Читать книгу Gundula - Marie Louise Fischer - Страница 4
Ein großes Ereignis
ОглавлениеGundula erwachte davon, daß ihr ein Sonnenstrahl genau auf die Nasenspitze fiel. Sie mußte niesen und schlug die Augen auf.
Sofort merkte sie, daß irgend etwas anders in der Wohnung war als sonst. In ihrem Zimmer war nichts verändert, und dennoch – irgend etwas war seltsam. Es dauerte eine ganze Weile, bis Gundula drauf kam, was sie störte – es war so still in der Wohnung, viel stiller als sonst.
Gewöhnlich, wenn Gundula morgens aufwachte, hörte sie das Klappern von Tellern und Tassen aus der Küche, wo die Mutter schon den Tisch deckte. Sie hörte auch das Brausen des Wasserhahnes, wenn der Vater sich rasierte. Aber heute morgen gab es nicht den leisesten Laut.
Gundula erschrak und wußte selber nicht, warum. Sie schwang die Füße über die Bettkante, war mit einem Satz auf dem weichen Teppich, rannte barfuß zur Tür.
„Mammi …!“ rief sie. „Pappi …!“
Sie riß die Tür zur Diele auf, blieb einen Augenblick lauschend stehen. Es kam keine Antwort.
Gundula raste ins Elternschlafzimmer – die Betten waren benützt, aber weder Vater noch Mutter waren zu sehen. Auch das Badezimmer war leer, genau wie die Küche und das große Wohnzimmer. Die Eltern waren fort. Sie hatten Gundula allein gelassen.
Noch nie, soweit Gundula zurückdenken konnte, war so etwas geschehen. Sie war schon manchmal allein in der Wohnung geblieben, nachmittags, wenn die Mutter einkaufen und der Vater noch auf der Bank war, oder abends, wenn die Eltern ins Kino gingen, aber daß sie morgens aufwachte und die Wohnung leer fand – das war einfach unfaßbar. Um ein Haar wäre Gundula in Tränen ausgebrochen.
Aber dann riß sie sich zusammen. Weinen, das wußte sie aus Erfahrung, hatte nur einen Sinn, wenn jemand da war, der einen trösten konnte. Ganz allein in einer leeren Wohnung zu sitzen und zu weinen, das war dumm. Viel besser war es, zu überlegen, wohin die Eltern gegangen sein konnten.
Gundula zerbrach sich den Kopf, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Dann kam ihr eine Idee. Vielleicht hatten die Eltern ihr, bevor sie fortgingen, eine Nachricht hinterlassen? Bestimmt hatten sie das. Aber wo?
Gundula sah auf Vaters Schreibtisch nach, auf dem Küchentisch, auf den Nachttischen ihrer Eltern – dabei fiel ihr Blick zufällig auf die Weckeruhr, und sie erschrak ein zweites Mal. Es war gleich halb acht, und sie war noch nicht angezogen. Wie konnte sie es da schaffen, rechtzeitig in der Schule zu sein?
Oder war die Schule heute vielleicht überhaupt gar nicht so wichtig? Gundula legte nachdenklich den Finger an die Nase. Mußte man in die Schule gehen, wenn die Eltern verschwunden waren?
In diesem Augenblick hörte sie von der Diele her ein Geräusch. Sie fuhr herum, lauschte mit angehaltenem Atem. Tatsächlich, es klang geradeso, als wenn die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.
Gleich darauf erkannte sie auch schon die Stimme des Vaters: „Hallo, Gundel … wo steckst du denn?“
Mit einem Aufschrei der Erleichterung rannte Gundula in die Diele hinaus und warf sich dem Vater in die Arme. Dabei sah sie noch im Spiegel einen großen Zettel stecken. Mit einer Nachricht für sie. Aber die war ja jetzt nicht mehr wichtig.
Einen Augenblick hielt Herr Berendt seine Tochter ganz fest, dann schob er sie ein wenig von sich, betrachtete prüfend ihr Gesicht. „Sag mal, Gundel, du hast doch nicht etwa Angst gehabt?“
„Nein, überhaupt nicht“, behauptete Gundula rasch, „nur … mir war so komisch.“ Sie rieb sich mit der Hand über die Magengrube. „Hier drinnen … so, als wenn ich einen Frosch verschluckt hätte!” Sie riß die Augen auf. „Sag mal … aber wo ist eigentlich Mammi?“
„Gundel, aber höre … kannst du dir das wirklich nicht denken?“
„Nein“, sagte Gundula unsicher, „müßte ich das wissen?“
„Eigentlich schon. Schließlich bist du ja ein großes Mädchen von fast elf Jahren … unsere große Tochter! Wir haben doch …“
Herr Berendt kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Gundula machte einen Luftsprung und schrie: „Ist es da? Ist es wirklich da?!“
„Ja, Gundel“, sagte Herr Berendt lächelnd, „heute nacht hast du ein Brüderchen bekommen.“
„Toll!“ Gundula war tief beeindruckt. „Toll, jetzt werden alle staunen, wenn ich es ihnen erzähle – oder brauche ich heute gar nicht in die Schule zu gehen? Zu spät komme ich ja sowieso schon.“
„Hast du schon gefrühstückt?“ fragte der Vater.
Gundula schüttelte heftig den Kopf mit den kurzgeschnittenen blonden Locken. „Nö!“
„Dann werde ich dir rasch eine Tasse Kakao machen … und du ziehst dich währenddessen an. Weißt du, lernen ist nämlich immer wichtig, auch wenn man ein Brüderchen bekommen hat. Gerade dann. Wenn wir jetzt bald ein Baby im Hause haben, dann mußt du ganz besonders vernünftig sein, Gundel.“
„Wann kommt es? Wann kann ich es sehen?“
„Zieh dich jetzt erst einmal an“, sagte der Vater, „beim Frühstück werde ich dir alles erklären.“
Gundula raste in ihr Zimmer und schlüpfte in Windeseile in ihre Sachen. Vor lauter Aufregung vergaß sie ganz, sich zu waschen, aber ein einziges Mal konnte das doch nicht so schlimm sein. Immerhin ging sie, als sie fix und fertig war, ins Badezimmer und putzte sich die Zähne.
Der dampfende Kakao stand schon auf dem Tisch, als Gundula in die Küche kam. Der Vater war gerade dabei, ihr ein Brötchen mit Butter zu bestreichen.
„Na, das ist aber fix gegangen“, sagte er und musterte sie ein wenig mißtrauisch.
„Klar“, sagte Gundula rasch, „ich soll doch ganz besonders vernünftig sein, hast du gesagt! Deshalb habe ich mich beeilt, damit ich so schnell wie möglich in die Schule komme.“
„Großartig!“ Herr Berendt lächelte. „So brennend vor Fleiß habe ich dich noch nie erlebt.“
„Es ist ja auch das erste Mal, daß ich ein Brüderchen bekomme!“ Gundula biß in die eine Hälfte des Brötchens. „Also … wann kann ich es sehen?“
„Ein bißchen Geduld mußt du schon noch haben, Gundel. Mutter muß noch eine Weile … vielleicht acht Tage … im Krankenhaus bleiben!“
„Warum?“ fragte Gundula mit vollem Mund.
„Ja, so ein ganz kleiner Säugling, Gundel, der ist noch sehr zart, weißt du. Man muß auf ihn aufpassen, er braucht viel Sorgfalt und Pflege … und das hat er natürlich am besten im Krankenhaus.“
„Ist er denn krank?“
Herr Berendt schüttelte den Kopf. „Nein. Ganz gesund, glücklicherweise. Aber trotzdem …“
„Dann werde ich Mammi und das Brüderchen im Krankenhaus besuchen“, erklärte Gundula entschlossen.
„Ich fürchte, das wird auch nicht gehen!“
„Nicht?“
„Nein. Ich habe mich schon erkundigt. Der Besuch von Kindern auf der Wöchnerinnenstation – weißt du, so nennt man die Abteilung des Krankenhauses, wo die Mütter mit den Säuglingen liegen –, also auf der Wöchnerinnenstation ist der Besuch von Kindern verboten.“
„So eine Gemeinheit!“ sagte Gundula aus tiefstem Herzen.
„Aber warum denn, Pappi?“
„Ich denke, damit die Kleinen sich nicht anstecken.“
„Ich versteh’ schon. Wenn jemand Masern hat oder Halsschmerzen und so … aber ich bin doch schließlich gesund!“
„Ich weiß es ja, Gundel … ich weiß, daß du gesund bist, aber …“
„Bitte, Pappi, lieber, lieber Pappi, nimm mich mit ins Krankenhaus. Du kannst mich ja hineinschmuggeln … ja, das können wir doch machen! Du steckst mich einfach in einen großen Koffer …“
„Also, Ideen hast du, Gundel! Die gehen wirklich auf keine Kuhhaut! Was du da sagst, kann doch nicht dein Ernst sein!“
In Gundulas große blaue Augen stiegen die Tränen. „Ich möchte das Brüderchen so gern sehen … kannst du das denn nicht begreifen, Pappi?“
„Natürlich kann ich das. Aber was nicht geht, das geht nicht. Jetzt haben wir so lange auf unser Brüderchen gewartet, jetzt wirst du dich ja wohl noch eine Woche gedulden können.“
„Schwer“, sagte Gundula bedrückt. Sie blies die Haut von ihrem Kakao, probierte einen Schluck – er war noch sehr heiß. „Hast du das Brüderchen wenigstens schon gesehen?“ fragte sie dann.
„Jaja, natürlich.“
„Wie sieht es denn aus?“
Herr Berendt lachte. „Wie alle kleinen Kinder … winzig klein und ziemlich rot und voller Falten …“
„Pappi!“ sagte Gundula halb entsetzt, halb lustig, „du schwindelst mich an. Falten haben doch nur die alten Leute … Babys nicht!“
„Doch, doch. Auch die ganz kleinen Babys haben Falten. Ich erinnere mich noch genau, als ich dich zum erstenmal gesehen habe!“
„Nun mach aber mal ’nen Punkt, Pappi, ich habe bestimmt nicht Falten gehabt. Meinst du, ich lasse mich so beschwindeln? Schließlich hast du mich doch damals geknipst!“
„Ja, als du drei Monate alt warst!“
„Ich glaube dir kein Wort“, sagte Gundula mit Nachdruck. „Ich bin sicher, daß wir ein schönes Brüderchen bekommen haben .. ein schönes, kluges, liebes Brüderchen. Das habe ich mir doch gewünscht. Gib zu, Pappi, du hast versucht, mich anzuschmieren.“
„Anschmieren … was ist das wieder für ein Ausdruck!“ Mit einer Handbewegung brachte Herr Berendt seine Tochter, die sich verteidigen wollte, zum Schweigen. „Es hat wirklich keinen Zweck, daß wir uns herumstreiten … warte ab, bis du dein Brüderchen selber siehst.“
„Und was machen wir bis dahin? Ohne Mutter?“
„Ja, das wird nicht so einfach sein, aber wir müssen eben sehen, wie wir allein fertig werden. Frau Helmbrecht wird, wie immer, dreimal die Woche kommen …“
„Und wer wird kochen?“
„Ich denke, wir beide. Abwechselnd …“
„Aber ich kann ja bloß Rührei!“
Herr Berendt lachte. „Dann werden wir eben jeden zweiten Tag Rührei essen. Komm, Gundel, mach nicht so ein Gesicht. Irgendwie werden wir schon miteinander auskommen. Heute mittag, zum Beispiel, habe ich mir gedacht, gehen wir zusammen auswärts essen – na, wie wäre das?“
Gundula sprang so heftig auf, daß der Kakao aus ihrer Tasse über den Tisch schwappte. „Prima, Pappi!“ rief sie begeistert. „Wir beide ganz allein … das habe ich mir immer schon mal gewünscht.“ Sie fiel ihrem Vater um den Hals, küßte ihn zärtlich auf beide Wangen. „Ein Brüderchen zu kriegen ist wirklich etwas ganz Tolles!“