Читать книгу Die Ehe des Dr. Jorg - Liebesroman - Marie Louise Fischer - Страница 5
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ОглавлениеDie Heimfahrt verlief glatt und ohne Zwischenfälle.
Aber als er den Wagen vor seinem kleinen Haus parkte, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Es war ihm, als wäre er nicht nur einen Tag, sondern sehr lange, eine Ewigkeit nicht mehr hier gewesen. Er blickte hoch, zählte die Fenster, betrachtete lange den gelben Verputz, der an einigen Stellen abzubröckeln begann . . . und immer stärker wurde dieser merkwürdig beklemmende Eindruck.
Alles schien verändert.
Er klingelte nicht wie sonst, um seine Ankunft anzukündigen, sondern schloß einfach die Haustür auf. Fast wunderte er sich, daß der Schlüssel paßte.
Auch der Hausflur war verändert. Er schien enger und dunkler, als er ihn in Erinnerung hatte. Zum erstenmal sah er, daß der Garderobenspiegel nicht blankgeputzt, daß der Teppich abgestoßen war. Und es ärgerte ihn.
Aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Ihre Fröhlichkeit traf ihn wie eine Kränkung. Es kostete ihn Überwindung, hineinzugehen.
Inge und Evchen hockten auf dem Fußboden, mitten in einer Puppenschneiderei, die blonden Köpfe eng beieinander, plaudernd und sehr vergnügt.
Dr. Jorg erstarrte. Der Anblick seiner Familie ließ ihn seltsam kalt.
In ihm war keine Freude mehr, keine Zärtlichkeit. Es war ihm, als sähe er auf zwei fremde Wesen, die ihm niemals etwas bedeutet hatten.
Jetzt erst sah Inge ihn in der Tür stehen, war fast im gleichen Augenblick auf den Beinen, lief zu ihm hin und umschlang ihn. „Richard“, rief sie, „Liebster, da bist du ja schon! Wir hatten dich gar nicht kommen gehört!“
„Tut mir leid, wenn ich euch gestört habe“, erwiderte er gepreßt.
„Wie kannst du so etwas denken! Nur . . . Willy Markus hatte gesagt, es könnte spät werden, und deshalb . . .“
Sie hob ihr Gesicht zu ihm auf, ihr liebevolles kleines Gesicht mit den braunen weit auseinanderstehenden Augen, den winzigen Sommersprossen auf der kecken Nase. Aber Dr. Richard Jorg empfand nichts bei diesem Anblick, gar nichts, geradeso, als wenn jedes Gefühl in ihm abgestorben wäre. Er mußte an sich halten, sie nicht brutal von sich zu stoßen.
Jetzt erst entdeckte sie das Pflaster auf seiner Stirn. Ihre großen Augen weiteten sich noch. „Was ist mit dir, Richard? Hast du dich verletzt?“ fragte sie erschrocken.
„Gestoßen“, sagte er ablehnend, „nichts von Belang.“
„Aber . . . wie ist denn das passiert?!“
„Nur einfach so.“
Sie strich zart mit den Fingerspitzen über das Pflaster, zog ihre Hand aber sofort zurück, als er zusammenzuckte.
„Tut es weh, Liebster?“
„Nicht der Rede wert!“ Er war erleichtert, als es ihm gelang, sie mit sanftem Druck von sich zu schieben.
Aber inzwischen war Evchen auf ihn zugekrabbelt. „Papi! Papi!“ schrie die kleine vergnügt und zog sich an seinem Hosenbein in die Höhe.
Inge hob ihr Töchterchen hoch, hielt sie dem Vater entgegen. „Gib Papi ein Küßchen, Liebling“, sagte sie, „aber ganz zart . . . Papi hat Weweh!“
Evchen schob ihre vollen runden Lippen zu einem Schnütchen vor, und Dr. Richard Jorg sah mit Ekel, daß ihr Mündchen mit Schokolade verschmiert war. Aber es gab keine Möglichkeit, dieser schmatzenden feuchten Berührung auszuweichen.
Danach aber wandte er sich rasch beiseite, rieb sich die Wange. „Ich glaube, du solltest sie waschen“, sagte er gezwungen.
Inge sah von ihrem Mann auf das Kind, das immer noch verlangend die Ärmchen nach seinem Vater ausstreckte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Es war das erstemal, daß Richard Jorg sein Töchterchen nicht in die Arme nahm, es nicht abküßte und mit ihm spielte und spaßte.
„Nun steh nicht da wie eine Meduse“, sagte er, „sieh lieber zu, daß ich endlich etwas zu essen bekomme!“
„Ja, natürlich . . . sofort . . .“, sagte sie verwirrt und wollte, mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Zimmer.
Dr. Jorg wies auf die Puppenschneiderei – Schere, Nadel, Faden und zahllose Stoffetzchen, die über den Fußboden verstreut waren. „Und das da soll einfach so liegenbleiben?“
Seine junge Frau starrte ihn an. Noch nie hatte er in einem solchen Ton mit ihr gesprochen. Flammender Zorn stieg in ihr auf. „Was willst du nun wirklich“, fragte sie bebend, „daß ich aufräume oder dir etwas zu essen mache?“
Er explodierte. „Daß du diesen verdammten Haushalt in Ordnung hältst!“ brüllte er. „Und ich finde, das ist nicht zuviel verlangt! Du hockst den ganzen Tag hier herum, während ich mich abplage, damit ihr ein gutes Leben führen könnt! Und was finde ich, wenn ich nach Hause komme? Ein Durcheinander, daß es einen grausen kann!“
Seine Wut verrauchte so schnell, wie sie ausgebrochen war. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als er schon gar nicht mehr begriff, was in ihn gefahren war. Er hätte gern alles zurückgenommen, aber dazu war es zu spät.
Inge hatte das Kind zu Boden gesetzt und begann hastig, alle Utensilien einzusammeln und in den großen bunten Karton zu stopfen. Dann verließ sie, immer noch schweigend, Evchen an der Hand, das Wohnzimmer. Wenig später hörte er ein Weinen – aber er konnte nicht ausmachen, ob es von seiner Frau oder seinem Kind kam.
Er warf sich in einen Sessel, streckte die Beine weit von sich, zündete eine Zigarette an. Er überlegte, ob er sich bei Inge entschuldigen sollte.
Aber wozu denn? dachte er. Sie ist wirklich die Unordnung in Person. Alles, was ich gesagt habe, war ja vollkommen richtig. Ich bin bisher viel zu nachsichtig mit ihr gewesen. Es war längst an der Zeit, ihr mal die Meinung zu sagen.
Aber es hielt ihn nicht in dem kleinen Zimmer. Er fühlte sich beengt, als wenn die vier Wände ihn erdrücken wollten. Kaum daß er seine Zigarette ausgeraucht hatte, stand er auf und ging in die Küche hinüber.
Inge hatte Brot, Butter, kalten Braten und eine Flasche Bier auf den Tisch gestellt. Sie war gerade dabei, eine Scheibe Braten für Evchen in winzige Stückchen zu schneiden. Das Kind saß mit verweinten Augen auf seinem Stühlchen.
Einen Augenblick sah er auf Inges gesenkten Kopf. Er glaubte, sie gekränkt und verletzt zu haben, und dieses Gefühl tat ihm seltsamerweise wohl, schaffte ihm geradezu eine gewisse Erleichterung.
Aber da sah sie ihn an und lächelte. „Verzeih mir“, sagte sie, „du hattest ganz recht! Ich bin wirklich eine Schlampe, aber ich werde mich bessern . . . großes Ehrenwort!“
Er wußte nicht, was er darauf erwidern sollte, setzte sich wortlos zu Tisch, schenkte sich ein Glas Bier ein.
„Das ist der Braten von heute mittag“, sagte sie, „er ist ein bißchen trocken geworden, weil ich ihn zu lange im Rohr gelassen habe . . . ich dachte ja immer, du müßtest jeden Augenblick kommen.“
„Mach mir nur Vorwürfe!“
„Aber das tue ich doch gar nicht, Richard, ich versuche nur, dir zu erklären . . . Liebster, warum müssen wir uns heute dauernd zanken?“
„Meine Schuld ist es nicht.“
Evchen war noch zu klein, um zu verstehen, was zwischen den Eltern vorging. Aber sie spürte das Unheil, das in der Luft lag. Der böse und gereizte Ton, den sie bisher nie gehört hatte, erschreckte sie. Sie begann wieder zu weinen.
„Evchen“, sagte Inge verzweifelt, „bitte, sei brav . . . iß dein Broti! Papi ist ja nicht böse . . .“
„Zum Kotzen!“ sagte er laut, schob seinen Teller mit einer brüsken Bewegung von sich und sprang auf.
Er stürzte zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Eine Stunde später saß Inge Jorg im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Allein.
Eine Revuesendung lief, und Inge war jung genug, um normalerweise an Tanz und Schlagern Freude zu haben. Aber an diesem Abend nahm sie nichts von dem wahr, was sich vor ihr auf der Mattscheibe abspiegelte.
Sie dachte an Evchen, die sich in den Schlaf geweint hatte, und an ihren Mann, der sich so seltsam benommen hatte. Nie zuvor hatte sie ihn so erlebt, und nie hatte sie sich nur vorgestellt, daß er sich so benehmen könnte.
Es war ihr, als wenn sie mit einem wildfremden Mann verheiratet wäre – nicht mehr mit dem fröhlichen, verliebten, verständnisvollen Richard Jorg, wie sie ihn gekannt hatte, sondern mit einem ganz anderen, von dessen Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.
Ihre Mutter und ihre Freundinnen hatten ihr oft erzählt, daß die Männer erst in der Ehe plötzlich ihr wahres Gesicht zeigen – aber es war doch nicht möglich, daß ein Mensch sich an einem einzigen Tag so vollständig änderte! Noch am Morgen war er doch ganz wie immer gewesen. Wie wäre es möglich, daß er jetzt plötzlich so verwandelt war!?
Irgend etwas mußte geschehen sein im Lauf dieses Tages, irgendeine fremde feindliche Macht mußte von ihm Besitz genommen haben.
Dann wurde ihr bewußt, daß der Fernsehapparat noch immer lief. Sie wusch sich im Bad, huschte leise ins Schlafzimmer, schlüpfte in ihr Nachthemd und unter die Decke. Sie lag ganz still und hielt den Atem an.
Richard hatte kein Wort gesagt, aber sie spürte, daß er noch nicht schlief.
„Richard“, flüsterte sie, und ihre Hand tastete zu ihm hinüber.
„Hm“, murmelte er undeutlich.
Sie nahm allen Mut zusammen und rutschte hinüber, schlang ihre Arme um ihn und kuschelte ihren Kopf an seine Brust.
Aber er zog sie nicht wie sonst enger an sein Herz, sondern er lag, ohne sich zu bewegen, still und stumm, wie versteinert.
Sie streichelte ihn mit sanften, zärtlichen Händen. „Richard“, flüsterte sie, „Richard . . . weißt du denn nicht, wie sehr ich dich liebe?“
Sie spürte seine Lippen auf ihrer Stirn, trockene, harte Lippen. „Ich dich auch“, sagte er gepreßt, „aber geh jetzt schön brav wieder in dein Bett. Ich bin furchtbar müde.“
„Bist du mir noch böse?“
„Nein“, sagte er, „aber verschwinde jetzt. Bitte.“ Er rollte sich zur Seite.
Jetzt erst begriff sie, daß es ihm ernst war mit seiner Abweisung. Sie kroch in ihr Bett zurück, tief gedemütigt. Sie preßte die Zähne so fest zusammen, daß ihre Kiefer schmerzten.
Jetzt nur nicht weinen, dachte sie, nur das nicht jetzt noch! Lange lag sie mit weitoffenen Augen im Dunkeln, kaum einen halben Meter entfernt von dem Mann, den sie liebte, und doch durch einen Abgrund von ihm getrennt.
Sie wußte, daß auch er nicht schlief, aber sie wagte es nicht, noch einmal das Wort an ihn zu richten.
Am nächsten Morgen sah alles anders aus.
Der Schlaf hatte Inge Jorg Vergessen und Entspannung geschenkt. Sie mußte über sich selber lächeln, wenn sie daran dachte, welch eine Tragödie sie aus der schlechten Laune ihres Mannes gemacht hatte. Er war einfach übermüdet und erschöpft gewesen, und sie, statt darauf einzugehen und Rücksicht auf ihn zu nehmen, hatte erwartet, daß er genauso munter wie sie selber wäre, die den ganzen Tag nicht viel anderes getan hatte, als auf ihn zu warten.
Sie sprang aus dem Bett, eilte in die Küche, setzte Kaffeewasser auf, deckte den Frühstückstisch. Sie nahm die Pfeife vom Kessel, noch bevor das Wasser kochte, sah sich noch einmal um, ob auch alles in Ordnung war, und eilte dann ins Schlafzimmer. Richard schlief. Das blonde Haar stand verstrubbelt über seiner hohen Stirn, er wirkte im Schlaf wie ein trotziger Schuljunge.
Sie beugte sich über ihn, küßte ihn auf die Augen, die Stirn, die Nase, den Mund. „Richard“, flüsterte sie nahe an seinem Ohr, „aufstehen!“
Als er nur knurrte, fügte sie vergnügt hinzu: „Es ist Zeit zur Schule!“
Er streckte nicht die Arme nach ihr aus wie sonst, machte keinen Versuch, sie an sich zu ziehen, sondern öffnete die Augen und sah sie an – mit einem Blick, der aus unendlicher Ferne zu kommen schien.
„Warum weckst du mich?“
„Es ist gleich sechs. Du mußt aufstehen.“
„Aber ich brauche doch heute gar nicht zum Dienst.“
„Nicht? Davon hast du mir ja kein Wort erzählt. Das ist ja herrlich!“
„Bestimmt“, sagte er und hatte die Augen schon wieder geschlossen, „endlich kann ich mal ausschlafen!“ Er rollte sich zur Seite, wühlte seinen Kopf tiefer in sein Kissen.
Sie hatte keine Lust mehr zu schlafen. Sie trank den Kaffee, der eigentlich für ihren Mann bestimmt gewesen war und rauchte eine Zigarette.
Richard war nicht mehr zufrieden mit ihr. Aber sie würde ihm schon zeigen, was für eine gute Hausfrau sie war. Sie entschloß sich, im Wohnzimmer heute morgen einen ganz gründlichen Hausputz zu veranstalten, und wenn er dann aufstand, würde alles blitzen und blinken, so daß er sie einfach loben mußte!
Unternehmungslustig stand sie auf, räumte das Geschirr in den Spülstein, zog einen blauen Baumwollkittel an, band sich ein buntes Tuch um das lockige Haar und machte sich im Wohnzimmer an die Arbeit. Sie räumte sämtliche Stühle und Sessel heraus, rollte den Teppich zusammen und fuhrwerkte voller Begeisterung herum. Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging und daß es allmählich draußen hell wurde. Plötzlich stand ihr Mann – in Schlafanzug und Hausschuhen – in der Tür, sah sich mit gerunzelter Stirn um.
„Richard“, sagte sie unbefangen, „du bist schon auf? Warte eine Sekunde, ich mache dir rasch das Frühstück!“
„Darf ich fragen, was das hier werden soll, wenn es fertig ist?“
„Ich mache Hausputz!“
„Ausgerechnet heute, wo ich dienstfrei habe?“
„Aber ich bin doch in einer halben Stunde fertig, und dann hast du es hier ganz gemütlich!“
„Ich möchte lieber wieder ins Bett.“
„Ach so!“ sagte sie verwirrt. „Also dann mache ich wohl lieber erst das Schlafzimmer!“
„Na, dann kann ich mich ja grad so gut anziehen!“ Er drehte sich auf der Türschwelle um und schlurfte ins Bad.
Beinahe wäre sie ihm nachgelaufen, aber dann tat sie es doch nicht. Schon wieder traten ihr die Tränen in die Augen, diese blöden Tränen! Sie wischte sich mit dem Handrücken darüber.
Es hatte keinen Zweck. Sie konnte es ihm nicht recht machen. Das Beste war es, beschloß sie, ihn sich einfach ausknurren zu lassen. Er würde schon von selber wieder zur Vernunft kommen.
Sie bereitete ihm das Frühstück, leistete ihm dabei aber keine Gesellschaft, und er machte auch keine Anstalten, sie dazu aufzufordern. Sie putzte das Wohnzimmer weiter, jetzt aber nicht mehr so gründlich, sondern schnell, damit er einen Raum hatte, wo er sich aufhalten konnte. Dann holte sie ihr Töchterchen herunter, wusch es, zog es an, gab ihm zu essen. Sie wollte es zu ihrem Mann bringen, aber als sie einen Blick ins Wohnzimmer tat, saß er, anscheinend in ein Buch vertieft, und da wagte sie nicht, ihn zu stören. Sie hielt es für besser, das Kind bei sich zu behalten.
Kurz vor Mittag – Inge wollte gerade den Auflauf aus dem Rohr nehmen – klingelte es an der Wohnungstür. Sie lief hin und öffnete.
Eine junge Dame stand draußen – hochelegant von den Spitzen ihrer hochhackigen Pumps bis zu dem kleinen Hut auf ihrem dichten blauschwarzen Haar. Sie trug einen schwarzen Mantel mit einem hellen Nerzkragen, eine große Krokodilledertasche unter dem Arm.
Inge fühlte sich auf einmal sehr schäbig, fast unangezogen in ihrem einfachen Kittel. „Sie wünschen?“ fragte sie.
„Ich bin Olga Krüger“, erklärte die Fremde in einem Ton, als wenn Inge ihren Namen unbedingt kennen müßte.
„Ich weiß nicht . . .“, sagte Inge unsicher.
„Ich möchte zu Herrn Dr. Jorg.“
„Ach so . . .“, sagte Inge, aber sie war immer noch so verwirrt, daß sie gar nicht daran dachte, das elegante Fräulein Krüger hereinzubitten.
Sie trat unaufgefordert, mit größter Selbstsicherheit näher, drückte die Tür hinter sich ins Schloß. „Würden Sie mich bitte dem Herrn Doktor melden?“
Inge begriff plötzlich, daß die Fremde sie für eine Hausangestellte zu halten schien, und das Blut schoß ihr in die Stirn. „Mein Mann“, sagte sie mit Nachdruck, „fühlt sich nicht ganz wohl.“
„Oh, er ist doch nicht ernsthaft krank?“
„Nein, nein, nur . . .“
Olga Krüger lächelte, und regelmäßige perl weiße Zähne leuchteten zwischen ihren vollen, sehr sorgfältig nachgezogenen Lippen. „Ich bin nämlich die Frau, der er gestern das Leben gerettet hat . . . sicher hat er Ihnen doch davon erzählt?“
Inge rang nach Atem. „Ja natürlich“, behauptete sie – um keinen Preis wollte sie sich der anderen gegenüber eine Blöße geben.
„Das war eine wirkliche Heldentat“, sagte Fräulein Krüger, „Sie können sehr stolz auf Ihren Mann sein!“
Inge gab sich einen Ruck. „Bitte, kommen Sie herein . . . hier geradeaus geht es ins Wohnzimmer!“ Sie ging voran, öffnete die Tür. „Richard“, sagte sie mit erstickter Stimme, „ein Fräulein Krüger möchte dich besuchen, es ist die Dame, der du gestern das Leben gerettet hast!“
Richard Jorg blickte befremdet auf. Dann legte er rasch das Buch beiseite und erhob sich. Er verbeugte sich steif.
„Ich freue mich, daß es Ihnen schon wieder so gut geht . . .“
„Ja, nicht wahr?“ sagte Olga Krüger lächelnd. „Es ist wie ein kleines Wunder . . . ich habe nichts, aber auch gar nichts davongetragen. Nicht einmal eine Erkältung oder eine Gehirnerschütterung.“ Sie reichte ihm die Hand. „Trotzdem, Herr Doktor, wenn Sie nicht gewesen wären, wäre ich umgekommen! Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!“
„Ich habe nur meine Pflicht getan.“
„Sagen Sie das doch nicht! Ich kenne niemanden, der einen solchen Mut aufgebracht hätte!“
Evchen begann nach der Mutter zu schreien, aber Inge rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand wie gebannt und beobachtete ihren Mann und diese schöne fremde Frau.
„Irgendwie möchte ich meine Dankesschuld loswerden“, sagte Olga Krüger, „aber ich weiß nicht recht, wie ich das anstellen soll! Darf ich Sie einmal einladen?“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Sie und Ihre Frau!“
Inge Jorg sah ihren Mann flehend an, versuchte, ihm ihre Gedanken mitzuteilen: Tu es nicht, Richard, sag nein, ich bitte dich! Was geht uns diese Fremde an? Sie wird nur Unfrieden in unsere Ehe bringen!
„Gern“, sagte Dr. Jorg, „sehr gern. Wann?“
„Morgen abend?“
„Warten wir lieber noch ein paar Tage. Ich bin krank geschrieben, und da möchte ich nicht gern . . .“
„Ich verstehe“, sagte Olga Krüger, „also sagen wir . . . am ersten Abend, an dem Sie Ihren Dienst angetreten haben! Wann wird das sein?“
„Donnerstag!“
Inge ertrug es nicht länger. Sie entschuldigte sich und eilte aus dem Zimmer.
Die nächsten Tage wurden für Dr. Richard Jorg und seine junge Frau zur Qual.
Er empfand die Enge seines Heims, in dem er sich bisher so wohl gefühlt hatte, die kindliche Hilflosigkeit seines Töchterchens und den unausgesprochenen Vorwurf in den Augen seiner Frau als eine kaum noch erträgliche Belastung. Alles wurde ihm von Stunde zu Stunde unerträglicher, ohne daß er begriff, daß er selber es war, der sich verwandelt hatte.
Inge spürte seine Ablehnung, seine Verschlossenheit, seine gereizte Unruhe, und da sie keine andere Erklärung dafür wußte, mußte sie seine Veränderung in Zusammenhang mit dem Auftauchen Olga Krügers bringen. Sie versuchte sich diesen Gedanken auszureden, machte sich klar, daß die beiden sich doch kaum kannten, daß die Fremde sie nie besucht hätte, wenn schon eine Verbindung zwischen ihr und Richard bestanden hätte, daß er sich ihr gegenüber durchaus nicht verliebt oder auch nur besonders herzlich benommen hatte.
Aber warum hatte er dann zu Hause nichts von dieser Lebensrettung erzählt? Was hatte es überhaupt damit auf sich? Und warum hatte er so bereitwillig ihre Einladung angenommen?
Sie war zu stolz, ihren Mann direkt danach zu fragen, fürchtete, sich durch ihre Eifersucht lächerlich zu machen, mehr noch eine erneute scharfe Zurückweisung.
So lebten sie denn nebeneinander her, in einem beklemmenden Schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken versponnen, fast wie Feinde. Beide atmeten auf, als Dr. Jorg nach einigen Tagen endlich wieder seinen Dienst in der Unfallklinik antreten mußte und durfte.
Sein Team war der Nachmittagsschicht zugeteilt, und er verließ nach dem Mittagessen das Haus, eilig, nach flüchtigem Abschied, fast wie auf einer Flucht.
In der Haustür drehte er sich noch einmal um, sagte, als wenn er sich jetzt erst erinnerte: „Ich hole dich also heute abend ab! Laß mich bitte nicht warten.“
Inge ballte unwillkürlich die kleinen Hände, um nicht die Beherrschung zu verlieren, erklärte mit zitternder Stimme: „Ich möchte nicht zu dieser Frau!“
Er hob die Augenbrauen. „Nicht? Na, ganz, wie du willst.“ Er war schon halb aus der Tür,
Sie ertrug es nicht länger. „Richard!“ rief sie verzweifelt.
Aber er drehte sich nicht einmal um. „Du kannst mich ja anrufen, wenn du es dir anders überlegt hast“, rief er über die Schulter zurück, „entschuldige bitte, ich hab’s eilig!“
Und damit eilte er durch den Vorgarten davon.
Sie stand in der Haustür und sah ihm aus großen Augen nach. Es war ihr, als wenn ihre kleine, festgefügte Welt wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Dr. Jorg war zehn Minuten zu früh in der Klinik, und normalerweise hätte er sich sogleich zur Ablösung gemeldet. Diesmal ließ er sich erst eine Tasse Kaffee geben, rauchte noch eine Zigarette und richtete es so ein, daß er erst Punkt zwei Uhr zum Vorbereitungszimmer aufbrach.
In der Tür traf er mit Oberarzt Dr. Müller zusammen. „Hallo, Dr. Jorg!“ sagte der ältere Kollege herzlich. „Wie geht’s? Wieder auf den Beinen?“
„Danke. Alles in Ordnung“, erwiderte Dr. Jorg kurz.
„Na, ist ja großartig. Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht.“
„Absolut unnötig.“
„Wissen Sie übrigens, daß Ihr Hämatom außer Gefahr ist?“
„Ach ja?“ Dr. Jorg mußte sich erst besinnen, wovon der Oberarzt überhaupt sprach, dann erst fiel ihm der junge Mann wieder ein, der mit seinem englischen Sportwagen in einen VW gerast war und einen Bluterguß unter der Hirnhaut davongetragen hatte. Er begriff, daß Dr. Müller etwas mehr Begeisterung von ihm erwartete und sagte gezwungen: „Freut mich sehr!“
Er öffnete die Tür zum Vorbereitungszimmer und ließ den Vorgesetzten eintreten, und nun ergab sich keine Möglichkeit mehr zu einem privaten Gespräch.
Dr. Jorg trat zu Dr. Willy Markus, der gerade eine Patientin untersucht hatte. Die Kranke war sehr blaß, hektische rote Flecken standen auf ihren Backenknochen, das rötliche Haar war schweißverklebt.
„Unfall?“ fragte Dr. Jorg.
„Nein. Wahrscheinlich Appendizitis. Ich habe die Anamnese der Schwester diktiert.“ Dr. Markus drehte sich um und ging.
Dr. Jorg begriff, daß er ihren Zusammenstoß nach dem Unfall immer noch nicht vergessen hatte. Er wußte, daß es vielleicht nur eines einzigen Wortes bedurft hätte, um ihn wieder zu versöhnen. Aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, ließ den Freund gehen.
„Bitte, Schwester!“ sagte er.
„Patientin ist 21 Jahre“, las die Schwester von ihren Notizen ab, „bisher immer gesund. Hat in der Nacht Übelkeit und Erbrechen gehabt, Druck in der Magengegend. Ist trotzdem heute morgen zur Arbeit gegangen. Schmerz verlagerte sich mehr in den rechten Unterleib, wurde heftiger. Ihr Chef ließ sie in die Unfallklinik bringen.“
„Temperatur?“
„Axillar 38,3, rektal 39. Leukozyten betragen 10 000.“
Mit vorsichtigen Händen tastete Dr. Jorg den Leib der Patientin ab. Die Bauchdecke war leicht angespannt, sie ließ sich nur wenig eindrücken. Als er den sogenannten MacBurneyschen Punkt berührte, auf der rechten Seite des Unterleibs, etwa fünf Zentimeter vom Nabel entfernt, schrie die Patientin leicht auf.
Dr. Jorg drückte den Unterleib auf der linken, also der gesunden Seite ein, ließ rasch wieder los – auch diesmal reagierte die Patientin.
„Wo hat’s weh getan?“ fragte Dr. Jorg.
„Hier . . . hier unten!“ Die Patientin deutete auf die rechte Seite.
„MacBurney positiv, Loslaßschmerz, mäßige Abwehrspannung“, diktierte Dr. Jorg der Schwester.
Die Patientin fühlte sich durch die ihr unverständlichen Ausdrücke sichtlich beunruhigt. „Ist es etwas sehr Schlimmes, Herr Doktor?“ fragte sie angstvoll.
„Ach wo“, sagte Dr. Jorg, „Blinddarmentzündung. Klassischer Fall. In spätestens einer Stunde sind Sie den Übeltäter los.“
Er wandte sich an die Schwester. „Bringen Sie die Patientin in den OP und benachrichtigen Sie die Anästhesie.“
Eine Viertelstunde später betrat Dr. Richard Jorg den OP. Dr. Köhler, den der Oberarzt ihm als Assistenten zugewiesen hatte, folgte ihm. Sie trugen beide grüne Kittel, grüne Kappen und den vorschriftsmäßigen Mundschutz. Sie hatten sich die Hände zehn Minuten lang unter fließendem, heißem Wasser gewaschen und sterile Gummihandschuhe übergezogen.
Die Patientin lag in Narkose, der Anästhesist saß neben ihr, überwachte Kreislauf, Blutdruck, Puls. Der Körper der Patientin war von grünen sterilen Tüchern völlig abgedeckt. Nur das Operationsfeld, mit einer braunen Desinfektionslösung bestrichen, lag sichtbar im schattenlosen Licht.
Dr. Jorg sah den Anästhesisten an. „Können wir?“
Der nickte. „Ich bin soweit.“
Dr. Jorg streckte die Hand aus, und die OP-Schwester reichte ihm das Skalpell.
Dr. Jorg zögerte eine Sekunde, bevor er das haarfeine Messer ansetzte – ein seltsames Wohlbehagen durchströmte ihn. Sonst hatte es ihn immer wieder eine gewisse Überwindung gekostet, einen Eingriff in einen lebendigen, atmenden, menschlichen Organismus vorzunehmen, aber heute empfand er zum erstenmal ein beglückendes Gefühl von Macht.
Er setzte das Skalpell am rechten Unterleib an, zog es etwa drei Zentimeter lang schräg durch die Haut. Das herausströmende Blut erschien ihm prachtvoll, es tat ihm fast leid, daß sein Assistent es sofort stillte.
Er durchtrennte die Muskulatur, dann das Bauchfell, und je tiefer er drang, desto mehr genoß er es.
Dann endlich lag die Bauchhöhle offen vor ihm, er griff mit der rechten Hand hinein, verfolgte den Blinddarm bis zu seinem Anhangteil, dem Appendix. Er war stark gerötet, es handelte sich um eine massive Entzündung.
„Klemmen!“
Der Anhang wurde mit zwei Klemmen gefaßt, der Assistent entfernte ihn mit dem elektrischen Messer. Jetzt war der Darm geöffnet, und es galt zu verhüten, daß die unsterile Wunde mit ihrer Umgebung in Berührung kam.
Dr. Jorg arbeitete wie in einem Rausch. Er stülpte den Stumpf des Darmes ein, brachte dann ringförmig die sogenannte Tabaksbeutelnaht an, die nach Versenkung des Stumpfes zugezogen wurde. Es folgten zwei Z-Nähte, dann wurde der Darm wieder in die Bauchhöhle versenkt. Jeder Handgriff wurde von Dr. Jorg exakt, fast mit schlafwandlerischer Sicherheit ausgeführt. Er vernähte das Bauchfell, die Muskulatur, verschloß das Fettpolster, verklammerte die Haut.
Dann war es vorbei, und Dr. Jorg fühlte sich jäh ernüchtert. Kaum zehn Minuten hatte die Operation gedauert, er hätte noch lange, sehr lange weitermachen mögen.
Aber was zu tun war, war getan. Dr. Köhler legte noch einen sterilen Verband an, und Dr. Jorg sah zu, als wenn es ihm schwerfiele, sich vom Schauplatz zu trennen. Es war ihm, als wenn er etwas vergessen hätte, aber er kam nicht darauf, was es war.
„Zustand der Patientin befriedigend“, meldete der Anästhesist, „Kreislauf in Ordnung, Puls gleichmäßig.“
Da erst fiel es Dr. Jorg ein. Er hatte über der Operation die Patientin vergessen. Das war ihm noch nie passiert, und er erschrak.
Aber er schüttelte das aufkommende Unbehagen sofort wieder ab. Die Operation war gelungen, niemand hätte es besser machen können, und nur darauf kam es schließlich an.