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ОглавлениеWie immer war die U-Bahn auch an diesem Samstag im September überfüllt. Eva fand keinen Sitzplatz; sie wurde hin- und hergestoßen und hielt ihr Köfferchen krampfhaft fest, aus Angst, daß es ihr entrissen werden könnte. Die paar Kleidungsstücke, die es enthielt, wären zwar kein herber Verlust gewesen, aber Fabians handgeschriebene Seiten waren unersetzlich. Das hatte er ihr oft genug klargemacht, und sie war davon überzeugt. Mittlerweile bereute sie es, daß sie sich nicht von ihm hatte chauffieren lassen, nur weil sie ihm die Unbequemlichkeit ersparen wollte.
Sie war froh, als der Zug den Bahnhof Uhlandstraße erreicht hatte und sie die düstere, schmutzige Unterwelt verlassen und in das milde Herbstlicht emporsteigen konnte.
Auch auf dem Kurfürstendamm wimmelte es von Menschen, die sich gegenseitig schoben und stießen. Vor der runden Fensterfront des Cafés Kempinski spielte ein junger Mann mit mädchenhaft langen Locken auf seiner Geige eine Melodie. Das Instrument war so verstimmt, daß man nicht erkennen konnte, ob sie heiter oder traurig war. Den Leuten gefiel es anscheinend trotzdem, denn sie warfen großzügig Münzen in den offenen Zylinderhut, den der Junge vor sich auf das Pflaster gestellt hatte. Auch Eva hätte ihm gerne etwas gegeben, aber es war ihr mehr daran gelegen, ihren Koffer sicher nach Hause zu bringen.
Sie bog in die Fasanenstraße ein, und hier, erst wenige Schritte vom Ku’damm entfernt, umfing sie Stille. Zwar waren Passanten unterwegs, aber nur einzeln oder zu zweien, es gab keine Menschentrauben und kein Gedränge. Vor der Synagoge standen einige alte Männer, in ein ruhiges, ernsthaftes Gespräch vertieft.
Zwei Blöcke weiter, und dann hatte Eva das Haus erreicht, in dessen viertem Stock sie bei ihrer Tante wohnte. Es war ein altes Haus, noch aus der Zeit der Jahrhundertwende, im Krieg von Bomben beschädigt. Bei der Reparatur hatte man, wohl um es moderner erscheinen zu lassen, alle steinernen Simse und Säulchen radikal heruntergeklopft, so daß die Fassade jetzt kahl und nackt wirkte.
Im Inneren führte eine Treppe um einen Lift herum, der in einem Käfig aus Messing hing, ganz nach oben. Die Buntscheiben über der Haustür waren schon seit langem durch mattes weißes Glas ersetzt worden, dennoch war es düster und kühl. Da der Lift die unangenehme Angewohnheit hatte, ohne jede Vorwarnung steckenzubleiben, benutzte Eva die Treppe. Behende lief sie die breiten, ausgetretenen Stufen aus dunklem Holz hinauf. Weil ihr Schlüssel noch in der Handtasche im Koffer steckte, klingelte sie dreimal kurz an der Wohnungstür.
Katrin Silbert öffnete sofort. Sie war schlank, fast dünn, hatte sich das metallfarbene Haar – ehemals war es karottenrot gewesen wie Evas heute – streng aus der Stirn gebürstet und im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Ihre Augen waren grün und klar. Alles in allem hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Nichte, und Eva konnte sich manchmal vorstellen, daß sie selber in fünfzehn Jahren so aussehen würde wie Katrin jetzt. Aber vom Charakter und vom Temperament her waren sie beide grundverschieden. Wo Eva impulsiv, verletzlich, romantisch reagierte, blieb Katrin kühl, sachlich und vernünftig.
Falls sie gekränkt oder verärgert darüber war, daß Eva erst so spät kam, ließ sie es sich doch nicht anmerken. Sie wehrte Evas gestammelte Entschuldigung beherrscht ab, obwohl sie sich offensichtlich schon allein in die Hausarbeit gestürzt hatte; sie trug einen weißen Baumwollkittel über ihrer grauen Flanellhose und hatte ein Staubtuch in der Hand.
»Macht doch nichts«, erklärte sie, »ich habe damit gerechnet, daß es gestern lange gedauert hat. Wie ist es denn gelaufen?«
»Fabian war wunderbar. Das habe ich dir ja schon nach den Proben erzählt. Aber gestern hat er sich selbst übertroffen.«
Katrin warf ihr einen leicht befremdeten Blick zu, stellte aber keine weiteren Fragen. Eva war sich bewußt, daß ihre Begeisterung nicht ganz echt, sondern einigermaßen gezwungen geklungen hatte.
Der Unfall auf der nächtlichen Heimfahrt und die Ereignisse, die ihm folgten, hatten alles andere in den Hintergrund gedrängt und ließen den Erfolg der Boulevardkomödie ziemlich unwichtig erscheinen.
»Ich helfe dir gleich, Tante Katrin«, fuhr sie hastig fort, »ich brauche mich gar nicht erst umzuziehen.«
»Du brauchst nichts zu überstürzen, Eva, wir haben ja Zeit für alles. Oder mußt du noch einmal fort?«
»Natürlich nicht!«
»Ich dachte, du würdest die Aufführung gern noch einmal sehen.«
»Unbedingt. Aber nicht heute. Sie wird ja bestimmt noch Monate laufen.«
»Hm«, machte Katrin nur.
Sie waren inzwischen in die Diele getreten, einem großzügig geschnittenen vieleckigen Raum, von dem die Türen zu den drei Zimmern und der Gästetoilette abgingen. Das Bad und die Küche lagen nach hinten hinaus. Eva stellte den Koffer ab, zog ihren Mantel aus und hängte ihn über einen Bügel an der eingelassenen Garderobe. »Was meinst du damit?«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Aber du hast sehr bedeutungsvoll ›hm‹ gemacht.«
»Ich habe nur gedacht, es wird für deinen fantasievollen Freund sehr schwer werden, Abend für Abend denselben Text zu zitieren.«
»Ach was. Das macht ihm bestimmt nichts aus. Er ist doch so glücklich, daß er die Rolle bekommen hat.«
»Bitte, verzeih mir! Ich wollte wirklich nicht unken.«
»Aber das tust du doch nie, Tante Katrin.«
Katrin lächelte, und ihr Gesicht wurde weich. »Es tut mir sehr wohl, Eva, das aus deinem Mund zu hören. Manchmal habe ich wirklich selbst den Eindruck, ich hätte den Hang, alles zu vermiesen.«
»Du bist nur ein bißchen skeptisch, Tante Katrin, und meistens hast du damit recht.«
»Fahren wir später hinaus?«
Eva zögerte, sie hätte Fabians Manuskript nur zu gern wenigstens durchgeschaut. Aber natürlich konnte sie das auch noch am Abend tun.
»Keine Lust?« fragte Katrin sofort.
»Doch, ja«, beeilte Eva sich zu versichern, »es ist sogar eine blendende Idee. Laß uns sehen, daß wir rasch mit der Wohnung fertig werden.«
Alle Räume waren sehr hoch, mit schönen Stukkaturen an den Decken, Parkettböden und langen Fenstern. Aber nur daran merkte man, daß das Haus alt war. Die Rauhfasertapeten an den Wänden waren weiß gestrichen, Türen und Fensterrahmen abgeschliffen und frisch lakkiert, das schöne Parkett abgezogen und eingelassen. An den Wänden gab es wenige, bemerkenswerte Ölbilder, die Katrin im Lauf der Jahre erworben hatte. Die Möbel waren modern und praktisch, dazwischen eine Biedermeierkommode aus Mahagoni, die Katrin geerbt, ein Schränkchen aus Rosenholz, das sie auf einer Auktion ersteigert hatte. Alles wirkte hell, übersichtlich, frisch und heiter.
Jede der beiden Frauen hatte ein eigenes Zimmer, außerdem gab es einen großen, gemütlichen Wohnraum, in dem sie sich trafen und gelegentlich Gäste bewirteten. Das kleine, bis ins letzte Detail praktisch eingerichtete Bad teilten sie miteinander, und in der geräumigen Küche frühstückten sie und nahmen ihre alltäglichen Mahlzeiten ein.
Evas Zimmer hatte sich mit der Zeit verwandelt. Zuerst war es ein freundliches Jungmädchenzimmer gewesen, durch bunte Couchkissen und dazu passende Vorhänge aufgeheitert, für Eva ein Fluchtort, in dem sie sich gegen die böse Welt hatte verschanzen können. Aber allmählich waren bei ihr so viele Bücher zusammengekommen, daß die kleinen Abstellflächen nicht mehr ausreichten, und sie hatte mit Katrin gemeinsam ein Regal gezimmert, das eine ganze Wand einnahm.
Der Klapptisch war ihr zum Schreiben zu klein geworden, und sie hatte ihn durch einen großen, sehr funktionellen Schreibtisch ersetzt. Dann war sie ihre schmale Schlafcouch leid geworden und kaufte sich ein richtiges Bett, für das Katrin ihr eine Decke in Patchwork gearbeitet hatte. Genau in der Mitte zwischen den Lautsprechern stand ein bequemer Sessel mit Fußstütze, davor ein runder kleiner Tisch. Da der Kleiderschrank beengend wirkte, hatte die Tante erlaubt, daß Eva ihn in die Diele stellte, wo Platz genug war. Die freien Wandflächen waren mit bunten Plakaten, vorwiegend vom Film und vom Theater geschmückt, die Eva je nach Laune und Anlaß auszuwechseln pflegte. Alles in allem war es ein Raum geworden, der ganz ihren Wünschen entsprach und in dem sie sich, wenn sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, völlig entspannen konnte.
Mit Staubsauger, Wischtuch und Fensterleder putzten die beiden Frauen auch diesen Raum durch. Sie arbeiteten flink und geschickt, ohne sich absprechen zu müssen, denn seit Jahren waren sie aufeinander eingespielt. Eva mußte daran denken, welche Tragödien es zu Hause gegeben hatte, wenn sie im Haushalt Hand anlegen sollte. Sie hatte diese Betätigung geradezu gehaßt und ihren Widerwillen dagegen als Waffe im Machtkampf mit der Mutter eingesetzt. Dabei hätte sie, so dachte sie heute, schon allein um des lieben Friedens willen nachgeben sollen. Doch in der Atmosphäre von Haß und Streit, Wutanfällen und überschwenglichen Versöhnungen hatte sie sich nicht ducken mögen aus instinktiver Angst davor, zwischen den allzu kraftvollen Persönlichkeiten von Vater und Mutter aufgerieben zu werden.
Zwar putzte sie immer noch nicht gern, beschwerte sich aber nie darüber, weil sie wußte, wie dankbar sie der Tante sein mußte, daß sie sich freiwillig ihrer, des überspannten, verstörten Teenagers, angenommen hatte. Katrin zur Hand zu gehen war das wenigste, was sie für sie tun konnte. Auch hatte sie einsehen gelernt, daß eine saubere, aufgeräumte Wohnung ein Bollwerk gegen den Schmutz und das Tohuwabohu der Außenwelt war. Es befriedigte sie jetzt, wenn alles blinkte und blitzte und jedes Ding an seinem Platz stand.
»Kann ich rasch noch ein Bad nehmen?« fragte sie, als sie fertig waren.
»Aber natürlich, Liebes, so viel Zeit muß sein.«
»Ich werde mich beeilen«, versprach sie.
Zwanzig Minuten später verließen sie das Haus und machten sich auf den Weg zur Tiefgarage, wo Katrins kleines Sportcoupé, ein sogenannter »Puce« des französischen Automobilkonzerns, bei dem Eva arbeitete, stand. Sie hatte sich dieses Auto erst nach der Öffnung der Mauer gekauft, um jetzt endlich das Hinterland von Berlin zu erkunden, das ihnen so lange verschlossen gewesen war.
Katrin und Eva hatten seitdem schon Potsdam aufgesucht, Schloß und Park besichtigt, und vielerlei Orte mehr. Sie waren mit einem alten Kahn auf dem Großen Müggelsee geschippert und dabei fast gekentert. Für heute nun hatten sie sich eine kleine Wanderung durch den Stadtwald im Osten Berlins vorgenommen.
»Willst du fahren?« fragte Katrin.
»Nein. Bestimmt nicht.«
Eva hatte mit niemandem über das, was passiert war, reden wollen. Jetzt überkamen sie Zweifel, ob es richtig war, ein Geheimnis vor der Tante zu wahren. Irgendwann würde sie vielleicht gezwungen sein zu gestehen, vielleicht weil Katrin einmal zu müde sein oder einfach keine Lust haben würde, sich ans Steuer zu setzen. Dann mußte die Tante mit Recht enttäuscht sein über den Mangel an Vertrauen, den sie durch ihr Schweigen bewiesen hatte.
Aber wie sollte sie es ihr beibringen? Auf keinen Fall, dachte sie, durfte sie Fabian belasten. Sie versuchte sich Worte zurechtzulegen, die den Sachverhalt so harmlos wie möglich schilderten. Aber es gelang ihr nicht. Sie stellte fest, daß sie immer noch völlig durcheinander war. Also entschloß sie sich, sozusagen mit dem Kopf voraus ins kalte Wasser zu springen.
»Ich bin meinen Führerschein los«, platzte sie heraus. Katrin verzog keine Miene und hielt die Augen auf den Verkehr gerichtet; sie war gerade in die Kantstraße eingebogen. »Also das ist es«, sagte sie nur.
»Was?«
»Ich wußte, daß du was mit dir herumschleppst.«
Eva seufzte, ohne es selbst zu merken. »Ja, so kann man es ausdrücken.«
»Nun erzähl schon! Wie ist es passiert?«
Eva berichtete ihre Version der Geschichte. Sie habe Fabians Auto gefahren, den Aufprall nicht wirklich wahrgenommen und Gas gegeben.
Jetzt warf ihr Katrin doch einen kurzen Seitenblick zu. »Du doch nicht!«
»Du machst es mir nicht leichter, wenn du mir nicht glaubst.«
»Tut mir leid, Eva. Bis zu dem Zusammenstoß nehme ich dir die Geschichte ab. Aber ich kenne dich zu gut. Du bist nicht der Mensch, der einfach weiterfährt, wenn es gebumst hat.«
»Aber es war so«, beharrte Eva mit unsicherer Stimme und unterdrückte mühsam das Schluchzen, das in ihrer Kehle aufstieg.
Katrin spürte, daß etwas nicht stimmte; sie hatte sofort den Verdacht, daß Fabian hinter dieser Sache steckte. In ihren Augen war er ein interessanter Typ, aber durchaus nicht der Mann, dessen Umgang sie für ihre Nichte wünschte. Doch sie hatte ihre Vorbehalte immer wohlweislich zurückgehalten, weil sie wußte, daß Warnungen von ihrer Seite Eva nur noch enger an ihn binden würden. Deshalb hatte sie geschwiegen. Jetzt begann sie zu zweifeln, ob das wirklich richtig gewesen war.
Doch auch jetzt fragte sie nur: »Und wie ging’s weiter?« Eva berichtete von dem Auftauchen der beiden Polizeibeamten.
»Du hättest den Mund halten sollen«, erklärte Katrin, fügte aber sofort hinzu: »Dumm von mir, das zu sagen, da es ja zu spät ist.«
»Wie konnte ich denn? Ich mußte doch antworten.«
»Mußtest du nicht. Du hättest auf deinen Anwalt verweisen sollen.«
»Ich habe ja gar keinen.«
»Bitte, Eva, benimm dich jetzt nicht wie ein Kind. Du hättest dich vor deiner Aussage mit einem Anwalt beraten sollen. Das hast du versäumt …«
»Ich habe die Wahrheit gesagt«, fiel Eva ihr trotzig ins Wort.
»Hast du das wirklich?« fragte Katrin mit einem Seitenblick auf Evas unglücklich verzerrtes Gesicht. »Nun, die Wahrheit ist jedenfalls nicht immer das klügste. Das wird dir auch dein Anwalt sagen. Jetzt wirst du dir doch wenigstens einen bestellen, nicht wahr?«
»Wozu?«
»Weil man den Brunnen spätestens zudeckt, wenn das Kind hineingefallen ist. Das ist immer noch besser als gar nichts zu tun. Ich würde dir übrigens zu Doktor Vilgers raten.«
›Wozu?‹ hätte Eva am liebsten noch einmal gefragt, unterließ es dann aber doch, weil sie von ihrer Firmentätigkeit wußte, daß in allen Zweifelsfällen Juristen zugezogen wurden. Tatsächlich zweifelte sie stark daran, daß ein Rechtsanwalt ihr helfen könnte.
»Wenn du willst«, fuhr Katrin fort, »werde ich mich mit Doktor Vilgers in Verbindung setzen und einen Termin für dich ausmachen.«
»Danke«, sagte Eva schwach, »das wäre lieb von dir.«
»Wahrscheinlich«, sagte Katrin, »kommt es sehr darauf an, wie es um den Menschen steht, der bei dem Unfall zu Schaden gekommen ist. Weißt du etwas darüber?«
»Nein, nichts.« Jetzt konnte Eva ihre Tränen nicht länger zurückhalten. »Die Polizisten sagten nur …« Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, daß sie den Satz beenden konnte. »… daß er noch nicht vernehmungsfähig wäre.«
»Das hat nichts zu bedeuten«, erklärte Katrin wider besseres Wissen, »vielleicht steht er nur unter Schock. Das ist ja meist so. Überhaupt – nimm die Sache nicht zu schwer. Es nutzt weder dir noch dem Opfer …« Sie unterbrach sich. »Es ist ein Mann, nicht wahr?«
Eva nickte, von Schluchzen geschüttelt.
»Dachte ich’s mir. Jedenfalls nutzt es gar nichts, wenn du dich jetzt verrückt machst. Wein dich nur aus! Vielleicht wird es dir ja guttun. Aber dann heißt es: klaren Kopf behalten. Nur so kannst du einigermaßen unbeschadet aus dieser unangenehmen Affäre rauskommen. «
»Und … wenn der Mann … stirbt?«
»An einem Zusammenprall, von dem du nicht einmal etwas bemerkt hast?«
Eva schluchzte weiter.
»Oder hast du doch?« forschte Katrin.
»Nein! Nein!« stieß Eva heftig hervor.
»Und was ist mit Fabian? Wie stellt er sich zu der Sache?«
Eva putzte sich die Nase. »Er hat geschlafen.«
»Also jetzt erlaube mal! Das nehme ich dir nicht ab. Man kann auf der Heimfahrt von einer feucht-fröhlichen Feier einduseln, zugegeben. Aber es ist unmöglich, in einer solchen Situation zu pennen wie ein Murmeltier.«
»Er hat’s aber doch getan! Warum willst du mir nicht glauben?«
Eva schrie es fast heraus. Dabei wußte sie sehr gut, daß die Tante ihr nicht glaubte, weil sie sich nicht an die Wahrheit hielt. Trotzdem meinte sie, ein Recht darauf zu haben, daß man ihr ihre Geschichte abnahm. Sie hatte ja sonst nie gelogen.
Das wußte auch Katrin. Es war ihr klar, daß Eva einen triftigen Grund haben mußte, um die Tatsachen so zu verdrehen. Sie versuchte krampfhaft, jemanden zu dekken, und dieser Jemand konnte nur Fabian sein.
»Wenn es dich so aufregt«, schlug sie vor, »sprechen wir lieber nicht mehr darüber.« Sie überlegte schon, ob es nicht besser wäre, den Ausflug aufzugeben. Aber Eva in die Wohnung zurückzubringen hätte bedeutet, sie ihrer Trübsal zu überlassen. Wie sie sie kannte, hätte sie sich sofort in ihrem eigenen Zimmer eingeschlossen, wie sie es früher getan hatte, wenn sie in eine Krise geraten war.
»Fahren wir nach Hause!« bat Eva.
»Nein, warum denn? Ein Spaziergang wird uns Leib und Seele entspannen.«
Damit behielt sie recht.
Nachdem sie zwei Stunden durch den herbstlichen Stadtwald gestreift waren – es gab genug stille Nebenwege, auf denen sie sich abseits der fröhlichen Masse der Spaziergänger halten konnten –, hatte sich Evas Stimmung zwar nicht aufgeheitert, aber sie war doch erheblich gelassener geworden. Zumindest nahm sie das Mißtrauen ihrer Tante nicht mehr übel und sah ein, daß sie es sich selber zuzuschreiben hatte.
»Du würdest immer zu mir halten, nicht wahr?« fragte sie, als sie, beide leicht ermüdet, zu dem großen Parkplatz zurückgingen.
Er hatte sich inzwischen nahezu geleert, und die frühe Dämmerung begann hereinzubrechen.
»Ja«, erwiderte Katrin schlicht.
»Du bist so gut zu mir wie niemand sonst auf der Welt. Ich frage mich immer wieder, warum.«
»Mach dir darüber keine Gedanken, Liebes! Nimm es, wie es ist.«
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
»Indem du auf dich aufpaßt, Eva. Dich nicht in unglückselige Geschichten hineinziehen läßt.« Sie sah, daß Evas eben noch ganz offene Züge sich verschlossen, und fügte rasch hinzu: »Aber ich weiß natürlich, daß man sich nicht immer nur nach dem Verstand richten kann. Es gibt Beweggründe, die stärker sind als die Vernunft.«
»Du verstehst das wirklich?«
»Ja.«
Katrin wartete, ob Eva sich zu einer weiteren Erklärung durchringen würde. Aber das geschah nicht.
Katrin entschied, es dabei bewenden zu lassen. »Jetzt freue ich mich auf zu Hause!« sagte sie munter. »Wir machen uns einen schönen Tee, ja? Und dann sehen wir mal, was in der Glotze läuft.«
Eva dachte an Fabians Manuskript, aber es erschien ihr unfair, die Tante nach allem, was geschehen war, vor dem Fernseher allein zu lassen. »Einverstanden! Irgendwas nach unserem Geschmack werden wir schon finden.«
Am nächsten Morgen, noch während sie in der Küche ihren Kaffee trank, nahm Eva sich die handgeschriebenen Seiten vor. Aber es gelang ihr nicht, einen neuen Eindruck von Fabians Dichtung zu gewinnen. Seine kleinen, sehr präzise gemalten Buchstaben waren zwar an sich leicht zu entziffern, aber die vielen Streichungen, Einschübe und Verbesserungen empfand sie als total verwirrend. Wirklich verstehen würde sie die drei Szenen des zweiten Aktes wohl erst, wenn sie abgetippt waren.
Eva wollte sich gleich ans Werk machen, ohne sich erst anzuziehen. Katrin hatte das Haus schon früh verlassen; sie nahm seit einem halben Jahr an einem Malkurs teil, auf den sie die meisten Sonn- und Feiertage verwenden mußte.
Allein in der Wohnung, konnte Eva sich ausnahmsweise gehenlassen. Sobald sie ihre Tasse geleert hatte, setzte sie sich in Schlafanzug, Hausmantel und Pantoffeln an die Schreibmaschine, legte sich das Manuskript und einen Stapel Papier zurecht und begann mit der Arbeit. Sie kam nur langsam voran. Manche Sätze waren kaum zu entwirren, und immer wieder entdeckte sie zu spät, daß sie ein Wort übersehen hatte, und mußte die Seite neu schreiben. Fabian wollte die Reinschrift klar und fehlerlos vor sich haben, um sie sich dann noch einmal vorzunehmen.
Je tiefer sie in sein Werk einstieg, desto mehr fesselte es sie. Das Drama handelte von einer Gruppe Terroristen, jungen Leuten mit den verschiedensten Charakteren, die sich aneinander rieben und sich nur einig waren in dem Ziel, das sie anstrebten: die herrschende Gesellschaftsordnung zu zerstören. Die Sprache, in der die Terroristen miteinander umgingen, war knapp, hart, zornig. Eva empfand sie als unnatürlich, aber sie wußte, daß sie nichts vom Theater verstand. Von der Bühne her würde sie wahrscheinlich ihre Wirkung tun.
Gegen zwei Uhr war sie mit der Abschrift fertig und machte sich daran, die beiden Durchschläge voneinander und vom Original zu trennen, sie zu sortieren und zu lochen. Die Durchschläge kamen in Schnellhefter, die sie in ihrem Schreibtisch aufbewahrte, das Original bekam Fabian.
Sie rief ihn sofort an.
Er meldete sich, und seine Stimme klang, als käme sie von weit her.
»Ich bin’s nur, Eva«, sagte sie. – Warum ›nur‹? fragte sie sich. Das war doch zu albern.
»Oh, hallo«, sagte er, etwas wärmer.
»Ich hab’s!«
»Was?«
Also wieder hatte sie sich nicht genau genug ausgedrückt. »Melde gehorsam: ich bin mit der Abschrift fertig.«
Er gähnte hörbar. »Fein.«
Sie hungerte nach einem Wort der Anerkennung. »Es war ziemlich schwierig.«
»Wenn es anders wäre, könnte ich es einem Schreibbüro geben.«
Sie hätte ihn darauf aufmerksam machen können, daß dies auch eine Frage des Geldes war, brachte es aber nicht über die Lippen. »Wann willst du es haben?«
»Bring es mir, sagen wir …« Er machte eine Pause, als müßte er sich vergewissern, wie spät es war. »…um sechs. Das ist früh genug. Dann können wir vor dem Theater noch in Ruhe eine Kleinigkeit essen.«
»Darf ich mit?« fragte sie ein wenig atemlos. »Ins Theater, meine ich?«
»Wenn du es dir noch mal zumuten magst.«
»Ich könnte es jeden Abend sehen.«
Er versuchte ihre Begeisterung mit einem skeptischen »Na, na« zu dämpfen.
»Warum denn nicht? Wenn du es Abend für Abend spielen kannst.«
»Das ist etwas anderes.«
»Für mich nicht!«
»Schäfchen.«
»Noch etwas, Fabian, ich finde, wir sollten …«
Sie brach ab, als ihr bewußt wurde, daß er ihr nicht mehr zuhörte; er hatte aufgelegt.
Sie merkte, daß sie Hunger hatte, ging in die Küche, strich sich ein Butterbrot und trank noch eine Tasse Kaffee. Bis zum Besuch bei Fabian blieb ihr noch viel Zeit. Sie steckte den Wohnungsschlüssel ein und stieg zum Dachboden hoch, wo sie Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Die Blusen waren gerade richtig, bügelfeucht. Sie nahm sie von der Leine, legte sie in einen Wäschekorb und trug sie hinunter. Katrin und sie trugen sehr häufig Blusen, so daß eine beachtliche Anzahl zusammengekommen war.
In der Küche stellte Eva das Bügelbrett auf, knipste das Eisen an, hing Kleiderbügel an die Schränke und machte sich an die Arbeit. Sie ging ihr leicht von der Hand. Während sie das heiße Eisen über den Baumwollstoff gleiten ließ, dachte sie daran, daß sie die Pflege von Fabians Hemden gut und gern mit übernehmen könnte. Da er meist Pullis oder T-Shirts trug, würden nicht mehr als zwei, drei in der Woche Zusammenkommen. Als sie ihm das einmal vorgeschlagen hatte, war er durchaus nicht erfreut gewesen.
»Das könnte dir so passen«, hatte er geknurrt.
Sie hatte ihn nicht verstanden.
»Meinst du, ich merke nicht, worauf du hinauswillst?« hatte er aufgebracht gefragt.
Sein unerwartet gehässiger Ton hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben.
»Du willst mich von dir abhängig machen!«
»Aber nein, Fabian, wirklich nicht«, hatte sie gestammelt, »auf die Idee wäre ich nie gekommen. Ich wollte dir ja nur helfen.«
»Wenn ich Hilfe brauche, werde ich es dich schon wissen lassen.«
Eva erinnerte sich gut. Sie war wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Sogar ein paar Tränen hatte sie vergossen, obwohl sie sich dabei lächerlich vorkam, und das hatte die Sache nicht besser gemacht. Fabian hatte sie deswegen ausgelacht, und sie wußte, daß sie seinen Spott verdiente.
Damals, dachte sie, hatte sie nicht gewußt, wie glücklich sie gewesen war. So glücklich, daß ihr ein böses Wort genügte, um es zu einem Problem aufzubauschen. Wie töricht sie gewesen war.
Erst jetzt, da ein Mensch durch ihr Verschulden im Krankenhaus lag und vielleicht sogar mit dem Tod rang, hatte sie erfahren, was wirkliche Sorgen waren.
Sie hatte Fabian dazu bewegen wollen, mit ihr zusammen den Verletzten zu besuchen. Aber er hatte ihr nicht einmal zugehört.
Doch sie würde sich nicht abwimmeln lassen. Wenn sie sich nachher Auge in Auge gegenüberstanden, würde sie ihm verständlich machen, daß es einfach sein mußte. An einem Besuch am Krankenbett führte kein Weg vorbei.
Eva verfügte über einen Schlüssel zu Fabians Atelier. Trotzdem klingelte sie, bevor sie eintrat, weil er es haßte, überrascht zu werden. Sie öffnete die Tür voller Schwung und blieb dann verdutzt auf der Schwelle stehen.
Fabian war nicht allein, und er war ungewöhnlich sorgfältig angezogen, in schwarzer Hose, hellblauem Seidenhemd und grauer Kaschmirjacke. Seine Besucherin war älter als er. Sie mochte um die Dreißig sein und hatte das ganz bestimmte Etwas, das sie als Schauspielerin auszeichnete: eine Art, die schönen Beine zur Geltung zu bringen, die anmutige Haltung des ganzen Körpers, das raffiniert geschnittene dunkle Haar, das ihr gar nicht mal stark geschminktes Gesicht scheinbar so natürlich umgab.
»Oh, hallo!« sagte Eva und kam sich ungewandt vor. »Komm herein und mach die Tür zu!« befahl Fabian. Eva tat, wie ihr geheißen.
Fabian hatte Tee gemacht. Es war ungewöhnlich, daß er sich für einen Besuch dieser Mühe unterzog. Sie saßen an dem kleinen Tisch mit der Glasplatte, Zucker, Sahne und einen Teller mit Keksen zwischen sich. Die Unbekannte rauchte aus einer langen elfenbeinernen Spitze. »Hast du das Manuskript dabei?« fragte Fabian unnötigerweise, dann stellte er lässig vor: »Eva Silbert, eine Mitarbeiterin … Frau Agnes Hollmann.«
Eva hätte sich gewünscht, daß er sie als seine Freundin bezeichnet hätte. »Ja, natürlich«, sagte sie und öffnete ihren kleinen Koffer.
Agnes Hollmann musterte sie mit unverhohlener Neugier. »Du bist auch Schauspielerin?«
Fabian verzog den Mund. »Dazu müßte sie sich erst mal die Beine neu einschrauben lassen.«
Eva konnte nicht verhindern, daß sie schmerzlich errötete. Sie wußte, daß sie X-Beine hatte und daß man es sah, auch wenn sie stets Röcke trug, die die Knie sorgsam bedeckten. Aber daß er sich bemüßigt fühlte, die andere darauf aufmerksam zu machen, verletzte sie tief. Agnes Hollmann lachte auf, es war ein gurrendes, verführerisches Bühnenlachen. »Wie boshaft du doch sein kannst, Fabian! Ich kenne Schauspielerinnen, die wahre Kartoffelstampfer als Beine haben, und die trotzdem erfolgreich sind.«
»Ich bin keine Schauspielerin und wollte es auch nie werden«, behauptete Eva nicht ganz wahrheitsgemäß, denn es hatte schon eine Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken an diesen Beruf gespielt hatte, »ich bin Sekretärin und damit ganz zufrieden.«
Agnes Hollmann wandte sich an Fabian: »Deine Sekretärin?«
»Könnte ich mir nicht leisten.«
Eva reichte ihm die Reinschrift.
»Du schreibst also doch für ihn?« erkundigte sich Agnes Hollmann.
»Auf freiwilliger Basis«, erklärte Eva.
»Schön dumm von dir. Wie heißt es doch noch? Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.«
»Ich tue es zum Vergnügen.«
Fabian blätterte die Textseiten durch.
Agnes Hollmann nahm sie ihm aus der Hand. »Laß sehen!«
Eva wußte, daß Fabian es absolut nicht leiden konnte, wenn jemand sich mit seinen unfertigen Arbeiten beschäftigte. Gerade deshalb war sie auch so stolz, daß dieses Tabu für sie nicht bestand. Aber der erwartete Einspruch blieb aus. Fabian ließ es ohne Widerstand zu, daß die Hollmann zwei, drei Seiten überflog.
Dann reichte sie ihm die Blätter zurück.
»Nun, was sagst du dazu?« fragte er erwartungsvoll. Anmutig zuckte sie die Achseln. »Die Abschrift jedenfalls ist ganz vorzüglich.«
Das war eine bewußte Kränkung. Einerseits gönnte Eva sie ihm, andererseits war sie wütend, daß die andere ihm das antun konnte. »Ich finde es hochinteressant«, sagte sie mit Nachdruck.
Agnes Hollmann lächelte sie freundlich an. »Natürlich tust du das. Anderes wäre ja nicht denkbar.«
Wenn Fabian sich getroffen fühlte, ließ er es sich doch nicht anmerken. »Du müßtest es als Ganzes lesen.«
»Das werde ich tun, wenn es fertig ist.«
»Danke«, sagte er sehr zahm.
Eva stand noch immer, den Koffer in der Hand. Niemand hatte sie aufgefordert, sich zu setzen, und es war ja auch kein Stuhl frei. Sich in ihrem hellen Kostüm auf eines der dicken Kissen auf dem Boden niederzulassen, erschien ihr unangebracht; den Koffer auszupacken und in Anwesenheit der Schauspielerin ihre Unterwäsche, Jeans und Pullis zu verstauen, wäre auch unpassend gewesen. So blieb sie stehen und wartete auf Agnes Hollmanns Aufbruch.
Endlich schien es soweit zu sein. Mit spitzen Fingern entfernte die Schauspielerin den Stummel aus ihrer langen Spitze und drückte ihn im Aschenbecher aus. Sie ließ die Spitze in ihre Handtasche gleiten, zog, fast gleichzeitig, einen Taschenspiegel heraus und musterte ihr Make-up.
Fabian gab Eva die Reinschrift.
»Soll ich sie in den Ordner tun?«
»Nein. Leg sie einfach auf den Schreibtisch.«
Eva nutzte die Gelegenheit, ihren Koffer beiseite zu stellen.
Indes hatte Agnes Hollmann einen Lippenstift aufgeschraubt und verbesserte die Konturen ihres Mundes. »Ich glaube, es wird Zeit für uns, mein Lieber«, erklärte sie
Fabian stand auf, zog seine Kaschmirjacke aus und warf sie über die Sessellehne. »Frau Hollmann begleitet mich heute ins Theater«, sagte er leichthin, aber mit drohendem Blick.
Eva wußte, daß sie sich ihre Enttäuschung keineswegs anmerken lassen durfte. »Ach ja?« sagte sie nur.
»lch muß den lieben Jungen auf der Bühne sehen.«
Agnes Hollmann hatte Spiegel und Lippenstift wieder in ihrer Handtasche verschwinden lassen. »Ich ziehe ihn nämlich für die Rolle des ›Eisenring‹ in Betracht.«
Eva verstand gar nichts mehr, und man sah es ihr an.
Gönnerhaft ließ Fabian sich herbei, sie aufzuklären. »Agnes hat seit neuestem ein eigenes Theater.«
»Ein Kellertheater.« Sie erhob sich gewandt. »Ich werde dort selber inszenieren.«
Eva ging ein Licht auf. »›Biedermann und die Brandstifter?« vergewisserte sie sich.
Die Hollmann strich sich den Rock glatt. »Sieh einer an! Gebildet sind wir auch noch.«
»Ich habe das Stück von Max Frisch in der Schule gelesen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Kleene. Es geht nichts über eine gesunde Halbbildung.«
»Wann?« fragte Eva. »Ich meine, er hat doch gerade erst die Rolle in ›Ein Schloß in Wales‹ übernommen, und alle sagen, das wird monatelang dauern.«
Fabian hatte sich inzwischen ein Jackett angezogen. »Laß das unsere Sorge sein«, sagte er und gab ihr einen leichten Klaps, als wäre sie ein junger Hund.
Agnes Hollmann war inzwischen schon bei der Tür. »Noch hat er den ›Eisenring‹ ja nicht.«
Fabian eilte ihr nach. »Du räumst ein bißchen hier auf, ja?« sagte er über die Schulter hinweg. »Wir telefonieren.«
Die Tür schlug hinter ihnen zu.
Eva ließ sich in den Sessel sinken, in dem eben noch Fabian gesessen hatte. Seine Kaschmirjacke störte sie dabei; sie zog sie unter sich weg und begann sie zusammenzulegen, während sie nachdachte.
Es war ein Schlag für sie gewesen, daß Fabian nun mit der anderen und nicht mit ihr ausging, wie er es versprochen hatte. Aber sie durfte ihm das nicht übelnehmen. Nicht aus bösem Willen hatte er sie versetzt; da Agnes Hollmann Regisseurin war oder es jedenfalls werden wollte, war es natürlich, daß er sie hofierte. Sie war nicht nur für ihn als Schauspieler, sondern auch als Dramatiker wichtig. Zwar hatte sie bisher kein Interesse an seinem Stück gezeigt, aber das besagte nichts. Es war durchaus möglich, daß er sie für eine Aufführung gewinnen konnte.
Aber Eva fand es unverständlich, daß er weiter an seiner Karriere bastelte, Fäden spann und Pläne ersann, als wäre nichts geschehen. Dabei mochte durch sein Verschulden ein Mann mit dem Tod ringen. Belastete ihn das nicht? Waren Künstler so? Reine Egoisten? Oder hätte er nicht gerade als Künstler sensibler sein müssen?
Konnte sie wirklich einen Mann lieben, der sich um nichts scherte als um sich selber? Müßige Frage, es war nun einmal so.
Früher hatte sie sich die Liebe wie eine Art Schaukel vorgestellt, mit der man himmelwärts fliegen konnte und dann, mit einem Ziehen im Bauch, wieder zurück, in der Gewißheit, daß es auf der anderen Seite wieder hochgehen würde. Anfangs war es auch mit Fabian so gewesen. Aber inzwischen empfand sie ihre Liebe als eine Falle – eine Falle, aus der sie sich nicht befreien konnte.
Wollte sie das wirklich? War denn ein Leben ohne Fabian für sie noch lebenswert?
Sie wußte es nicht. Es war im Moment auch nicht wichtig. Wichtig war nur dieser Mann im Krankenhaus, und wenn Fabian sich nicht bemüßigt fühlte, sich um ihn zu kümmern, mußte sie es eben allein tun.
Eva stand auf, räumte die Jacke in den Schrank und nahm ihre Handtasche aus dem Koffer. Dann ließ sie alles stehen und liegen und stürmte davon.