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Jakobus Schwenzen lebte.

Der Schlag auf den Kopf hatte ihn nur betäubt. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er sich aufgerafft, sein Motorrad neben sich hergeschoben und war in den Deichkrug zurückgekehrt. Aber er hatte die Gaststube nicht betreten, sondern war über die Hintertreppe in sein Zimmer geschlichen.

Seine Heimlichtuerei hatte einen guten Grund: Er würde es schwer haben, sein Ansehen wiederherzustellen, wenn bekannt wurde, daß es Undine Carstens gelungen war, ihn so wirkungsvoll abzuwehren.

Erst am nächsten Morgen, als er zum Frühstück in die Gaststube herunterkam, erfuhr er, was in der Nacht geschehen war. Von der Wirtin ließ er sich den Unfall des jungen Ole Peters so genau wie möglich schildern, denn er wußte, daß jede Einzelheit später einmal wichtig für ihn werden konnte. Die beiden waren bei diesem Gespräch völlig unter sich. Frank Ostwald war früh aufgebrochen, um mit der ersten Fähre zum Festland überzusetzen. So konnte Schwenzen die Wirtin mit einigen Proben seiner Hexenkünste für sich einnehmen.

Undine Carstens verbrachte den Tag mit der Pflege ihres Vaters. Sie kochte ihm eine kräftige Suppe, wusch ihn, bettete ihn um. Dann begann sie, Stube und Kammer aufzuräumen.

Der alte Mann schlief bald wieder ein. Aber sie fand keine Ruhe. Sorge um ihn und Angst vor dem Kommenden trieben sie umher. Sie packte einen Koffer mit allem Nötigen für den Kranken, richtete sich selber ein kleines Bündel mit Wäsche.

Dann saß sie lange, die Hände im Schoß gefaltet, in dem großen Lehnstuhl und starrte vor sich hin. Sie hätte gern gebetet, aber sie wagte es nicht. Wenn sie wirklich eine Hexe war, wie die anderen sagten, dann hatte Gott sie verworfen. Dann wäre jedes Gebet einer Gotteslästerung gleichgekommen.

Wie schon so oft in ihrem jungen Leben zergrübelte sie ihren Kopf. Warum war sie anders als die anderen? Warum haßten die Leute sie so? Warum schimpften sie sie eine Hexe? Warum hatte sie jetzt noch zur Mörderin werden müssen?

Aber auch heute fand sie keine Antwort, und ohne es selber zu merken, dämmerte sie schließlich sachte ein. Sie war todmüde, denn sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.

Als sie erwachte, war es bereits dämmrig geworden. Sie fröstelte, mußte sich erst besinnen, was geschehen war, warum sie nicht in ihrem Bett schlief.

Dann hörte sie den Schlag gegen die Haustür und begriff, daß es dasselbe Geräusch gewesen war, das sie geweckt hatte.

Schlaftrunken erhob sie sich, ging, taumelnd vor Müdigkeit, zur Treppe, stieg hinunter. Der dritte Schlag ertönte, noch bevor sie die Tür geöffnet hatte.

Sie schob den Riegel zurück, stieß die Tür auf – niemand.

Verdutzt rieb sie sich die Augen, trat einen Schritt vor, spähte nach allen Seiten. Einsam lagen die Dünen.

Sie drehte sich um und wollte wieder ins Haus zurück – da erblickte sie ihn: Jakobus Schwenzen.

Sein hageres Gesicht war geisterhaft blaß im Dämmerlicht.

Sie schrie auf, überzeugt, einen Toten vor sich zu sehen – den Mann, den sie ermordet hatte.

Da bewegte sich Jakobus Schwenzen auf sie zu, die Hände wie Klauen erhoben – noch einmal schrie Undine gellend, voll Entsetzen, dann warf sie ihren Körper herum, jagte in die Dünen hinaus, außer sich vor Verzweiflung, halb besinnungslos vor Angst.

Eine halbe Stunde nach Undines kopflosem Davonrennen hielt der Krankenwagen vor dem alten Leuchtturm.

Dr. Klaus Hagedorn saß auf dem Vordersitz neben der Krankenschwester. Noch bevor er ausstieg, merkte er, daß die Haustür offenstand, im Leuchtturm brannte kein Licht. Er ahnte nichts Gutes.

»Bitte, warten Sie noch«, sagte er zu der Schwester, die ihm folgen wollte, und ging allein die steile hölzerne Treppe hinauf.

Er fand den alten Mann schlafend. Von Undine keine Spur.

Dr. Hagedorn rief den Fahrer und die Schwester. Gemeinsam suchten sie das ganze Haus ab; vergeblich.

»Sie kann nicht weit sein«, sagte die Schwester, der Dr. Hagedorn auf der Fahrt seine Begegnung mit dem seltsamen Mädchen Undine geschildert hatte, »der Herd ist noch warm.« Sie öffnete die Klappe. »Ja, tatsächlich: der Torf brennt noch, als wenn vor nicht allzu langer Zeit neu aufgelegt worden wäre. Das ist sonderbar. Soll ich den Patienten fragen?«

»Lassen Sie nur, das mache ich selber.« Dr. Hagedorn ging zu Tede Carstens in die Kammer, weckte ihn. Es dauerte eine Weile, bis er ihm klargemacht hatte, wer er war und was er wollte. »Wo ist Undine?« fragte er dann. »Wir suchen sie, wir wollen sie ebenfalls mitnehmen.«

Er spürte, daß der alte Mann seine Frage verstand, bekam aber keine Antwort. Da reichte er ihm Undines Rechnungsheft, das er aufgeschlagen auf dem Tisch gefunden hatte, und den Bleistiftstummel. »Bitte, schreiben Sie auf, was Sie wissen!« drängte er.

Es dauerte lange, fast unerträglich lange für Dr. Hagedorns Ungeduld, bis Tede Carstens seine Antwort auf Papier gebracht hatte. Als er den Bleistift sinken ließ, riß er ihm fast das Heft aus der Hand. »Ich habe geschlafen«, las er, »ich weiß es nicht.«

»Aber hören Sie mal, Sie müssen doch wissen …«, wunderte sich die Schwester.

»Lassen Sie. Es ist zwecklos«, wehrte Dr. Hagedorn ab. »Entweder er weiß es nicht, oder er will es uns nicht sagen. Wir dürfen ihn nicht quälen.«

»Na, dann können wir wohl?« fragte der Fahrer, der neben der Tragbahre stand und unberührt von dem, was die anderen bewegte, eine Zigarette rauchte.

»Ja. Ich helfe Ihnen«, sagte der Arzt.

Sie stellten die Trage neben das Bett, hoben den Kranken behutsam darauf.

Die Schwester hatte den Koffer gefunden, den Undine für ihren Pflegervater gepackt hatte. »Ich denke, er gehört ihm«, sagte sie, öffnete den Deckel und prüfte den Inhalt. »Tatsächlich. Nehmen wir ihn mit.« Den Koffer in der Hand, folgte sie langsam den beiden Männern, denen es nur mit Mühe gelang, die Trage waagrecht die steile Treppe zur Haustür hinunterzubekommen.

Dann lief sie voraus, öffnete die Türen des Transportwagens.

Der Fahrer kletterte hinauf, und gemeinsam schoben sie die Trage hinein. Anschließend setzte sich der Fahrer ans Lenkrad. Die Schwester blieb hinten bei dem Kranken.

Nur Dr. Hagedorn stand noch unschlüssig da, so, als wollte er versuchen, mit dem bloßen Auge die Dunkelheit zu durchdringen.

Dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund und rief: »Undine! Undine!« Nach einer kleinen Pause, in der ihm nicht einmal ein Echo Antwort gab, noch einmal: »Undine!«

Undine hörte das Rufen.

Sie hatte sich, seit sie in panischer Angst vor dem vermeintlichen Geist des Jakobus Schwenzen geflohen war, in den Dünen verborgen gehalten. Nun beobachtete sie von ihrem Versteck aus die Vorgänge beim alten Leuchtturm.

Es war nicht viel, was sie sah – die Scheinwerfer des Krankenwagens und das blaue Warnlicht auf seinem Dach, die Lichter im Leuchtturm, die angingen und nach einer guten Weile wieder erloschen, und den Schein einer Taschenlampe, der über den Boden huschte.

Sie war überzeugt, daß Dr. Hagedorn die Polizei zum alten Leuchtturm geführt hatte, die sie, die Mörderin, festnehmen wollte. Sein Rufen hatte in ihren Ohren keinen besorgten, sondern vielmehr einen drohenden Klang. Zitternd vor Angst preßte sie sich noch enger auf den Boden.

Endlich schlugen die Autotüren zu, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Jetzt erst, da sie ihn versorgt wußte, konnte sie daran denken, was mit ihr selber geschehen sollte. Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Für sie gab es nur einen Weg: Flucht.

Sie ging ins Haus, nahm ihr Bündel, das sie in einer alten Truhe verwahrt hatte, öffnete es noch einmal und legte ihr fest zusammengerolltes Sonntagskleid dazu, zog ihre Strickjacke an und darüber den Wettermantel ihres Vaters, band sich ein Tuch fest um das schwarze Haar. Das Sparkassenbuch hatte sie ihrem Pflegevater in den Koffer gesteckt, sie selber hatte nur die paar Mark, die vom Haushaltsgeld in ihrer Börse geblieben waren.

Sie verließ das Haus und rannte den Strand entlang, bis sie zu der kleinen Bucht kam, wo die Fischerjungen den Sommer über ihre Ruderboote liegen hatten. Sie hatte Glück. Die meisten Jungen hatten ihre Boote rechtzeitig vor dem Unwetter eingeholt, aber eines war in der Bucht zurückgeblieben. Jetzt lag es kieloben auf dem Schlick. Es dauerte eine Weile, bis Undine es wieder herumgedreht hatte. Dann brachte Undine das Boot zu Wasser, zog Schuhe und Strümpfe aus, warf sie hinein, ihr Bündel dazu. Dann hob sie mit der linken Hand den Rock hoch, watete, das Boot vor sich herstoßend, bis das Wasser tiefer wurde.

Als sie endlich im Boot saß und die Riemen ins Wasser gleiten ließ, schloß sie für ein paar Sekunden die Augen. Der gefährlichste Teil der Flucht war geglückt, obwohl sie noch um die Insel herumfahren mußte, ehe sie die Richtung zum Festland einschlagen konnte.

Mit kräftigen, sicheren Schlägen glitt sie das Ufer entlang. Sie achtete genau auf den Abstand. Sie mußte sich vorsehen, um nicht ins offene Meer hinausgetrieben zu werden.

Sie brauchte kaum eine halbe Stunde, um das Festland zu erreichen. Nachdem das Boot aufgelaufen war, warf sie Schuhe, Strümpfe und ihr Bündel aufs Trockene. Dann stieg sie aus, gab dem Boot einen kräftigen Stoß, damit es in eine Strömung geriet und vom Land forttrieb. Nun erst watete sie aus dem Wasser.

Zur Rechten und Linken des schmalen Pfades, den sie gewählt hatte, lag die Marsch, dem Meer abgewonnenes Land. Es bot einen eintönigen Anblick. Nur hier und da erhoben sich Werften, zum Schutz gegen die Wassergefahr aufgeworfene Erdhügel, auf denen niedrige Häuser standen. Nirgends war ein Licht zu sehen. Alle Menschen, außer ihr selbst, schienen zu schlafen. Endlich erreichte sie die Geest, das höher gelegene Land hinter der Marsch, und sah rechter Hand einen stattlichen Hof, dessen Eingang von einer mächtigen Eiche überschattet wurde. Mondschein spiegelte sich in den Fensterscheiben, hinter denen die Lichter erloschen waren.

Undine blieb stehen, von einem seltsamen Gefühl berührt. Ihr war, als hätte sie dies alles schon einmal gesehen – vor langer, langer Zeit oder in einem anderen Leben. Alles schien ihr irgendwie vertraut. Selbst Einzelheiten, wie die eisernen Ringe links und rechts neben der Haustür, kamen ihr seltsam bekannt vor, obwohl sie auf der Insel dergleichen nie gesehen hatte.

Ein überwältigendes Glücksgefühl ergriff sie. Aber es verging so schnell, wie es gekommen war. Plötzlich schien alles wieder fremd und kalt. Undine fühlte sich verlassener denn je. Sie schauderte vor Kälte, taumelte vor Müdigkeit, spürte, daß sie sich nicht länger auf den Beinen halten konnte.

Als sie um das langgestreckte Haus herumging, schlug ein Hund an, riß klirrend an seiner langen Kette. Aber sonst regte sich nichts.

Ein gutes Stück vom Hof entfernt stand eine Scheune. Sie öffnete die Tür, tastete im Dunkeln, fand eine Leiter und kletterte hinauf. Sie kroch, um warm zu werden, tief in das Heu hinein, ihr Bündel immer krampfhaft in der Hand haltend, um es nicht zu verlieren.

›Nur ein paar Stunden‹, dachte sie, ›dann bin ich wieder frisch. Bevor die Sonne aufgeht, muß ich weiter.‹

Sie wagte nicht, die Augen zu schließen, wollte sich nur ausruhen.

Aber sie war eingeschlafen, noch ehe der Hund aufgehört hatte zu bellen.

Gregor Ostwald, der Verwalter des Harmshofes, erwachte von dem Gebell. ›Er kläfft nur den Mond an‹, dachte er flüchtig und wollte sich auf die andere Seite drehen. Aber so schnell, wie er gehofft hatte, kam der Schlaf nicht wieder, und das Gebell wollte nicht aufhören.

Der Verwalter setzte sich auf, lauschte. Hassan bellte zwar manchmal in der Nacht, wenn ein Fremder vorbeiging oder eine neue Magd sich spät in ihre Kammer schlich, aber doch nie so lange. Das mußte etwas zu bedeuten haben.

Noch einen Augenblick wartete der Verwalter ab, ob nicht auch Iven, der Großknecht, Anstalten machte, nach dem Rechten zu sehen. Aber da nichts dergleichen geschah, beschloß er, selber hinunterzugehen. Zwar dachte er nicht an Einbrecher, aber der Bauer und seine Frau waren alt und kränklich, und sie würden es sehr übel vermerken, durch den Hund in ihrem ohnehin nur kurzen Schlaf gestört zu werden.

Leise, um seine schlafende Frau nicht zu stören, zog Gregor Ostwald Schuhe und Mantel an. Er nahm eine Taschenlampe und stieg die Treppe hinunter. Er benutzte nicht den vorderen Ausgang, sondern verließ das Haus durch die Ställe.

Der Hund jaulte immer noch, riß wild an der langen Kette.

Der Verwalter machte ihn los, legte ihm die Leine an. »Still, Hassan«, sagte er beruhigend, »still, such!«

Hassan begann sofort in eine bestimmte Richtung zu ziehen. Er führte den Verwalter geradewegs zur Scheune, deren Tür halb offenstand.

Mit der Nase stieß Hassan die Tür auf, zog den Verwalter mit sich ins Innere. Gregor Ostwald knipste seine Taschenlampe an, ließ den Lichtkegel über das Heu gleiten. Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges zu sehen, doch dann erkannte er, daß jemand da war – das Heu oben auf dem Boden lag anders, als er es selber vor kurzer Zeit geschichtet hatte.

»Hallo, wer da?« rief er laut.

Hassan blaffte.

Den Hund voran, kletterte der Verwalter die schmale Leiter hinauf, blieb gebückt stehen, griff, als Hassan mit einem kurzen Satz nach vorn wollte, die Leine kürzer.

Dann sah er das zu Tode erschrockene blasse Mädchengesicht mit den groß aufgerissenen dunklen Augen.

Er mußte beinahe lachen. »He, Hassan«, sagte er, »beruhige dich; schlägst Krawall wegen solch einer lütten Dirn!« Er kraulte ihn zärtlich hinter den Ohren. »Mir scheint, du wirst alt, mein Lieber!« Er wandte sich an das Mädchen. »Und du, reiß nicht die Augen so auf, als wenn du noch nie einen Menschen gesehen hättest. Ich bin kein Räuber, und Hassan ist kein Wolf. Komm vor aus deinem Lager und laß dich ansehen.«

Undine spürte sofort, daß sie einen Menschen getroffen hatte, der sich zu ihr wohlwollend verhielt.

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte sie zaghaft, ohne den Blick von ihm zu lassen, »ich wollte mich nur ausruhen.«

»Hast wohl kein Geld für den Gasthof, wie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wo kommst du her?«

Sie war zu erschöpft, als daß ihr eine überzeugende Lüge eingefallen wäre, und so sagte sie ehrlich: »Von der Insel.«

»Etwas angestellt?«

Sie wurde rot, senkte zum erstenmal die Augen. »Die Leute dort mögen mich nicht! Sie quälen mich. Ich bin anders als sie, und ich bin nicht auf der Insel geboren.« Jetzt wagte sie ihn wieder anzusehen. »Ich habe ihnen nie etwas getan, bestimmt nicht.«

Ihm war nicht entgangen, daß sie etwas verbarg, aber ihr offener Blick überzeugte ihn, daß es nichts wirklich Schlechtes sein konnte.

»Papiere?« fragte er.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie verstand, was er meinte, dann knüpfte sie ihr Bündel auf, holte eine kleine abgeschabte Ledertasche heraus, in der ihre geringe Barschaft und ihr Taufschein steckte.

Er nahm ihr das Blatt Papier aus der Hand, las: »Undine Carstens«, hob den Blick und fragte: »Ist das alles?«

»Ja.«

»Bißchen wenig. Ausweis hast du keinen? Geburtsurkunde?«

»Ich bin ein …«, sie schluckte, »ein Findelkind.«

»Ach so.« Er runzelte die Stirn. »Wo hat man dich denn gefunden?«

»Im Meer. Ich war in ein Rettungskissen eingeschnürt, so hat mir mein Vater erzählt. Mein Pflegevater, meine ich.«

»Und wo ist jetzt dein Vater?«

»Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Aufs Festland.« Ihre großen Augen blickten ihn unverwandt an. »Deshalb bin ich fort. Weil niemand mehr da ist, der mich mag.«

»Ich verstehe«, sagte der Verwalter, »ja, es ist schlimm, als Fremder unter Fremden zu leben. Aber was hilft’s? Viele haben es lernen müssen, die früher nie daran gedacht haben.«

Sie war aufgestanden.

Er sah sie prüfend an. »Was willst du nun anfangen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kannst du arbeiten?«

»Ich habe meinem Vater den Haushalt geführt.«

»Ausgezeichnet. Dann könnte ich es schließlich mal mit dir versuchen. Wenn du willst, meine ich natürlich nur. Wir könnten jemand brauchen.«

Er kletterte die Leiter hinunter, reichte ihr die Hand, um ihr herabzuhelfen.

Als sie vor ihm stand, reichte sie ihm gerade bis zum Kinn. »Sind Sie der Bauer?« fragte sie.

»Nein. Ein Fremdling wie du. Ich verwalte den Harmshof seit fünfzehn Jahren. Meine Frau führt die Wirtschaft. Ihr könntest du zur Hand gehen.«

»Das würde ich gern tun«, sagte Undine zu ihrer eigenen Überraschung. Ohne daß sie selber wußte, wie es geschehen war, hatte sie zu dem stattlichen Mann Vertrauen gefaßt.

»Gut. Das andere besprechen wir morgen. Dann wird dir meine Frau auch dein Zimmer anweisen. Heute kannst du in der Kammer vom Carsten schlafen. Der Junge hat eine Lungenentzündung und ist im Krankenhaus. Seine Kammer ist leer und das Bett frisch bezogen. Carsten ist unser Kleinknecht, mußt du wissen, Iven der Großknecht. Aber das erfährst du alles noch früh genug.«

Das Frühstück durfte Undine am nächsten Morgen mit dem Verwalter, seiner Frau und dem Gesinde in der Küche einnehmen, einem großen Raum, der sich mit nichts vergleichen ließ, was Undine bisher gesehen hatte. Die Wände waren bis zur Täfelung mit alten handgemalten Kacheln ausgelegt, deren Farben schon ein wenig verblaßt waren, die aber dem Raum trotzdem etwas besonders Anheimelndes gaben. Der große, blankgeputzte Herd, an dem die Verwalterin hantierte, stand in der Mitte, an den Wänden hing altes, wertvolles Küchengerät, das offenbar schon lange nicht mehr benutzt wurde, sondern nur noch zur Verschönerung diente.

Während des Frühstücks – es gab stark gesüßten Milchkaffee mit dicken Scheiben unbelegten Brotes – wurde so gut wie nichts gesprochen.

Der Verwalter hatte Undine nur mit einem einzigen Satz bekannt gemacht, und niemand schenkte ihr besondere Beachtung. Das Mädchen wagte nur ganz verstohlen unter ihren langen, sanft gebogenen Wimpern die anderen zu beobachten – Iven, den Großknecht, der langsam und mit großem Bedacht aß, seine Brotkanten immer wieder in den Milchkaffee tauchend, den Verwalter, der genauso kräftig und noch vertrauenerweckender wirkte als in der Nacht, und seine Frau, die im Gegensatz zu den beiden Männern sehr flink, lebhaft und zierlich war.

Alles war für Undine neu und interessant, aber immer wieder glitt ihr Blick zu Gregor Ostwald hin.

Er merkte es schließlich. »Was schaust du mich so an, Dirn?« fragte er mit einem lächelnden Stirnrunzeln.

Sie wurde rot bis unter den Ansatz ihres pechschwarzen Haares. »Ich habe es nicht mit Absicht getan«, stotterte sie.

Die Männer lachten.

»Laß die Dirn in Frieden«, sagte die Verwalterin, »wenn man in der Fremde ist, wird man doch wenigstens schauen dürfen.« Sie begann energisch den Tisch abzuräumen. »Seht zu, daß ihr fertig werdet. Es ist gleich sechs Uhr, und das Vieh muß gefüttert werden.«

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als die Tür aufging und ein hünenhafter junger Mann eintrat.

Undine erkannte ihn sofort. Er war das Ebenbild des Verwalters, nur an die dreißig Jahre jünger. Blitzartig begriff sie, warum ihr Gregor Ostwald von Anfang an so bekannt vorgekommen war – er hatte sie an den jungen Mann erinnert, der sie im »Deichkrug« aus den Händen von Ole Peters gerettet hatte.

»Bißchen spät dran, Frank, wie?« sagte der Vater gutmütig. »Bestimmt mal wieder bis in die Nacht hinein studiert.«

Frank Ostwald antwortete nicht. Er betrachtete, fassungslos vor Überraschung, das Mädchen. »Undine Carstens!« stieß er hervor. »Du?«

Der Verwalter stand auf; sein Gesicht hatte plötzlich jede Freundlichkeit verloren. »Wieso?« fragte er schroff. »Ihr kennt euch?«

Frank Ostwald trat auf das Mädchen zu. »Wie kommst du hierher?«

»Ich vermute, du müßtest es selber am besten wissen«, sagte der Vater. Er musterte den Sohn voll Skepsis.

»Nein«, erwiderte Frank ruhig, »wie kommst du darauf?«

»Mahlzeit miteinander!« Der Großknecht grinste unbehaglich. Dann, als niemand ihm antwortete, zog er sich rasch aus der Küche zurück.

»Es ist ein reiner Zufall«, erklärte Frank Ostwald mit Nachdruck – Auge in Auge standen sich die beiden Männer, Vater und Sohn, gegenüber. »Ich habe das Mädchen erst einmal im Leben gesehen. Drüben auf der Insel. Und ich wette, sie kannte nicht einmal meinen Namen.«

Frau Ostwald legte mit einer natürlich beschützenden Geste ihren Arm um Undines Schulter. »Ist das wahr, Dirn?«

»Ja.« Sie schluckte. »Es tut mir leid, ich habe nicht gewußt …«

»Sie konnte es gar nicht wissen«, sagte Frank Ostwald, »wir haben kein Wort miteinander geredet. Und selbst wenn es anders gewesen wäre …«, seine Spannung löste sich plötzlich. Er zeigte ein jungenhaftes Grinsen. »Ich bin doch nicht so einer, dem die Mädchen nachlaufen, noch dazu bei Nacht und Nebel.« Er reichte Undine seine kräftige braune Hand. »Ich bin Frank Ostwald. Deinen Namen kenne ich, und ich weiß auch noch einiges mehr über dich. Die Wirtin im ›Deichkrug‹ war froh, daß sie mir etwas erzählen konnte.«

»Das kann ich mir denken.« Undine seufzte tief, ohne es selber zu merken. Sie sah den Verwalter mit einem großen Blick an. »Ich danke Ihnen für alles, Herr Ostwald. Sie waren so gut zu mir! Aber jetzt kann ich wohl nicht länger bleiben.«

»Wieso denn?« fragte Gregor Ostwald erstaunt.

»Weil ich auftauchte, nicht wahr?« stieß Frank Ostwald nach.

»Ja«, sagte sie leise.

»Hast du Angst vor mir?«

Sie schüttelte den Kopf.

Frau Ostwald hatte ihrem Sohn eine große Tasse Milchkaffee eingeschenkt, schnitt ihm ein kräftiges Stück von einem Laib hausgebakkenen Brotes ab. »Setz dich, mein Junge, iß!« sagte sie. »Und dann wollen wir mal in aller Ruhe überlegen. Wir können dich natürlich nicht zwingen, bei uns zu bleiben, Undine – seltsamer Name, kann mich nur schwer dran gewöhnen –, aber willst du uns nicht wenigstens sagen, was du vorhast? Kennst du jemanden hier?«

Undine schwieg. Aber als sie die drei Augenpaare unverwandt auf sich gerichtet sah, begriff sie, daß ihr eine Antwort nicht erspart blieb. »Ich will fort«, sagte sie zögernd, »dorthin, wo mich niemand kennt.«

Frank Ostwald sah, sie belustigt über den Rand seiner Kaffeetasse hin an. »Du bist ein närrisches Ding, Undine. Bildest du dir etwa ein, auch wir würden glauben, daß du eine Hexe bist?«

»Eine Hexe?« sagte seine Mutter. »Was ist das für ein Unsinn?«

»Da hörst du es selber, wie Mutter über so etwas denkt, Undine.« Frank sah seine Eltern an. »Sie haben sie eine Hexe genannt auf der Insel, sie haben sie gequält, sie haben es soweit getrieben, daß ich mich nicht wundern würde, wenn sie sich selber für eine Hexe hielte. Habe ich recht, Undine?«

Sie hatte die Hände gegeneinandergepreßt und sah ihn nur aus ängstlichen Augen an.

»Und deshalb willst du davonlaufen? Bis du zu Menschen kommst, die nichts von dir wissen, die nicht dir die Schuld geben, wenn ein Unglück geschieht, eine Kuh verkalbt oder die Milch sauer wird.« Frank Ostwald lachte verächtlich. »So ist es doch wohl mit dem Hexenwahn, der ist was für die Unbelehrbaren, die nicht eher zufrieden sind, bis sie einen Sündenbock gefunden haben. Bleib bei uns, Undine«, sagte Frank Ostwald herzlich. »Nach ein paar Wochen wird man sehen, ob es dir nicht doch auf dem Harmshof gefällt …«, er schmunzelte, »und ob Mutter dich überhaupt brauchen kann. Fort kannst du immer noch. Sag nicht nein, wenn wir alle dich bitten.«

Undine blieb, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Sie war überzeugt, als Mörderin gesucht zu werden, und jedesmal, wenn ein Fremder sich dem Haus näherte, versteckte sie sich.

Ostwalds merkten es wohl, aber sie verloren kein Wort darüber. Frank hatte seinen Eltern jenen Auftritt im »Deichkrug«, bei dem ihm Undine zum erstenmal begegnet war, ausführlich geschildert. Er wußte auch, daß man ihr auf der Insel die Schuld an dem Tod des jungen Ole Peters gab. Die Ostwalds waren tiefgläubige Menschen, und deshalb fehlte ihnen für Hexenwahn jedes Verständnis. Sie sahen nur, daß Undine ein armes, gequältes Menschenkind war, und sie hatten den Wunsch, sie zu schützen.

Bei der Hausarbeit ließ sie sich geschickt an, und auch im Umgang mit dem Vieh, der ihr bisher ungewohnt gewesen war, fand sie sich rasch zurecht. Frau Ostwald hatte sie gern um sich und gab ihr manches gute Wort.

Frank Ostwald blieb Undine gegenüber das, was er von Anfang an gewesen war – der aufmerksame Beschützer. Sie bewunderte seine Kraft, seine Ruhe, seine Zuverlässigkeit und nutzte jede Minute, die sie mit ihm zusammen sein konnte. Zwar wußte sie, daß er nur nach Hause gekommen war, um Carsten, den kranken Kleinknecht, zu vertreten, daß er bald wieder zur fernen Universität zurück mußte. Aber sie schob den Gedanken an Abschied und Trennung innerlich in weite Ferne.

Selbst mit dem Harmshofbauern und seiner Frau, zwei sehr eigenartigen alten Leuten, denen das übrige Gesinde und auch die Verwaltersleute aus dem Wege zu gehen pflegten, kam sie gut aus.

»Morgen fahre ich zu Carsten«, sagte Frank Ostwald am ersten Samstag, den Undine auf dem Harmshof arbeitete. »Willst du mitkommen?«

»Ja«, sagte Undine, »aber …« Sie warf einen fragenden Blick zur Verwalterin.

»Geh nur, Kind«, lächelte Frau Ostwald, »ich verstehe schon, daß du deinen Pflegevater besuchen willst.«

Sie saßen in der Küche beim Mittagessen. Undine sprang so heftig auf, daß die Suppe in ihrem Teller fast übergeschwappt wäre. »Zu meinem Vater?«

»Ja«, sagte Gregor Ostwald bedächtig, »er liegt im gleichen Krankenhaus wie Carsten. Wir haben uns erkundigt.«

»Oh«, rief Undine und sah mit Tränen in den Augen von einem zum anderen, »ihr seid so gut zu mir. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

In dieser Nacht fand Undine keinen Schlaf. Es war eine klare kalte Nacht. Fahles Mondlicht schien in Undines Kammer. Von der Kirche des fernen Dorfes schlug die Uhr.

Undine zählte. Zwölf Schläge – Mitternacht.

Es hielt sie nicht mehr länger im Bett. Sie stand auf, öffnete weit das Fenster, atmete die reine Nachtluft.

Da sah sie ihn wieder – Jakobus Schwenzen.

Mit kleinen, gleitenden Schritten kam er über den Hof, näherte sich dem Haus, eine geisterhaft blasse Gestalt im Schimmer des Mondes.

Hassan schlug nicht an; er wimmerte nur.

Undine schloß die Augen, hoffte inbrünstig, daß der Spuk verschwunden sein möge, wenn sie sie wieder öffnete. Aber das Bild hatte sich kaum verändert. Die Gestalt, die Undine für den Geist eines Toten hielt, hatte jetzt die Hintertür erreicht. Das Mädchen hörte, wie Jakobus Schwenzen dreimal gedämpft gegen das Holz pochte. Mit einem qualvollen Aufschrei brach sie zusammen.

Als Undine aus ihrer Ohnmacht erwachte, war Frank Ostwald bei ihr. Wie ein Kind nahm er sie auf die Arme. Er trug sie zum Bett und deckte sie zu.

»Was ist, Undine?« fragte er. »Was hast du? Was ist geschehen?«

Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiederfand. Dann stieß sie mühsam hervor: »Jakobus Schwenzen …«

Frank Ostwald beugte sich zu ihr. »Ja? Was ist mit ihm?«

»Er war hier. Ich habe ihn gesehen. Er pochte an die Hintertür.«

»Das mag wohl sein«, erwiderte Frank Ostwald gelassen. »Aber was soll’s? Bis in deine Kammer wird er nicht kommen.«

Sie ertrug es nicht länger, mußte sich das, was sie seit Tagen bedrückte, von der Seele reden. »Ich habe ihn getötet!« sagte sie. Es klang wie ein Stoßseufzer.

Frank Ostwald sah sie verständnislos an. »Wieso? Nein, Mädchen, das kann nicht sein. Das hast du geträumt.« Er stand auf, trat zum Fenster, spähte hinaus. »Es ist nichts zu sehen. Komm her, überzeug dich selber, wenn du mir nicht glaubst. Er müßte doch noch dort unten liegen.«

Undine erwiderte sein Lächeln nicht. »Nicht hier – nicht jetzt«, stammelte sie, damals ist es geschehen, als ich aus dem ›Deichkrug‹ kam. Ich wollte nach Hause, und er …« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe ihn erschlagen. Ich konnte nicht anders. Ich mußte mich doch wehren.« Ihre Verkrampfung löste sich in einem Strom wilder Tränen.

»Armes Kind«, sagte Frank Ostwald erschüttert, »was mußt du durchgemacht haben.« Er strich ihr über das Haar. »Wein dich aus, weine nur, das wird dir guttun.«

Sie sah ihn an mit einem Blick voller Vertrauen. Plötzlich zog er seine Hand so rasch zurück, als ob er sich verbrannt hätte. Undine war nicht einmal schön in diesem Augenblick, das schwarze Haar zerzaust, die Augen vom Weinen gerötet, und doch hatte ihn ihr Anblick zutiefst berührt. Er erhob sich, bohrte die Hände in die Taschen des Mantels, den er sich übergeworfen hatte, als er zu ihr lief. Er sah sie nicht an, als er sagte: »Jakobus Schwenzen ist nicht tot. Ich habe ihn noch gestern an der Fähre gesehen.«

Sie richtete sich auf. »Ist das wahr?« fragte sie. »Ist das wirklich wahr? Oder …« Sie schluckte, sprach den Satz nicht zu Ende.

»Ich lüge dich nicht an«, erklärte er mit fester Stimme. »Jakobus Schwerzen lebt. Daß du den Kerl vorhin gesehen hast, glaub’ ich dir gern. Aber er war es leibhaftig. Nicht etwa sein Gespenst.« Er zögerte einen Augenblick, fragte dann: »Kannst du schweigen, Undine?«– Sie nickte heftig.

»Dann sag’ ich dir etwas – aber bitte sprich nicht darüber, meine Eltern hören nicht gern davon.« Er senkte seine Stimme. »Jakobus Schwenzen kommt oft hierher, die Harmshofbauern lassen ihn holen.«

»Aber wozu?« fragte Undine mit angstvollen Augen.

»Er bespricht ihre Krankheiten – oder wie man das nennt. Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus. Jedenfalls versucht er, sie zu kurieren auf seine Art.«

»Und darum kommt er so geheimnisvoll? Um Mitternacht?«

»Das fragst du mich? Du solltest dich doch eigentlich in diesen Bräuchen besser auskennen als ich.«

Er hatte einen Scherz machen wollen, aber ihr Gesicht wurde sofort glutrot. Sie holte tief Atem, fragte, die Hände vor der Brust gegeneinandergepreßt: »Du – glaubst es also auch?«

»Was?«

»Daß ich eine Hexe bin.«

»Aber, Undine, was für ein Quatsch. Es gibt keine Hexen. Wer dich so reden hört, könnte meinen, du hieltest dich selbst für eine.«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schwer.

»Sie haben dich halb verrückt gemacht auf der Insel, du mußt alles vergessen«, sagte er begütigend. Und um der Situation, die für ihn immer unerträglicher wurde, zu entfliehen, fügte er hinzu: »Weißt du was? Ich gehe jetzt in die Küche hinunter und koche einen Tee. Zieh dir einen Mantel über und komm mir nach. Einschlafen können wir jetzt doch nicht so bald.«

In der Küche war es warm und gemütlich. Der Wasserkessel summte schon auf dem Feuer, als Undine herunterkam. Sie hatte sich die Zeit genommen, ein Kleid anzuziehen und ihr schwarzes Haar sorgsam zu flechten. Sie lächelte scheu, als sie seinen bewundernden Blick auf sich fühlte.

»Schön bist du«, sagte er, »das muß dir sogar der Neid lassen. Hast du dir nicht schon einmal überlegt, ob die Leute auf der Insel nicht nur deshalb so böse zu dir sind, weil du eine Fremde bist?«

Sie wurde sofort wieder ernst. »Du verstehst das nicht«, sagte sie.

»Nun, vielleicht versuchst du es mir zu erklären. Warum hältst du dich selber für eine Hexe? Denn so ist es doch, nicht wahr?«

»Nein«, sagte sie, »es ist nur – manchmal bin ich mir selber unheimlich.«

»Na, so was«, sagte er verblüfft, aber das Lachen verging ihm unter dem qualvollen Blick ihrer großen Augen. »Erzähl mir, Undine«, bat er, »ich möchte dir so gerne helfen. Aber wie kann ich das, wenn ich nichts von dir weiß?«

»Du wirst mich wieder auslachen.«

»Bestimmt nicht.«

Er tat den Tee in eine angewärmte Kanne, Undine stellte Tassen und die Büchse mit Kandiszucker auf den Tisch. Sie wartete ab, bis das Wasser kochte, und goß dann den Tee auf.

»Es ist so«, erklärte sie mühsam und blieb neben ihm stehen, »manchmal geht in Erfüllung, was ich mir gewünscht habe.«

»Da ist doch nichts dabei«, sagte er, »das geht jedem so.«

Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen. »Besonders dann, wenn ich jemand etwas Böses gewünscht habe …«, sagte sie.

Er sah sie erstaunt an. »Tust du denn so etwas?«

»Ja.« Sie schwieg, und als auch er nichts sagte, fügte sie mit gepreßter Stimme hinzu: »Siehst du, nun magst du mich auch nicht mehr. Ich bin schlecht.«

Er nahm ihr die Teekanne aus der Hand, goß die Tassen voll. »Setz dich, Undine«, sagte er ruhig. »Verrate mir, was wünschst du denn Böses?«

»Jetzt nicht mehr, aber als ich noch in die Schule ging. Wenn einer von den anderen mich besonders schlimm geärgert hatte, dann habe ich ihm was angewünscht. Daß er auf seine Aufgaben vergessen haben sollte oder so etwas, daß der Lehrer ihn verhauen sollte.«

»Und diese Wünsche sind eingetroffen?«

»Oft.«

Frank Ostwald hatte drei Stück Kandis in seine Tasse getan, rührte nachdenklich um. »Bitte, sei ganz ehrlich. Du sagtest, du würdest den Leuten jetzt nichts Böses mehr wünschen. Ist das wirklich wahr?«

Sie nickte. »Ja. Ich tu’s nicht mehr, weil ich weiß – es ist gefährlich.«

»Und wie war das mit Ole Peters? Erinnerst du dich, daß du geschrien hast: ›Das wirst du bereuen‹, oder so etwas?«

»Ja, aber ich habe ihm nichts Böses gewünscht. Ich wollte ihn nur erschrecken, weil er …«

»Ich verstehe.« Frank Ostwald biß sich auf die Oberlippe. »Weißt du, was mit Ole Peters geschehen ist?« fragte er vorsichtig.

»Nein«, sagte sie, »was ist mit ihm?«

»Er ist verunglückt.«

»Nein!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund.

Er sah, daß ihr Entsetzen ehrlich war, und wünschte, er hätte nicht davon angefangen. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. »Es geschah in der Nacht, als du die Auseinandersetzung mit Jakobus Schwenzen hattest. Ole ist mit dem Motorrad gestürzt. Er ist tot.«

Sie sagte nichts. Und Frank ließ ihr Zeit, sich zu fassen.

Endlich hob sie den Kopf und sah ihn aus brennenden Augen an. »Das habe ich nicht gewollt«, flüsterte sie, »du mußt es mir glauben – das nicht.«

Er nahm ihre Hand. Sie war sehr kalt und zitterte zwischen seinen großen braunen Händen. »Ob du es gewünscht hast oder nicht, spielt keine Rolle. Daß Ole Peters verunglückt ist, kann nicht mit deinen Gedanken zusammenhängen. Er war allein schuld daran. Er war ein Angeber und ein Rowdy, das weißt du doch. Einem von dieser Sorte passiert eben leicht so etwas.«

»Die arme Frau Peters«, sagte Undine erschüttert, »er war ihr einziger Sohn.«

»Natürlich ist es traurig. Aber bitte tu mir den Gefallen und gib dir nicht die Schuld.«

»Du hast doch auch einen Verdacht gehabt, Frank. Sonst hättest du mich nicht gefragt – nicht so gefragt.«

Er zuckte die Schultern, gab ihre Hand frei. »Ich weiß selber nicht, was da über mich gekommen ist.« Er lachte gequält. »Niemand von uns ist ohne Schuld und ohne Bosheit. Sonst wären wir ja Engel.«

»Ich möchte so gern gut sein.«

»Das glaube ich dir. Gerade deshalb nimmst du die Dinge zu schwer. Wenn ich so genau sein wollte wie du – ich habe ja auch schuld an dem, was in jener Nacht geschehen ist. Hätte ich sofort eingegriffen, als die Burschen dich zu hänseln begannen, dann hättest du gar nicht daran gedacht, Ole Peters zu erschrecken. Wenn ich dich nach Hause gebracht hätte, wäre dir das mit Jakobus Schwenzen nicht passiert. Siehst du ein, daß man die Dinge auch so ansehen kann?«

»Du bist wie mein Vater«, sagte sie mit einem Lächeln, »er versteht es auch, mich zu trösten.«

Das Geheimnis des Medaillons

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