer sich war sie vor Freude und Glück und hat es lieb gehabt bis zu ihrem Tode und hat sich ihre Liebe von niemand ausreden lassen. Sie war eine gute Freundin von mir, Tina Carstens, und so hat sie mich gelehrt, ihr Hexenkind mit ihren eigenen Augen zu sehen. Mutteraugen, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Doch. Das verstehe ich gut. Und wie hat das Mädchen seiner Pflegemutter die Liebe vergolten?«

Die Wirtin schwieg einen Atemzug lang, dann sagte sie: »Alles, was recht ist, ein gutes Kind ist sie immer gewesen, zu ihren leiblichen Eltern hätte sie nicht anhänglicher sein können. Und trotzdem …« Sie beugte sich vor und senkte unwillkürlich die Stimme. »Sie war etwa zwölf Jahre alt – wann sie wirklich geboren ist, hat ja nie ein Mensch erfahren –, als Tina Carstens ins Krankenhaus aufs Festland kam. Krebs. Es gab keine Hoffnung. Dem Kind hatte natürlich niemand etwas davon gesagt, sondern man hat sie belogen, wie man es Kindern gegenüber tut: ›Mutter kommt bald wieder‹ und was dergleichen Reden mehr sind. Hier bei mir im Deichkrug war es, als sie plötzlich die Totenglocke zu hören glaubte. Ganz weiß wurde ihr kleines Gesicht und die Augen riesengroß, direkt zum Fürchten. ›Mutter ist tot‹, sagte sie, sonst nichts, und dann war sie auch schon umgefallen. Ich habe auf die Uhr gesehen. Dreizehn Minuten nach elf war es, auf die Sekunde. Und im gleichen Augenblick ist Tina Carstens tatsächlich gestorben, weit weg von hier. Auf dem Festland.« Die Wirtin sah fast triumphierend aus, als sie sagte: »Was sagt Ihr nun?«

»Gedankenübertragung. Läßt sich ganz natürlich erklären.«

Die Wirtin stemmte die Ellbogen auf den Tisch und sah Frank Ostwald herausfordernd an. »Jetzt hört mich einmal an!« sagte sie zornig. »Ihr mögt ein kluger Herr sein, habt in der Stadt studiert, wißt sicher mehr als wir armen Leute hier, aber von Hexen versteht Ihr gar nichts. Ihr macht es Euch sehr leicht, sagt einfach: ›Das gibt es nicht‹. Und wenn man Euch etwas unter die Nase reibt, das Ihr selber nicht erklären könnt, dann sagt Ihr: ›Zufall‹. Aber damit schafft Ihr nichts aus der Welt. Ja, lacht nur, lacht mich nur aus. Aber wenn Ihr in Ole Peters Haut stecktet, dann würde Euch das Lachen schon vergehen!«

Die Burschen waren, nachdem sie das Wirtshaus verlassen hatten, gemächlich ins Dorf zurückgefahren. Als sie die große Esche fast erreicht hatten, riß Ole Peters seine rechte Hand hoch und gab mit der Leuchtgaspistole – seiner neuesten Errungenschaft – ein Signal in die Luft, worauf seine Freunde ihre Motorräder abbremsten und langsam neben ihm zum Stillstand brachten.

»Was machen wir jetzt?« fragte er unternehmungslustig, als sie alle beisammen waren; er wollte die Schlappe, die er im Deichkrug erlitten hatte, so schnell wie möglich wettmachen.

Aber er fand bei den anderen kein Echo. »Ich bin müde – ich geh’ schlafen«, sagte einer nach dem anderen. Manche hielten sogar die Hand vor den Mund und gähnten herzhaft.

Ole Peters wurde weiß vor Zorn. »Ihr Feiglinge«, sagte er wütend, »habt ihr es mit der Angst bekommen?«

»Wir sind bloß müde«, sagten sie, und: »Heute ist doch nichts los!« und: »Morgen geht’s früh ’raus!« Sie sahen zur Seite, als sie ihm gute Nacht wünschten, wagten aber doch nicht, sich ohne seine Zustimmung davonzumachen, denn er galt als ihr Anführer.

»Sei vernünftig, Ole«, sagte John Manners, »wir werden bis auf die Haut naß, wenn wir länger hier herumstehen. Wenn du unbedingt noch was unternehmen willst, dann komm zu mir. Wir spielen eine Partie Karten.«

Ole Peters lachte verächtlich. »Wenn auch du dich fürchtest, dann mache ich es eben allein.« Er riß sein Fahrzeug herum und ließ den Motor anspringen.

»Was, Ole, was willst du tun?« John Manners versuchte ihm mit seinem Vorderrad den Weg abzuschneiden.

»Ich will’s ihr heimzahlen, der Hexe. Die wird’s bereuen, sich mit mir angelegt zu haben.« Er schwang sich in den Sattel. »Mir nach, wer sich ’was zutraut!« brüllte er und knatterte in Richtung auf den Deich davon.

Die anderen folgten ihm, zögernd, unentschlossen, aber doch voller Neugier, keiner bereit, sich vor dem anderen eine Blöße zu geben. Sie erschraken nicht, als Ole Peters den Deich an seiner steilsten Stelle anging, aber unwillkürlich verlangsamten sie ihr Tempo, um erst abzuwarten, wie er es schaffte.

Der Deich fiel fast drei Meter tief zum Hinterland ab, so daß sich eine steile, mit Grasnarben bedeckte Böschung bildete. Es war nicht das erste Mal, daß einem der Burschen das Kunststück gelang, die Steigung auf kürzestem Weg zu überwinden. Nie zuvor hatte jemand es jedoch bei so schlimmem Wetter versucht. Gras und Lehm hatten sich zu einer nassen, glitschigen Masse verknetet, auf der die Reifen keinen Halt fanden.

Zweimal ging Ole Peters den Deich an, und zweimal rutschte er wieder zurück.

»Laß den Quatsch, Ole«, rief John Manners, »du fährst dir noch deine Maschine zuschanden.«

Verbissen versuchte Ole Peters es zum drittenmal, und diesmal schien es zu gelingen. Die Reifen griffen in den Boden. Mit ungeheurem Lärm gewann das Motorrad an Höhe, hatte mehr als zwei Drittel der Steigung schon überwunden – da raste eine gewaltige Bö vom Meer her über den Deich.

Ole Peters verspürte noch den kräftigen Stoß gegen die Brust, wollte ihn abfangen, ausweichen – zu spät. Er verlor die Gewalt über sein Fahrzeug, flog hinterrücks durch die Luft in einen schwarzen, glänzenden Abgrund. Den Aufprall fühlte er nicht mehr.

John Manners stürzte als erster vor. »Ole!« schrie er. »Ole!«

Er kniete sich neben den Freund in den Lehm, packte ihn bei den Schultern, versuchte ihn aufzurichten – aber Ole Peters’ Kopf knickte in den Nacken, seine Augen standen weit offen, Blut rann ihm in einem dünnen Rinnsal aus dem Mund.

Ole Peters war tot.

Sie hatten nicht weit zu gehen, Ole Peters’ Mutter lebte im dritten Haus hinter der großen Esche. John Manners, der an der Spitze des traurigen Zuges ging, hörte die anderen hinter sich tuscheln. –

»Das war die Hexe«, sagte einer, »sie hat ihn verflucht.«

»Ich hab’s gleich gewußt – sie hat das Unglück auf ihn herabgeschworen.«

»Hätten wir uns bloß nicht mit ihr eingelassen!«

John Manners blieb stehen und wandte den Kopf. »Wir werden mit ihr abrechnen, das schwöre ich euch. Wir werden es ihr heimzahlen, der verdammten Hexe.«

Der Arzt kam gegen Morgen, als das Unwetter nachgelassen hatte. Er war jung, elegant und sah immer noch sehr braun aus, denn er hatte die vergangene Saison nur zum kleinsten Teil in seiner Sprechstunde und an Krankenbetten verbringen müssen; meist hatte er sich um das Badeleben der Insel als charmanter Unterhalter verdient gemacht.

Er stellte sich vor: »Doktor Hagedorn – Klaus Hagedorn«, sah das verstörte Mädchen lächelnd an und fragte: »Na, wo fehlt’s denn? Sie sehen wirklich elend aus. Warum sind Sie nicht im Bett?«

»Nicht ich bin krank«, sagte Undine mit zitternden Lippen, »mein Vater …«

»Ach ja, das sagte mir Kollege Schirmer am Telefon. Aber Sie sind doch auch nicht ganz in Ordnung, Mädchen.«

Sie wich mit angstvoll aufgerissenen Augen zurück, als er auf sie zutrat. »Nicht, bitte nicht. Es geht mir ganz gut.«

»Hier, bitte …« Undine öffnete die Tür zur Schlafstube, zog sich aber einige Schritte zurück, als er hineinging; erst als er sich an das Bett des alten Mannes setzte und dessen Puls fühlte, kam sie zögernd näher.

»Wie alt?« fragte Dr. Hagedorn.

»Achtundsiebzig«, antwortete Undine.

Dr. Hagedorn betrachtete das verzerrte Gesicht des Kranken, dem das dichte schlohweiße Haar eine rührende Würde verlieh, bewegte erst den linken, dann den rechten Arm, zog die Augenlider hoch. Er nahm sein Stethoskop aus der Bereitschaftstasche, öffnete das Hemd des Kranken, horchte das Herz ab.

»Achtundsiebzig Jahre«, wiederholte er, »ein schönes Alter. Aber ich hoffe, ein paar Jährchen mehr darf er sich noch gönnen.« Er lächelte Undine ermutigend zu. »Tadelloses Herz«, sagte er, »ich denke, wir kriegen ihn über den Berg.«

Sie entspannte sich. »Gott sei Dank!« sagte sie inbrünstig.

Ein seltsames Geräusch, wie ein vielstimmiges Gemurmel, war durch die dicken Mauern des alten Hauses zu hören.

»Was ist das?«

Sie rang die Hände. »Ich weiß nicht.«

Er lauschte noch einen Augenblick. Das Geräusch wurde schwächer, verstummte ganz, so daß er glaubte, sich geirrt zu haben.

»Sie sind ein interessantes Mädchen«, sagte er, »mit Ihnen möchte ich mich gerne länger unterhalten.« Er nahm eine Ampulle aus einer Schachtel in seiner Bereitschaftstasche, sägte die gläserne Spitze ab, füllte den durchsichtigen Inhalt in eine Spritze. »Leben Sie immer hier?«

»Ja«, sagte sie.

»Schrecklich einsam, wie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Was machen Sie da?«

»Ein krampflösendes Mittel.« Er drückte den entblößten Arm des alten Mannes, bis die Vene dick und bläulich hervortrat. »Wird intravenös gespritzt. Haben Sie einen Eisschrank?«

»Nein. Warum?«

»Ein Eisbeutel auf den Kopf wäre das Richtige, aber, na ja, was nicht ist, kann nicht sein. Machen Sie ihm statt dessen bitte wenigstens kalte Umschläge.«

Sie lief fort und kam sehr bald mit einer Blechschüssel kaltem Wasser und einem Handtuch über dem Arm wieder, reichte beides dem Arzt.

»Danke«, sagte er, »und nun passen Sie auf.« Er tunkte das Tuch in das kalte Wasser, wrang es kräftig über der Schüssel aus, strich es glatt und legte es dem alten Mann über die Stirn. »So wird’s gemacht«, sagte er, »und so oft wie möglich wechseln. Alle zehn Minuten, später seltener.«

»Was – fehlt ihm?« fragte Undine.

»Eine Apoplexie«, sagte der Arzt, »Schlaganfall kann man es auch nennen oder Gehirnschlag, ich weiß nicht, was Ihnen geläufiger ist. Kein Wunder in diesem Alter. Wenn er zu sich kommt, wird wahrscheinlich seine eine Seite gelähmt sein. Die linke, soviel ich feststellen konnte; auch sein Gesicht wird verzerrt bleiben, die eine Hälfte wenigstens. Sie dürfen nicht darüber erschrecken. Das sind Begleiterscheinungen einer solchen arteriosklerotischen Störung, die sich später meist völlig wieder geben …« Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden.

Mit dumpfem Poltern schlug etwas Schweres gegen die Haustür.

Dr. Hagedorn sah das Mädchen verblüfft an. Sie preßte die Faust vor den Mund, unterdrückte ein Wimmern.

Ehe Dr. Hagedorn etwas sagen konnte, polterte ein wahrer Hagel von Schlägen gegen die Tür. Gleichzeitig rauschte das Gemurmel vieler Stimmen auf, schwoll an, wurde drohend, wuchs zu einem unverständlichen Inferno voll dumpfer Bösartigkeit.

Dr. Hagedorn vergewisserte sich mit einem Blick, daß die Fenster durch schwere Läden gesichert waren. »Bleiben Sie ruhig«, sagte er, »niemand kann Ihnen etwas tun. Haben Sie eine Taschenlampe?«

Sie zögerte, dann lief sie zu einem Schrank öffnete die Schublade, holte die Stablampe heraus, mit der sie Jakobus Schwenzen auf den Kopf getroffen hatte. Sie berührte sie nur mit Widerwillen, war froh, als er sie ihr aus der Hand nahm.

Er prüfte den Lichtstrahl, sagte befriedigt: »Funktioniert«, sah sie nachdenklich an, fragte mit einer Kopfbewegung nach draußen: »Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«

Undine zitterte so, daß sie kaum sprechen konnte. »Sie – nennen mich – Hexe«, brachte sie mühsam hervor.

»Nicht zu fassen! Na, denen werde ich heimleuchten. Bleiben Sie hier oben, was auch geschieht. Kommen Sie mir nicht nach und öffnen Sie auf keinen Fall ein Fenster.« Er wandte sich zur Treppe.

Ganz plötzlich kam Bewegung in sie, sie lief ihm nach, packte ihn am Ärmel. »Bitte«, sagte sie, »bitte gehen Sie nicht.«

Er nahm ihre Hand, hielt sie einen Atemzug lang beruhigend fest. »Sie brauchen nichts zu fürchten, Undine, mir tun sie nichts. Ich bin Arzt. Niemand würde es wagen, und ich werde nicht zulassen, daß jemand Ihnen auch nur ein Haar krümmt. Verstanden?«

Sie sagte nichts, sah ihn nur mit ihren schwarzen, weit aufgerissenen Augen angstvoll an.

Er wandte sich ab, ging mit raschen Schritten die Treppe hinunter. Als er die Haustür öffnete, schrie eine Frau mit gellender Stimme: »Mörderin!«

Undine klammerte sich an das Geländer, um nicht umzusinken.

Dann zog der Arzt die Tür hinter sich ins Schloß, und die drohenden Stimmen draußen verloren ihre Kraft.

›Lieber Gott‹, dachte Undine, ›wenn ich nur beten dürfte!‹

Dr. Klaus Hagedorn hatte sich durchaus nicht so sicher gefühlt, wie er vorgegeben hatte.

Aber als der Strahl seiner Taschenlampe die Gesichter der gegen das Haus Drängenden traf, gewann er sein Selbstvertrauen zurück. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er begriffen, daß es sich im Grunde nur um ein armseliges Häuflein Menschen handelte, vor allem alte Frauen und junge Burschen, die einzeln völlig harmlos gewesen wären, sich aber zusammen in einem Zustand gefährlicher Hysterie befanden.

»Was wollt ihr?« fragte er mit erhobener Stimme, bemüht, ihr einen Klang von eherner Festigkeit zu geben. »Ich bin Doktor Hagedorn. Sprecht, wenn ihr etwas zu sagen habt. Aber einzeln, bitte, und in aller Ruhe.«

John Mannerstrat vor. Er stemmte die Fäuste in die Hosentaschen, warf herausfordernd den Kopf zurück und sah den Arzt zornig an. »Sie ist eine Hexe«, sagte er, »sie hat meinen Freund auf dem Gewissen, Ole Peters, meinen besten Freund. Sie hat ihn durch ihren Hexenfluch umgebracht.«

Wieder klang im Hintergrund das böse Wort »Mörderin« auf.

»Wenn dem so ist«, sagte Dr. Hagedorn, »warum geht ihr nicht zur Polizei und zeigt sie an?«

Eine kräftige Frau, fest in ein schwarzes Schultertuch gehüllt, kam nach vorn, und alle wichen auseinander, machten ihr ehrfürchtig Platz. »Mein Sohn ist tot, Herr Doktor«, sagte sie, »mein Ole ist gestorben in dieser Nacht. Kommen Sie mit uns und sehen Sie ihn an, wenn Sie mir nicht glauben. Sie hat meinen Ole auf dem Gewissen.« Der Schmerz in ihrer Stimme war echt. »Erst meinen Mann, jetzt meinen Sohn. Die Hexe muß fort!«

»Wie hat sie ihn denn getötet?« fragte Dr. Hagedorn. »Mit einem Revolver oder mit einem Messer? Ich nehme an, Sie haben einen Beweis für das, was Sie behaupten.«

»Den habe ich, Herr Doktor«, sagte Ole Peters’ Mutter, »auch wenn Sie noch so spotten mögen. John Manners hat es gehört und Wiebke Jans und alle seine Freunde: Sie hat ihn verflucht, meinen Ole. Damit hat sie ihn in den Tod gejagt.«

Dr. Hagedorn senkte den Strahl der Stablampe zu Boden und löschte sie aus.

»Seit sie hier ist, hat sie nur Unheil angerichtet«, sagte ein alter Mann, nahm seine Pfeife aus dem Mund und spuckte in weitem Bogen aus, »wer weiß, wie viele sie schon umgebracht hat. Unsere Kutter hat sie verhext und die Kuh von Peer Nyhuus, daß sie sich verkalbt hat. Sie hat den bösen Blick.«

»Sie soll was erleben, die Hexe!« John Manners hob die geballte Faust, trat drohend auf das Haus zu.

Dr. Hagedorn wich einen Schritt zurück, stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Haustür. »Nehmt Vernunft an, Leute!« rief er. »Was wollt ihr denn tun? Euch an einem schwachen Mädchen vergreifen?«

»Geben Sie uns die Hexe ’raus!« forderte John Manners.

»Nein, das werde ich nicht«, erklärte Dr. Hagedorn mit fester Stimme. »Wenn ihr dem Mädchen ein Leid antun wollt, dann müßt ihr erst mich zusammenschlagen. Versucht es nur, wenn ihr Lust habt. Aber ich sage euch, ihr werdet dafür bestraft werden. Einer wie der andere. Ich habe mir eure Gesichter wohl gemerkt. Und ich werde dafür sorgen, daß ihr ins Zuchthaus kommt, wenn dem Mädchen nur ein Haar gekrümmt wird.«

Dr. Hagedorns nachdrückliche Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Leute begannen unsicher zu werden, sahen sich an. John Manners steckte die Faust in die Tasche, die Witwe Peters begann leise zu weinen.

Der junge Arzt stieß nach. »Ihr seid doch vernünftige, anständige Menschen«, sagte er, »warum wollt ihr eure Hände mit einer Gewalttat besudeln? Ihr wollt das Mädchen nicht länger in eurer Gemeinde dulden. Das verstehe ich. Ich verspreche euch, dafür zu sorgen, daß sie fortgeht.«

»Jetzt gleich«, sagte John Manners, »wir werden warten.«

»Nein, das geht nicht. Glaubt nicht, ich wollte euch betrügen. Aber ihr Vater ist sehr krank. Schlaganfall. Er kann nicht allein bleiben. Er muß im Krankenauto zum Festland. Das kann frühestens heute nachmittag geschehen. Dann werde ich sie beide holen, Undine Carstens und ihren Vater. Versprecht mir, daß ihr sie bis dahin in Ruhe laßt!«

Als Dr. Hagedorn gegangen war, hatte Undine sich beeilt, die Haustür zu verriegeln. Dann blieb sie tief atmend stehen, mit dem Rücken zur Tür.

Sie war noch immer voller Angst.

Von Dr. Hagedorns Gespräch mit den aufgebrachten Dorfbewohnern hatte sie nur das einzige Wort verstanden: »Mörderin!« Sie hatte es auf Jakobus Schwenzen bezogen, dem sie in Notwehr mit ihrer Stablampe über den Schädel geschlagen hatte. Sie war überzeugt, ihn getötet zu haben. An Ole Peters dachte sie gar nicht mehr. Dr. Hagedorns Versprechen, sie in Sicherheit zu bringen, hatte sie völlig mißverstanden. Sie war überzeugt, daß er sie nur holen wollte, um sie der Polizei auszuliefern.

Undine Carstens war in ihrem ganzen Leben nicht von der Insel fortgekommen. Aber sie hatte viel gelesen – Bücher, die der Vater entweder selber besaß oder die er vom Pfarrer und vom Lehrer ausgeliehen hatte. Sie war nicht unintelligent, aber da sie nie Gelegenheit gehabt hatte, Erfahrungen zu sammeln, entsprach ihr Weltbild keineswegs der Wirklichkeit. In ihrer Vorstellung war ein Gefängnis ein feuchter, düsterer Kerker, und sie war fest überzeugt, daß sie für ihr vermeintliches Verbrechen mit dem Tode würde büßen müssen.

Sie zitterte vor Angst. Ihr Instinkt trieb sie zur Flucht, ganz gleich wohin – nur fort. Fort von den Menschen, die sie haßten, die sie einsperren und töten lassen wollten. Der Gedanke an ihren kranken Pflegevater hielt sie zurück. Sie konnte nicht fliehen. Wenn sie ihn allein ließ, mußte er vielleicht sterben. Tief entmutigt, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, stieg sie die Treppe hinauf.

Das Geheimnis des Medaillons

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